Federspiel von Miuu ================================================================================ Kapitel 12: Die ganze Wahrheit ------------------------------ Gischt spritzte an den zerklüfteten Felsen hoch. Wasser wusch sich in das Gestein, hatte es spiegelglatt geputzt dort, wo es mehrere Tausend Male am Tag entlang floss. Die Schwester Joy von Dansazu City hatte recht behalten: Hier gab es absolut nichts. Kein Pokémon war weit und breit zu sehen, keine Büsche, keine Gräser, nicht einmal Wasserpflanzen hatten sich in den Ritzen zwischen dem unterspülten Gestein angesiedelt. Die Insel war nichts weiter als eine große Ansammlung von Felsen und Geröll, nur selten unterbrochen von trostlosem Sandboden. Ein lebloser Haufen Stein, und mit einem Mal konnte keiner der drei Federn den Touristen und Einwohnern der Stadt mehr verübeln, dass niemand Interesse an diesem Fleckchen Insel zu haben schien. „Das ist sie also…“ Niemand außer ihnen dreien, und von ihnen war ohne Zweifel Ash derjenige, der in diesem Moment am aufgeregtesten war. Er war der einzige von ihnen, der die eingeritzten Worte noch nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, und wie sie alle bangte natürlich auch er, oder vielleicht sogar gerade er, ob es nun einen dritten Teil der Legende geben würde, ob seine Anwesenheit oder die von Zapdos oder die von ihnen beiden zusammen ein neues und dann hoffentlich letztes Stück der Inschrift freilegen würde. „Ja, das ist sie. Die Insel, auf der Gary und ich zum ersten Mal die Legende der Federn gelesen haben. Oder zumindest einen Teil davon. Und das dort…“ Doch sie musste ihren Satz nicht beenden. Viel zu imposant, viel zu auffällig türmte sich die Felswand einige Meter vor ihnen auf. Die Wand, von der sie endlich Antworten auf alle noch offenen Rätsel erwarteten. „Also, wollen wir hin?“ Eigentlich war Garys Frage überflüssig. Natürlich wollten sie sehen, wie es um die Inschrift stand, ob es abermals mehr Worte geworden waren, ob der Text um die Legende jetzt endlich vollständig war. Aber was, wenn nicht? Sicher, die Wahrscheinlichkeit war groß, dass es sich tatsächlich so abspielen würde, wie sie sich das vorgestellt hatten. Dass jeder von ihnen mit seiner Anwesenheit hier dafür gesorgt hatte, dass ein Stückchen der Legende erschienen war, warum auch immer der Text nicht von Anfang an komplett gewesen war. Aber was, wenn sie sich irrten? Wenn es doch nur ein seltsamer Zufall gewesen war, dass Gary mehr Worte hatten lesen können, nur Unachtsamkeit, dass Misty die Hinweise entgangen waren? Oder selbst wenn nicht, was war, wenn es trotzdem keinen dritten Teil der Legende geben würde? Gar nicht, oder nicht unter den Umständen, die sie, wo sie nun alle drei hier waren, geschaffen hatten? Sie hatten die ganze Zeit darauf gesetzt, dass sie nach dem Besuch auf der Insel mehr wissen würden als zuvor, dass sie im besten Fall wissen würden, was sie als nächstes zu tun hatten, wie es weitergehen sollte, wie ihre eigentliche Mission lautete. Was, wenn sie letztendlich genauso klug von hier zurückkehren würden, wie sie hierher gekommen waren? „Klar wollen wir. Ich geh jetzt hin.“ Es war Ash, der als erster das nachdenkliche Schweigen brach. Warten würde sie nicht weiterbringen. Entweder gab es einen dritten Teil der Legende, oder es gab eben keinen, aber das würde sich nicht ändern, nur weil sie hier herumstanden und sich vor der Wahrheit fürchteten. Außerdem wusste er einfach, dass es einen dritten Teil gab. Es musste einfach. Also ließ er seinen beiden Mitspielern gar nicht erst die Gelegenheit, noch einmal Widerworte anzubringen, sondern stapfte fest entschlossen auf die Felswand zu. „Ash, nun warte doch mal! Mann, ein Kindskopf wie eh und je. Ash!“ Sie lief ihm nach. Denn eigentlich wollte sie weder, dass er anhielt, noch dass er wartete. Sie wollte es einfach nur noch wissen. „Tja, dann ist das jetzt wohl der Moment der Entscheidung.