Federspiel von Miuu ================================================================================ Kapitel 1: Der Anfang --------------------- Er sah nicht auf, als sich am Himmel dichte schwarze Wolken zu einer immer größer werdenden Masse zusammenballten. Sicher würde es bald ein Gewitter geben, doch das sollte ihn nicht weiter stören. Viele Menschen fürchteten sich davor, doch er liebte es, wenn das tiefe Donnergrollen ertönte, wenn hellgrelle Blitze über den Himmel zuckten. Dies waren die Augenblicke, in denen er vergessen konnte, was in den letzten Jahren geschehen war, Momente, in denen er losgelöst von alldem war. Ein rauer Wind begann zu wehen, und es würde wohl wirklich nicht mehr lange dauern, bis die ersten Regengüsse niedergingen. Mit einer gewissen Selbstzufriedenheit beobachtete der sechzehnjährige Junge, wie die Menschen nach und nach die Straßen verließen und sich in ihre Häuser flüchteten. Er lächelte nur vergnügt. Ihn würde nichts hier weg holen. Sicher, es war nicht ganz ungefährlich, aber andererseits, was war in dieser Welt schon frei von Gefahr? Und was hatte er zu verlieren? Nachdem sie sich einer nach dem anderen alle aus den Augen verloren hatten, war er, abgesehen von seinen Pokémon natürlich, immer allein gewesen. Er hatte nichts zu verlieren. Die ersten waren Tracey und Rocko gewesen, die irgendwann ihre eigenen Wege gegangen waren. Danach war er vielleicht noch ein Jahr mit Misty zusammen geblieben, bis auch sie ihn eines Tages ohne weitere Erklärungen verlassen hatte. Nicht einmal Gary war mehr da, war irgendwann spurlos verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Eine Zeit lang hatte er sie noch vermisst, auch Gary, obwohl dieser jahrelang sein Rivale gewesen war. Doch mit der Zeit war seine Trauer geringer geworden, bis sie schließlich ganz verschwunden war. Sie hatten sich nie wieder gemeldet, es lag ihnen wohl nichts an ihm. „Pi!“ Das Elektropokémon, das bis jetzt ruhig neben ihm gesessen hatte, zuckte plötzlich mit den Ohren und richtete sich blitzschnell auf, blickte zum Himmel hinauf. „Was ist, Pikachu? Es ist nur ein Gewitter, nichts weiter.“ Doch auch er sah nun auf, blickte in das dichte Wolkenmeer, und die Farbe des Himmels, die Spannung, die in der Luft lag, der Wind, der sich irgendwie anders anfühlte als sonst, all das ließ ihn mit einem Mal daran zweifeln, dass es sich nur um ein gewöhnliches Gewitter handelte. „Du hast recht.“ Sein Blick verfinsterte sich. „Irgendetwas stimmt nicht. Ganz und gar nicht.“ Wie zur Bestätigung seiner Worte konnte er am Himmel plötzlich die Gestalt eines Wesens ausmachen. Eines riesigen Wesens. „Was zum…“ Doch weiter kam er nicht, denn im nächsten Augenblick zuckte ein gigantischer Blitz vom Himmel. Kein gewöhnlicher Blitz, und Ash zweifelte keine Sekunde daran, dass es kein bevorstehendes Gewitter war, was ihn hervorgerufen hatte. Aber was um Himmels Willen war es dann? Was konnte eine dermaßen hohe Elektrizität erzeugen? Die Antwort darauf ließ nicht lange auf sich warten, erschien plötzlich mit mächtigen Schwingen aus den Wolken, spitz der lange Schnabel, der ganze Körper umgeben von einer unvorstellbaren Energie, die sich immer wieder in kleinen, zuckenden Blitzen entlud. „Zapdos?!“ Ungläubig starrte er auf das gigantische Vogelpokémon. Was machte Zapdos hier, hier mitten in Alabastia, mitten in der Stadt? Er wurde unsanft aus seinen Gedanken gerissen, als ein Blitz direkt neben ihm in einen Baum schlug. Verwundert blickte er auf und sah in das zornige Antlitz des mächtigen Elektropokémons. Dann folgte ein weiterer Angriff, der Ash wiederum nur um Haaresbreite verfehlte. „Es… greift mit Absicht an?“ Auch Ash wurde nun wütend, denn selbst wenn ihn für gewöhnlich sämtliche Geschehnisse unberührt ließen, so würde er jetzt nicht einfach zusehen, wie der legendäre Vogel seine Heimatstadt zerstörte – seine Stadt, in der er vor langer Zeit einmal glücklich gewesen war. Hastig tastete er nach einem Pokéball. Er hatte sie schon lange nicht mehr zum Kämpfen benutzt, seine Pokémon nur von Zeit zu Zeit aus ihren Bällen gelassen, damit sie nicht immer darin eingesperrt waren. Einen winzigen Augenblick dachte er zurück an die Zeit, als er das zweite Mal bei der Pokémonliga angetreten war, dann jedoch einen Tag vor dem alles entscheidenden Finale aufgehört hatte zu kämpfen, von einem Augenblick auf den nächsten, als ihm klar geworden war, dass es ihm nichts mehr bedeutete. Von da an hatte er nie wieder wirklich gekämpft. Nie wieder, bis heute. Er verschwendete seine Zeit nicht mit weiteren Überlegungen, griff behände nach einem der Pokébälle und schleuderte ihn vor sich auf den Boden. Im Gegensatz zu früher, als er noch sämtliche seiner Aktionen mit lautem Rufen begleiten musste, stand er nun still da und sah schweigend auf den gelb-schwarzen Ball, der sich in diesem Augenblick öffnete und seinen Inhalt Preis gab. „Rizeros!“ Ash schwieg, fixierte nur mit finsterem Blick das Vogelpokémon, das noch immer seine Kreise am Himmel zog und von Zeit zu Zeit einen Blitz zur Erde schickte. „Steinschlag.“ Die Stimme des Jungen klang kühl, nicht mehr so lebhaft wie einst, wenn er mit seinen Pokémon gesprochen hatte. Dennoch gehorchte das Rizeros, ohne auch nur einen einzigen Moment zu zögern und führte die mächtige Attacke gegen das fliegende Pokémon aus. Zapdos wurde zwar getroffen, doch galt es nicht umsonst als das stärkste Elektropokémon überhaupt. Es taumelte nur kurz benommen, stand dann aber fest und stark wie zuvor am Himmel und fixierte den Jungen ausgiebig. Das war ungewöhnlich, denn selbst wenn die Pokémon in einem Kampf wussten, dass die Befehle für die Angriffe von den Trainern ausgingen, griffen sie niemals sie an, sondern konzentrierten sich auf ihre Pokémon-Gegner. Aber ihn überkam das Gefühl, dass Zapdos es ausschließlich auf ihn abgesehen hatte. Mehr Zeit zum Nachdenken blieb ihm jedoch nicht, als ein erneutes Blitzgewitter von Zapdos auf ihn zu stürzte – auf ihn, nicht auf sein Pokémon. Ash spielte mit dem Gedanken, ein weiteres Pokémon in den Kampf zu schicken, hatte bereits eine Hand an seinem Gürtel, als er in der Ferne am Horizont eine weitere große Gestalt ausmachen konnte. 'Doch nicht etwa noch eins von denen. Na wartet, euch mach ich fertig.' Angestrengt versuchte er nun, das zweite Pokémon zu erkennen, aber auch Zapdos nicht aus den Augen zu lassen, denn der gewaltige Donnervogel attackierte ihn weiterhin und Rizeros' Attacken wirkten beinahe hilflos gegen das legendäre Pokémon. Wieder wandte Ash seinen Blick kurz von Zapdos ab, um auf das Pokémon in der Ferne zu schauen. Inzwischen konnte er sehen, dass sich um den zweiten legendären Vogel, den Vogel des Eises, handelte. Arktos. „Na schön.“ Hastig griff er nun nach einem weiteren Pokéball und warf ihn auf den Boden. Auch diesmal hatte er seine Entscheidung mit Bedacht getroffen, auch wenn seine abgebrühte Schnelligkeit nicht darauf hätte schließen lassen. „Tornupto!“ Arktos war noch nicht so nah heran gekommen wie Zapdos, doch die Konturen des blauen Vogels konnte Ash bereits erkennen – genug, um sofort mit dem vernichtenden Angriff zu beginnen. „Feuerstu-“ Doch er brach jäh ab, als er plötzlich die Gestalt eines Menschen auf dem zweiten Pokémon ausmachen konnte. „Warte, Tornupto.“ Das Pokémon gehorchte widerstandslos und stoppte die Attacke sofort. Ash kniff die Augen zusammen, bemühte sich angestrengt, die Person auf dem Eisvogel genauer erkennen zu können, und vergaß beinahe den zornigen Donnervogel, der noch immer über ihm mit wütendem Geschrei umherflog. Schnell wandte er sich wieder von der sich nähernden Gestalt auf dem Vogel ab und wich einigen erneuten Blitzen seines gefiederten Feindes aus. Was zum Teufel hatte er Zapdos getan, dass es dermaßen auf ihn losging? „Ash!“ Der Junge wandte sich erschrocken herum. Das Rufen war von der Person auf Arktos gekommen, und jetzt endlich konnte er zwischen ein paar Ausweichmanövern einen genauren Blick auf sie werfen. Es war ein Mädchen, doch wirklich erkennen konnte er es nicht, denn die Kapuze eines dunklen Mantels verbarg seine Gestalt und seine Gesichtszüge. Sie lenkte den großen Vogel ohne Schwierigkeit, obwohl dieser sich nur einmal hätte aufbäumen müssen, um sie abzuwerfen. Erst, als eine starke Windböe ihr die Kapuze vom Kopf riss, konnte er ihr Gesicht sehen, jung und hübsch, umrandet von langen, roten Haaren, aber auch versehen mit Sorgenfalten.  „Aber… aber das kann unmöglich sein, sie…“ Er traute seinen Augen nicht und seine Pokémon warteten vergebens auf einen neuen Befehl. „Ash, du musst Zapdos einfangen! Sofort!“ „A-aber, Misty, was machst du überhaupt hier, und die Vögel – was soll das alles?“ „Ash, ich erklär dir alles später, aber jetzt fang Zapdos ein! Wenn du es nicht einfängst, wird es dich töten!“ „Mich töten?!“ „Ash, stell' keine Fragen, fang es!“ Es lag so viel Besorgnis, vielleicht sogar Angst in ihrer Stimme, dass Ash nicht länger zögerte und nun sowohl Rizeros als auch Tornupto Zapdos angreifen ließ. „Steinhagel! Feuersturm!“ Sie wirkte einen Augenblick überrascht darüber, wie kühl seine Angriffe klangen, nicht mehr so voller Eifer wie früher. Doch dann wandte sie sich wieder dem Kampf zu. Es schien ihr wirklich viel daran zu liegen, dass er Zapdos fing – aber warum? Warum in aller Welt wollte Zapdos ihn töten? Warum kam sie nach all den Jahren so plötzlich zurück in sein Leben? „Ash!“ Mist, er kämpfte wirklich unkonzentriert, hatte nicht bemerkt, dass Tornupto fast am Ende seiner Kräfte war. Nun gut, dann würde er es halt so versuchen müssen. Schnell, aber dennoch mit einer beinahe furchteinflößenden Ruhe griff er nach einem leeren Pokéball und warf ihn mit voller Wucht auf den inzwischen immerhin etwas geschwächten Vogel. Das gigantische Pokémon wurde hinein gesogen, doch Ash zweifelte keinen Augenblick daran, dass es sich sofort wieder befreien würde. Da. Ein Wort. Ein Wort war durch seine Gedanken gehuscht, ein Wort, ein Gefühl, irgendetwas. „Ellenki!“ Es war über seine Lippen gekommen, noch bevor es ihm bewusst gewesen war. Im selben Moment, in dem er es ausgesprochen hatte, wurde der geworfene Ball plötzlich von einem gleißenden Licht umgeben; kleine, gefährlich zuckende Blitze formten eine Art Netz um ihn und machten es Zapdos anscheinend unmöglich, sich zu befreien, denn nach einem kurzen Augenblick blieb der Ball regungslos liegen. Das Licht verschwand, doch im selben Moment wurde der Ball plötzlich von einem intensiven, gelben Glühen erfasst. Ash versuchte, sich seine Verwunderung nicht anmerken zu lassen, doch als auch das Glühen erlosch, entlockte ihm der Anblick des Pokéballs doch einen verwirrten Gesichtsausdruck; er trug nicht mehr die Farben von zuvor, sondern war nun strahlend gelb und auf seiner Vorderseite reihten sich ein paar Linien in einem blitzähnlichen Muster aneinander. Einen Moment blickte Ash noch verwundert auf den Ball, dann wurde seine Miene so kühl und ausdruckslos wie zuvor. Er registrierte nicht, dass Misty mit Arktos inzwischen neben ihm gelandet, von ihrem Pokémon herabgestiegen war und nun auf ihn zulief. Erst, als sie ihre Arme um ihn schlang und ihn fest an sich drückte, bemerkte er sie. Nur mühevoll widerstand er dem Bedürfnis, sie ebenfalls festzuhalten, schob sie stattdessen zur Seite, um den Pokéball mit dem sich darin befindenden Zapdos einzustecken. „Vielleicht kannst du mir mal erklären, was hier los ist, und warum ihr mich stören musstest.“ Seine Stimme klang eiskalt, und Misty fragte sich einen Moment, ob das wirklich noch der Ash war, den sie vor einigen Jahren gekannt hatte. Allerdings war inzwischen viel Zeit vergangen, und es wäre wohl naiv gewesen, zu denken, dass er sich nicht verändert hatte. Sie nickte schweigend. Kapitel 2: Die Legende der Federn --------------------------------- Im Grunde war Ash froh, dass seine Mutter scheinbar nicht mitbekommen hatte, was für ein Spektakel sich da gerade wirklich in ihrer Heimatstadt ereignet hatte. Für sie waren es nur die ersten Anzeichen eines Gewitters gewesen und er ließ sie in dem Glauben. Sie hatte Misty verwundert, aber nicht ohne ihre typische Herzlichkeit begrüßt, hatte das Mädchen umarmt und sie gefragt, wie es ihr in all den Jahren denn so ergangen sei. Er hatte nur mit einem halben Ohr hingehört, während Misty alle Fragen freundlich, aber irgendwie inhaltslos beantwortet hatte. Seiner Mutter schienen die Antworten zu genügen, aber ihm genügte es nicht, und schließlich widerte ihn diese gespielte Sorglosigkeit so sehr an, dass er das Gespräch kurzerhand in sein Zimmer verlegte, auch, um Misty endlich unter vier Augen fragen zu können, was es mit dem ganzen Theater auf sich hatte. Seiner Erwartung entsprechend erstarb das freundliche Lächeln, das sie während der Unterhaltung mit seiner Mutter aufgesetzt hatte, augenblicklich, als er die Tür hinter ihnen schloss. „Kommst du dir dabei nicht irgendwie schäbig vor? Tauchst hier plötzlich auf, erzählst mir, dass Zapdos mich töten will, und dann dieses freundliche Getue bei meiner Mutter.“ „Warum sollte ich auch nicht freundlich zu deiner Mutter sein? Sie hat mit der ganzen Sache nichts zu tun, ich will sie da nicht mit reinziehen.“ „Aber vielleicht könntest du mir endlich mal sagen, was hier vor sich geht. Was wollte Zapdos? Was soll das hier?“ Er hielt ihr den gelben Pokéball entgegen. „Warum wird Alabastia, oder viel mehr ich von diesem Pokémon attackiert, warum sollte ich es fangen? Warum bist du plötzlich wieder hier und“, seine Stimme wurde ruhiger und mit einem Mal fehlte ihr der Elan, „warum bist du überhaupt jemals abgehauen?“ Sie hatte während seines Redeschwalls bereits zu einer Antwort angesetzt, hatte ihm sagen wollen, dass sie ihm ja alles erklären würde und er sich gefälligst gedulden sollte. Aber seine letzten Worte hatten sie schweigen lassen. „Ich musste halt einfach fort.“ Sie wusste, dass ihn das nicht zufrieden stellen würde, aber er wusste, sah es an ihrer Haltung, hörte es an der Art, wie sie mit ihm sprach, dass sie ihm keine bessere Antwort geben würde. Natürlich nicht, sie hatte nie etwas gesagt, warum sollte sie jetzt damit anfangen. „Dann erklär mir wenigstens, was hier los ist. Warum hat Zapdos mich angegriffen? Und woher wusstest du das?“ Abermals blieb sie stumm, und er spürte den Ärger in sich aufsteigen, wollte sie anschreien, warum sie ihm nicht endlich die Antworten gab, auf die er wartete, aber da ergriff sie schließlich doch das Wort. „Weil du auserwählt bist.“ „Auserwählt? Wozu?“ „Um eine Feder zu werden und das Gleichgewicht der Welt wieder herzustellen. So lautet zumindest die Legende der Federn.“ „Was bitte ist die Legende der Federn?