Federspiel von Miuu ================================================================================ Kapitel 8: Was damals war ------------------------- Schon früh am nächsten Morgen ließen sie das kleine Dorf mitsamt ihrer schlechten Erinnerungen daran hinter sich. Diesmal mit dem Wunsch im Herzen, noch einmal die Insel mit der Legende aufzusuchen, ließen sie die drei Vögel fliegen und überquerten erneut öde, unbewohnte Gegenden. Aber diesmal war es ihnen nur recht: Wenn sie mit ihren Pokémon trainieren wollten, würden sie hier wenigstens kein Aufsehen erregen. So waren sie schließlich irgendwann mitten in diesem Nirgendwo gelandet, auf diesem verlassenen Fleckchen Erde, das selbst von wilden Pokémon nahezu unbewohnt schien. Sie hatten Arktos, Lavados und Zapdos kämpfen lassen; gegen Büsche und Sträucher, gegen Felsen; wenig gegen einander. Sie wussten nicht, wie klug es war, mit den drei legendären Vögeln ein Pokémoncenter aufzusuchen, wie viel Aufsehen sie damit erregen würden und versuchten daher, die drei nicht zu sehr zu schwächen. Sie machten sich mit ihren Angriffen vertraut, mit ihren Fähigkeiten, versuchten, sich ihre Art und ihre Verhaltensweisen im Kampf genau einzuprägen. Und umso länger sie mit ihren Pokémon kämpften, umso mehr spürten sie, dass sie sich auch ihrer eigenen Kräfte bewusster wurden und dass dieses Etwas in ihnen, mochte es nun Wazu, Ellenki oder Fii heißen, stetig stärker wurde.   Beinahe überrascht waren die drei, als sich nach Kilometern der Einöde endlich wieder Zivilisation unter ihnen zeigte. Zunächst waren es nur kleine Dörfer gewesen, die sie überflogen hatten. Aber dann wurden die Häuseransammlungen unter ihnen nach und nach größer, die Gebäude höher, und ehe sie sich versahen, tat sich unter ihnen eine belebte, grell leuchtende Stadt auf. Sie sahen sich unschlüssig an. Das war nicht der Ort, den sie sich für ihre heutige Übernachtung vorgestellt hatten. Eigentlich wären sie lieber verborgen vor allen Blicken und allem Trubel geblieben, aber wenn sie ihre Pokémon nicht verausgaben wollten, dann mussten sie in absehbarer Zeit rasten. Aber vielleicht war es in einer anonymen Großmetropole letztendlich sogar einfacher, unbeachtet zu bleiben.   Die Deckenlampe strahlte ein sanftes, freundliches Licht aus, das auch noch in die hintersten Winkel des Raums vordrang. Zugegeben, groß war das Zimmer nicht, nur dafür gedacht, einen reisenden Trainer für ein oder zwei Nächte zu beherbergen. Jetzt zu dritt fanden sie gerade so Platz darin, aber es würde wohl genügen, um den Tag gemeinsam ausklingen zu lassen, bevor sich letztendlich jeder in sein eigenes Zimmer zurückziehen würde. Man hatte sie hier im Pokémoncenter freudig aufgenommen, auch ohne dass sie ein Pokémon in die Obhut einer der unzähligen Schwester Joys gegeben hatten. Es war eine ungewohnte Atmosphäre gewesen, der Trubel und die Fröhlichkeit, die schwatzenden und energiegeladenen Trainer und Pokémon, so ganz anders als das Schweigen und die Stille der letzten Zeit. Es hatte einen bitteren Beigeschmack, denn es erinnerte alle drei an vergangene, fröhlichere Tage, an denen sie einfach nur Kinder gewesen waren und nichts von einer Bedrohung gewusst hatten, die der Welt vielleicht bevorstand. Aber es bestätigte sie auch darin, dass es so viel auf dieser Welt gab, was es nun zu bewahren galt. „Wenn ich mir vorstelle, dass all diese Menschen und Pokémon in ernsthafter Gefahr sein könnten… und noch nicht einmal etwas davon wissen.