Federspiel von Miuu ================================================================================ Kapitel 7: Eins für sieben Milliarden ------------------------------------- Fast schon ein wenig zu idyllisch waren der strahlende Sonnenschein und die leichte Brise, die am darauffolgenden Tag das kleine Dorf umhüllten und es schon viel weniger trostlos als in der vergangenen Nacht wirken ließen. Zwar war es nach wie vor ein ruhiges Örtchen und einige der Häuser auch bei Tag halb verfallen. Doch immerhin waren die Straßen nicht so verlassen wie am Abend zuvor, und auch wenn das Dorf nicht gerade vor sprühendem Leben überquellte, so war es doch immerhin beruhigend, ab und an jemandem, manchmal sogar in Begleitung eines Pokémons, zu begegnen. Ash, Misty und Gary hatten ein kleines, unscheinbares Café aufgesucht, dessen Bedienung so schlecht war, dass sie sich nur sporadisch blicken ließ und ihnen damit die Gelegenheit, in Ruhe all das zu besprechen, was bisher noch ungeklärt war. Was, wenn man einmal darüber nachdachte, noch praktisch alles an dieser Geschichte war. „Am meisten wundert mich, dass bei mir scheinbar mehr Text an den Felsen stand als bei dir.“ „Ja. Wenn es nur ein paar Kleinigkeiten gewesen wären, dann hätte ich mir vorstellen können, dass ich vielleicht etwas übersehen hab. Aber das ist ja schon fast eine ganze Passage, viel zu viel, um es nicht bemerkt zu haben.“ Sie hatten Mistys Notizen mit denen von Gary verglichen; der Unterschied war eindeutig gewesen. Gary nickte. „Noch dazu waren die Worte nicht so undeutlich geschrieben, dass du sie vielleicht einfach nicht entziffern konntest. Nein, ich gehe davon aus, dass es bei mir wirklich mehr Text war als noch bei dir.“ „Aber wieso?“ Er zuckte mit den Schultern, hustete kurz und nahm einen Schluck aus seiner Tasse, dessen Inhalt vom Geschmack her nur entfernt an Kaffee erinnerte. „Wenn es bei Gary mehr Text war als dir und du allem Anschein nach vor ihm auf der Insel warst – könnte es dann nicht sein, dass da noch mal mehr steht, wenn ich hingehe? Ich weiß nicht, was dahintersteckt, aber –“ „Aber es ist durchaus eine Möglichkeit. Schließlich sind da immer noch Lücken in der Legende. Ich dachte erst, dass einige Wörter vielleicht mit der Zeit einfach unlesbar geworden sind, aber so wie es momentan aussieht, scheint das ja nicht der Grund zu sein.“ „Aber wenn Ash auch ein Stück Legende 'freilegen' würde, warum ist Zapdos dann nicht mit ihm zur Insel geflogen? Warum haben unsere Pokémon stattdessen Lavados gesucht?“ „Haben sie das denn? Oder habt ihr ihnen signalisiert, dass ihr Lavados und mich finden wolltet, und Zapdos ist nur deswegen nicht zur Insel geflogen?“ „Na ja, nachdem Arktos mich zu Zapdos und Ash geführt hat, war ich mir eigentlich sicher, dass die Vögel eben einander suchen…“ „Aber wenn du mit Arktos bei der Insel warst und das nicht so lange bevor ich mit Lavados dorthin gekommen bin… dann hätten Lavados und ich doch eigentlich viel näher als Zapdos oder Alabastia sein müssen.“ „Ja aber wie kommt es dann, dass mich Arktos zu Ash und nicht zu dir gebracht hat?“ Gary schmunzelte leicht. „Vielleicht hast du Arktos beeinflusst.“ „Ich? Wie meinst du das?“ „Na ja… Als du die Legende gelesen hast und wusstest, dass es noch zwei weitere Auserwählte gibt – hast du da nicht mal drüber nachgedacht, wer es sein könnte?“ „Doch, schon, aber –“ „Und hast du nicht überlegt, ob Ash vielleicht der Auserwählte von Ellenki sein könnte?“ Sie fühlte sich ertappt. „Ja… möglicherweise.“ „Aber warum? Ich find es selbst immer noch überraschend, dass ich auserwählt wurde. Klar, Pikachu ist ein Elektropokémon, aber eben nur eins. Es gibt doch so viele Trainer, die sich auf Elektropokémon spezialisiert haben und darum viel eher in Frage gekommen wären. Wie bist du da auf die Idee gekommen, dass ausgerechnet ich einer der Auserwählten sein könnte?“ Das Mädchen biss sich auf die Unterlippe. „Kann es sein, dass du es dir ein bisschen gewünscht hast?“ Sie sah Gary an, aber der ließ ihr nicht die Gelegenheit, etwas zu erwidern. „Du hast doch gesagt, du hattest ein schlechtes Gewissen, weil du Ash damals verlassen hast. Vielleicht hast du dir unterbewusst gewünscht, dass Ash der Auserwählte ist, damit du ihn wiedersehen und die ganze Geschichte wieder gut machen kannst?