“ Er richtete die Worte an sich, leise, wie das schwache Husten, das den anderen beiden diesmal verborgen blieb. Dann folgte er ihnen. Da war sie also nun. Die mystische Felswand, von der jetzt alles abhing. Es war soweit. Ein plötzliches, hauchzartes Klirren, das fast im Getöse des Meeres um sie herum untergegangen wäre, ließ die drei aufhorchen. „Was war das?“ Unsicher sah Misty sich um. „Ich weiß es nicht…“ Auch Gary ließ seinen Blick prüfend über die Umgebung gleiten, bevor er wieder bei der Wand vor sich ankam. „Aber schau mal lieber dort hin.“ Er deutete auf die Felsen, auf denen sich nun ganz klar und deutlich Reihen von Buchstaben zu Wörtern aneinanderfügten, Zeile für Zeile, ohne eine einzige Lücke darin. „Es ist mehr Text.“ Er hustete leise. „Vielleicht war die Botschaft versiegelt. Vielleicht war das das Geräusch eben, vielleicht ist das Siegel gebrochen, weil wir jetzt alle drei hier sind.“ „Ishi?“ „Gut möglich, auch wenn ich nicht weiß, warum sie die Legende dann nicht gleich ganz verschwinden lässt, sondern nur einen Gemeinschaftsausflug für uns daraus macht. Na, vielleicht kann sie es nicht anders.“ „Leute, ist das jetzt nicht egal? Ich will endlich wissen, was da steht!“ Ja, es war egal. Schweigend traten die drei an die Inschrift heran und lasen die Legende der Federn.   Es gibt da drei Mächte, die verkörpern die Elemente und halten die Welt im Gleichgewicht. Ellenki, die Kraft des Windes und der Elektrizität; Wazu, die Kraft des Wassers und des Eises und Fii, die Kraft des Feuers und der Erde. Sie sind so alt wie die Zeit und werden von den Pokémon verkörpert, die auch alt wie die Zeit sind, Zapdos, Arktos und Lavados. Und wann immer das Gleichgewicht der Welt auseinander zu geraten droht, erwachen drei auserwählte Menschen, die drei Federn. In ihnen liegt eine starke Kraft verborgen, die es ihnen erlaubt, die Elementarmächte zu bändigen und sich ihrer zu bedienen. Die drei Vögel testen die drei Auserwählten, und wenn sie sich als würdig erwiesen haben, dann verbünden sie sich mit ihnen und bringen das Gleichgewicht der Welt wieder in Ordnung. Und wer einmal eine Feder war, der bleibt es bis zu seinem Tod und bleibt bis zu seinem Tod mit seinem Vogel verbunden. Und wenn der Auserwählte stirbt, kehrt der Vogel zurück und wartet, bis er eine neue Feder erwecken muss. Das war der Teil über sie selbst, über die drei Federn, die drei Mächte und die drei Vögel. Den Teil, den sie bereits kannten. Was nun folgte, war der Teil über Ishi, über die böse Macht, die sie aus der Welt vertreiben mussten. Der Teil, der endlich Antworten bringen sollte. Und dann ist da noch eine weitere Macht, und das ist Ishi, die Kraft über die Gedanken und das Seelenleben. Aber Ishi ist anders als die anderen Mächte, und anstatt das Gleichgewicht zu bewahren, schafft sie das Besondere, und anstatt einem Auserwählten zu dienen, wird sie ab und an einer Person zuteil, die einen Neubeginn wünscht. Ishi hat die Kraft für diesen Neubeginn, und wer sie beherrscht, der beherrscht auch das Pokémon, das Ishi verkörpert; und das ist Mew. Ishi birgt die Kraft über die Gedanken, und zwar über die eigenen Gedanken, und das macht ihren Träger stark. Aber Ishi birgt auch die Macht, die Gedanken anderer zu manipulieren, und das macht sie noch stärker, und für manch einen ist sie zu stark. Mit dem richtigen Willen ist ihr Träger zu Großem fähig. Aber wer sie nicht kontrollieren kann, wer zu schwach für diese große Macht ist, den stürzt sie ins Chaos, und dann gerät Ishi außer Kontrolle und stürzt die ganze Welt ins Chaos. Und wann immer Ishi außer Kontrolle gerät, erwachen auch die drei Federn und werden von den drei Vögeln zusammengeführt. Es ist ihre Aufgabe, Ishis Träger in jedem Fall zu stoppen, was auch immer sie dafür tun müssen. Und nur gemeinsam kann es ihnen gelingen, Ishi zu bannen und zu versiegeln, auf dass sich die Welt wieder beruhigen kann. Unbehagen machte sich in ihnen breit. Und das Gefühl, bisher von völlig falschen Tatsachen ausgegangen zu sein. Nur mit Mühe konnten sie sich dazu durchringen, auch noch die letzten Zeilen der Legende zu lesen.   