“ Diese Worte waren von Misty gekommen, die nun ihren Blick gen Boden senkte. „Es ist gut, dass sie nichts davon wissen. Nicht einmal wir wissen genau, was vor sich geht oder noch vor sich gehen wird. Warum sollten sie sich jetzt schon ängstigen, vielleicht vollkommen zu unrecht?“ Sie nickte, und Ash, der bis eben geschwiegen hatte, schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Misty, wir schaffen das schon! Ich weiß nicht genau wie, oder was wir eigentlich tun können. Aber wir finden schon eine Lösung für das alles.“ Er streckte seinen Arm nach ihrer Schulter aus, aber als er sie berührte, war ein kurzes Knistern zu hören und Misty zuckte augenblicklich zurück. „Entschuldige, hast du einen Schlag bekommen? Das ist mir heute schon ein paar Mal passiert, seitdem wir hier sind… Ich glaub, das liegt an Ellenki oder so. Tut mir leid.“ Er lachte verlegen, aber sie wandte den Blick ab, murmelte leise, dass es schon in Ordnung war, und stand dann auf. Sie machte ein paar ziellose Schritte in dem Raum, der dafür eigentlich viel zu klein war, und ließ ihre Hände suchend durch die Taschen ihrer Jacke gleiten. Schließlich holte sie eine kleine, rechteckige Schachtel daraus hervor und wollte gerade nach einer Zigarette daraus greifen, als sie die Blicke der beiden Jungen bemerkte, der eine überrascht, der andere skeptisch. Sie hielt das Päckchen Gary entgegen, aber dieser schüttelte nur stumm den Kopf und sah sie weiterhin eindringlich an. Für einen Moment erwiderte sie den Blick, unsicher, irritiert, dann schloss sie die Packung und ließ sie wieder in ihrer Tasche verschwinden, ohne eine Zigarette genommen zu haben. Sie seufzte. „Ich denke, ich werd' schlafen gehen. Es war ein langer Tag, ich bin müde.“ Ash sprang auf und streckte abermals die Hand nach ihr aus. „Ja aber wollten wir nicht noch –“ Aber er brach ab, als sie seiner Berührung auswich, ihn beinahe ängstlich ansah. „Wir können alles andere genauso gut morgen besprechen. Also, belassen wir's für heute dabei. Gute Nacht.“ Sie wartete keine Antwort ab, kehrte den beiden den Rücken zu und verließ das Zimmer. Für einen Moment starrte Ash die Tür an, irritiert, verletzt. „Hab ich… irgendwas falsch gemacht? Ich meine, ja, klar, hab ich… Aber ich dachte, sie hätte mir verziehen. Ob sie mir doch noch böse ist?“ Gary schüttelte den Kopf. „Glaub ich nicht.“ „Aber sie weicht mir aus.“ „Das hat nichts mit dir zu tun.“ „Ach, und womit dann?“ Auffordernd sah er Gary an, der seinen Blick erst unsicher erwiderte und sich dann abwandte. „Vielleicht hat's mit Ellenki zu tun.“ „Mit Ellenki? Weil sie eben den kleinen Schlag bekommen hat? Darum weicht sie mir plötzlich aus?“ Gary hustete leise. „Und das soll alles sein?“ „Im Prinzip ja, weil…“ Aber er stockte und auf Ashs fragenden, eindringlichen Blick hin entfuhr ihm ein Seufzen. „Ich weiß nicht, wie gut Misty es findet, wenn ich dir das ganze erzähle. Wenn du nicht weißt, was damals war.“ „Was damals war? Wann damals?“ Nun sah auch Gary zur Tür, so als könnte er mit seinem Blick Misty selbst erreichen und sie um Erlaubnis fragen. „Na schön, im schlimmsten Fall reiß sie mir den Kopf ab. Aber vielleicht ist es ganz gut, wenn du es weißt.“ „Wenn ich was weiß?