Federspiel von Miuu ================================================================================ Kapitel 10: Nichts weiter als ein kleines Mädchen ------------------------------------------------- Sie schreckte hoch. Warme Sonnenstrahlen drangen zum Fenster herein, durchfluteten den ganzen Raum und kitzelten sie in der Nase. Ihr Atem ging schnell, und ihre Haut war von einem leichten Schweißfilm überzogen. Aber sie lächelte, als sie sich nun herzhaft streckte und dann wie zu sich selbst den Kopf schüttelte. „Was für ein verrückter Traum…“ Wahrscheinlich arbeitete sie einfach zu viel, jetzt, wo wieder einmal eine große Show bevorstand und außerdem jeden Tag Trainer aus dem ganzen Land nach Azuria strömten, um sich ihren Quellordern zu erkämpfen. Das Ganze wuchs ihr offensichtlich über den Kopf, wenn sie in ihren Träumen schon die Arena aus dem Weg schaffte und sich selbst zur großen Auserwählten im Mittelpunkt einer mysteriösen Legende machte. Misty lachte. Sie sollte wohl dringend mal ein ernstes Wort mit ihren Schwestern reden, damit die ganze Arbeit nicht immer an ihr hängen blieb. „Misty? Bist du wach?“ Und da war die erste auch schon. Sie seufzte. „Ja, komm von mir aus –“ Doch sie konnte ihren Satz nicht einmal beenden, da hatte sich die Tür auch schon geöffnet und Daisy stürmte herein, die Hände in die Hüften gestemmt, der Blick tadelnd. „Du liegst ja wirklich noch im Bett! Jetzt beeil dich aber mal, wir wollen mit den Proben anfangen! Du hast es eigentlich gar nicht verdient, schon wieder die Hauptrolle spielen zu dürfen… Aber na ja, sei's drum.“ „Ja, ja, ich beeil mich ja schon. Gib mir fünf Minuten.“ Misty lächelte weiterhin. Zum Glück wusste sie, dass ihre drei Schwestern sie trotz all der Sticheleien und Neckereien über alles liebten und dass sie sich ihre manchmal herablassenden Kommentare nicht zu Herzen nehmen durfte. Also ließ sie sich nicht weiter ärgern, sprang stattdessen aus dem Bett und schaffte es tatsächlich, zwar nicht fünf, aber immerhin zehn Minuten später einigermaßen wach in der großen Schwimmhalle der Azuria City Arena zu stehen. Das Wasser glitzerte im Licht freundlich vor sich hin, und unbewusst huschte ihr ein Lächeln über die Lippen. „Da bist du ja endlich! Wurde aber auch Zeit.“ Diesmal war es Violet, die ihre kleine Schwester mit einem bissigen Kommentar bedachte. „Ja, da bin ich. Also, lasst uns am besten da weitermachen, wo wir gestern aufgehört haben.“ Misty wartete nicht ab, ob auch ihre dritte Schwester noch irgendeinen Grund zum Nörgeln hatte, sondern stieg stattdessen die flachen Stufen in das Schwimmbecken hinab. Das Wasser schwappte um ihre Knöchel, umspielte ihre Hüften, bis es sie schließlich völlig umgab. Sie nahm einen tiefen Atemzug und tauchte hinab, ließ die Oberfläche weit über sich, durchquerte das Becken mit wenigen, kräftigen Bewegungen. Hier unten war es still, fast so, als wäre die Zeit stehengeblieben. Als befände man sich in einer völlig fremden Welt. Sie lächelte. Nirgends fühlte sie sich so zuhause wie im Wasser. Außer vielleicht… Ihre Lungen zwangen sie dazu, wieder aufzutauchen, und so schwamm sie zurück zur Oberfläche, stieß den Kopf heraus und holte tief Luft. Die Wassertropfen um sie herum funkelten im Licht, und es kam ihr in den Sinn, dass es wohl keinen schöneren Anblick auf der Welt geben konnte. Worüber hatte sie gerade eben unter Wasser noch nachgedacht? „Sag mal, Misty, meinst du, dass deine Freunde diesmal vielleicht wieder auftauchen?