“ „Ja… möglich.“ Ash lächelte sanft. „Dann hat Arktos eigentlich gar nicht Zapdos gesucht, sondern mich.“ „Und dass du wirklich von Ellenki auserwählt wurdest, war nur ein Zufall.“ „Und darum hat Zapdos mich auch nicht zur Insel geführt.“ „Weil Misty dir unabsichtlich eingeredet hat, dass die Vögel einander suchen würden. Und weil unsere Gedanken und Wünsche die Vögel anscheinend beeinflussen.“ „Dann frag ich mich aber immer noch, nach welchen Kriterien die Federn auserwählt werden. Bei mir war ich mir sicher, dass es eben mit meinen Wasserpokémon zutun hat, und bei Ash hat das ja auch noch irgendwie Sinn gemacht.“ „Aber bei Gary… Hast du überhaupt ein Feuerpokémon, also, außer Lavados?“ „Nein, ich habe keins. Keine Ahnung, warum ausgerechnet ich ausgewählt wurde. Das wissen wohl nur die drei Mächte allein.“ Zwei Taubsis ließen sich auf einem der benachbarten Tische nieder, stritten sich um ein paar Brotkrumen, die vom vorherigen Gast zurückgelassen worden waren, und flogen schließlich zufrieden davon, als jedes einen Teil hatte ergattern können. „Jedenfalls sollten wir als erstes noch mal zu dieser Insel fliegen. Wenn es wirklich einen dritten Teil der Legende gibt, sollten wir ihn kennen. Vielleicht ist da wirklich noch mal mehr Text, wenn Zapdos und ich hingehen. Und vielleicht erfahren wir dann auch, wie genau wir Ishi oder eben den Menschen, der Ishi beherrscht, aufhalten sollen.“ „Steht das im Grunde nicht schon da?“ Sie sahen zu Misty, die ihre Blicke jedoch nicht erwiderte, sondern stattdessen auf ihre Beine starrte. „Der Abschnitt darüber, dass die drei Federn Ishi aufhalten müssen, ist doch komplett.“ „Und trotzdem wissen wir nicht, wie –“ Sie unterbrach Ash. „Es ist die Aufgabe der Federn, Ishi in jedem Fall zu stoppen – 'was auch immer sie dafür tun müssen'. Und das heißt im schlimmsten Fall, dass wir vielleicht jemanden töten müssen, um die Welt vor dem Chaos zu bewahren.“ Er sah überrascht auf, spürte, wie etwas in ihm sich verkrampfte. Das war ein Gedanke, der ihm bisher nicht gekommen war. „Spuckst du jetzt nicht ein bisschen große Töne?“ Nun mischte sich auch Gary in dieses Gespräch ein. „Natürlich, im Prinzip steht das da. Aber wer sind wir denn, dass wir das Recht hätten, ein Menschenleben zu beenden? Dieses Recht hat niemand, wie edel auch immer das '‚Motiv' dafür sein mag.“ „Ich habe ja nicht gesagt, dass es der einzige Ausweg ist! Aber es ist eine Möglichkeit, die wir leider in Betracht ziehen müssen, und gerade weil es eine so furchtbare ist, sollten wir uns damit auseinandersetzen, dass es soweit kommen kann! Und ja, ich finde schon, dass es den Tod einer einzelnen Person rechtfertigt, wenn ansonsten vielleicht das Leben aller Menschen und Pokémon auf dem Spiel steht!“ „Es ist doch überhaupt nicht gesagt, dass dieses 'Chaos', von dem die Legende spricht, gleich einen Weltuntergang mit sich bringt!“ „Du hast selbst gesehen, wozu Ishi fähig ist. Was meinst du, was jemand damit alles anrichten kann, der die Gedanken anderer kontrolliert? Wir sind jetzt klüger, wir wissen jetzt, dass wir uns von Ishi nicht austricksen lassen dürfen, dass wir vorsichtig sein und uns gegenseitig vertrauen müssen. Aber was ist mit all den Menschen, die das nicht wissen? Wir wissen nicht, was das für eine Person ist, die Ishi beherrscht, und wir wissen nicht, was sie vorhat.“ „Eben! Und so lange wir das nicht wissen, solange wir die komplette Legende nicht kennen, haben wir überhaupt nicht die Möglichkeit, einzuschätzen, wohin das Ganze führt. Und wir werden ganz bestimmt niemanden umbringen! Du vergisst gerade, dass wir es hier nicht nur mit irgendeiner bösen Macht zu tun haben, sondern mit einem menschlichen Wesen! Und eben, wir wissen nicht, was seine Beweggründe sind. Vielleicht hat derjenige irgendetwas durchgemacht, ist wegen irgendetwas verzweifelt und daher leicht dazu zu verleiten, eine starke Macht wie Ishi auszunutzen.“ Misty schnaubte verächtlich. „Ja, ganz toll. Als ob wir nicht alle mal schwere Zeiten durchmachen oder irgendwelche Schicksalsschläge erleiden mussten! Das ist doch aber noch lange kein Grund, sich an der ganzen Menschheit zu rächen!