“ „Das ist kompliziert… Und so richtig verstehe ich das auch noch nicht. Nur, dass es wohl drei Auserwählte gibt und dass zu jedem dieser drei einer der legendären Vögel gehört. Sie suchen anscheinend diese Auserwählten und testen sie, wollen sehen, ob sie es würdig sind, ihr Schicksal anzutreten. „Und was, wenn nicht? Dann werden sie getötet?“ Das Mädchen biss sich auf die Unterlippe und wich Ashs Blick aus, bevor es weitersprach. „Ich weiß es nicht.“ „Aber du hast vorhin gesagt –“ „Ich hab es gesagt, damit du dir über den Ernst der Lage bewusst wirst und Zapdos in jedem Fall besiegst. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn ich nicht –“ An dieser Stelle unterbrach er sie. „Ich wäre mit Zapdos gut alleine fertig geworden! Du hast nicht viel dazu beigetragen, dass ich es gefangen hab, außer mir vorzulügen, es würde mich umbringen wollen!“ Für einen Augenblick dachte sie nach, nickte dann aber. „Ja, du hast recht. Du hättest es allein geschafft. Du hast es schließlich auch allein geschafft, Ellenki zu benutzen.“ „Ellenki? Ich versteh nur noch Bahnhof…“ Er konnte sich daran erinnern, dass ihm vorhin, beim Kampf gegen Zapdos, dieses merkwürdige Wort über die Lippen gekommen war. Aber er wusste nach wie vor nicht, was es damit auf sich hatte, wie es ihm plötzlich in den Sinn gekommen war und was dieses Ellenki überhaupt war. „Ellenki ist…“ Aber sie verstummte abermals, schien nach den richtigen Worten zu suchen, schüttelte dann aber wie zu sich selbst gewandt den Kopf und begann stattdessen, in ihrer Tasche nach etwas zu suchen. Nur einen Moment später holte sie ein kleines Notizbuch daraus hervor, blätterte kurz darin und hielt es Ash dann aufgeschlagen entgegen. „Hier. Es ist einfacher, du liest es selbst.“ Schweigend nahm er das Buch an sich und ließ seinen Blick über die Seiten gleiten, wo sich in sauberer Handschrift Buchstabe an Buchstabe reihte.   Es gibt da drei Mächte, die verkörpern die Elemente und halten die Welt im Gleichgewicht. Ellenki, die Kraft des Windes und der Elektrizität; Wazu, die Kraft des Wassers und des Eises und Fii, die Kraft des Feuers und der Erde. Sie sind so alt wie die Zeit und werden von den Pokémon verkörpert, die auch alt wie die Zeit sind, Zapdos, Arktos und Lavados. Und wann immer das Gleichgewicht der Welt auseinander zu geraten droht, erwachen drei auserwählte Menschen, die drei Federn. In ihnen liegt eine starke Kraft verborgen, die es ihnen erlaubt, die Elementarmächte zu bändigen und sich ihrer zu bedienen. Die drei Vögel testen die drei Auserwählten, und wenn sie sich als würdig erwiesen haben, dann verbünden sie sich mit ihnen und bringen das Gleichgewicht der Welt wieder in Ordnung. Und wer einmal eine Feder war, der bleibt es bis zu seinem Tod und bleibt bis zu seinem Tod mit seinem Vogel verbunden. Und wenn der Auserwählte stirbt, kehrt der Vogel zurück und wartet, bis er eine neue Feder erwecken muss.   Danach folgten nur noch einige einzelne Wortgruppen und Wörter, die größtenteils jedes Zusammenhangs beraubt waren. Nachdenklich sah Ash auf. „Die Kraft des Windes und der Elektrizität also. Ich nehme an, du hast die des Wassers und des Eises?“ Misty nickte. „Ja, Wazu.“ „War nicht schwer zu erraten. Das Wasser war ja schon immer dein Element, und mit Arktos an deiner Seite…“ Sie schwieg. Er schwieg ebenfalls, wandte den Blick ab, seufzte schließlich, fasste sich an die Stirn, fuhr sich unsicher durch die Haare und sah sie dann wieder an. „Und du willst mir also sagen, dass wir auserwählt sind, um... die Welt zu retten?“ „Ich würde sagen, ja. Zumindest, wenn der Inhalt von diesem Text wahr ist, und bisher scheint er das ja zu sein.“ „Wo hast du ihn überhaupt her?“ „Er war in eine Felswand geritzt, auf einer kleinen, menschenleeren Insel draußen im Meer. Es war leider nicht mehr alles lesbar, du siehst ja die einzelnen Wortfetzen.“ Abermals wanderte sein Blick zu dem Buch in seiner Hand. „Dort steht etwas von einer weiteren Macht und dass sie anders ist und die Welt nicht im Gleichgewicht hält. Und wenn du mal umblätterst…“ Er folgte ihrer Anweisung.   für manch einen ist sie zu stark den stürzt sie ins Chaos außer Kontrolle und stürzt die ganze Welt ins Chaos erwachen auch die drei Federn und werden von den Vögeln zusammengeführt. Es ist ihre Aufgabe Träger in jedem Fall zu stoppen, was auch immer sie dafür tun müssen.   Sie kannte diese Worte beinahe auswendig, hatte sie schon unzählige Male gelesen, seitdem sie sie von den Felsen abgeschrieben hatte. „Es scheint also noch irgendeine böse Macht zu geben. Vielleicht gibt es da auch einen Auserwählten und ein Pokémon, vielleicht ist es seine Absicht, die Welt zu zerstören. Und wir beide sind dazu auserwählt, das zu verhindern.“ „Das klingt alles wie in einem Fantasy-Roman…“ Zornig sah sie ihn an. „Es ist aber real! Ash, ich hab das alles auch erst nicht glauben können. Als Arktos plötzlich aufgetaucht ist, da… Ich wusste mit einem Mal irgendwie, dass ich es fangen muss, dann hab ich plötzlich, ohne jemals davon gehört zu haben, Wazu benutzt, mein Pokéball hat sich verfärbt… Ich hab genau wie du überhaupt nichts mehr verstanden. Bis Arktos mich zu diesem Text geführt hat. Und nun weiß ich, dass es drei Auserwählte gibt und dass wir diese Welt retten müssen.“ „…Wer ist der dritte?“ „Keine Ahnung. In der Legende steht, dass die drei Vögel die drei Federn zusammenführen. Ich hab mich darauf verlassen und Arktos einfach fliegen lassen. So hat es schließlich erst Zapdos und dann dich gefunden. Ash, wir haben vielleicht einen großen Vorteil in diesem Kampf, schließlich kennen wir uns schon so lange und haben schon so oft zusammengekämpft. Vielleicht können wir sogar schon irgendetwas ausrichten, bevor wir Lavados finden und –“ „Oh nein, Misty. Fünf Jahre sind eine lange Zeit… wir haben uns beide verändert, wir kennen uns schon lange nicht mehr. Und diese ganze Sache klingt immer noch mehr als unglaubwürdig…“ „Es ist aber wahr…“ Für einen kurzen Moment schwiegen sie beide, bevor Ash abermals das Wort ergriff. „Bist du… deswegen damals weggegangen?“ Er stand auf, wollte ihr nicht länger ins Gesicht sehen. Stattdessen richtete er seinen Blick zum Fenster hinaus, wo nichts mehr auf den Kampf von zuvor schließen ließ. „Nein. Damals wusste ich noch nichts von allem.“ Mit einem bitteren Lächeln auf den Lippen wünschte er sich, sie hätte sich die Mühe gemacht, ihn anzulügen. „Aber warum dann? Warum habt ihr mich alle einfach im Stich gelassen? Ich hätte euch so nötig gebraucht…“ „Das ist es doch eben!“ Verwundert wandte er sich zu ihr um, weil irgendetwas in ihrer Stimme mitschwang, das er dort nicht erwartet hätte. „Du hast uns nie wirklich gebraucht! Wir waren für dich ewig nur ein Hindernis. So manches Mal wärst du weiter gekommen, wenn du uns nicht erst um Rat gefragt hättest. Du hattest das Zeug zu einem wirklich guten Trainer, aber wir dir dabei im Weg. Das haben Rocko und Tracey wohl schon früher als ich begriffen. Aber irgendwann hab ich auch eingesehen, dass es wohl das Beste wäre, wenn du deinen eigenen Weg gehst, wenn du dich nicht immer auf andere verlässt. Deswegen bin ich damals gegangen.“ Er konnte nicht fassen, was sie da sagte. Jahrelang war er der Meinung gewesen, er hätte diesen Menschen nichts bedeutet, dass sie ihn deswegen verlassen hatten. Und nun sollte er glauben, dass alles ganz anders war, dass sie gegangen waren, gerade weil er ihnen etwas bedeutet hatte? Dass es seine Schuld gewesen war? Dass sie nicht gegangen wären, wenn er sich nicht auf sie und ihre Ratschläge verlassen hätte? Er wartete, dass sie noch etwas sagte, irgendetwas, irgendeine Entschuldigung, irgendeine Erklärung, die ihn mehr befriedigte als die Worte, die sie ihm gegeben hatte. Aber es kam nichts. Vielleicht war es das Beste, wenn sie einfach nie wieder darüber sprachen. „Also, was ist jetzt mit deiner Legende? Was soll ich tun?“ „Du kommst also mit?“ „Ich habe wohl keine Wahl. Wenn das wirklich wahr ist, was du da erzählst…“ Er wollte sich hinterher nicht vorwerfen müssen, jemandem im Stich gelassen zu haben. „Also, was machen wir? Suchen wir Lavados?“  „Ja, ich denke, das ist erst mal am sinnvollsten. Wenn die Vögel die drei Federn wirklich zusammenführen, ist es wohl das Beste, Arktos und Zapdos einfach fliegen zu lassen. Sie finden Lavados bestimmt.“ Er nickte. „Ach und Ash? Ich glaube, es ist besser, wenn du deine übrigen Pokémon bis auf Zapdos hier lässt.“ „Aber –“ „Ich weiß, Pikachu und du wart praktisch niemals getrennt, seitdem du es hast.“ Eigentlich wusste sie es nicht, aber es stimmte, und so entgegnete er nichts. „Aber gegen diese Macht können sie bestimmt sowieso nichts ausrichten und du solltest sie nicht in Gefahr bringen. Ich habe meine Pokémon auch zuhause gelassen.“ Er wollte ihr widersprechen, wollte nicht, dass sie einfach so für ihn entschied, wo sie ihm doch gerade erst vorgeworfen hatte, er hätte sich zu sehr auf die Ratschläge anderer verlassen Aber er wusste, dass sie recht hatte. Er wollte seine Pokémon nicht in Gefahr bringen.   Und so kam es, dass er seiner Mutter erzählte, er würde wieder für eine Weile fortgehen, auf eine neue Reise. Dass er seine Pokémon in ihre Obhut gab und ihr erklärte, dass er bei dieser Reise noch einmal von Null anfangen wollte. Dass er Pikachu beim Abschied liebevoll über den Kopf strich und sah, dass sein Pokémon zwar verwirrt war, aber irgendwie auch zu verstehen schien. Dass er sich auf Zapdos niederließ, das ihm nun widerstandslos gehorchte, und Misty auf Arktos folgte. Auf eine Reise, in der nichts als Ungewissheit auf sie wartete. Kapitel 3: Was von einer Freundschaft blieb ------------------------------------------- Wie das so ist mit spontanen Entscheidungen, auf die man sich nicht lange vorbereiten konnte, packten Ash schon ziemlich bald die ersten Zweifel. War es klug gewesen, sich Misty einfach so anzuschließen? Natürlich, wenn tatsächlich das Schicksal der Welt auf dem Spiel stand, dann hatte er überhaupt keine andere Wahl, und dann war er auch gerne dazu bereit, seinen vorbestimmten Platz einzunehmen. Aber diese ganze Federlegende klang noch immer so fantastisch, dass es ihm irgendwie ein mulmiges Gefühl bereitete. Irgendetwas musste wohl dran sein an der Geschichte, schließlich saß er hier in diesem Augenblick ja tatsächlich auf dem Rücken von Zapdos, dem legendären Donnervogel, den nur die wenigsten Menschen überhaupt einmal zu Gesicht bekamen, geschweige denn dass sie in der Lage wären, ihn zu fangen. Irgendetwas musste wahr sein an dieser Geschichte. Aber hatte es ausgerechnet Misty sein müssen, mit der er diese Reise antrat? Er hatte viele Jahre damit verbracht, sich damit abzufinden, dass sie nicht mehr zu seinem Leben gehörte. Nun fand er diese Bemühungen von einem Tag auf den nächsten zerstört. Was machte diese Legende jetzt aus ihnen? Machte sie sie nur zu Verbündeten, zu gemeinsamen Kämpfern, oder konnte sie sie auch wieder zu Freunden machen? Wollte er das überhaupt noch, nach dem, was sie ihm über ihre Gründe, ihn zu verlassen, erzählt hatte? Er mochte diese Gedanken nicht, die ihm durch den Kopf gingen. Suchend sah er sich um, in der Hoffnung, irgendetwas zu erblicken, vielleicht Lavados, vielleicht nur irgendetwas, was ihn ablenken und auf andere Ideen bringen würde. Aber schon kurz nachdem sie Alabastia verlassen hatten, hatten sie das Meer erreicht, und unter ihm war weit und breit nichts zu sehen außer eintöniges, dunkles Blau. „Hey Misty!“ Sie blickte über ihre Schulter zurück und sah ihn fragend an. „Ich hab mich nur gerad gefragt… Wie war das bei dir, als du Arktos gefangen hast?“ Er suchte nach jeder erdenklichen Ablenkung und Misty war nun einmal der einzige Gesprächspartner, den er hier oben hatte. „Wie soll es schon gewesen sein? Ich hab dir doch gesagt, Arktos ist vor einiger Zeit bei mir aufgetaucht, hat mich angegriffen, und ich wusste irgendwie, dass ich es fangen muss. Ich hab genau wie du meine Pokémon gegen es eingesetzt, aber nicht daran geglaubt, dass wir wirklich eine Chance gegen ein so mächtiges Pokémon hätten.“ Anerkennend strich sie dem Eisvogel durchs Gefieder. „Aber dann ist mir dieses Wort in den Sinn gekommen, Wazu, und wie bei dir hat es damit funktioniert, Arktos zu fangen.“ Er hatte ihn gesehen, den eisblauen Pokéball, auf dem feine Linien sich zu einem Eiskristall formten. „Und danach?“ „Na ja… Ich war natürlich auch verwirrt und wusste nicht, was das alles bedeuten sollte. Aber nachdem ich Arktos wieder aus seinem Ball gelassen hatte, hab ich gespürt, dass es mir irgendetwas mitteilen, irgendetwas zeigen wollte.“ „Also hat Arktos dich zu dieser Insel geführt?“ „Genau. Es hat mich auf seinen Rücken steigen lassen und hat mir die Legende der Federn gezeigt.“ „Was meinst du, ob Lavados seinen Auserwählten auch schon gefunden hat?“ „Keine Ahnung. Ich weiß ja nicht, wann die Vögel angefangen haben, zu suchen, und wo sie überhaupt herkommen. Wenn Lavados den Dritten schon gefunden hat, sind sie vielleicht bereits auf dem Weg zu uns. Aber vielleicht sucht es ihn auch noch. Ich hab Zapdos ja auch vor dir gefunden.“ „Und was denkst du, wo wir jetzt hinfliegen? Wo könnte sich Lavados' Trainer aufhalten?“ „Ash, woher soll ich das wissen? Vielleicht fliegen wir in Richtung Zinnoberinsel. Dort gibt es schließlich viele Feuerpokémon und eine Arena, die sich darauf spezialisiert hat. Vielleicht findet Lavados dort seinen Auserwählten. Ich denke zumindest, dass du und ich deswegen auserwählt wurden. Du hast mit Pikachu schon viele Erfahrungen mit einem Elektropokémon gemacht.“ „Und du mit deinen Wasserpokémon.“ Sie nickte nur. „Ein Trainer also, der gut mit Feuerpokémon umgehen kann…“ „Es ist aber nur eine Vermutung. Vielleicht wollen die Vögel auch ganz woanders hin. Oder der dritte Auserwählte hat überhaupt nichts mit Feuerpokémon zu tun. Ich weiß es nicht.“ Vielleicht dies, vielleicht das… Er mochte diese Ungewissheit nicht. Natürlich, woher hätte sie wissen sollen, was das Ziel der beiden Vögel war? Sie konnten zwar die Empfindungen ihrer Pokémon verstehen und vieles von dem, was sie ihnen mitteilen wollten, aber eben nicht alles, was in diesen legendären Wesen vor sich ging. Trotzdem störte es ihn, dass ihre Reise so vage war, dass er nicht wusste, was vor ihnen lag, was als nächstes geschehen würde, und ihn störte auch, dass Misty das ganze scheinbar so kalt ließ. Es war ungewohnt, sie so zu sehen. Das war nicht mehr das fröhliche und überschwängliche Mädchen, das er einst gekannt hatte. Aber gut, wenn das Schicksal der Welt auf dem Spiel stand, dann hatte sie allen Grund, ernst zu sein. Und hatte er nicht selbst gesagt, dass viel Zeit vergangen war? Warum sollte Misty sich nicht genauso verändert haben, wie er sich verändert hatte. „Und was machen wir, wenn wir Lavados haben?