“ „Ja, vor allem dieser Junge, den du damals auf deiner Reise kennengelernt hast. Wie hieß er doch gleich?“ „Ash.“ Für einen kurzen Augenblick zierte ein Lächeln Mistys Gesicht, doch dann erstarb es. „Aber er wird nicht kommen.“ Die Welt war nicht perfekt.     ***     „Misty! Misty, kannst du mich hören?!“ Aber auch diesmal erhielt Ash keine Antwort. Misty stand jetzt schon beunruhigend lange einfach nur so da, während die Leuchtkugeln um sie herumschwirrten, während die Lichter die beiden Jungen daran hinderten, näher an sie heranzutreten. „Misty, ich bin gleich bei dir! Ich helf dir!“ „Ash, red keinen Quatsch! Du siehst doch, dass sofort neue von diesen Dingern kommen, wenn wir ein paar davon beseitigt haben. Wir werden sie nicht los, also lass uns lieber darüber nachdenken, wie –“ „Dann muss ich eben so da durch, sollen sie doch bleiben, wo sie sind!“ „Ash, das ist Wahnsinn! Du siehst doch, wie –“ „Nein, Gary, es ist Wahnsinn, dass wir hier nur rumstehen und zusehen, wie Ishi irgendwas mit Misty anstellt!“ Er verschwendete keine weitere Zeit, kein weiteres Wort, sondern machte ein paar Schritte nach vorn. Die Lichter umschwirrten ihn dichter. Er ließ sich nicht beirren, zog seine Hände in die Ärmel seiner Jacke zurück, umfasste den Stoff von innen, um den Leuchtkugeln weniger Angriffsfläche zu bieten, und versuchte, sie mit den Armen zur Seite zu schieben, während er beharrlich einen Fuß vor den anderen setzte. Die Lichter berührten seine Wangen. Sein ganzes Gesicht brannte. Es war ihm egal. „Misty, ich bin gleich bei dir, hörst du! Ich, ah –“ Er zuckte zusammen, versuchte, den Schmerz zu verdrängen. Er würde es gleich geschafft haben. Er würde gleich bei ihr sein, und dann würde er ihr helfen, wie auch immer er das anstellen würde. Der Stoff seiner Jacke glitt ihm aus den Händen, und Ash musste einen weiteren Schmerzensschrei unterdrücken, als sich die Leuchtkugeln nun auch noch auf seine Handflächen setzten. Aber es war ihm egal. Sollten sie versuchen, ihn bei lebendigem Leib zu verbrennen – vorher würde er Misty retten. Es waren nicht mehr viele Schritte, vielleicht fünf. Misty hatte ihm verziehen, Misty hatte so viel Verständnis für ihn gezeigt, hatte ihm beigestanden, obwohl es sie selbst Überwindung gekostet haben musste; er würde sie jetzt nicht im Stich lassen. Vier. Sie hatten sich gerade erst wiedergefunden, hatten dieses riesige Missverständnis aus der Welt geschafft, er würde sie jetzt nicht wieder gehen lassen. Drei. Er hatte Dinge über sie erfahren, die er längst hätte wissen müssen. Er wollte wieder ein Teil ihres Lebens werden. Zwei. Sie sollte wieder ein Teil seines Lebens werden. Noch ein Schritt. Er würde sie retten. Ash packte das Mädchen bei den Schultern, und augenblicklich schossen die Lichtkugeln auseinander, schwirrten nur noch in gebührendem Abstand um die drei Federn herum. Ash lächelte zuversichtlich. Wenn das kein gutes Zeichen war. Aber er wusste nicht, was die Lichter wussten, nämlich, dass sie sich nicht mehr bemühen mussten. Sie hatten ihren Auftrag ausgeführt. „Misty, verdammt, was ist los? Was haben sie dir getan? Misty, mach doch endlich den Mund auf und sag irgendwas!!“ Doch das Mädchen stand weiterhin nur reglos da, den leeren Blick in irgendeine weite Ferne gerichtet. „Verdammt, Misty, rede!“ „Vergiss es, Ash, so wird das nichts!