“ Gary wollte etwas erwidern, doch nur ein Husten entwich seiner Kehle und Misty ließ ihm keine zweite Gelegenheit, sie zu unterbrechen. „Das sind Unschuldige! Unschuldige, die nichts dafür können, wenn ein Mensch sich nicht kontrollieren kann. Da macht es überhaupt keinen Unterschied, ob er sich an der Welt rächen will, weil er ja ach so verletzt ist, oder einfach nur ein Verrückter, der seine Macht ausspielt.“ „Genau, es macht keinen Unterschied! Es ist egal, ob uns seine Beweggründe nachvollziehbar erscheinen oder nicht – es ist immer noch ein Mensch, der all das tut, Misty! Ein Mensch, der vor dieser Sache hier wahrscheinlich ein ganz normales Leben geführt hat. Jemand, der so einzigartig ist wie du oder ich oder jede andere Person auf dieser Welt. Jemand, der von irgendwem da draußen geliebt wird, und wir haben nicht das Recht, jemandem einen geliebten Menschen wegzunehmen und wir haben einfach nicht das Recht, ein Menschenleben auszulöschen!“ „Doch Gary, das haben wir. Wir sind als Federn auserwählt worden und haben jetzt nicht nur das Recht, sondern die verdammte Pflicht dazu, Ishi und den Menschen, der sie beherrscht, aufzuhalten. Natürlich müssen wir erst abwarten und sehen, wie sich die Dinge entwickeln, natürlich müssen wir erst herausfinden, wer dieser Mensch ist und was er eigentlich vorhat. Und natürlich werden wir jeden anderen Ausweg zuerst in Betracht ziehen. Aber letztendlich müssen wir immer im Hinterkopf behalten, was wir im schlimmsten Fall tun müssen.“ Gary entgegnete nichts mehr. Ob er es aufgegeben hatte, gegen sie anzureden, oder innerlich vielleicht fürchtete, dass sie recht hatte, war nicht ersichtlich. Ash hatte diesem Streitgespräch die ganze Zeit über schweigend zugehört. Ein paar Mal hatte er etwas sagen wollen, hatte zu einer Antwort angesetzt, aber da er im Grunde überhaupt nicht wusste, was er hatte sagen wollen, war er still geblieben. Misty und Gary hatten ihren Standpunkt jeweils deutlich gemacht und begründet. Und er? Wie dachte er selbst über diese ganze Sache? Natürlich würden sie alles daran legen, diese Sache zu regeln, ohne dass jemand dabei sein Leben verlieren musste. Aber was war, wenn Misty recht hatte? Wenn sich der schlimmste Fall, den sie sich ausmalen konnten, wirklich eintraf? Er wollte niemanden umbringen, genauso wenig wie die anderen beiden. Aber wenn es wirklich soweit kommen würde, wenn es schlussendlich der letzte Ausweg war… Hatten sie dann nicht wirklich die Pflicht, es zu tun? Ein Menschenleben für den Rest der Welt zu opfern? Bisher war ihm nicht bewusst gewesen, was es bedeutete, als eine Feder auserwählt worden zu sein. Sie hatten eine Aufgabe zu erfüllen, ja, natürlich. Aber schlimmer als das lag eine unglaublich große Verantwortung auf ihren Schultern. Wie viel war so ein Menschenleben wert? Er warf einen verschämten Blick auf seine Handgelenke. Er hatte es niemals ernsthaft vorgehabt, er hatte es niemals wirklich versucht, aber es hatte eine Zeit gegeben, in der ihm sein eigenes Leben unendlich bedeutungslos erschienen war. Jetzt war in ihm nur noch Scham darüber, über diese Gedanken, selbst wenn sie halbherzig gewesen waren. Er hätte damit vielen Menschen unglaublich wehgetan. Mistys Seufzen riss ihn aus seinen Gedanken. „Na schön, lassen wir das Ganze erst mal. Du hast recht, bevor wir nicht genau wissen, was sich hinter dieser ganzen Sache verbirgt, und bevor wir den Menschen hinter Ishi nicht einmal gefunden haben, sollten wir keine voreiligen Schlüsse ziehen. Alles Weitere… sehen wir dann.“ „Also fliegen wir als erstes zur Insel, um zu sehen, ob es für Ash einen dritten Teil der Legende gibt?“ Sie nickte. „Ich würde vorher, oder auf dem Weg dorthin, gerne mit Zapdos trainieren.“ Die anderen beiden sahen auf. „Außer es zu fangen habe ich ja noch nicht viel mit ihm getan… Und da die Vögel ja ebenfalls Teil dieser Legende sind, werden wir sie sicher noch brauchen. Vielleicht gehört zu Ishi ja auch ein Pokémon, vielleicht wird es gegen die drei Vögel kämpfen. Ich wär' gern vorbereitet.“ „Ja, das macht Sinn. Also beschäftigen wir uns erst ein wenig mit unseren Pokémon und brechen dann zur Insel auf.“ Misty sah in die Runde. „Irgendwelche Einwände?“ Aber es blieb still.   ***   „Das Mädchen… Der Junge war zwar unsicher und deswegen ein gutes Ziel, aber er hat seine Zweifel verloren. Aber das Mädchen besitzt noch eine Schwäche… Machen wir bei ihr weiter.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)