“ Trotz des Gegenwinds und der Flügelschläge ihrer Pokémon konnte er deutlich hören, wie sie genervt seufzte. „Ash, ich weiß es nicht, ok? Ich weiß von der ganzen Sache genauso viel wie du. Ich habe keine Ahnung, was passiert, wenn die drei Vögel die drei Federn zusammengeführt haben. Aber irgendwas wird schon passieren, keine Sorge.“ „Ich mein ja nur! Ich fänd's schon gut, zu wissen, wie wir weiter vorgehen, wenn wir den dritten gefunden haben.“ „Ja, Ash, das fänd ich auch! Aber ich kann es dir nun mal nicht sagen! Gedulde dich doch einfach mal und nimm die Dinge so hin, wie sie eben sind!“ „Aber ich –“ „Es geht hier aber nicht nur um dich! Meinst du, es interessiert irgendjemanden, ob dir das alles nun recht ist oder nicht?“ Sie ließ Arktos höher steigen, schneller fliegen, und Ash auf Zapdos hatte kurz Schwierigkeiten, mit ihr mitzuhalten. „Und hat dir schon mal jemand gesagt, dass du egoistisch bist?“ „Ich und egoistisch? Ich mache das ganze hier nicht für mich, falls du es vergessen hast! Ich versuche, die Welt zu retten!“ „Sicher. Aber das ganze Lob dafür wirst du dir hinterher nur zu gerne anhören, nicht wahr?“ Er merkte es. Er wusste, dass er unfair wurde und dass sie eigentlich nichts für seinen Unmut konnte. Aber er war schon mitten in diesem Streit drin und all die unterdrückten Gefühle brodelten mit einem Mal in ihm hoch. „Was machst du denn, wenn ich jetzt einfach abhauen würde?“ „Nach Lavados suchen.“ Sie trotzte, aber da würde er ihr in nichts nachstehen. „Na wenn das so ist, dann kann ich ja beruhigt gehen!“ Er schrie, vor Wut, und damit die Worte sie über den jetzt heftigeren Gegenwind überhaupt erreichten. Und für einen Moment dachte er tatsächlich daran, sein Pokémon umzulenken und einfach zurückzukehren. „Ash, mach keinen Mist!“ „Du hast mir nicht zu sagen, was ich machen soll!“ Sie biss sich auf die Unterlippe, wie, um sich selbst am Reden zu hindern. Sie wollte diesen Streit auch nicht, er war so unnütz, so überflüssig. Sie sollten zusammenhalten und sich nicht bekriegen, um der Legende Willen, um des Schicksals der Welt Willen und vielleicht noch für mehr als das. „Ash, komm schon… Du weißt, dass ich dich brauche.“ Etwas in ihrer Stimme und an ihren Worten hinderte ihn daran, sie schon wieder anzufahren. „Es tut mir leid.“ Er nickte. „Mir auch.“ Dann schwiegen sie. Um nicht wieder etwas zu sagen, was den anderen verletzen würde. Kapitel 4: Im Nebel ------------------- Sie hatten das Meer hinter sich gelassen; die Zinnoberinsel war nicht ihr Ziel gewesen. Das Land unter ihnen war öde geworden, große Bäume kurzen, struppigen Büschen gewichen, diese dann vertrocknetem Gras, bis schließlich nur noch eine verlassene Schotterwüste unter ihnen lag. „Was für eine einladende Gegend…“ Misty entgegnete nichts, und insgeheim war er ihr dankbar dafür, weil das ganze sonst nur wieder in einen Streit ausgeartet hätte. Aber es beunruhigte ihn nach wie vor, dass sie so ziellos unterwegs waren, und diese Unruhe versuchte er mit sarkastischen Bemerkungen zu überspielen. Ob die Vögel einander wirklich finden würden? Sicher, Pokémon besaßen Instinkte, viel stärker ausgebildet als die der Menschen, und eine Spur Magie schien ja auch noch im Spiel zu sein. Er würde wohl darauf vertrauen müssen, dass sie nicht in die Irre flogen. Dass sich dunkle, schwarze Wolken über ihnen zusammengebraut hatten, bemerkte Ash erst, als die ersten Blitze neben ihnen vorüberzuckten. Kurz musste er an den vergangenen Morgen denken, der ihm inzwischen ewig lange her erschien. „Mist.“ Er sah auf. Auch Misty hatte das aufkommende Gewitter bemerkt, natürlich, und blickte nun sorgenvoll in das düstere Wolkengemisch. Wie nett, dass zur Abwechslung mal nicht nur er verunsichert war. Überhaupt ertappte er sich dabei, wie er fast so etwas wie ein wenig Schadenfreude empfand. Die ganze Zeit war Misty die Wissende, die Ruhigere, die ihn zusammenstauchte, wenn er Antworten wollte. Die ganze Zeit war sie dabei, ihm vorzuschreiben, wie das hier funktionierte, was er tun sollte… Natürlich, sie hatte den Text der Legende gesehen, und Arktos hatte sie als erstes gefunden. Trotzdem missfiel es ihm, sich wieder wie der naive Junge von damals zu fühlen. 'Damals' war nicht mehr und auch nicht sein damaliges Leben. Lange Zeit hatte er geglaubt, Pokémonmeister zu werden wäre das größte Glück im Leben. Aber dann hatte er gelernt, dass es Schmerzvolleres gab, als einen Kampf zu verlieren. „Hey Ash, ich rede mit dir!“ Er blickte auf, fühlte sich ertappt und ärgerte sich darüber, dass er sich in seinen Gedanken verloren hatte. „Was?!“ Und diesen Ärger richtete er zum wiederholten Male gegen seine Mitstreiterin. Diese schüttelte genervt mit dem Kopf. „Du solltest mit deinen Gedanken wirklich etwas mehr bei der Sache sein.“ „Entschuldige, dass ich dir nicht meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit schenke!“ Sie ignorierte seine zynischen Worte. „Ich hatte dich gefragt… Ich hab überlegt, ob du nicht mit Zapdos vielleicht die Blitze abfangen könntest. Das würde es mir und Arktos einfacher machen.“ Mit einer Mischung aus Unverständnis und Unglaube sah er sie an. „Ich hab ehrlich gesagt keine große Lust, mich grillen zu lassen.“ „Ach Ash!“ Sie suchte nach Worten. „Ich denke nicht, dass Elektrizität dir etwas anhaben kann.“ „Und wie kommst du auf diese Idee?!“ „Na ja, es heißt doch, dass die Auserwählten die Kraft haben, die Elementarmächte zu bändigen und sich ihrer zu bedienen. Wir konnten sie benutzen, um unsere Pokémon zu fangen, und sicherlich werden wir sie auch noch zum Kämpfen benutzen müssen. Ich glaube also nicht, dass du durch Elektrizität verletzt werden kannst. Und Zapdos sowieso nicht.“ „Du glaubst das also nur, ja? Irgendwie wäre mir wohler, wenn du einen Beweis dafür hättest.“ Er wartete, dass sie noch etwas entgegnete, aber sie tat es nicht, und irgendwie war er nicht verwundert darüber. Auf eine gewisse Art stimmte es schon. Elektropokémon konnten durch Elektrizität tatsächlich nicht verletzt werden. Und selbst ohne diesen ganzen Legendenkram hatte er dank Pikachu wahrscheinlich ohnehin eine gewisse Toleranz für Stromstöße entwickelt. Nur, dass ein ausgewachsenes Gewitter da noch mal eine Spur größer war. „Also, machst du's?“ „Mann, ist ja gut!“ Warum ließ er sich trotz seiner Zweifel von ihr bequatschen? Ihre  Theorie klang zwar stimmig, war aber eben nur eine Theorie, und er musste zugeben, dass ihm nicht ganz wohl bei dem Gedanken war, geradewegs in die Blitze zu fliegen. Aber sie sah ihn an, auffordernd, beinahe schon beleidigt, weil er sich so lange Zeit ließ. Und das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Er ließ den Donnervogel ansteigen und beschützend über Arktos und dem Mädchen fliegen. „Weißt du, Misty, früher mochte ich dich wirklich. Da warst du aber auch noch freundlicher.“ Er konnte seinen Groll nicht für sich behalten. „'Früher' ist ja auch schon eine ganze Weile her.“ Das war alles. Kein weiteres Wort mehr, nicht einmal ein Wort des Dankes dafür, dass er sich zu ihrer wahnwitzigen Idee hatte überreden lassen. Aber er musste zugeben, dass sie recht behielt. Zwar zuckte er die ersten Male erschrocken zusammen, wenn ein Blitz in den Körper des legendären Vogels fuhr, wenn er sich aufbäumte und die Energie in sich aufnahm, doch er selbst spürte von den Entladungen fast gar nichts, nur den Hauch eines leichten Kribbelns, das jedoch alles andere als unangenehm war. Und trotzdem… Ein netter Versuch, seine Feinde loszuwerden. Er hatte das nicht denken wollen. Es war ihm in den Sinn gekommen, bevor er etwas dagegen tun konnte. Und überhaupt machte es keinen Sinn, schließlich waren Misty und er ja keine Feinde. Aber fünf Jahre sind eine lange Zeit. Wer weiß, was sich noch alles geändert hat. Unfug. Sie waren vielleicht keine Freunde mehr, aber das machte sie ja nun nicht gleich zu Feinden. Und schon gar nicht zu Feinden, die einander wirklich etwas antun wollten. Er schüttelte den Kopf, schüttelte die Gedanken beiseite und sah sich um. Irgendwie war es dunkler um ihn herum geworden, die Wolken dichter, und fast schien es so, als seien sie von einem dichten, undurchsichtigen Nebel umgeben. Er blickte nach unten, wo er die beiden Gestalten nur noch schwach ausmachen konnte. Also wirklich Nebel. Ihn schauderte. Noch ist es nicht zu spät, umzukehren. Aber warum sollte er? Um ihr zu entkommen. Sie hat dich geradewegs in dieses Gewitter geführt. Und wer weiß, wohin sie dich noch führt. Und überhaupt, diese ganze Sache mit der Legende… Vielleicht hat sie sich das alles nur ausgedacht. Du hast den angeblichen Text an den Felsen nie gesehen. Sie könnte alles Mögliche in dieses Buch geschrieben haben. Aber er hatte Zapdos gefangen, das war real gewesen. Und er hatte auch diese komische Kraft, dieses Ellenki benutzt, da musste doch etwas Wahres dran sein. Vielleicht alles nur ein Trick? Keine Ahnung, wie sie das angestellt haben soll… Aber vielleicht gehört das alles zu einem Plan. Was für ein Plan? Was sollte Misty schon planen? Andererseits… Das würde erklären, warum sie dir keine Antworten geben kann, auf gar nichts. Sie führt dich, kann dir aber nicht sagen, wohin? Ist das nicht irgendwie seltsam? Gut, aber mal angenommen, sie würde ihm tatsächlich verheimlichen, wohin sie ihn brachte – irgendwann würde er es ja doch sehen, also wozu die Heimlichtuerei? 'Irgendwann' könnte aber zu spät sein. Du weißt doch wirklich nicht, was sie vorhat. Was sie… Unsinn, was sollte sie schon für Absichten haben? Sie wird dich töten. Warum sollte sie?! Woher kamen diese Gedanken?! Sie wird dich töten. Sie führt dich in die Irre. Sie hat dich reingelegt. Sie wird dich töten. Sie hatte überhaupt keinen Grund dafür! Sie wird dich töten. Und er lief ihr geradewegs in die Falle? Sie wird dich töten. Und was konnte er dagegen tun? Töte sie zuerst. … Der Nebel um ihn herum schien sich zu lichten, aber der Nebel in seinem Kopf blieb, ebenso wie der dumpfe Schmerz darin. Das Gewitter um sie herum war verflogen; er hatte es nicht bemerkt. „Das war aber ein merkwürdiger Nebel… Ich konnte dich fast gar nicht mehr sehen, obwohl ihr so nah wart. Ich glaube, wir sollten schnellstens von hier weg.“ Er schwieg und starrte vor sich hin. „Hey Ash, ist alles in Ordnung mit dir?“ Sie erhielt nur ein schwaches Nicken als Antwort, sah den Jungen weiter irritiert an, entschied aber, diese Antwort zu akzeptieren und nicht weiter nachzufragen. „Ok… dann lass uns verschwinden.“ Mit ein paar kräftigen Flügelstößen zog Arktos an ihm und Zapdos vorbei, und er folgte dem Eisvogel und dem Mädchen darauf. Folgte wie zuvor, bevor sie in das Gewitter und den Nebel geraten waren. Eine Feder wird sterben. Kapitel 5: Hirngespinst ----------------------- „Ash, hörst du mir überhaupt zu?“ „Was?“ Verwundert sah der Junge auf. Nein, er hatte tatsächlich nicht zugehört. Noch immer schwirrten ihm so unendliche viele Gedanken durch den Kopf, von denen er nicht wusste, woher sie kamen, warum er sie dachte und was sie bedeuten. Aber sie beunruhigten ihn, und so warf er nun einen überaus skeptischen Blick zu dem rothaarigen Mädchen, das ihn seinerseits unschlüssig betrachtete. „Und du bist sicher, dass alles in Ordnung ist?“ „Ja doch!“ „Ok, schon gut…“ Sie wandte sich von ihm ab und blickte wieder nach vorn, deutete mit der Hand auf einem Punkt am Horizont. „Siehst du das?“ Ash kniff die Augen ein wenig zusammen, um zu erkennen, was sie meinte, und erblickte in der Ferne die schemenhaften Umrisse einer Häuserreihe, vielleicht sogar eines ganzen Dorfes. Von hier oben jedoch wirkte es nur wie eine Spielzeugstadt. „Natürlich, ich bin ja nicht blind. Und?“ „Ich hab das Gefühl, die Vögel wollen hin. Vielleicht finden wir Lavados ja dort.“ Sie ließ Arktos schneller fliegen. Für einen Moment zögerte Ash, war sich kurz nicht sicher, was er tun sollte, doch Mistys aufforderndes „Nun mach schon!“ riss ihn aus den Gedanken, bevor er sich abermals darin verlieren konnte.   „Tja…“ Sie sah sich unsicher um, und auch er ließ seinen Blick über die Szenerie schweifen, die sich ihnen nun bot. Im fahlen Abendlicht reihten sich in unregelmäßigen Abständen kleine Häuser aneinander, manche davon noch gut in Schuss, andere heruntergekommen und verwahrlost. Die schwächlichen Lichter in einigen der Fenster waren das einzige Zeichen dafür, dass es sich nicht um eine Geisterstadt handelte; auf den grauen Straßen zeigte sich nicht eine Menschenseele. „Wirklich ganz schön trostlos… Und von Lavados keine Spur. Aber was soll's. Am besten schauen wir, ob wir ein Pokémoncenter oder irgendwas finden, wo wir erst mal bleiben können.“ Der Junge nickte nur stumm. Es war nicht so, dass er diesen Gedanken wirklich Glauben schenkte, die sich da plötzlich in seinen Kopf gestohlen hatten. Es waren Hirngespinste, nichts weiter, einfach nur Zweifel geboren aus der ungewöhnlichen Situation, in der er sich gerade befand. Und trotzdem kein beruhigender Gedanke, dass sie nur zu dir gekommen ist, um dich zu töten. Ash warf einen unsicheren Blick zu Misty. Na gut, sie hatten sich eine Ewigkeit nicht gesehen, und theoretisch konnte niemand wissen, was inzwischen geschehen war, wie sie sich verändert hatte. Aber das bedeutete ja nun nicht, – Und dann diese Geschichte von der Legende der Federn. Nichts, aber auch gar nichts deutete auf irgendeine Katastrophe hin. Niemand hegte irgendwelche Befürchtungen. Nur Misty. Misty verhielt sich sonderbar, erzählte diese seltsame Legende, von der er noch niemals gehört hatte. Von der wohl noch nie jemand außer ihr gehört hatte. Selbst die Pokémon verhielten sich ruhig und kein bisschen anders als sonst. Abgesehen von Arktos und Zapdos natürlich, die, – Und dann diese Ausrede, sie sei damals nur gegangen, weil du von ihr abhängig warst. … „Kommst du nun endlich?“ Ihre Stimme klang genervt und gereizt, der Blick, mit dem sie ihn besah, war tadelnd und vorwurfsvoll. Nein. Das war sie nicht mehr. Das war nicht mehr die Misty, die er einmal gekannt hatte. Und dieser Misty hier musste er vielleicht Dinge zutrauen, die er früher für unmöglich gehalten hätte. Missmutig folgte er ihr. Fall nicht auf sie herein. Sie waren einmal Freunde gewesen. Aber das ist nicht mehr.   „Wie kann ich Ihnen helfen?“ Die Stimme der alten Frau klang freundlich, direkt herzlich und passte so gar nicht an diesen kargen Ort und in dieses Haus, das sich Hotel schimpfte, aber eigentlich nicht mehr als eine heruntergekommene Baracke war. Ein Pokémoncenter gab es in diesem kleinen Dorf nicht, und ehrlich gesagt hätte er auch nicht damit gerechnet, dass sie tatsächlich so etwas wie ein Hotel finden würden. Als Misty der Dame nun mitteilte, dass sie zwei Zimmer für die Nacht bräuchten und die Frau daraufhin suchend in einem großen, eingestaubten Buch zu blättern begann, hätte er beinahe verächtlich gelacht. Musste sie wirklich erst nachsehen, ob etwas frei war? Oder war das nur Routine, nur Show, um die brüchige Fassade eines hübsch geführten Hotels aufrecht zu erhalten? Wer würde an diesem trostlosen Ort schon Urlaub machen wollen, wer hier länger als nötig verweilen? Natürlich war etwas frei, und nachdem Misty ein paar Geldscheine über den Tresen geschoben hatte, überreichte die alte Frau ihr zwei Schlüssel. „Ich wünsche einen angenehmen Aufenthalt.