“ Auch Gary war nun herangetreten, hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Man sah ihm an, dass er versuchte, seine Furcht zu verbergen. „Ishi wird irgendwie Mistys Gedanken manipuliert haben, genauso, wie sie das bei dir getan hat.“ „Dann tu irgendetwas!!“ Zornig sah Ash den anderen an. „Halt mir keine Vorträge, sondern unternimm endlich etwas! Du hast Ishis Zauber bei mir doch auch gebrochen!“ „Ja, aber das war praktisch nur Zufall! Ich hatte doch keine Ahnung, dass der Bann gelöst wird, wenn du nur erfährst, dass Ishi dich reingelegt hat! Ihre Lüge war bei dir so offensichtlich, vielleicht brauchte es da einfach nicht mehr, als dir klarzumachen, dass du reingelegt worden bist. Aber Misty spricht im Gegensatz zu dir nicht mit uns! Sie sagt uns nicht, was Ishi ihr eingetrichtert hat. Und wenn wir das nicht wissen, weiß ich auch nicht, was wir dagegen tun sollen.“ „Dann willst du einfach so aufgeben? Willst du Misty einfach so aufgeben?!“ „Red keinen Unsinn, das hab ich doch überhaupt nicht gesagt! Du –“ Doch er brach ab, als ein Husten ihn zum Schweigen zwang. „Du weißt, dass ich das niemals tun würde. Du bist verzweifelt, das verstehe ich ja! Aber wir sollten jetzt lieber in Ruhe –“ „Geh zum Teufel mit deiner Ruhe! Ich werde nicht seelenruhig zusehen, wie irgendwer Misty das antut, was er mir angetan hat. Ich werde nicht zusehen, wie überhaupt irgendwer Misty irgendwas antut! Ich hol sie da raus!“ Gary sah ihn überrascht an, konnte dann aber nicht anders, als zu nicken. „Ok… Ich weiß zwar nicht, wie du das anstellen willst, aber…“ „Wenn Ishi sie da reingelockt hat, kann Ishi sie da auch wieder rausholen. Und dafür sorge ich!“ Es war lange her, dass er dermaßen entschlossen gewesen war, dass es einen Grund gegeben hatte, für etwas zu kämpfen. Aber das hier war vielleicht der wichtigste Grund, den er jemals haben würde. Er würde Misty retten. Mit einer energischen Geste griff er nach ihren Händen, drückte sie sacht, aber bestimmt, und schloss die Augen. „Misty, jetzt hör mir mal ganz genau zu. Ich weiß nicht, was Ishi dir wohlmöglich gerade einflüstert oder vorgegaukelt hat… Aber du bist jetzt nicht mehr allein. Du musst nicht allein mit ihr fertig werden. Ich bin bei dir, du brauchst keine Angst zu haben.“ Er lachte leise. „Überhaupt, wie stellst du dir das vor? Du kannst uns beiden Holzköpfe doch nicht einfach allein lassen, du weißt doch, wie das enden würde. Und wie sollen wir denn ohne dich die Welt retten, wie stellst du dir das vor?“ Mit einem Mal wurde es kalt um ihn herum, ängstlich riss er die Augen auf, nur um festzustellen, dass um sie herum nichts mehr war, nur eine dunkle Schwärze. Instinktiv zog er das leblose Mädchen in eine Umarmung und drückte sie näher an sich. Er versuchte, die in ihm aufkeimende Angst zu unterdrücken – er musste jetzt stark und mutig bleiben, sonst würde er Misty vermutlich niemals befreien können. Also harrte er in dieser bedrückenden Dunkelheit aus, wollte gerade zu einem spöttischen Kommentar ansetzen, um Misty zu signalisieren, dass er immer noch da und die ganze Situation nur halb so schlimm war, als sich die Szenerie um sie herum erneut veränderte, sich das Bildnis einer Stadt um sie herum bildete. Aber sie standen nicht mehr dort, wo sie es eigentlich hätten tun sollen. Das um sie herum, das war nicht mehr das verlassene Fabrikgelände von Foocashy City – es war Mistys Heimatstadt Azuria. An einem strahlenden Sonnentag, und mittendrin eine Arena voller Leben. Er wusste nicht, wie sie zerstört ausgesehen hatte. Er wusste nicht, wie er es im letzten Jahr