Aber Ishi lässt sich nicht auf ewig verbannen, und das mag gut sein oder es mag schlecht sein. Aber sie wird weiter existieren, und solange sie das tut, existieren auch Ellenki, Wazu und Fii und existieren Zapdos, Arktos und Lavados und existieren die drei Federn, die sie immer wieder aufhalten werden. Ash, Misty und Gary schwiegen. Das war es also? Das war die ganze Wahrheit hinter der Legende der Federn? Das Unbehagen von zuvor wuchs. Das, was sie da gerade gelesen hatten, das war nicht das gewesen, was sie erwartet hatten. Sie hatten erwartet, endlich alles über eine dunkle, böse Macht zu erfahren, über eine böse Kraft, die sie drei, die Helden in dieser Geschichte, beseitigen mussten, um die Welt zu retten. Und nun? „Ishi ist also keine negative Kraft, kein großer böser Gegner…“ Gary war der erste, der seine Sprache wiederfand. „Sie ist genauso eine Energie wie die drei anderen auch.“ „Und sie sollte ihrem Menschen eigentlich Glück bringen und ihm helfen.“ Misty richtete den Blick zu Boden. „Ist aber anscheinend außer Kontrolle geraten… Und anscheinend 'mal wieder'…“ „Was bedeutet“, Ash sah die anderen beiden an, „dass der Mensch, dem Ishi zuteil geworden ist, sie nicht beherrschen kann… Und das wiederum heißt…“ „Dass wir es aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem Unschuldigen zutun haben, der vielleicht überhaupt nicht weiß, oder zumindest nicht steuern kann, was er gerade anrichtet.“ „Das ist nicht unbedingt gesagt“, unterbrach Misty ihn. „Es könnte auch jemand mit wirklich bösen Absichten sein, der sich Ishi zunutze macht, um seine Pläne –“ „Was denn für Pläne?! Ishi hat doch bisher nichts getan, was nicht mit uns dreien zusammenhing! Ihr Mensch hat es nur auf uns abgesehen, spricht das nicht erst recht dafür, dass er gar keine wirklichen Pläne hat, sondern dass diese vierte Energie außer Kontrolle geraten ist?“ „Nun streitet doch nicht…“ Es war ungewohnt, dass dieser ruhige Schlichtungsversuch ausgerechnet von Ash kam. „Lasst uns zurück in die Stadt fliegen. Ich hab die Legende abgeschrieben.“ Auch wenn er sich nicht sicher war, ob das überhaupt einen Nutzen hatte. Sie hatten keinen Anhaltspunkt mehr. Sie wussten nicht, was sie als nächstes tun sollten, was als nächstes geschehen würde. Sie wussten nicht, mit wem sie es zu tun hatten und wie sie ihn besiegen konnten. Sie hatten so viel Neues erfahren, aber das änderte nichts daran, dass ihr Weg nun in eine Sackgasse mündete. „Kehren wir um.“   Eigentlich war überhaupt nicht viel Zeit vergangen, seitdem sie von Dansazu City aus aufgebrochen waren. Trotzdem kam es ihnen jetzt so vor, als müsse es mindestens eine Ewigkeit her sein, dass sie zuletzt an diesem Strand gestanden hatten. Seichte Wellen schlugen auf dem Ufer auf, die Sonne lachte vom Himmel, die fröhlichen Stimmen der Badegäste und das vergnügte Kreischen spielender Kinder tönten durch die Gegend. Sie fühlten sich hilflos. Schweigend setzten sie einen Fuß vor den anderen, die ausgelassenen Urlauber, den blauen Himmel und das noch blauere Meer keines Blickes würdigend. War es das? War das das Ende ihrer großen Pläne? Ihres heldenhaften Versuchs, die Welt zu retten? Konnten sie jetzt nichts weiter tun, als abzuwarten? Zu warten, ob Ishi einen neuen Spielzeug eröffnen würde, auf den sie dann nur reagieren konnten? Waren sie nichts weiter als Marionetten in diesem Spiel? „Ihr drei…“ Sie sahen auf. Blickten irritiert auf die alte Frau, die mit einem Mal vor ihnen stand. Sie waren so in ihre Gedanken vertieft gewesen, dass sie sie nicht hatten kommen sehen. „Können wir Ihnen helfen, Madam?“ „Ich möchte euch bitten, mit mir mitzukommen. Ich würde gerne mit euch reden.“ „Ma'am, wenn Sie uns vorher vielleicht sagen könnten, worum es geht?“ „Ihr drei… Ihr seid Federn, nicht wahr?“ Die drei sahen sich unschlüssig an. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)