“ Es war die pure Ironie. Er blieb stumm, als Misty ihm einen der Schlüssel gab, als sie gemeinsam die Treppe in den ersten Stock hinaufstiegen, wo sich die Zimmer befanden, und auch, als sie den Vorschlag machte, sie sollten es für heute gut sein lassen und schlafen gehen, entgegnete er nichts. Er wollte mit einem Mal nicht mehr mit ihr reden, nicht mehr diskutieren, sich nicht mehr von ihr einlullen oder zu irgendetwas bequatschen lassen, von irgendetwas überzeugen oder zu irgendetwas überreden. Er wollte einfach nur noch Abstand. Hastig schloss er die Tür seines Zimmers hinter sich, drehte den Schlüssel im Schloss herum, einmal, zweimal. Erst, als er sich sicher war, dass die Tür wirklich verriegelt war, wagte er aufzuatmen und lehnte sich erleichtert gegen das kalte Holz. Woher kam diese Panik mit einem Mal? Er entschied, dass es wahrscheinlich wirklich das Klügste war, einfach ins Bett zu gehen. Er hatte einen anstrengenden Tag hinter sich, wahrscheinlich war sein Kopf nur überfordert von all den Dingen, die ihm heute widerfahren waren.   Aber er kam nicht, der Schlaf, den er sich eigentlich so redlich verdient hatte. Stattdessen wälzte er sich unruhig von einer Seite auf die andere, versuchte, die Gedanken loszuwerden, den Kopf leer zu bekommen, aber es ging nicht, es ließ ihn nicht los, dieses eigenartige Gefühl, das er zu vergessen geglaubt hatte. Du hast Angst. Er hasste es, Angst zu haben, denn Angst war ein unnützes Gefühl. Ebenso wie Liebe oder Zuneigung. Denn sie brachten nur den Verstand durcheinander, ließen einen nicht mehr klar denken. Und Angst war ein Zeichen von Schwäche. Er war nicht schwach. Er wollte nicht schwach sein. Und an alldem ist nur sie schuld. Wenn Misty nicht wieder aufgetaucht wäre, dann würde er diese Angst nicht empfinden, dann würde er nicht jetzt hier liegen, Schlaf suchend seit Stunden, aber viel zu aufgefühlt, um ihn finden zu können. Wäre sie doch bloß nie wieder in dein Leben getreten. Hätte er sie doch bloß nie wieder sehen müssen! Aber sie musste ja zurückkehren und sein ganzes Leben durcheinander bringen. Und sie will dich töten. Abermals wälzte er sich herum, den Blick nun direkt durch das dunkle Fenster im Zimmer gerichtet, wo sich ein blassweißer Mond vor dem inzwischen schwarzen Nachthimmel abzeichnete. Sie wird dich heute Nacht töten, wenn du ihr nicht zuvorkommst. Er sprang auf. So konnte das nicht weitergehen. Er musste irgendetwas tun. Töte sie. Er musste irgendwie wieder runterkommen, oder – Töte sie. Er musste irgendetwas tun. Hektisch begann er, sich in dem kleinen, schäbigen Zimmer umzusehen. Das Bett, ein morscher Stuhl, ein heruntergekommener Schreibtisch, ein halb verfallener Schrank. Er öffnete seine Türen, und die Türen knarrten. Der Schrank war leer. Hektisch zog er die Schubladen des Schreibtisches heraus. Alte Prospekte, die zu zerfallen drohten. Teelöffel, für die es keine Tassen und erst recht keinen Tee gab. Stifte, Notizzettel, rostige Büroklammern. Ein paar Gabeln. Ein Messer. Sein Blick blieb daran hängen. Es war nicht besonders groß, nicht besonders imposant, aber die Klinge, auf der sich das hereinscheinende Mondlicht brach, wirkte überraschend scharf. Oh ja, solch ein Messer ist gewiss dazu in der Lage, all deine Probleme innerhalb von Sekunden zu lösen. Er konnte nicht… Du musst. Er sollte nicht… Du musst. Oder sollte er? Eine Feder wird sterben. Und er würde ganz bestimmt nicht diese Feder sein. Entschlossen umfasste er den Griff des Messers, drückte es fest gegen seine Handfläche. Er würde sich vor ihr nie wieder fürchten müssen, sie würde ihm nie wieder in die Quere kommen. Alles, was er dazu brauchte, hatte er, und alles, was er dazu tun musste, würde er tun. Wie benebelt verließ er leise, unhörbar sein Zimmer; das Messer hatte er keine Sekunde aus der Hand gelegt. Und niemand bemerkte ihn, niemand diese Gestalt, die zu solch später Stunde durch den Flur schlich, sich nicht umwandte, nicht zögerte und ein ganz genaues Ziel zu haben schien. Niemand, der das Mädchen hätte warnen können.   Abgeschlossen. Natürlich. Es wunderte ihn nicht. Schließlich war Misty nicht so naiv, ihre Tür unverriegelt zu lassen. Aber solch eine simple Tür wird dich ganz sicher nicht zurückhalten. Auf keinen Fall. Sie wird büßen, für all das, was sie ihm angetan hatte. Und diese Lüge, sie wäre nur gegangen, um ihm zu helfen, und dass es seine schuld war, dass sie gegangen war, das würde er ihr auch nicht mehr abkaufen. Misty hatte ihn sein Leben lang nur belogen. Nun würde sie die Konsequenzen davon zu spüren bekommen. Gerade wollte er die Türklinke ein zweites Mal herunterdrücken, auch wenn ihm eigentlich klar war, dass dies kein anderes Ergebnis haben würde als zuvor. Doch in diesem Augenblick glimmte für einen Moment plötzlich ein schwaches, violettes Licht im Türschloss auf, bevor es wieder erlosch. Ash nahm es kaum wahr, aber das leise Knacken im Schloss, das ihm unmissverständlich mitteilte, dass das nun offen war, registrierte er dafür umso deutlicher. Er zuckte zurück, rechnete damit, dass vielleicht Misty die Tür entriegelt hatte und sie nun öffnen würde. Aber im Zimmer regte sich nichts, die Tür blieb geschlossen, und auch er wurde wieder ruhigerer, sicherer. Seinem Vorhaben stand nichts mehr entgegen. Er festigte seinen Griff um das Messer, drückte mit der anderen Hand vorsichtig, sachte, um ja kein Geräusch zu machen, die Türklinke herunter. Doch trotz aller Vorsicht knarrte das alte Holz leise und für einen Moment fürchtete er, er hätte sich verraten. Doch als abermals alles still blieb und in dem dunklen Zimmer auch diesmal keine Bewegung zu vernehmen war, da wagte er es, die Tür ganz zu öffnen und leise in den Raum zu treten. Es brauchte einen Augenblick, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Hier im Zimmer war es dunkler als zuvor auf dem Flur, wo ebenfalls Mondlicht durch ein Fenster eingedrungen war; das Fenster in diesem Zimmer lag auf der anderen, vom Mond abgewandten Seite. Langsam, beinahe andächtig ging er auf das schlafende Mädchen zu. Töte sie. Sah sie kurz an. Töte sie. Seine Miene war unwirklich starr, ausdruckslos. Eisig. So wie die Klinge des Messers, das er nun an ihren schmalen Hals legte. Töte sie. Winzige Millimeter. Ein winziger Schritt. Den er gehen würde. Töte sie. „Stirb…“ Kapitel 6: Fiasko ----------------- In dem Augenblick, in dem sich das kalte Metall eigentlich in den Hals des jungen Mädchens hätte schneiden müssen, in dem es ihm das Leben hätte aussaugen müssen, in diesem Augenblick blitzte draußen vor dem Fenster plötzlich für den Bruchteil einer Sekunde ein Licht, irgendein Leuchten auf. Es ließ den Jungen zurückschrecken, und verwundert wandte er sich um, richtete seinen Blick dorthin, von wo das Phänomen gekommen war; doch draußen war nichts mehr zu sehen. Was war das gewesen? Bloß eine Einbildung? Wohl kaum, dafür war es viel zu intensiv gewesen, ein viel zu starkes Licht, obwohl er es ja nicht einmal direkt gesehen hatte. Doch was konnte dahinterstecken? Er erstarrte, als ihm in diesem Moment bewusst wurde, dass das Licht vielleicht nicht nur ihn aufgeschreckt hatte. „Ash…?“ Die verschlafene Stimme war wie eine Bestätigung seiner Gedanken. „Ash, was machst du hier? Es ist mitten in der Nacht.“ Er schwieg und drehte sich nicht um. Auch so hörte er, wie sie die Decke zurückschlug und sich scheinbar aufsetzte. „…Ash?!“ Und an dem plötzlich überraschten, entsetzten Ton in ihrer Stimme hörte er, dass sie wohl das Messer in seiner Hand gesehen haben musste. Er spürte, wie Übelkeit in ihm aufstieg. „Ash, was soll der Mist?!“ Sie sprang aus dem Bett und das Geräusch ihrer nackten Füße auf dem Holzboden näherte sich. „Verdammt noch mal, ich rede mit dir!“ Er wandte sich um, zögerlich, und ihre Augen blitzten ihn zornig, aber auch verunsichert und verletzt an. „Ash, was willst du mitten in der Nacht hier? Damit?“ Er folgte ihrem Blick nicht, sah das Messer in seiner Hand nicht an. „Kann man sich das nicht denken?“ Seine Stimme war leise und erschreckend ruhig, aber sie klang fremd, eisig und leblos. „Ich komm dir zuvor. Ich räume lieber dich aus dem Weg, bevor du mich im Schlaf ins Jenseits beförderst.“ Ohne eine Miene zu verziehen beobachtete er, wie sich ihre Augen ungläubig weiteten. „Bist du jetzt vollkommen übergeschnappt? Wie kommst du auf die Idee, dass ich dir irgendwas antun will? Ich hab doch überhaupt keinen Grund dazu! Wir müssen gemeinsam unsere Aufgabe als Federn erfüllen, wieso sollte ich dich da umbringen wollen?! Ash, ich brauche dich, schließlich –“ „Halt den Mund.“ Das Messer aus seiner Hand ging scheppernd zu Boden. „Ich will deine Lügen nicht mehr hören.“ Erschrocken stellte sie fest, wie sich rund um seine Hand ein schwaches, gelbliches Leuchten ausbreitete. „Und ich werde sie mir nicht mehr anhören.“ Das Leuchten wurde heller, doch als Misty hastig nach seinem Handgelenk griff, verschwand es. „Ich hab zwar keine Ahnung, was in dich gefahren ist, und du scheinst es mir ja auch nicht erklären zu wollen. Aber was auch immer du vorhast – lass uns das nicht hier klären. Wir dürfen keine Unschuldigen in die Sache mit reinziehen.“ Er nickte, widerwillig, auch wenn er innerlich wusste, dass sie recht hatte. Während sie in ihre Schuhe schlüpfte und sich ihren Mantel überwarf, ließ er sie keinen Moment aus den Augen. Und auch, als er vor ihr das Zimmer verließ und die Treppen hinab schlich, wandte er sich alle paar Schritte zu ihr um. Sie tat es ihm gleich, betrachtete den Jungen misstrauisch und hielt den Pokéball mit Arktos in ihrer Tasche fest umklammert. Wie hatte es soweit kommen können?   Nur wenige Minuten später hatten sie das kleine Dorf mit seinen heruntergekommenen Wohnhäusern hinter sich gelassen und den Rand eines Wäldchens erreicht, das fast vollständig in Dunkelheit lag und nur ärmlich vom fahlen Mondlicht durchdrungen wurde. Wind zerrte an den struppigen Baumkronen. „So, vielleicht kannst du mir jetzt noch mal in Ruhe sagen, was genau dein Problem ist.“ „Ich bin nicht zum Reden mit dir hierher gekommen! Und du bist momentan das einzige Problem, das ich habe! Und darum bring ich es hier und jetzt zu Ende. Du wirst mich nicht mehr täuschen!“ Er hob die Hand und sie hörte, wie die Blätter hinter ihr stärker rauschten. „Ash, das ist doch verrückt! Ich hab dich nicht getäuscht, womit denn auch?!“ „Tu nicht so unschuldig!“ Abermals breitete sich das gelbe Leuchten um seine Hand aus. „Wir wissen beide, dass das alles nur eine große Lüge war!“ Das Licht wurde größer, intensiver, wand sich kleinen, sprühenden Funken gleich um seine Finger. „Und jetzt reicht's mir einfach! Ellenki!“ Er hatte das Wort kaum ausgesprochen, da entlud sich die Energie um seine Hand herum in eine wild blitzende Kugel, die geradewegs auf das Mädchen zuschoss. Panisch zuckte sie zurück, riss instinktiv die Arme hoch und verschränkte sie vor ihrem Körper. „Wazu!“ Ein Schild aus Eis wehrte die Elektrokugel ab, ließ sie zerbersten, bevor auch der Schild zersprang und den Boden mit Eissplittern übersäte. Misty zitterte. „Ash, hör auf mit diesem Wahnsinn…“ „Ich fang gerade erst an! Gut zu wissen, wozu diese Mächte so zu gebrauchen sind. Wär ja auch Verschwendung, wenn man damit nur Pokémon fangen könnte. Ellenki!“ Die Szenerie von zuvor wiederholte sich, sprühende Funken trafen auf glitzernde Eiskristalle. „Verdammt noch mal, was soll denn eine Lüge gewesen sein?“ „Der ganze Federkram! Ellenki!“ Sie wich dem Angriff zur Seite aus, ging in die Knie und sah ihr Gegenüber ungläubig an. „Die Legende? Ash, ist dir klar, dass dieser Kampf der beste Beweis dafür ist, dass es die Wahrheit ist? Und Zapdos, das ist doch schließlich alles passiert!“ „Und wenn schon!“ Abermals ging eine Elektrokugel auf sie los, und in ihr stieg die Verzweiflung. Was war nur in ihn gefahren? Warum sah er nicht den offensichtlichen Widerspruch in dem, was er sagte? „Ellenki!“ Sie musste irgendetwas tun. Sie wollte ihn nicht angreifen, aber irgendwie musste sie ihn stoppen. Denn auf Dauer würde sie diese Angriffe nicht durchhalten können. Sie biss sich auf die Unterlippe, streckte einen ihrer Arme nach vorn und richtete ihre Handfläche gegen Ash. „Wazu.“ Ein Eisstrahl schoss auf den Jungen zu, dem er gerade noch rechtzeitig ausweichen konnte. „Jetzt zeigst du also endlich dein wahres Gesicht. Wurde ja auch Zeit! Ellenki!“ „Wazu!“ Sie wollte ihn nicht angreifen, aber sie sah keinen anderen Ausweg mehr, als sich auf diesen Kampf einzulassen. Funken trafen auf Eis, Eis auf Funken, immer wieder, Schlag auf Schlag. Sobald ihre Angriffe aufeinander prallten, lösten sie sich gegenseitig auf. Es war ein Kampf unter Ebenbürtigen, ein Kampf, den derjenige verlieren würde, der zuerst aufgab. Wie hatte es soweit kommen können? „Ellenki!“ „Wazu.“ Wohin sollte das führen? „Ellenki!“ „Wazu.“ Irgendetwas musste geschehen. Dringend. „Ellenki!“ „Wazu!“ „Fii!“ Kurz bevor die Energien ein weiteres Mal aufeinanderstoßen konnten, schoss plötzlich von irgendwoher ein gewaltiger Feuerball auf sie zu und vernichtete Elektrofunken und Eiskristalle mit einem Schlag. Verwundert durch die plötzliche Störung blickten Ash und Misty auf, sahen in die Richtung, aus der das Feuer gekommen war. „Oh je, oh je. Das fängt ja gut an, wenn die ersten Federn sich schon gegenseitig bekriegen.“ „Wer ist da?“ Mistys Rufen klang zornig, weil es ihr nicht gefiel, ihren fremden Gesprächspartner nicht sehen zu können, aber gleichzeitig verspürte sie einen Hauch von Erleichterung, weil ihr Kampf mit Ash zumindest für den Augenblick eine Unterbrechung gefunden hatte. „Jemand, der sich ernsthaft Sorgen um diese Welt macht, wenn die Federn wirklich nichts Besseres zu tun haben, als aufeinander los zu gehen.“ Zwischen den Baumstämmen trat eine Gestalt hervor, von der Statur her ein Junge, doch seine Gesichtszüge waren in der Nachtschwärze nicht auszumachen. „Woher weißt du von der Legende?“ Misty hoffte, dass ihre Frage überflüssig und die Antwort darauf offensichtlich war; dass es sich bei dem Fremden um den dritten Auserwählten handelte, und dass dieser Ash wieder zur Vernunft bringen konnte, wenn er erst einmal sah, dass außer ihr noch jemand von der Legende wusste. „Na rate mal.“ Seine Worte klangen fast schon verhöhnend, und ohne wirklich eine Reaktion von Ash oder Misty abzuwarten griff der Fremde in eine seiner Taschen, holte einen Gegenstand daraus hervor und warf ihn zu Boden. Jetzt sahen auch Ash und Misty, dass es sich dabei um einen Pokéball handelte, welcher sich nur den Bruchteil einer Sekunde später bereits öffnete; er gab ein großes, von Flammen umgebenes Pokémon preis. „Lavados?