geschafft hatte, überhaupt nichts von alldem mitzubekommen. War er so desinteressiert an seiner Umgebung gewesen, dass das alles spurlos an ihm vorübergegangen war? Sie mussten es doch überall erzählt haben. Sie mussten es doch in den Nachrichten gezeigt haben! Warum hatte er sich nicht für das Leben da draußen interessiert? Mit einem Mal fühlte er sich wieder schuldig und drückte das Mädchen noch ein wenig enger an sich. Aber jetzt war nicht die richtige Zeit für Schuldgefühle. Jetzt war die Zeit, um Misty zu retten. „Das ist es also. Ishi hat dir deine Arena gezeigt. Aber Misty, es ist nicht echt.“ Im nächsten Augenblick waren seine Arme leer und das Mädchen stand einige Meter von ihm entfernt, hielt die Arme vor der Brust verschränkt. Plötzlich war wieder Leben in den Augen, die ihn nun trotzig ansahen. Und auch, wenn es in dieser Situation unangebracht war, erinnerte sie ihn damit plötzlich wieder so sehr an die Misty, die er einst gekannt und so gemocht hatte. „Misty… komm, lass uns von hier verschwinden. Es ist nicht echt, lass uns zusammen –“ „Wer sagt, dass ich die Welt überhaupt retten will?“ „Was?“ „Du hast vorhin gefragt, wie ihr ohne mich die Welt retten sollt… Aber wer sagt, dass ich das überhaupt will? Wer sagt, dass es mir Spaß macht, mein Leben für eine Welt zu riskieren, in der ich anscheinend sowieso nicht glücklich werden kann?“ „Aber, ich dachte…“ „Mich hat niemand gefragt.“ Schmollend, verletzt wandte sie den Blick zur Seite. „Niemand hat gefragt, ob ich eine Feder werden will. Aber hätte ich nicht das Recht gehabt, einfach nein zu sagen? Hab ich nicht wenigstens jetzt das Recht, wenigstens jetzt das zu tun, was ich wirklich will? Das Recht, hierzubleiben, wo alles so ist, wie ich es mir gewünscht habe?“ Für einen Moment hatte er ihren Worten unsicher zugehört, aber nun war die Unsicherheit aus seinen Augen gewichen und machte einem entschlossenen Blick Platz. „Ich sage das! Nicht, dass du diese Welt gern retten würdest, oder dass es dir Spaß macht, oder dass es in Ordnung ist, dass du von irgendeinem Schicksal dazu gezwungen wurdest. Ich kann verstehen, dass du da auch gern ein Wörtchen mitgeredet hättest. Aber ich verbiete dir, hier zu bleiben! Du hast kein Recht darauf, denn diese Welt hier existiert einfach nicht! Und ich verbiete dir, in einer Traumwelt leben zu wollen!“ „Und wer gibt dir das Recht, mir etwas verbieten zu wollen?! Ishi hat gesagt, ich kann hierbleiben, Ishi hat gesagt, ich könnte hier glücklich werden und Ishi hat –“ „Gelogen! Wie soll ein Mensch in einer Welt glücklich werden, die nicht existiert? Misty, jetzt hör mir bitte mal zu, und versuch, mir auch wirklich zuzuhören. Natürlich ist es einfacher, sich in eine Traumwelt zurückzuziehen, wenn man mit seinen Problemen nicht mehr klarkommt. Natürlich ist es viel einfacher, alle Schmerzen einfach zu verdrängen und sich einzubilden, dass alles Ordnung sei. Aber glaubst du wirklich, dass das richtig ist?!“ Seine eigenen Worte trafen ihn plötzlich mit einer schmerzenden Erkenntnis. Hatte er sich nicht selbst jahrelang zurückgezogen, um all das zu verdrängen, mit dem er nicht klar gekommen war? Vielleicht bildete er sich deswegen ein, er könne sich vorstellen, was gerade in Misty vorgehen musste. „Wenn ich dadurch glücklich wäre?!