“ „Immer mit der Ruhe, ich erzähl's dir ja. Also es war… es wird vor vielleicht gut einem Jahr gewesen sein. Misty war zu dem Zeitpunkt gerade in Azuria City, ihre Schwestern besuchen. In der Arena gab's wieder mal irgendeine Aufführung und ein Haufen Leute war gekommen, um sich das anzusehen. Aber dann gab es irgendwo in der Hauselektronik einen Kurzschluss, irgendein Kabel war wohl nicht in Ordnung gewesen. Daraufhin hat das ganze angefangen zu brennen und das Feuer ist dann recht schnell auf die Teile der Arena übergesprungen, die nicht vom Wasser umgeben oder damit bedeckt waren, was zum Glück ja wohl nicht so viele sind. Aber dann ist natürlich Panik unter den Zuschauern ausgebrochen und alle wollten schnellstmöglich raus aus der Arena. Aber die meisten der Ausgänge funktionierten elektronisch und waren nach dem Kurzschluss erst mal stillgelegt. Soweit ich weiß, haben Misty und ihre Schwestern absolut souverän reagiert, die Türen von Hand entriegelt, und nach nur wenigen Minuten waren dann auch alle Leute in Sicherheit. Nur die Arena, die hat unter dem Vorfall ganz schön gelitten. Das Feuer hat einiges kaputt gemacht und die Elektronik war hinterher wohl auch vollkommen hinüber. Letztendlich ist zum Glück  nicht viel Schlimmeres passiert, Menschen wurden nicht verletzt und die Arena ist ja auch versichert und alles… Aber ich denke, es kann durchaus deswegen sein, dass Misty der Schlag von vorhin so erschreckt hat. Vielleicht hat sie damals auch einen Schlag oder so bekommen, vielleicht hat es sie auch einfach nur daran erinnert. Aber ist glaub ich nachvollziehbar, wenn Elektrizität ihr jetzt etwas Unbehagen bereitet.“ „Ja…“ Ash war sich nicht sicher, was er sagen sollte. Es erklärte einiges. Es erklärte Mistys Verhalten vorhin und es erklärte auch, warum sie ihn während des Gewitters so ruppig gebeten hatte, die Blitze von ihr fernzuhalten. Wie sehr sie beim Kampf gegen ihn wohl gelitten hatte? Er hatte doch auch mit Elektrizität gekämpft. Und trotzdem hatte sie ihn danach berührt, hatte versucht, ihn aufzumuntern und ihm versichert, dass alles wieder in Ordnung war. Ob sie das auch Überwindung gekostet hatte? „Ist die Arena denn jetzt wieder repariert worden?“ Gary schüttelte den Kopf. „Die finanziellen Mittel wären durch die Versicherung ja da, aber Misty und wohl auch ihren Schwestern fehlt einfach irgendwie die Kraft und Motivation dafür. Das ganze hat sie ziemlich mitgenommen. Misty spricht nicht gern drüber.“ Aber mit ihm musste Misty wohl darüber gesprochen haben, oder woher wusste er all diese kleinen Details? Ob die beiden sich nahe gestanden hatten, während er zu all seinen Freunden keinen Kontakt mehr gehabt hatte? Mit einem Mal fühlte Ash sich schuldig. Er wusste, dass er für den Vorfall damals nichts konnte, aber er fragte sich plötzlich, wieso er von der ganzen Sache niemals etwas mitbekommen hatte. Azuria City lag so nah, und trotzdem hatte es ihn in all den Jahren nicht interessiert, was dort vor sich ging. Wie hatte er ein derartiges Desinteresse an seiner Umwelt entwickeln können? „Gary?“ Der Angesprochene sah fragend auf. „Wo warst du eigentlich in den letzten Jahren?“ „Mal hier, mal da… ich bin durch die Gegend gereist und hab irgendwann die Zeit vergessen.“ Eine wenig zufrieden stellende Antwort, aber Gary machte nicht den Eindruck, als wollte er seinen Worten auch nur ein einziges hinzufügen. Stattdessen stand er nun auf, streckte sich kurz und fuhr sich dann durch die Haare. „Ich denke, ich werde dann auch mal schlafen gehen. Mach dir wegen der Sache mit Misty keine allzu großen Sorgen. Sie ist ein starkes Mädchen, sie steht das durch.