“ Die Freude und Hoffnung übertönte die Verwunderung in Mistys Stimme, während Ash still blieb und mit einer Mischung aus Unglauben und Unbehagen auf den Feuervogel blickte. „Siehst du Ash! Ich hab dir gesagt, dass das alles keine Lüge war! Wie heißt du?“ Die letzten Worte hatte sie wieder an den fremden Jungen gerichtet. Dieser kam nun näher, und als das Mondlicht sein Gesicht streifte, war das verschmitzte Grinsen auf seinen Lippen deutlich zu erkennen. „Ich hoffe mal, ihr habt meinen Namen noch nicht vergessen.“ Ein weiteres Mal fand Misty sich überrascht, und auch in Ashs Augen blitzte für einen kurzen Moment Verwunderung auf. „Du, Gary? Du bist der dritte Auserwählte? Die Feder des Feuers?“ „Sieht ganz so aus. Und scheinbar komm ich keine Sekunde zu früh. Könnt ihr mir mal sagen, was in euch gefahren ist?“ Er versuchte, ihnen einen herablassenden Blick zu schenken, aber die Besorgnis darin war nicht zu übersehen. „Hey, die ganze Sache war bestimmt nicht meine Idee! Ash stand plötzlich mit einem Messer in meinem Zimmer und hat –“ „Ich hab mich gewehrt! Schließlich wolltest du mich umbringen! Ich hab nichts weiter getan, als dir zuvor zu kommen.“ „Spinnst du denn vollkommen? Ich hab's dir vorhin schon gesagt, und ich sag's dir auch jetzt noch mal: Ich habe absolut nicht vor, dir irgendetwas anzutun, verdammt, warum denn auch?! Was hab ich denn getan, dass du auf solche verrückten Ideen kommst?“ „Du hast mich angelogen! Die ganze Legende –“ „Gary und Lavados sind hier, und du hast Ellenki, Wazu und Fii gerade selbst gesehen! Meinst du nicht, dass das eindeutig genug ist?“ „Aber du wolltest… eine Feder wird… und damals…“ Die Worte entglitten ihm und er verstummte. Gary, der die Szenerie bis eben nachdenklich und schweigend beobachtet hatte, trat nun noch ein Stück näher an die anderen beiden Federn heran. „Misty, du sagst, Ash ist plötzlich mit einem Messer bei dir aufgetaucht. Was hast du gedacht, als du das gesehen hast?“ „Ich hab im ersten Augenblick glaube ich gar nichts gedacht… Ich hab mich erschrocken, und dann habe ich mich gefragt, was er mit dem Ding will. Und dann hat er auch schon damit angefangen, zu behaupten, ich würde ihn umbringen wollen und er müsse mir zuvor kommen.“ Gary nickte leicht. „Und du, Ash?“ Der Angesprochene sah fragend auf. „Was hast du in diesem Augenblick gedacht?“ „Dass ich…“ Er stutzte. Eben noch war der Gedanke klar und deutlich da gewesen, aber jetzt fühlte es sich unsicher, irgendwie verschwommen an. „Dass ich sie töten muss… Dass ich ihr alles heimzahlen muss, alle Lügen…“ „Aber das mit der Legende der Federn war keine Lüge, das siehst du ja nun.“ Ash schwieg. Er suchte nach den passenden Antworten, aber sie waren ihm entwichen. „Wie hat das angefangen? Wie kamst du darauf, dass du sie töten musst?“ „Da…“ Ein Erinnerungsfetzen huschte ihm durch den Kopf. Wie war er noch mal darauf gekommen? Wann hatte es angefangen? „Da waren diese Gedanken. Im… im Nebel. Als wir im Nebel waren, als ich sie vor den Blitzen beschützen sollte, da dachte ich plötzlich, was für eine einfache Art das war, jemanden loszuwerden, den man loswerden wollte. Und dass sie sich so verändert hatte… Was sie zu mir gesagt hatte… Ich wollte das gar nicht denken, aber es ging immer weiter, und irgendwann wusste ich, dass sie mich nur belogen hat, dass sie mich umbringen will, und dann wollte ich ihr zuvorkommen und mich für alles rächen, ich musste es tun, ich –“ Er stoppte, als Gary ihm eine Hand auf die Schulter legte. „Ist gut, Ash. Es ist vorbei. Ishi hat dich reingelegt.“ Als hätte Gary statt eines einfachen Satzes eine Zauberformel von sich gegeben, brach etwas um Ash beim Klang dieses fremden Wortes plötzlich zusammen, und auch Misty horchte auf. „Ishi?“ Gary nickte. „Ja, Ishi. Die vierte der Mächte.“ Fragend sah sie Gary an, und ihre Verwunderung irritierte auch ihn. „Wart ihr denn nicht bei der Insel draußen? Ich dachte, Arktos und Zapdos würden ihre Auserwählten auch dort hinbringen. Ich denke, du kennst die Legende der Federn?“ „Ja, ich war auch draußen, und ich hab die Bruchstücke der Legende gelesen. Aber da stand nirgends der Name Ishi. Nur, dass es eine vierte, böse Macht gibt, und dass wir dagegen kämpfen müssen.“ „Ishi ist –“ Er wurde unterbrochen, als Ash in diesem Moment kraftlos auf die Knie sank, den Blick gen Boden gerichtet, sein Gesicht vor den anderen beiden verbergend. „Was… was hab ich getan…“ „Das nennt man dann wohl Erkenntnis… Misty, auch wenn's sicherlich schwer zu glauben ist – ich denke wirklich, dass Ash reingelegt worden ist, dass er von Ishi aufgehetzt wurde und dass es nicht seine Schuld ist.“ „Was ist denn diese Ishi nun? Du scheinst ja noch mehr darüber zu wissen. Stand das auch an den Felsen? Ich konnte nur den ersten Abschnitt deutlich lesen, den über Ellenki, Wazu und Fii. Der Rest war nur Bruchstücke.“ „Bei mir war der Text auch nicht vollständig, aber anscheinend vollständiger als bei dir? Warte, ich les euch vor, was ich abgeschrieben hab.“ Er kramte einen Block aus seiner Tasche, hustete kurz leise, räusperte sich, und begann dann mit deutlicher Stimme zu lesen. „'Und dann ist da noch eine weitere Macht, und das ist Ishi, die Kraft über die Gedanken und das Seelenleben. Aber Ishi ist anders als die anderen Mächte, und anstatt das Gleichgewicht zu bewahren…' Da fehlt ein Stück. Und dann geht es weiter: 'Ishi birgt auch die Macht, die Gedanken anderer zu manipulieren, und das macht sie noch stärker, und für manch einen ist sie zu stark.' Dann fehlt wieder ein Stück. Und es endet so: 'Wer sie nicht kontrollieren kann, wer zu schwach für diese große Macht ist, den stürzt sie ins Chaos, und dann gerät Ishi außer Kontrolle und stürzt die ganze Welt ins Chaos. Und wann immer Ishi außer Kontrolle gerät, erwachen auch die die drei Federn und werden von den drei Vögeln zusammengeführt. Es ist ihre Aufgabe, Ishis Träger in jedem Fall zu stoppen, was auch immer sie dafür tun müssen. Und nur gemeinsam kann es ihnen gelingen, Ishi zu bannen und zu versiegeln, auf dass sich die Welt wieder beruhigen kann.'“ Er hielt für einen Moment inne, beobachtete die Reaktion seiner beiden Zuhörer, und fuhr dann fort. „Ich denke, wer auch immer Ishi beherrscht, weiß von diesem Teil der Legende, oder weiß zumindest, dass alle drei Federn notwendig sind, um Ishi zu versiegeln. Darum versucht er, uns von einander zu trennen, noch bevor wir uns gefunden haben. Wenn wir uns zerstreiten, wenn einer von uns nicht mehr an die Sache glaubt, dann ist der Kampf vorbei noch bevor er überhaupt angefangen hat.“ Er rief Lavados zurück in seinen Pokéball, verstaute diesen wieder in seiner Tasche und sah die anderen beiden abwartend an. „Also war das alles nur ein Theater, das Ishi eingefädelt hat. Ein Trick, um Ash wütend auf mich zu machen und uns auseinander zu bringen.“ „Ich gehe davon aus, ja.“ Misty nickte und sah dann zu Ash, der noch immer am Boden hockte, die Hände in den kalten Boden gekrallt. Wie hatte das passieren können. Wie hatte passieren können, dass jemand anderer von seinen Gedanken Besitz ergreift, dass er sie so manipuliert, bis er bereit war, das Unmöglichste zu glauben und das Unfassbarste zu tun? Warum war er so schwach gewesen? Warum hatte er diesen Gedanken so sehr Vertrauen geschenkt? Ash zuckte zusammen, als er plötzlich erneut eine Hand an seiner Schulter vernahm. Diesmal war es nicht Garys. „Es ist ok.“ Mistys Stimme war leise. „Du hast Gary gehört: Du wurdest reingelegt und es ist vorbei.“ „Wie kannst du das so einfach sagen?!“ Er stand auf, wischte ihre Hand von seiner Schulter, doch statt Zorn lagen nun Unverständnis und Selbstzweifel in seinem Blick. „Was ist denn, wenn das noch mal passiert? Wenn es Ishi noch mal schafft, mich zu bequatschen? Wenn das Ganze dann wieder von vorne losgeht?“ „Nun, zumindest sollte sie nicht mehr versuchen, einen von uns aus dem Weg zu räumen, denn da hat sie einen gehörigen Denkfehler gemacht. Wenn du Misty wirklich umgebracht hättest, wäre schließlich eine neue Feder erwacht. Und auch wenn Arktos die erst hätte finden müssen, hätte Ishi so nicht viel gewonnen. Ok, das wäre natürlich nur ein schwacher Trost für uns gewesen, aber –“ „Ein ganz schön schwacher Trost! Verdammt, selbst wenn Ishi nicht mehr vorhaben sollte, einen von uns zu ermorden – ich will nicht, dass mir das gleiche noch mal passiert, ich will nicht noch mal zu ihrer Marionette werden!“ „Na dann nehmen wir ihr doch einfach mal die Grundlage dafür.“ Ash und Misty sahen Gary verwundert an. „Ich glaub einfach nicht, dass du dich nur von so einer einfachen Lüge hast bequatschen lassen.“ „Dass die Legende nicht echt sein soll? Vielleicht ist es meine Schuld… Vielleicht hätte ich ihm mehr erzählen können, ihm die Insel zeigen können, damit er es glaubt.“ „Es kann nicht nur an der Sache mit der Legende gelegen haben. Wie du vorhin selbst gesagt hast, er hat Zapdos gefangen, und er hat die drei Mächte gesehen, er hat Ellenki sogar selbst benutzt. Das war so eine offensichtliche Lüge, das kann nicht alles gewesen sein.“ Er versuchte, sich die Ereignisse von zuvor ins Gedächtnis zu rufen. War da nicht irgendein Anhaltspunkt in dem, was Ash gesagt hatte? „Weißt du noch, was für Gedanken genau das waren, die Ishi dir zugeflüstert hat?“ Ash dachte einen Moment nach und schüttelte dann den Kopf. „Nein. Es ist irgendwie alles… weg. Also alles Konkrete… Ich weiß nur noch, dass ich plötzlich unglaublich wütend war und… und dass ich…“ „Ist schon gut.“ Misty griff nach seiner Hand. „Quäl dich nicht.“ „Aber irgendwas muss doch noch gewesen sein… Du hast vorhin irgendwas von 'damals' gesagt. Kannst du dich erinnern, was du damit gemeint hast? Wann war denn dieses Damals? Und was war da?“ Ash zuckte zusammen und zog seine Hand weg. „Das hat nichts damit zu tun.“ Gary besah ihn mit einem skeptischen Blick. „Ich glaube schon, dass es das tut, du wirst das schließlich nicht ohne Grund erwähnt haben. Und wenn du dich sogar noch daran erinnern kannst, was du gemeint hast – meinst du nicht, du bist uns eine Erklärung irgendwie schuldig?“ Ja, das war er wohl. Betreten sah er zur Seite. „Ich…“ Er hatte es nicht sagen wollen, weil es ein Zeichen von Schwäche war. Aber sich von Ishi beeinflussen zu lassen war definitiv die größere Schwäche gewesen. „Ich… war wütend wegen damals. Als Misty gegangen ist. Dass sie mich einfach so im Stich gelassen hat.“ „Aber ich hab dir doch gesagt, warum ich das gemacht hab! Weil wir dir nur im Weg standen, und du –“ „Genau das hat mich ja so wütend gemacht! Dass du mir sagst, du wärst nicht gegangen, wenn ich nicht so unfähig gewesen wäre! Dass ihr bei mir geblieben wärt, wenn ich mich nicht auf euch verlassen hätte. Ich wollte nicht, dass das die Antwort ist. Ich wollte, dass es eine Ausrede ist, eine Lüge, dass es nicht meine Schuld war, dass ihr alle gegangen seid. Ich wollte, dass du auch Schuld daran hast, dass du auch etwas falsch gemacht hast, dass nicht nur ich –“ „Ich habe etwas falsch gemacht.“ Er sah überrascht auf. „Aber ich war zu stolz, um es zuzugeben. Ash, ja… ja, ich bin gegangen, weil ich dir helfen wollte. Aber ich hab gemerkt, dass es dumm war, nicht mit dir darüber zu reden. Ich dachte, was ich mache wär klug, dass du schon über uns hinweg kommst und dann endlich der Trainer werden kannst, der du längst hättest sein sollen. Aber dir nichts zu erklären und einfach so zu gehen war wohl das Dümmste, was ich hätte tun können. Das wurde mir leider erst klar, als ich hörte, dass du es aufgegeben hattest, ein Pokémontrainer zu sein. Ich wusste, dass es falsch war, was ich gemacht hatte, und dass ich dir bestimmt irgendwie hätte helfen können… Aber ich wollte meinen Fehler nicht einsehen, nicht zugeben, und hab mich darum weiter hinter der guten Absicht versteckt, die ich gehabt hatte… Es tut mir leid.“ Er sah sie an. Er wollte irgendetwas sagen, irgendetwas erwidern, aber jeder Satz, jedes Wort, das ihm in den Sinn kam, war nicht gut genug und konnte nicht ausdrücken, was er gerade empfand, weil in ihm die Verwirrung tobte, aber auch Erleichterung und Reue. „Ich hoffe, du kannst mir das verzeihen.“ Der hauchdünne Anflug eines Lächelns legte sich auf seine Lippen. „Ich hab gerade versucht, dich umzubringen, und du bist mir scheinbar kein Bisschen böse. Wenn du mir also das verzeihen kannst…“ „Du warst nicht du selbst. Und du hast länger gelitten.“ „Ja… aber jetzt kenn ich die Wahrheit. Und dass du mal über deinen Schatten springen und dich bei mir entschuldigen musst, war es die Sache fast schon wert.“ Er scherzte, er neckte sie, und sie konnte nicht fassen, dass das gerade wirklich passierte, und dass es für einen Moment fast wie früher zwischen ihnen war. „Also schön. Ich verzeih dir.“ „Danke.“ Gary, der die Szene bis eben wortlos beobachtet hatte, lächelte nun und hustete leise, woraufhin die beiden anderen sich zu ihm umwandten. „Ich denke, jetzt wo das geklärt ist, sollten wir langsam mal zusehen, dass wir noch ein wenig Schlaf finden. Denn ich geh mal davon aus, dass der Großteil der Strapazen erst noch vor uns liegt.“ Die anderen beiden nickten. Und so waren es nun drei Federn, die ihren Weg zurück in das trostlose Dorf und das kleine, heruntergekommene Hotel fanden. Kapitel 7: Eins für sieben Milliarden ------------------------------------- Fast schon ein wenig zu idyllisch waren der strahlende Sonnenschein und die leichte Brise, die am darauffolgenden Tag das kleine Dorf umhüllten und es schon viel weniger trostlos als in der vergangenen Nacht wirken ließen. Zwar war es nach wie vor ein ruhiges Örtchen und einige der Häuser auch bei Tag halb verfallen. Doch immerhin waren die Straßen nicht so verlassen wie am Abend zuvor, und auch wenn das Dorf nicht gerade vor sprühendem Leben überquellte, so war es doch immerhin beruhigend, ab und an jemandem, manchmal sogar in Begleitung eines Pokémons, zu begegnen. Ash, Misty und Gary hatten ein kleines, unscheinbares Café aufgesucht, dessen Bedienung so schlecht war, dass sie sich nur sporadisch blicken ließ und ihnen damit die Gelegenheit, in Ruhe all das zu besprechen, was bisher noch ungeklärt war. Was, wenn man einmal darüber nachdachte, noch praktisch alles an dieser Geschichte war. „Am meisten wundert mich, dass bei mir scheinbar mehr Text an den Felsen stand als bei dir.“ „Ja. Wenn es nur ein paar Kleinigkeiten gewesen wären, dann hätte ich mir vorstellen können, dass ich vielleicht etwas übersehen hab. Aber das ist ja schon fast eine ganze Passage, viel zu viel, um es nicht bemerkt zu haben.