“ Fast schon verzweifelt, aber auch ehrlich fragend schmetterte sie ihm die Worte entgegen. Ein leises Lachen entwich seiner Kehle. „Ja, dann vielleicht. Aber glaub mir, das wärst du nicht. Nicht lange. Du bist viel zu intelligent, um auf diesen Traum für lange Zeit reinzufallen. Selbst wenn Ishi dir das Wissen nehmen würde, dass es nur ein Traum ist und dich glauben machen könnte, es sei die Realität – du würdest schnell wieder begreifen, dass alles um dich herum nicht echt ist, nicht echt sein kann, wenn immer alles ohne jede Schwierigkeit abläuft. Und du weißt, dass es nicht so sein kann. Die Welt ist nicht perfekt.“     ***     Das Licht der Straßenlaternen hinter der Fensterscheibe war stumpf. Die Wege zu ihren Füßen verlassen. Warum hatte sie sich durch ein paar so einfache Worte verwirren lassen? Natürlich war er nicht gekommen. Das hatte sie doch vorher gewusst. Das war doch klar gewesen. Warum hatte sie sich dann erlaubt, es insgeheim doch zu hoffen? Sie hatte keine Ahnung, wo er sich momentan aufhielt. Aber sie wusste, dass er niemals wieder zu ihr kommen würde. Sie hatte ihre Chance vertan. Sie hatte es nicht besser verdient. Sie war allein.     ***     Drang er zu ihr durch? Irgendwie? Bedeutete ihr Schweigen, dass sie nachdachte über das, was er ihr gesagt hatte? Oder bedeutete es nur, dass es keinen Sinn mehr hatte, dass sie es aufgegeben hatte, mit ihm zu diskutieren? „Du würdest solch ein perfektes Leben nicht wollen. Das weiß ich einfach, weil… ich dich kenne.“ Zornig sah sie auf, wütend funkelten ihre Augen ihn an. „Was bildest du dir ein? Behauptest, mich zu kennen.“ Er verbarg ein Schmunzeln. Er kannte sie besser, als sie beide das bis vor kurzem noch geglaubt hatten. Er hatte geahnt, dass seine Bemerkung sie verärgern und so endlich wieder eine Reaktion provozieren würde. „Zumindest bilde ich mir ein, dich einmal gekannt zu haben, sehr gut sogar. Und die Misty, die ich kannte, hätte niemals aufgegeben!“ Er sah sie an, den Blick voll verzweifelter Entschlossenheit. „Misty, schwere Schicksale treffen nun mal fast jeden Menschen im Leben, manche vielleicht nur einmal, andere unter Umständen jeden Tag aufs Neue. Aber weißt du noch, was du Gary und mir gesagt hast? Dass wir alle mal schwere Zeiten durchmachen müssen und dass das noch lange kein Grund ist, sich an der gesamten Menschheit zu rächen. Und genauso ist es kein Grund, sich in eine nicht existierende Traumwelt zu flüchten! Misty, weder du noch ich können die Vergangenheit ändern, auch wenn wir das beide in einigen Punkten bestimmt ganz gern würden. Man kann an seiner Vergangenheit zugrunde gehen, oder versuchen, sie zu überwinden. Aber niemals kann man sich in einer Traumwelt dauerhaft vor ihr verstecken!!“  Die letzten Worte hatte er fast schon geschrieen, so als könne er ihnen damit irgendwie Nachdruck verleihen, als könne er das Mädchen damit irgendwie überzeugen. Aber nun schwieg er. Er wusste nicht mehr weiter. Und langsam konnte er die Angst in sich nicht mehr überspielen, die unglaubliche Angst, sie doch zu verlieren. Wenn Misty wirklich nicht wollte, wenn sie es wirklich vorzog, in der von Ishi geschaffenen Traumwelt zu bleiben, dann würde er sie nicht zurückholen können. Seine einzige Hoffnung war, dass Misty eben nicht wirklich solch ein Leben führen wollte. „Was du da sagst, klingt ja ganz gut und schön…“ Er horchte auf. Ihre Stimme war leise, nicht so aggressiv wie zuvor, beinahe verletzlich. Konnte es sein? Hatte er sie mit seinen Worten tatsächlich erreicht? „Aber… es nützt alles nichts mehr. Ich hab meine Chance vertan. Ich hab es nicht besser verdient. Ich bin allein.