“ Er suchte nach irgendeiner kessen Bemerkung, um die Stimmung ein wenig aufzulockern. „Mach dir lieber Gedanken um mich, falls Misty auf mich losgeht, wenn sie erfährt, dass ich dir das alles erzählt hab.“ Ash lächelte schwach und Gary nahm es als Zeichen, dass dieses Gespräch fürs erste beendet war. Als er jedoch nach der Türklinke griff und gerade im Begriff war, zu gehen, hielt Ash ihn doch noch einmal zurück. „Gary?“ „Ja?“ Er wandte sich um. „Solltest du Misty jetzt zufällig noch mal sehen… wünsch ihr eine gute Nacht von mir.“ Einen Moment lang sah Gary ihn überrascht an, dann lächelte er jedoch. „Mach ich.“   Es überraschte ihn wenig, als er Misty auf der kleinen Terrasse sah, die das Pokémoncenter umrundete und auf der sich zu dieser späten Stunde ansonsten niemand mehr eingefunden hatte. „Ich dachte, du warst müde und wolltest schlafen gehen.“ Sie erschrak beim Klang seiner Stimme und es tat ihm leid. „Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken. Kannst du nicht schlafen?“ Sie schenkte ihm ein müdes Lächeln. „Was fragst du so unschuldig? Als ob du es nicht eh wüsstest. …Ist Ash sauer auf mich?“ „Weil du so plötzlich abgehauen bist und ihn von dir gestoßen hast?“ „Ich bin ihm ausgewichen, ich hab ihn nicht von mir gestoßen… Aber ja.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, ist er nicht. Irritiert war er und verletzt.“ Man sah ihr ihr schlechtes Gewissen an. „Misty, ich… hab's ihm erzählt. Ich weiß, vielleicht hättest du's lieber selbst gemacht. Aber ich dachte, er sollte es vielleicht wissen, und vielleicht wollte ich ihn auch ein bisschen trösten, dass es nicht seine Schuld war. Also, wenn du jetzt wütend auf mich sein willst…“ Sie verneinte. „Wahrscheinlich hast du recht und es ist besser, wenn er es weiß. Ob von mir oder dir spielt da auch keine Rolle.“ Sie schlang die Arme um ihren Körper. „Frierst du?“ „Und wenn schon.“ „Na ja, dann müsste ich dich wärmen, oder?“ „Ich könnte auch einfach wieder reingehen.“ Sie sagte es, aber ihre Stimme klang nicht ablehnend und mehr als gewillt ließ sie zu, dass er seine Arme um sie legte und an sich zog. „Danke.“ „Wofür das jetzt? Ich denke, du wolltest gar nicht gewärmt werden.“ „Dafür, dass du trotzdem für mich da bist. Obwohl wir manchmal so unterschiedliche Meinungen haben, gerade wenn es um die Erfüllung unserer Aufgabe geht.“ „Misty, weder du noch ich wissen doch, wie die Geschichte letztendlich enden wird. Versuchen wir einfach, bis dahin das Beste daraus zu machen.“ Er strich ihr liebevoll über die Wange, und sie nickte und hob ihren Kopf ein wenig, woraufhin er sich zu ihr hinunterbeugte, ihr noch einmal ein Lächeln schenkte und sie dann sanft küsste, was von ihr ebenso sanft erwidert wurde. Doch dann löste er sich plötzlich von ihr, wandte sich ab und wurde von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt. Sie sah ihn besorgt an. „Alles in Ordnung?“ Er nickte schwach. „Sicher? Du hustest viel in letzter Zeit…“ „…Vielleicht hab ich mir was eingefangen, eine Erkältung oder so.“ Er versuchte erneut zu lächeln, doch diesmal wollte es ihm nicht gelingen. „Na ja, aber ich werd' dann wirklich mal schlafen gehen.“ Er wandte sich zum Gehen, hielt dann aber noch einmal inne und drehte sich wieder zu ihr herum. „Ach ja, ich soll dir von Ash noch eine gute Nacht wünschen.“ Dann schritt er davon, verschwand in der Dunkelheit. Sie sah ihm stumm nach. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)