“ Sie hatten Mistys Notizen mit denen von Gary verglichen; der Unterschied war eindeutig gewesen. Gary nickte. „Noch dazu waren die Worte nicht so undeutlich geschrieben, dass du sie vielleicht einfach nicht entziffern konntest. Nein, ich gehe davon aus, dass es bei mir wirklich mehr Text war als noch bei dir.“ „Aber wieso?“ Er zuckte mit den Schultern, hustete kurz und nahm einen Schluck aus seiner Tasse, dessen Inhalt vom Geschmack her nur entfernt an Kaffee erinnerte. „Wenn es bei Gary mehr Text war als dir und du allem Anschein nach vor ihm auf der Insel warst – könnte es dann nicht sein, dass da noch mal mehr steht, wenn ich hingehe? Ich weiß nicht, was dahintersteckt, aber –“ „Aber es ist durchaus eine Möglichkeit. Schließlich sind da immer noch Lücken in der Legende. Ich dachte erst, dass einige Wörter vielleicht mit der Zeit einfach unlesbar geworden sind, aber so wie es momentan aussieht, scheint das ja nicht der Grund zu sein.“ „Aber wenn Ash auch ein Stück Legende 'freilegen' würde, warum ist Zapdos dann nicht mit ihm zur Insel geflogen? Warum haben unsere Pokémon stattdessen Lavados gesucht?“ „Haben sie das denn? Oder habt ihr ihnen signalisiert, dass ihr Lavados und mich finden wolltet, und Zapdos ist nur deswegen nicht zur Insel geflogen?“ „Na ja, nachdem Arktos mich zu Zapdos und Ash geführt hat, war ich mir eigentlich sicher, dass die Vögel eben einander suchen…“ „Aber wenn du mit Arktos bei der Insel warst und das nicht so lange bevor ich mit Lavados dorthin gekommen bin… dann hätten Lavados und ich doch eigentlich viel näher als Zapdos oder Alabastia sein müssen.“ „Ja aber wie kommt es dann, dass mich Arktos zu Ash und nicht zu dir gebracht hat?“ Gary schmunzelte leicht. „Vielleicht hast du Arktos beeinflusst.“ „Ich? Wie meinst du das?“ „Na ja… Als du die Legende gelesen hast und wusstest, dass es noch zwei weitere Auserwählte gibt – hast du da nicht mal drüber nachgedacht, wer es sein könnte?“ „Doch, schon, aber –“ „Und hast du nicht überlegt, ob Ash vielleicht der Auserwählte von Ellenki sein könnte?“ Sie fühlte sich ertappt. „Ja… möglicherweise.“ „Aber warum? Ich find es selbst immer noch überraschend, dass ich auserwählt wurde. Klar, Pikachu ist ein Elektropokémon, aber eben nur eins. Es gibt doch so viele Trainer, die sich auf Elektropokémon spezialisiert haben und darum viel eher in Frage gekommen wären. Wie bist du da auf die Idee gekommen, dass ausgerechnet ich einer der Auserwählten sein könnte?“ Das Mädchen biss sich auf die Unterlippe. „Kann es sein, dass du es dir ein bisschen gewünscht hast?“ Sie sah Gary an, aber der ließ ihr nicht die Gelegenheit, etwas zu erwidern. „Du hast doch gesagt, du hattest ein schlechtes Gewissen, weil du Ash damals verlassen hast. Vielleicht hast du dir unterbewusst gewünscht, dass Ash der Auserwählte ist, damit du ihn wiedersehen und die ganze Geschichte wieder gut machen kannst?“ „Ja… möglich.“ Ash lächelte sanft. „Dann hat Arktos eigentlich gar nicht Zapdos gesucht, sondern mich.“ „Und dass du wirklich von Ellenki auserwählt wurdest, war nur ein Zufall.“ „Und darum hat Zapdos mich auch nicht zur Insel geführt.“ „Weil Misty dir unabsichtlich eingeredet hat, dass die Vögel einander suchen würden. Und weil unsere Gedanken und Wünsche die Vögel anscheinend beeinflussen.“ „Dann frag ich mich aber immer noch, nach welchen Kriterien die Federn auserwählt werden. Bei mir war ich mir sicher, dass es eben mit meinen Wasserpokémon zutun hat, und bei Ash hat das ja auch noch irgendwie Sinn gemacht.“ „Aber bei Gary… Hast du überhaupt ein Feuerpokémon, also, außer Lavados?“ „Nein, ich habe keins. Keine Ahnung, warum ausgerechnet ich ausgewählt wurde. Das wissen wohl nur die drei Mächte allein.“ Zwei Taubsis ließen sich auf einem der benachbarten Tische nieder, stritten sich um ein paar Brotkrumen, die vom vorherigen Gast zurückgelassen worden waren, und flogen schließlich zufrieden davon, als jedes einen Teil hatte ergattern können. „Jedenfalls sollten wir als erstes noch mal zu dieser Insel fliegen. Wenn es wirklich einen dritten Teil der Legende gibt, sollten wir ihn kennen. Vielleicht ist da wirklich noch mal mehr Text, wenn Zapdos und ich hingehen. Und vielleicht erfahren wir dann auch, wie genau wir Ishi oder eben den Menschen, der Ishi beherrscht, aufhalten sollen.“ „Steht das im Grunde nicht schon da?“ Sie sahen zu Misty, die ihre Blicke jedoch nicht erwiderte, sondern stattdessen auf ihre Beine starrte. „Der Abschnitt darüber, dass die drei Federn Ishi aufhalten müssen, ist doch komplett.“ „Und trotzdem wissen wir nicht, wie –“ Sie unterbrach Ash. „Es ist die Aufgabe der Federn, Ishi in jedem Fall zu stoppen – 'was auch immer sie dafür tun müssen'. Und das heißt im schlimmsten Fall, dass wir vielleicht jemanden töten müssen, um die Welt vor dem Chaos zu bewahren.“ Er sah überrascht auf, spürte, wie etwas in ihm sich verkrampfte. Das war ein Gedanke, der ihm bisher nicht gekommen war. „Spuckst du jetzt nicht ein bisschen große Töne?“ Nun mischte sich auch Gary in dieses Gespräch ein. „Natürlich, im Prinzip steht das da. Aber wer sind wir denn, dass wir das Recht hätten, ein Menschenleben zu beenden? Dieses Recht hat niemand, wie edel auch immer das '‚Motiv' dafür sein mag.“ „Ich habe ja nicht gesagt, dass es der einzige Ausweg ist! Aber es ist eine Möglichkeit, die wir leider in Betracht ziehen müssen, und gerade weil es eine so furchtbare ist, sollten wir uns damit auseinandersetzen, dass es soweit kommen kann! Und ja, ich finde schon, dass es den Tod einer einzelnen Person rechtfertigt, wenn ansonsten vielleicht das Leben aller Menschen und Pokémon auf dem Spiel steht!“ „Es ist doch überhaupt nicht gesagt, dass dieses 'Chaos', von dem die Legende spricht, gleich einen Weltuntergang mit sich bringt!“ „Du hast selbst gesehen, wozu Ishi fähig ist. Was meinst du, was jemand damit alles anrichten kann, der die Gedanken anderer kontrolliert? Wir sind jetzt klüger, wir wissen jetzt, dass wir uns von Ishi nicht austricksen lassen dürfen, dass wir vorsichtig sein und uns gegenseitig vertrauen müssen. Aber was ist mit all den Menschen, die das nicht wissen? Wir wissen nicht, was das für eine Person ist, die Ishi beherrscht, und wir wissen nicht, was sie vorhat.“ „Eben! Und so lange wir das nicht wissen, solange wir die komplette Legende nicht kennen, haben wir überhaupt nicht die Möglichkeit, einzuschätzen, wohin das Ganze führt. Und wir werden ganz bestimmt niemanden umbringen! Du vergisst gerade, dass wir es hier nicht nur mit irgendeiner bösen Macht zu tun haben, sondern mit einem menschlichen Wesen! Und eben, wir wissen nicht, was seine Beweggründe sind. Vielleicht hat derjenige irgendetwas durchgemacht, ist wegen irgendetwas verzweifelt und daher leicht dazu zu verleiten, eine starke Macht wie Ishi auszunutzen.“ Misty schnaubte verächtlich. „Ja, ganz toll. Als ob wir nicht alle mal schwere Zeiten durchmachen oder irgendwelche Schicksalsschläge erleiden mussten! Das ist doch aber noch lange kein Grund, sich an der ganzen Menschheit zu rächen!“ Gary wollte etwas erwidern, doch nur ein Husten entwich seiner Kehle und Misty ließ ihm keine zweite Gelegenheit, sie zu unterbrechen. „Das sind Unschuldige! Unschuldige, die nichts dafür können, wenn ein Mensch sich nicht kontrollieren kann. Da macht es überhaupt keinen Unterschied, ob er sich an der Welt rächen will, weil er ja ach so verletzt ist, oder einfach nur ein Verrückter, der seine Macht ausspielt.“ „Genau, es macht keinen Unterschied! Es ist egal, ob uns seine Beweggründe nachvollziehbar erscheinen oder nicht – es ist immer noch ein Mensch, der all das tut, Misty! Ein Mensch, der vor dieser Sache hier wahrscheinlich ein ganz normales Leben geführt hat. Jemand, der so einzigartig ist wie du oder ich oder jede andere Person auf dieser Welt. Jemand, der von irgendwem da draußen geliebt wird, und wir haben nicht das Recht, jemandem einen geliebten Menschen wegzunehmen und wir haben einfach nicht das Recht, ein Menschenleben auszulöschen!“ „Doch Gary, das haben wir. Wir sind als Federn auserwählt worden und haben jetzt nicht nur das Recht, sondern die verdammte Pflicht dazu, Ishi und den Menschen, der sie beherrscht, aufzuhalten. Natürlich müssen wir erst abwarten und sehen, wie sich die Dinge entwickeln, natürlich müssen wir erst herausfinden, wer dieser Mensch ist und was er eigentlich vorhat. Und natürlich werden wir jeden anderen Ausweg zuerst in Betracht ziehen. Aber letztendlich müssen wir immer im Hinterkopf behalten, was wir im schlimmsten Fall tun müssen.“ Gary entgegnete nichts mehr. Ob er es aufgegeben hatte, gegen sie anzureden, oder innerlich vielleicht fürchtete, dass sie recht hatte, war nicht ersichtlich. Ash hatte diesem Streitgespräch die ganze Zeit über schweigend zugehört. Ein paar Mal hatte er etwas sagen wollen, hatte zu einer Antwort angesetzt, aber da er im Grunde überhaupt nicht wusste, was er hatte sagen wollen, war er still geblieben. Misty und Gary hatten ihren Standpunkt jeweils deutlich gemacht und begründet. Und er? Wie dachte er selbst über diese ganze Sache? Natürlich würden sie alles daran legen, diese Sache zu regeln, ohne dass jemand dabei sein Leben verlieren musste. Aber was war, wenn Misty recht hatte? Wenn sich der schlimmste Fall, den sie sich ausmalen konnten, wirklich eintraf? Er wollte niemanden umbringen, genauso wenig wie die anderen beiden. Aber wenn es wirklich soweit kommen würde, wenn es schlussendlich der letzte Ausweg war… Hatten sie dann nicht wirklich die Pflicht, es zu tun? Ein Menschenleben für den Rest der Welt zu opfern? Bisher war ihm nicht bewusst gewesen, was es bedeutete, als eine Feder auserwählt worden zu sein. Sie hatten eine Aufgabe zu erfüllen, ja, natürlich. Aber schlimmer als das lag eine unglaublich große Verantwortung auf ihren Schultern. Wie viel war so ein Menschenleben wert? Er warf einen verschämten Blick auf seine Handgelenke. Er hatte es niemals ernsthaft vorgehabt, er hatte es niemals wirklich versucht, aber es hatte eine Zeit gegeben, in der ihm sein eigenes Leben unendlich bedeutungslos erschienen war. Jetzt war in ihm nur noch Scham darüber, über diese Gedanken, selbst wenn sie halbherzig gewesen waren. Er hätte damit vielen Menschen unglaublich wehgetan. Mistys Seufzen riss ihn aus seinen Gedanken. „Na schön, lassen wir das Ganze erst mal. Du hast recht, bevor wir nicht genau wissen, was sich hinter dieser ganzen Sache verbirgt, und bevor wir den Menschen hinter Ishi nicht einmal gefunden haben, sollten wir keine voreiligen Schlüsse ziehen. Alles Weitere… sehen wir dann.“ „Also fliegen wir als erstes zur Insel, um zu sehen, ob es für Ash einen dritten Teil der Legende gibt?“ Sie nickte. „Ich würde vorher, oder auf dem Weg dorthin, gerne mit Zapdos trainieren.“ Die anderen beiden sahen auf. „Außer es zu fangen habe ich ja noch nicht viel mit ihm getan… Und da die Vögel ja ebenfalls Teil dieser Legende sind, werden wir sie sicher noch brauchen. Vielleicht gehört zu Ishi ja auch ein Pokémon, vielleicht wird es gegen die drei Vögel kämpfen. Ich wär' gern vorbereitet.“ „Ja, das macht Sinn. Also beschäftigen wir uns erst ein wenig mit unseren Pokémon und brechen dann zur Insel auf.“ Misty sah in die Runde. „Irgendwelche Einwände?“ Aber es blieb still.   ***   „Das Mädchen… Der Junge war zwar unsicher und deswegen ein gutes Ziel, aber er hat seine Zweifel verloren. Aber das Mädchen besitzt noch eine Schwäche… Machen wir bei ihr weiter.“ Kapitel 8: Was damals war ------------------------- Schon früh am nächsten Morgen ließen sie das kleine Dorf mitsamt ihrer schlechten Erinnerungen daran hinter sich. Diesmal mit dem Wunsch im Herzen, noch einmal die Insel mit der Legende aufzusuchen, ließen sie die drei Vögel fliegen und überquerten erneut öde, unbewohnte Gegenden. Aber diesmal war es ihnen nur recht: Wenn sie mit ihren Pokémon trainieren wollten, würden sie hier wenigstens kein Aufsehen erregen. So waren sie schließlich irgendwann mitten in diesem Nirgendwo gelandet, auf diesem verlassenen Fleckchen Erde, das selbst von wilden Pokémon nahezu unbewohnt schien. Sie hatten Arktos, Lavados und Zapdos kämpfen lassen; gegen Büsche und Sträucher, gegen Felsen; wenig gegen einander. Sie wussten nicht, wie klug es war, mit den drei legendären Vögeln ein Pokémoncenter aufzusuchen, wie viel Aufsehen sie damit erregen würden und versuchten daher, die drei nicht zu sehr zu schwächen. Sie machten sich mit ihren Angriffen vertraut, mit ihren Fähigkeiten, versuchten, sich ihre Art und ihre Verhaltensweisen im Kampf genau einzuprägen. Und umso länger sie mit ihren Pokémon kämpften, umso mehr spürten sie, dass sie sich auch ihrer eigenen Kräfte bewusster wurden und dass dieses Etwas in ihnen, mochte es nun Wazu, Ellenki oder Fii heißen, stetig stärker wurde.   Beinahe überrascht waren die drei, als sich nach Kilometern der Einöde endlich wieder Zivilisation unter ihnen zeigte. Zunächst waren es nur kleine Dörfer gewesen, die sie überflogen hatten. Aber dann wurden die Häuseransammlungen unter ihnen nach und nach größer, die Gebäude höher, und ehe sie sich versahen, tat sich unter ihnen eine belebte, grell leuchtende Stadt auf. Sie sahen sich unschlüssig an. Das war nicht der Ort, den sie sich für ihre heutige Übernachtung vorgestellt hatten. Eigentlich wären sie lieber verborgen vor allen Blicken und allem Trubel geblieben, aber wenn sie ihre Pokémon nicht verausgaben wollten, dann mussten sie in absehbarer Zeit rasten. Aber vielleicht war es in einer anonymen Großmetropole letztendlich sogar einfacher, unbeachtet zu bleiben.   Die Deckenlampe strahlte ein sanftes, freundliches Licht aus, das auch noch in die hintersten Winkel des Raums vordrang. Zugegeben, groß war das Zimmer nicht, nur dafür gedacht, einen reisenden Trainer für ein oder zwei Nächte zu beherbergen. Jetzt zu dritt fanden sie gerade so Platz darin, aber es würde wohl genügen, um den Tag gemeinsam ausklingen zu lassen, bevor sich letztendlich jeder in sein eigenes Zimmer zurückziehen würde. Man hatte sie hier im Pokémoncenter freudig aufgenommen, auch ohne dass sie ein Pokémon in die Obhut einer der unzähligen Schwester Joys gegeben hatten. Es war eine ungewohnte Atmosphäre gewesen, der Trubel und die Fröhlichkeit, die schwatzenden und energiegeladenen Trainer und Pokémon, so ganz anders als das Schweigen und die Stille der letzten Zeit. Es hatte einen bitteren Beigeschmack, denn es erinnerte alle drei an vergangene, fröhlichere Tage, an denen sie einfach nur Kinder gewesen waren und nichts von einer Bedrohung gewusst hatten, die der Welt vielleicht bevorstand. Aber es bestätigte sie auch darin, dass es so viel auf dieser Welt gab, was es nun zu bewahren galt. „Wenn ich mir vorstelle, dass all diese Menschen und Pokémon in ernsthafter Gefahr sein könnten… und noch nicht einmal etwas davon wissen.