“ Hektisch schüttelte er den Kopf. „Aber du bist doch nicht allein!“ Einen Moment fürchtete er, die Stimme könnte ihm versagen, und seine Hände zitterten vor Aufregung. Aber er musste weiterreden, wenn er etwas erreichen wollte. „Misty, Gary und ich sind für dich da! Ich weiß, das ist in den letzten paar Tagen alles nicht so gut gelaufen, und wir hatten ja nicht gerade wenig Probleme… Aber ich verspreche dir –“ Er hielt einen winzigen Moment inne, dachte kurz nach. „Ich schwöre dir, wenn du es willst, wenn du es nur zulässt, dann… dann bin ich für dich da. So lange du mich bei dir haben willst.“ Er streckte seinen Arm aus und hielt ihr seine Hand hin. Er hoffte. Er hoffte so inständig, dass sie ihm vertrauen würde. „…Warum?“ Ash blinzelte irritiert. Dann legte sich ein zaghaftes Lächeln auf seine Lippen. „Na ja, weil ich…“ „Genug!!“ Eine tosende Stimme, die von überall zugleich und doch von nirgends zu kommen schien und in ihrer Wut mehr einem Kreischen glich, schnitt ihm das Wort ab. „Du kannst sie nicht zurückholen! Du kannst es nicht!“ Um sie herum begann es mit einem Mal dunkel zu werden und ein eisiger Wind zerrte an seiner Kleidung. Er konnte Ishis Wut spüren. „Es ist nicht fair von dir! Lass sie hierbleiben, hier hat sie alles, was sie sich wünscht! Du kannst nicht so egoistisch sein, sie wieder von hier fortzuführen!“ „Wenn hier irgendwer egoistisch ist, dann ja wohl du! Du hast sie doch nur in diesen Traum gesteckt, damit die Legende sich nicht erfüllen kann!“ Abermals streckte er die Hand nach dem Mädchen aus. „Misty, hör ihr nicht zu!“ „Was kannst du ihr schon bieten?“ „Die Realität! Und die ist so viel mehr wert als das, was du hast. Und… mich.“ Er sah sie eindringlich an. „Misty, komm zurück! Lass uns das hier gemeinsam durchstehen, und wenn wir das geschafft haben, bleiben wir für immer zusammen!“ Sie zögerte ein letztes Mal. „Ich bitte dich… nimm meine Hand.“ Und griff zu.   Seine Hände umklammerten den Körper in seinen Armen. Der Wind und die Kälte waren verschwunden. Als ihm bewusst wurde, dass er seine Augen krampfhaft geschlossen hielt, öffnete er sie vorsichtig. „Misty?“ Er hatte Angst, sie anzusprechen. Hatte Angst davor, dass er sich ebenfalls hatte betrügen lassen und dass er in Wahrheit doch nichts erreicht hatte. „Ja…?“ Umso erleichterter war er, als er nun ihre Stimme vernahm, die zwar leise und ein wenig bedrückt klang, aber immerhin endlich wieder mit ihm sprach. Reflexartig zog er sie dichter an sich, sodass das Mädchen einen überraschten Laut von sich gab. Dann traf ihn eine Erkenntnis und er ließ sie augenblicklich wieder los. „Verdammt, entschuldige, ich hab die ganze Zeit nicht daran gedacht, dass dir die Elektrizität unangenehm sein könnte, und dabei wollte ich doch –“ „Ist schon in Ordnung.“ Sie zwang sich zu einem winzigen Lächeln. „Ash?“ „Ja?“ „…Danke.“ Er erwiderte das Lächeln. „Keine Ursache.“ Er jetzt fiel sein Blick auf Gary, der neben ihnen stand und ungläubig den Kopf schüttelte. Aber auch er lächelte. „Gary, was…“ „Ich hab nicht die geringste Ahnung, wie du das angestellt hast. Aber du hast es geschafft.“ Er schenkte ihm einen Blick, der neben erstaunter Bewunderung auch unendliche Erleichterung widerspiegelte. „Willkommen zurück, Misty.“ „Ich konnte euch zwei Chaoten doch nicht alleine lassen.“ „Na sag ich doch… Gary, was ist mit Ishi?