“ Diese Worte waren von Misty gekommen, die nun ihren Blick gen Boden senkte. „Es ist gut, dass sie nichts davon wissen. Nicht einmal wir wissen genau, was vor sich geht oder noch vor sich gehen wird. Warum sollten sie sich jetzt schon ängstigen, vielleicht vollkommen zu unrecht?“ Sie nickte, und Ash, der bis eben geschwiegen hatte, schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Misty, wir schaffen das schon! Ich weiß nicht genau wie, oder was wir eigentlich tun können. Aber wir finden schon eine Lösung für das alles.“ Er streckte seinen Arm nach ihrer Schulter aus, aber als er sie berührte, war ein kurzes Knistern zu hören und Misty zuckte augenblicklich zurück. „Entschuldige, hast du einen Schlag bekommen? Das ist mir heute schon ein paar Mal passiert, seitdem wir hier sind… Ich glaub, das liegt an Ellenki oder so. Tut mir leid.“ Er lachte verlegen, aber sie wandte den Blick ab, murmelte leise, dass es schon in Ordnung war, und stand dann auf. Sie machte ein paar ziellose Schritte in dem Raum, der dafür eigentlich viel zu klein war, und ließ ihre Hände suchend durch die Taschen ihrer Jacke gleiten. Schließlich holte sie eine kleine, rechteckige Schachtel daraus hervor und wollte gerade nach einer Zigarette daraus greifen, als sie die Blicke der beiden Jungen bemerkte, der eine überrascht, der andere skeptisch. Sie hielt das Päckchen Gary entgegen, aber dieser schüttelte nur stumm den Kopf und sah sie weiterhin eindringlich an. Für einen Moment erwiderte sie den Blick, unsicher, irritiert, dann schloss sie die Packung und ließ sie wieder in ihrer Tasche verschwinden, ohne eine Zigarette genommen zu haben. Sie seufzte. „Ich denke, ich werd' schlafen gehen. Es war ein langer Tag, ich bin müde.“ Ash sprang auf und streckte abermals die Hand nach ihr aus. „Ja aber wollten wir nicht noch –“ Aber er brach ab, als sie seiner Berührung auswich, ihn beinahe ängstlich ansah. „Wir können alles andere genauso gut morgen besprechen. Also, belassen wir's für heute dabei. Gute Nacht.“ Sie wartete keine Antwort ab, kehrte den beiden den Rücken zu und verließ das Zimmer. Für einen Moment starrte Ash die Tür an, irritiert, verletzt. „Hab ich… irgendwas falsch gemacht? Ich meine, ja, klar, hab ich… Aber ich dachte, sie hätte mir verziehen. Ob sie mir doch noch böse ist?“ Gary schüttelte den Kopf. „Glaub ich nicht.“ „Aber sie weicht mir aus.“ „Das hat nichts mit dir zu tun.“ „Ach, und womit dann?“ Auffordernd sah er Gary an, der seinen Blick erst unsicher erwiderte und sich dann abwandte. „Vielleicht hat's mit Ellenki zu tun.“ „Mit Ellenki? Weil sie eben den kleinen Schlag bekommen hat? Darum weicht sie mir plötzlich aus?“ Gary hustete leise. „Und das soll alles sein?“ „Im Prinzip ja, weil…“ Aber er stockte und auf Ashs fragenden, eindringlichen Blick hin entfuhr ihm ein Seufzen. „Ich weiß nicht, wie gut Misty es findet, wenn ich dir das ganze erzähle. Wenn du nicht weißt, was damals war.“ „Was damals war? Wann damals?“ Nun sah auch Gary zur Tür, so als könnte er mit seinem Blick Misty selbst erreichen und sie um Erlaubnis fragen. „Na schön, im schlimmsten Fall reiß sie mir den Kopf ab. Aber vielleicht ist es ganz gut, wenn du es weißt.“ „Wenn ich was weiß?“ „Immer mit der Ruhe, ich erzähl's dir ja. Also es war… es wird vor vielleicht gut einem Jahr gewesen sein. Misty war zu dem Zeitpunkt gerade in Azuria City, ihre Schwestern besuchen. In der Arena gab's wieder mal irgendeine Aufführung und ein Haufen Leute war gekommen, um sich das anzusehen. Aber dann gab es irgendwo in der Hauselektronik einen Kurzschluss, irgendein Kabel war wohl nicht in Ordnung gewesen. Daraufhin hat das ganze angefangen zu brennen und das Feuer ist dann recht schnell auf die Teile der Arena übergesprungen, die nicht vom Wasser umgeben oder damit bedeckt waren, was zum Glück ja wohl nicht so viele sind. Aber dann ist natürlich Panik unter den Zuschauern ausgebrochen und alle wollten schnellstmöglich raus aus der Arena. Aber die meisten der Ausgänge funktionierten elektronisch und waren nach dem Kurzschluss erst mal stillgelegt. Soweit ich weiß, haben Misty und ihre Schwestern absolut souverän reagiert, die Türen von Hand entriegelt, und nach nur wenigen Minuten waren dann auch alle Leute in Sicherheit. Nur die Arena, die hat unter dem Vorfall ganz schön gelitten. Das Feuer hat einiges kaputt gemacht und die Elektronik war hinterher wohl auch vollkommen hinüber. Letztendlich ist zum Glück  nicht viel Schlimmeres passiert, Menschen wurden nicht verletzt und die Arena ist ja auch versichert und alles… Aber ich denke, es kann durchaus deswegen sein, dass Misty der Schlag von vorhin so erschreckt hat. Vielleicht hat sie damals auch einen Schlag oder so bekommen, vielleicht hat es sie auch einfach nur daran erinnert. Aber ist glaub ich nachvollziehbar, wenn Elektrizität ihr jetzt etwas Unbehagen bereitet.“ „Ja…“ Ash war sich nicht sicher, was er sagen sollte. Es erklärte einiges. Es erklärte Mistys Verhalten vorhin und es erklärte auch, warum sie ihn während des Gewitters so ruppig gebeten hatte, die Blitze von ihr fernzuhalten. Wie sehr sie beim Kampf gegen ihn wohl gelitten hatte? Er hatte doch auch mit Elektrizität gekämpft. Und trotzdem hatte sie ihn danach berührt, hatte versucht, ihn aufzumuntern und ihm versichert, dass alles wieder in Ordnung war. Ob sie das auch Überwindung gekostet hatte? „Ist die Arena denn jetzt wieder repariert worden?“ Gary schüttelte den Kopf. „Die finanziellen Mittel wären durch die Versicherung ja da, aber Misty und wohl auch ihren Schwestern fehlt einfach irgendwie die Kraft und Motivation dafür. Das ganze hat sie ziemlich mitgenommen. Misty spricht nicht gern drüber.“ Aber mit ihm musste Misty wohl darüber gesprochen haben, oder woher wusste er all diese kleinen Details? Ob die beiden sich nahe gestanden hatten, während er zu all seinen Freunden keinen Kontakt mehr gehabt hatte? Mit einem Mal fühlte Ash sich schuldig. Er wusste, dass er für den Vorfall damals nichts konnte, aber er fragte sich plötzlich, wieso er von der ganzen Sache niemals etwas mitbekommen hatte. Azuria City lag so nah, und trotzdem hatte es ihn in all den Jahren nicht interessiert, was dort vor sich ging. Wie hatte er ein derartiges Desinteresse an seiner Umwelt entwickeln können? „Gary?“ Der Angesprochene sah fragend auf. „Wo warst du eigentlich in den letzten Jahren?“ „Mal hier, mal da… ich bin durch die Gegend gereist und hab irgendwann die Zeit vergessen.“ Eine wenig zufrieden stellende Antwort, aber Gary machte nicht den Eindruck, als wollte er seinen Worten auch nur ein einziges hinzufügen. Stattdessen stand er nun auf, streckte sich kurz und fuhr sich dann durch die Haare. „Ich denke, ich werde dann auch mal schlafen gehen. Mach dir wegen der Sache mit Misty keine allzu großen Sorgen. Sie ist ein starkes Mädchen, sie steht das durch.“ Er suchte nach irgendeiner kessen Bemerkung, um die Stimmung ein wenig aufzulockern. „Mach dir lieber Gedanken um mich, falls Misty auf mich losgeht, wenn sie erfährt, dass ich dir das alles erzählt hab.“ Ash lächelte schwach und Gary nahm es als Zeichen, dass dieses Gespräch fürs erste beendet war. Als er jedoch nach der Türklinke griff und gerade im Begriff war, zu gehen, hielt Ash ihn doch noch einmal zurück. „Gary?“ „Ja?“ Er wandte sich um. „Solltest du Misty jetzt zufällig noch mal sehen… wünsch ihr eine gute Nacht von mir.“ Einen Moment lang sah Gary ihn überrascht an, dann lächelte er jedoch. „Mach ich.“   Es überraschte ihn wenig, als er Misty auf der kleinen Terrasse sah, die das Pokémoncenter umrundete und auf der sich zu dieser späten Stunde ansonsten niemand mehr eingefunden hatte. „Ich dachte, du warst müde und wolltest schlafen gehen.“ Sie erschrak beim Klang seiner Stimme und es tat ihm leid. „Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken. Kannst du nicht schlafen?“ Sie schenkte ihm ein müdes Lächeln. „Was fragst du so unschuldig? Als ob du es nicht eh wüsstest. …Ist Ash sauer auf mich?“ „Weil du so plötzlich abgehauen bist und ihn von dir gestoßen hast?“ „Ich bin ihm ausgewichen, ich hab ihn nicht von mir gestoßen… Aber ja.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, ist er nicht. Irritiert war er und verletzt.“ Man sah ihr ihr schlechtes Gewissen an. „Misty, ich… hab's ihm erzählt. Ich weiß, vielleicht hättest du's lieber selbst gemacht. Aber ich dachte, er sollte es vielleicht wissen, und vielleicht wollte ich ihn auch ein bisschen trösten, dass es nicht seine Schuld war. Also, wenn du jetzt wütend auf mich sein willst…“ Sie verneinte. „Wahrscheinlich hast du recht und es ist besser, wenn er es weiß. Ob von mir oder dir spielt da auch keine Rolle.“ Sie schlang die Arme um ihren Körper. „Frierst du?“ „Und wenn schon.“ „Na ja, dann müsste ich dich wärmen, oder?“ „Ich könnte auch einfach wieder reingehen.“ Sie sagte es, aber ihre Stimme klang nicht ablehnend und mehr als gewillt ließ sie zu, dass er seine Arme um sie legte und an sich zog. „Danke.“ „Wofür das jetzt? Ich denke, du wolltest gar nicht gewärmt werden.“ „Dafür, dass du trotzdem für mich da bist. Obwohl wir manchmal so unterschiedliche Meinungen haben, gerade wenn es um die Erfüllung unserer Aufgabe geht.“ „Misty, weder du noch ich wissen doch, wie die Geschichte letztendlich enden wird. Versuchen wir einfach, bis dahin das Beste daraus zu machen.“ Er strich ihr liebevoll über die Wange, und sie nickte und hob ihren Kopf ein wenig, woraufhin er sich zu ihr hinunterbeugte, ihr noch einmal ein Lächeln schenkte und sie dann sanft küsste, was von ihr ebenso sanft erwidert wurde. Doch dann löste er sich plötzlich von ihr, wandte sich ab und wurde von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt. Sie sah ihn besorgt an. „Alles in Ordnung?“ Er nickte schwach. „Sicher? Du hustest viel in letzter Zeit…“ „…Vielleicht hab ich mir was eingefangen, eine Erkältung oder so.“ Er versuchte erneut zu lächeln, doch diesmal wollte es ihm nicht gelingen. „Na ja, aber ich werd' dann wirklich mal schlafen gehen.“ Er wandte sich zum Gehen, hielt dann aber noch einmal inne und drehte sich wieder zu ihr herum. „Ach ja, ich soll dir von Ash noch eine gute Nacht wünschen.“ Dann schritt er davon, verschwand in der Dunkelheit. Sie sah ihm stumm nach. Kapitel 9: In die Irre geführt ------------------------------ Straßenlärm und Stimmengewirr umgab die drei von allen Seiten. Wohin man blickte herrschte Hektik, hatte es irgendjemand eilig. Menschen, die auf den Gehwegen dahinhasteten und Pokémon, die ihnen folgten. Autos, die an ihnen vorbeirasten und deren Hupen unfreundlich dröhnten, wenn es ihren Fahrern zu langsam ging. Foocashy City war sogar noch lebhafter und rastloser, als es ihnen ihr erster Eindruck vermittelt hatte. Hier beachtete sie niemand. Hier waren sie nur drei Jugendliche unter einer Schar von wahrscheinlich Hunderten, die jeden Tag auf ihrer Reise durch die Stadt kamen. Hier wusste niemand von der Legende der Federn. Sie hatten nicht vor, sich unnötig lange in der Großstadt aufzuhalten. Aber Vorräte mussten aufgestockt, das Nötigste für die bevorstehende Reise zusammengesammelt werden. Arktos, Lavados und Zapdos ruhten in ihren Pokébällen, waren durch die nächtliche Rast erholt. Es würde nicht lange dauern, bis sie die drei Auserwählten wieder näher an ihr Ziel, die Insel mit der Inschrift, bringen würden. Ash überflog die Liste, die sie sich für ihre Besorgungen gemacht hatten, und stellte wohlwollend fest, dass der Großteil davon schon abgearbeitet war. „Ich denke, wir müssen jetzt nur noch –“ Doch er brach ab, und Misty und Gary stutzten, als er nicht weitersprach. „Was ist?“ Irritiert sah Ash einen Moment zur Seite, schüttelte dann aber den Kopf. „Nichts. Ich dachte, ich hätte gerade was gesehen … Hab ich mir wohl eingebildet.“ Auch die anderen beiden sahen sich nun um, skeptisch, unsicher. „Was hast du denn gesehen?“, fragte Gary. „Ich weiß nicht genau. Irgendetwas Kleines… Leuchtendes… Da!“ Ihre Blicke folgten seinem ausgestreckten Arm. Eine kleine Lichtkugel schwebte nur wenige Meter von ihnen entfernt auf Augenhöhe durch die Luft. „Was zur Hölle ist das?“ Das Mädchen kniff die Augen zusammen, versuchte, irgendetwas in der Kugel zu erkennen. „Was auch immer es ist… es ist jedenfalls nicht allein.“ Ash und Misty mussten gar nicht erst fragen, was er gemeint hatte, denn auch sie sahen nun die zweite kleine Kugel, nur wenige Zentimeter groß, bläulich und violett leuchtend. Näher diesmal. Und dann die dritte. Und vierte. Binnen Sekundenbruchteilen hatte sich die Anzahl der Lichter verdoppelt, vervierfacht, bis es zu viele waren, um sie zählen zu können. Immer näher drängten sie an die Federn heran. „Verdammt noch mal, was soll das?“ Mit einer hektischen Bewegung versuchte Misty, eine der Leuchtkugeln loszuwerden, die sich auf ihre Jacke gesetzt hatte. Einige umstehende Passanten warfen ihr einen irritierten Blick zu. „Sie sehen sie nicht… Wir drei scheinen die einzigen zu sein, die die Dinger wahrnehmen. Wir sollten vorsichtig sein, da steckt doch garantiert Ishi dahinter.“ „Jetzt fällt's mir wieder ein! An dem Abend, als ich… als Ishi mir diese Gedanken eingeflößt hatte, da bin ich erst nicht in Mistys Zimmer gekommen, weil sie die Tür abgeschlossen hatte. Aber dann war da plötzlich auch so ein Licht im Schloss und anschließend ging die Tür auf.“ Ein hämisches, hauchdünnes Kichern war zu hören. Kam es von den Lichtern? „Also wirklich Ishi…“ „Ash, Gary, wenn das stimmt – dann müssen wir schleunigst weg von hier. Ich hab keine Ahnung, was Ishi mit diesen Leuchtdingern vorhat, aber wir können sie es nicht hier machen lassen.“ „Du hast recht. Wir würden die anderen Menschen in Gefahr bringen, und die Vögel sollten wir hier auch nicht unbedingt loslassen.“ Ash und Misty nickten. Ohne weitere Zeit zu verschwenden, liefen die drei los. Sie kannten sich in dieser Stadt nicht aus, sie wussten nicht, wohin sie am besten gehen sollten. Aber sie hatten keine Zeit für weitere Überlegungen. Sie mussten einen Ort finden, der nicht so überfüllt war, einen Ort, an dem am besten niemand außer ihnen war. Die Lichter vermehrten sich weiterhin. Sie umschwirrten die Federn, setzten sich auf ihre Kleidung, verfingen sich in ihren Haaren, flogen ihnen ins Gesicht. Wo sie mit Haut in Berührung kamen, hinterließen sie ein kurzes und schwaches, aber deutliches Brennen. Erneut das hämische Kichern. War es Einbildung, oder blitzten in dem Leuchten wirklich immer wieder spöttisch grinsende Fratzen auf? Das Lachen wurde lauter. Ihnen lief die Zeit davon. Der Schmerz, den die Lichter verursachten, wurde stärker und gegen sie anzukommen, sie aus dem Sichtfeld zu vertreiben immer mühsamer. Aber noch dachte keiner von ihnen daran, einen der legendären Vögel einzusetzen oder eine der Energien, weil keiner von ihnen eine Massenpanik riskieren wollte. Misty biss die Zähne zusammen. Sie würden es schaffen. Sie brauchten nur irgendeinen Ort, an dem sie kämpfen konnten, und dann würde Ishi keine Chance gegen sie haben. Sie würden keine Unschuldigen in die Sache mit reinziehen. Sie mussten es schaffen. „Da vorn!