“ „Weg. Zumindest für's erste, denke ich. Wie gesagt, ich hab keine Ahnung, was da gerade passiert ist. Du hast Misty die ganze Zeit einfach nur festgehalten und sonst ist absolut nichts geschehen. Bis mit einem Mal diese ganzen Leuchtkugeln endgültig verschwunden sind und Misty die Augen geöffnet hat. Ihr könnt mir glauben, ich hab mir schon echt Sorgen gemacht, dass sie euch jetzt beide zu irgendwas bequatscht hat, weil du genauso auf nichts reagiert hast wie Misty. Aber jetzt scheint ja alles wieder in Ordnung zu sein?“ Die beiden nickten. „Könnt ihr mir dann wenigstens jetzt erklären, was hier gerade vorgefallen ist?“ Sie sahen einander ratlos an. „So ganz genau weiß ich das ehrlich gesagt auch nicht…“ „Ishi hat mir angeboten, in einer Traumwelt zu leben, in der der Unfall in der Arena nie passiert ist.“ Sie begann, zu erzählen, was Ishi ihr erzählt hatte, was Ishi ihr gezeigt hatte und von dem Traum, in dem sie sich mit einem Mal wiedergefunden hatte. Ash erzählte, wie er auf sie eingeredet hatte, was er gesagt hatte, um sie wieder zurückzuholen, und fasziniert stellten die drei fest, wie das Gesagte Mistys Traum beeinflusst hatte. Als die beiden mit ihren Erzählungen geendet hatten, war es einen Augenblick lang still zwischen ihnen, bis Ash seinen Blick unsicher in die Ferne richtete, wo sich über Neonlichtern und Reklameschildern ein tiefblauer Himmel erstreckte. „Meinst du, sie ist jetzt wirklich erst mal weg? Ich meine, warum haut sie so plötzlich ab, nur weil einer ihrer Pläne nicht funktioniert hat?“ „Warum eigentlich sie?“ Ash blinzelte irritiert. Es stimmte, sie waren irgendwann einfach dazu übergangen, von Ishi als von etwas Weiblichem zu reden. Warum? Weil sie unterbewusst immer an die Macht dachten? Die Energie? „Es war eine weibliche Stimme.“ Die beiden Jungen sahen auf. „Wer auch immer mich da zugetextet hat… das war eine weibliche Stimme.“ „Jetzt, wo du's sagst… Stimmt, sie hat ja auch ganz kurz mit mir geredet und mich angeschrieen, ich soll dich in Ruhe lassen. Du hast recht, das war eine weibliche Stimme.“ „Vielleicht hilft uns das weiter, den Ishi-Träger, oder eben die Trägerin zu finden… Wenn es nicht nur ein Trick ist, um uns zu verwirren. Aber um auf deine Frage zurückzukommen… Ich denke schon, dass sie jetzt erst mal wieder weg ist. Du darfst nicht vergessen, ihre Tricks und Vorgehensweisen sind rein psychologischer Art… Sie hetzt uns gegeneinander auf, sie versucht, uns auseinander zu bringen und will erreichen, dass wir nicht mehr an die Vollführung unserer Aufgabe glauben. Das alles kostet Zeit. Sie muss eine Menge über uns herausfinden, bevor sie etwas gegen uns verwenden kann.“ Misty nickte. „Genau. Schließlich kann sie uns nicht einfach töten, weil dann nur wieder eine neue Feder erwachen würde. Also muss sie uns anders aus dem Weg räumen. Und diese Manipulation ist zwar sehr gefährlich, aber sicherlich auch sehr anstrengend.“ „Und sie nutzt dafür jeweils unsere größten Schwächen. Bei mir war es die Tatsache, dass ich nicht mehr bereit war, jemandem zu vertrauen und in allem und jedem etwas Böses sehen wollte. Und bei Misty…“ „Die Tatsache, dass ich Angst davor habe, eine Feder zu sein, dass ich nicht weiß, ob ich für diese Bürde bereit bin… Und dass ich auch gerne Dinge aus meiner Vergangenheit ungeschehen machen will. Es wäre so einfach, die Arena wieder aufzubauen, wenn mir nicht der Mut und die Kraft dafür fehlen würde…“ „Mach dir keine Vorwürfe. Man muss nicht immer stark sein. Und schon gar nicht muss man es immer allein. Wenn du willst, und wenn das hier alles durchgestanden ist… dann komm ich mit nach Azuria und helfe dir.“ Sie lächelte ihn dankbar an und auch Gary nickte zufrieden. „Na schön, dann lasst uns jetzt zurückgehen. Hier scheint es für uns nichts mehr zu tun zu geben.“ Er hatte den beiden bereits den Rücken zugewandt, als Ash seine Frage stellte. „Und was ist mit dir, Gary?“ Er hielt inne. „Was ist deine Schwäche? Ishi wird es als nächstes unter Garantie auf dich abgesehen haben, und dann wäre es klug, schon vorher zu wissen, womit wir es zu tun haben.“ „Es gibt nichts.“ „Bist du sicher?“ Das Mädchen verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich meine, wir haben doch alle irgendwelche Schwächen.“ „Ja, sicher.“ Er unterdrückte das Husten, das seiner Kehle entweichen wollte. „Natürlich hab auch ich meine Schwächen. Aber das ist alles nichts, was Ishi irgendwie für ihre Psycho-Spielchen gebrauchen könnte.“ „Bist du dir sicher, dass du das so leicht sagen kannst?“ Misty besah ihn mit einem nachdenklichen Blick. „Ishi ist für uns bisher doch unberechenbar. Wer weiß, was sie sich alles zunutze machen kann.“ „Glaubt mir, wenn ich auch nur den geringsten Verdacht hätte, dass Ishi irgendetwas davon ausnutzen könnte, dann würde ich es euch sagen. Also lasst uns jetzt gehen.“ Ash und Misty sahen sich einen Moment lang ratlos an, folgten dann aber schließlich Gary, der sich bereits in Bewegung gesetzt hatte.   „Was hältst du davon?“ Misty zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht so recht. Einerseits glaube ich ihm, wenn er sagt, es gäbe nichts, was Ishi ausnutzen könnte… Andererseits mache ich mir Sorgen, dass er sich da vielleicht selbst überschätzt, Du kennst ihn ja auch, du weißt, dass er immer stark und unabhängig wirken will. „Ja, aber ich fürchte, dass wir im Augenblick wohl keine andere Wahl haben werden, als ihm zu vertrauen.“ Durch das geöffnete Fenster drangen die Geräusche des geschäftigen Nachtlebens von Foocashy City herein, Straßenlärm, Stimmengewirr. Nur ganz selten konnte man darunter auch das zarte Rauschen einiger Baumkronen oder die dünnen Stimmen mancher nachtaktiven Pokémon ausmachen. Nur die schrille Beleuchtung der Stadt hielt sich auf der Fensterseite des Raumes in Grenzen, und so war es lediglich eine einzelne, flackernde Straßenlaterne, die ihr schwächliches Licht ins Zimmer schickte und es praktisch nicht zu erhellen vermochte. „Ash… danke noch mal.“ „Ist doch gut. Du hast mir so viel verziehen, da war das ja wohl das Mindeste, was ich tun konnte.“ Die Dunkelheit verbarg die Regungen auf seinem Gesicht, aber das Lächeln war in seiner Stimme dafür umso deutlicher zu hören. „Also, natürlich hätte ich das auch so gemacht, auch ohne Gegenleistung!“ Er hielt kurz inne. „Und noch einmal: Ich hab alles gemeint, was ich gesagt habe. Wenn du willst, dann bin von jetzt an für dich da. Ich möchte dich auf keinen Fall ein zweites Mal verlieren. Wenn du willst, bleibe ich für immer bei dir.“ „Warum?“ Er blinzelte, bevor er nervös lachte und sich an den Hinterkopf fasst. „Ja, warum…“ Doch dann besann er sich, und seine Stimme war mit einem Mal ungewohnt stark und ruhig, als er weitersprach. „Weil wir Freunde sind. Für immer.“ Sie nickte. „Freunde.“ Die Dunkelheit verbarg die Regung ihres Körpers, als sie sich zu ihm beugte, und verbarg den Blick, mit dem sie ihn besah. Aber die Berührung, als sie ihre Lippen in einem vorsichtigen Kuss auf seine legte, war dafür umso klarer. „Für immer.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)