“ Sie waren in eine Seitenstraße abgebogen, dorthin, wo sie hofften, weniger Menschen vorzufinden. Nun lag mit einem Mal das Gelände einer heruntergekommenen, anscheinend ungenutzten Fabrik vor ihnen. „Lassen wir's drauf ankommen, besser wird's nicht mehr.“ Gary griff nach dem Pokéball mit Lavados. Die Hetzjagd hatte ein Ende. Nur einen Augenblick später hatte auch Ash sein Pokémon befreit. Feuerwirbel und Donnerblitze gingen auf die Leuchtkugeln nieder, ließen sie zerbersten, und Ellenki und Fii zerstörten das, was die Attacken der Vögel nicht erreicht hatten. Doch sobald eine Schar Lichter verschwunden war, tauchte sofort eine neue auf. „Ich frage mich, was das Ganze soll. Was bezweckt Ishi damit, uns dieses nervige Licht-Zeugs auf den Hals zu hetzten? Sie wird doch nicht allen Ernstes glauben, dass sie so einen Kampf gewinnen kann.“ Er ließ einen Elektrofunkenregen auf die Kugeln niedergehen. „Ich hab keine Ahnung. Aber so lang wir nicht wissen, was sie vorhat, müssen wir dieses dämliche Spielchen wohl erst mal mitspielen. Verdammt, Misty, willst du uns nicht vielleicht mal helfen?!“ Aber Misty antwortete nicht. „Misty…?“ Das Mädchen stand reglos, in einiger Entfernung da. Die Hand, die eben noch nach dem blauen Pokéball hatte greifen wollen, hing nun kraftlos herab. „Misty, verdammt, was ist los?!“ Ash machte Anstalten, auf sie zuzulaufen, doch die Lichter hielten ihn sofort zurück, drängten ihn zur Seite, ließen ihn nicht näher kommen. Wütend schleuderte er ihnen eine Elektrokugel entgegen, doch die dadurch zerstörten Lichter hatten sich so schnell regeneriert, dass er nicht einen Schritt vorwärts hatte machen können. Er spürte Panik in sich aufkommen. Auch Gary versuchte nun, sich seinen Weg zu dem Mädchen zu bahnen, aber es erging ihm nicht besser als Ash zuvor; die Lichter hatten einen Wall um Misty herum gebildet und ließen nichts und niemanden zu ihr durchdringen. „Verdammt, Gary, was haben die mit ihr vor?! Was tun sie?!“ „Ich weiß es nicht, Ash, aber lass uns erst mal ruhig bleiben.“ Ruhig bleiben… Er konnte nicht ruhig bleiben, wenn Angst und Panik gerade jede Faser seines Körpers besetzt hielten, und auch Gary stand die Sorge und Unsicherheit ins Gesicht geschrieben. Verdammt. War das von vornherein der Plan gewesen? Hatte Ishi nie vorgehabt, gegen sie zu kämpfen, sondern es ganz allein auf Misty abgesehen? Das hämische Kichern der Lichter dröhnte in ihren Ohren. Misty hörte es nicht. Eben noch hatte sie sich wie die anderen beiden auf ihre eigenartigen Widersacher stürzen wollen, hatte Arktos aus seinem Ball holen und an der Seite ihrer Freunde kämpfen wollen. Aber dann hatte plötzlich eine seltsame Schwere von ihr Besitz ergriffen und mit einem Mal war sie nicht mehr fähig gewesen, einen Angriff auf die Lichter loszulassen. Stattdessen stand sie nun inmitten eines Schwarms dieser Dinger, starrte sie mit leerem Blick an, während das Kichern, das sie nicht hörte, immer mehr anschwoll und bald einem einzigen, hämischen Gesang glich. „Kleines Mädchen…“ Sie zuckte innerlich zusammen, als sie die Stimme hörte. Nicht von irgendwoher her, sondern direkt in ihrem Kopf, erschreckend nah und vertraut. „Lass mich in Ruhe!“ „Keine Angst, kleines Mädchens. Ich habe nichts Schlimmes mit dir vor. Ich möchte dir einen Gefallen tun.“ „Ja, klar.“ Sie schnaubte verächtlich. „Du bist Ishi, und ich bin nicht so blöd, dass ich auf deine Tricks reinfalle! Ich brauche keinen Gefallen von dir!“ „Ich benutze keine Tricks, kleines Mädchen. Und ich werde dich zu nichts zwingen, was du nicht selbst möchtest. Ich möchte dir lediglich die Möglichkeit geben, dass deine eigenen Wünsche wahr werden.“ „Ts, was weißt du schon von meinen Wünschen.“ „Mehr, als du glaubst.“ Es wurde schwarz um sie herum und nur mit Mühe unterdrückte Misty das erschrockene Quieken, das ihrer Kehle entweichen wollte. Aber fast sofort verschwand die Schwärze wieder und gab den Blick auf etwas anderes frei. Den kleinen Teil einer Stadt. „Das ist Azuria City. Und?“ Es war kein Kunststück, zu wissen, dass das ihre Heimatstadt war, damit würde Ishi sie nicht beeindrucken können. „Ja, das ist die azurblaue Stadt. Und das dort… ist ihre Arena.“ Mistys Blick fiel auf das große Gebäude, das sich nun direkt vor ihr befand. Imposant und prächtig wie eh und je. Sie versuchte, sich nicht irritieren zu lassen. „Ich kenne die Arena.“ „Dann weißt du auch, dass sie so, wie du sie hier siehst, in deiner Welt nicht mehr existiert.“ Ja, natürlich wusste sie das. Und natürlich war es ihr aufgefallen, dass das hier die Arena war, wie sie vor dem Unfall ausgesehen hatte. Ein Bild der Vergangenheit. „Nein, das ist die Gegenwart.“ „Dann ist es ein Trugbild. Du hast gerade selbst gesagt, dass die Arena…“ „In deiner Welt. Aber das hier ist nicht die Welt, wie du sie kennst. In dieser Welt ist der Vorfall niemals geschehen. Hier siehst du die Gegenwart, die deine Arena eigentlich erlebt hätte.“ „…Dann ist es ein Traum?“ „Vielleicht ist es so etwas wie ein Traum, ja. Vor allem ist es aber deine Wunschwelt. Und wenn du möchtest, kannst du hierbleiben.“ „Hier… bleiben?“ Sie schüttelte den Kopf, versuchte, die Gedanken zu vertreiben. „Und was hätte ich davon? Ich kann die Arena auch so wieder aufbauen und mir eine wirkliche Gegenwart schaffen.“ „Das kannst du nicht.“ „Aber –“ „Und das weißt du. Du hast es in all der Zeit nicht geschafft. Du bist zu schwach. Aber das ist in Ordnung. Man kann nicht immer stark sein. Und davon abgesehen gibt es in dieser Welt noch ein paar Dinge, die anders sind.“ „Anders?“ „Es gibt die Legende der Federn nicht. Wenn du hierbleibst, dann bleibt dir das alles erspart. Das Kämpfen, die Streitigkeiten. Du würdest keine Feder werden und könntest weiter dein normales Leben führen.“ War es das, was sie wollte? Sie versuchte, gegen diesen Wunsch anzukämpfen, aber sie konnte nicht leugnen, dass es ihn gab. Sie wollte dieses Schicksal nicht, sie wollte nicht eine so große Verantwortung übernehmen müssen. Sie wusste, dass sie nicht so stark war, wie sie sich nach außen hin gab, dass sie nicht so entschlossen war, dass sie nicht wusste, wie sie ihre Rolle als Feder wirklich erfüllen sollte. Wenn sie hierblieb, würde ihr das alles erspart bleiben. Hier existierte die Welt, wie sie sich wünschte. Wie sie hätte sein sollen. Sie musste gegen diesen Wunsch ankämpfen. „Hier…bleiben…“ Aber sie gab nach. Das Kichern, leise und zufrieden diesmal, blieb ein weiteres Mal von ihr ungehört. 'Ja, kleines Mädchen. Und wenn du hierbleibst, dann wirst du keine Feder werden. Und dann wird sich die Legende nicht erfüllen.'  „…“ Kapitel 10: Nichts weiter als ein kleines Mädchen ------------------------------------------------- Sie schreckte hoch. Warme Sonnenstrahlen drangen zum Fenster herein, durchfluteten den ganzen Raum und kitzelten sie in der Nase. Ihr Atem ging schnell, und ihre Haut war von einem leichten Schweißfilm überzogen. Aber sie lächelte, als sie sich nun herzhaft streckte und dann wie zu sich selbst den Kopf schüttelte. „Was für ein verrückter Traum…“ Wahrscheinlich arbeitete sie einfach zu viel, jetzt, wo wieder einmal eine große Show bevorstand und außerdem jeden Tag Trainer aus dem ganzen Land nach Azuria strömten, um sich ihren Quellordern zu erkämpfen. Das Ganze wuchs ihr offensichtlich über den Kopf, wenn sie in ihren Träumen schon die Arena aus dem Weg schaffte und sich selbst zur großen Auserwählten im Mittelpunkt einer mysteriösen Legende machte. Misty lachte. Sie sollte wohl dringend mal ein ernstes Wort mit ihren Schwestern reden, damit die ganze Arbeit nicht immer an ihr hängen blieb. „Misty? Bist du wach?“ Und da war die erste auch schon. Sie seufzte. „Ja, komm von mir aus –“ Doch sie konnte ihren Satz nicht einmal beenden, da hatte sich die Tür auch schon geöffnet und Daisy stürmte herein, die Hände in die Hüften gestemmt, der Blick tadelnd. „Du liegst ja wirklich noch im Bett! Jetzt beeil dich aber mal, wir wollen mit den Proben anfangen! Du hast es eigentlich gar nicht verdient, schon wieder die Hauptrolle spielen zu dürfen… Aber na ja, sei's drum.“ „Ja, ja, ich beeil mich ja schon. Gib mir fünf Minuten.“ Misty lächelte weiterhin. Zum Glück wusste sie, dass ihre drei Schwestern sie trotz all der Sticheleien und Neckereien über alles liebten und dass sie sich ihre manchmal herablassenden Kommentare nicht zu Herzen nehmen durfte. Also ließ sie sich nicht weiter ärgern, sprang stattdessen aus dem Bett und schaffte es tatsächlich, zwar nicht fünf, aber immerhin zehn Minuten später einigermaßen wach in der großen Schwimmhalle der Azuria City Arena zu stehen. Das Wasser glitzerte im Licht freundlich vor sich hin, und unbewusst huschte ihr ein Lächeln über die Lippen. „Da bist du ja endlich! Wurde aber auch Zeit.“ Diesmal war es Violet, die ihre kleine Schwester mit einem bissigen Kommentar bedachte. „Ja, da bin ich. Also, lasst uns am besten da weitermachen, wo wir gestern aufgehört haben.“ Misty wartete nicht ab, ob auch ihre dritte Schwester noch irgendeinen Grund zum Nörgeln hatte, sondern stieg stattdessen die flachen Stufen in das Schwimmbecken hinab. Das Wasser schwappte um ihre Knöchel, umspielte ihre Hüften, bis es sie schließlich völlig umgab. Sie nahm einen tiefen Atemzug und tauchte hinab, ließ die Oberfläche weit über sich, durchquerte das Becken mit wenigen, kräftigen Bewegungen. Hier unten war es still, fast so, als wäre die Zeit stehengeblieben. Als befände man sich in einer völlig fremden Welt. Sie lächelte. Nirgends fühlte sie sich so zuhause wie im Wasser. Außer vielleicht… Ihre Lungen zwangen sie dazu, wieder aufzutauchen, und so schwamm sie zurück zur Oberfläche, stieß den Kopf heraus und holte tief Luft. Die Wassertropfen um sie herum funkelten im Licht, und es kam ihr in den Sinn, dass es wohl keinen schöneren Anblick auf der Welt geben konnte. Worüber hatte sie gerade eben unter Wasser noch nachgedacht? „Sag mal, Misty, meinst du, dass deine Freunde diesmal vielleicht wieder auftauchen?“ „Ja, vor allem dieser Junge, den du damals auf deiner Reise kennengelernt hast. Wie hieß er doch gleich?“ „Ash.“ Für einen kurzen Augenblick zierte ein Lächeln Mistys Gesicht, doch dann erstarb es. „Aber er wird nicht kommen.“ Die Welt war nicht perfekt.     ***     „Misty! Misty, kannst du mich hören?!“ Aber auch diesmal erhielt Ash keine Antwort. Misty stand jetzt schon beunruhigend lange einfach nur so da, während die Leuchtkugeln um sie herumschwirrten, während die Lichter die beiden Jungen daran hinderten, näher an sie heranzutreten. „Misty, ich bin gleich bei dir! Ich helf dir!“ „Ash, red keinen Quatsch! Du siehst doch, dass sofort neue von diesen Dingern kommen, wenn wir ein paar davon beseitigt haben. Wir werden sie nicht los, also lass uns lieber darüber nachdenken, wie –“ „Dann muss ich eben so da durch, sollen sie doch bleiben, wo sie sind!“ „Ash, das ist Wahnsinn! Du siehst doch, wie –“ „Nein, Gary, es ist Wahnsinn, dass wir hier nur rumstehen und zusehen, wie Ishi irgendwas mit Misty anstellt!“ Er verschwendete keine weitere Zeit, kein weiteres Wort, sondern machte ein paar Schritte nach vorn. Die Lichter umschwirrten ihn dichter. Er ließ sich nicht beirren, zog seine Hände in die Ärmel seiner Jacke zurück, umfasste den Stoff von innen, um den Leuchtkugeln weniger Angriffsfläche zu bieten, und versuchte, sie mit den Armen zur Seite zu schieben, während er beharrlich einen Fuß vor den anderen setzte. Die Lichter berührten seine Wangen. Sein ganzes Gesicht brannte. Es war ihm egal. „Misty, ich bin gleich bei dir, hörst du! Ich, ah –“ Er zuckte zusammen, versuchte, den Schmerz zu verdrängen. Er würde es gleich geschafft haben. Er würde gleich bei ihr sein, und dann würde er ihr helfen, wie auch immer er das anstellen würde. Der Stoff seiner Jacke glitt ihm aus den Händen, und Ash musste einen weiteren Schmerzensschrei unterdrücken, als sich die Leuchtkugeln nun auch noch auf seine Handflächen setzten. Aber es war ihm egal. Sollten sie versuchen, ihn bei lebendigem Leib zu verbrennen – vorher würde er Misty retten. Es waren nicht mehr viele Schritte, vielleicht fünf. Misty hatte ihm verziehen, Misty hatte so viel Verständnis für ihn gezeigt, hatte ihm beigestanden, obwohl es sie selbst Überwindung gekostet haben musste; er würde sie jetzt nicht im Stich lassen. Vier. Sie hatten sich gerade erst wiedergefunden, hatten dieses riesige Missverständnis aus der Welt geschafft, er würde sie jetzt nicht wieder gehen lassen. Drei. Er hatte Dinge über sie erfahren, die er längst hätte wissen müssen. Er wollte wieder ein Teil ihres Lebens werden. Zwei. Sie sollte wieder ein Teil seines Lebens werden. Noch ein Schritt. Er würde sie retten. Ash packte das Mädchen bei den Schultern, und augenblicklich schossen die Lichtkugeln auseinander, schwirrten nur noch in gebührendem Abstand um die drei Federn herum. Ash lächelte zuversichtlich. Wenn das kein gutes Zeichen war. Aber er wusste nicht, was die Lichter wussten, nämlich, dass sie sich nicht mehr bemühen mussten. Sie hatten ihren Auftrag ausgeführt. „Misty, verdammt, was ist los? Was haben sie dir getan? Misty, mach doch endlich den Mund auf und sag irgendwas!!“ Doch das Mädchen stand weiterhin nur reglos da, den leeren Blick in irgendeine weite Ferne gerichtet. „Verdammt, Misty, rede!“ „Vergiss es, Ash, so wird das nichts!“ Auch Gary war nun herangetreten, hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Man sah ihm an, dass er versuchte, seine Furcht zu verbergen. „Ishi wird irgendwie Mistys Gedanken manipuliert haben, genauso, wie sie das bei dir getan hat.“ „Dann tu irgendetwas!!“ Zornig sah Ash den anderen an. „Halt mir keine Vorträge, sondern unternimm endlich etwas! Du hast Ishis Zauber bei mir doch auch gebrochen!“ „Ja, aber das war praktisch nur Zufall! Ich hatte doch keine Ahnung, dass der Bann gelöst wird, wenn du nur erfährst, dass Ishi dich reingelegt hat! Ihre Lüge war bei dir so offensichtlich, vielleicht brauchte es da einfach nicht mehr, als dir klarzumachen, dass du reingelegt worden bist. Aber Misty spricht im Gegensatz zu dir nicht mit uns! Sie sagt uns nicht, was Ishi ihr eingetrichtert hat. Und wenn wir das nicht wissen, weiß ich auch nicht, was wir dagegen tun sollen.“ „Dann willst du einfach so aufgeben? Willst du Misty einfach so aufgeben?!“ „Red keinen Unsinn, das hab ich doch überhaupt nicht gesagt! Du –“ Doch er brach ab, als ein Husten ihn zum Schweigen zwang. „Du weißt, dass ich das niemals tun würde. Du bist verzweifelt, das verstehe ich ja! Aber wir sollten jetzt lieber in Ruhe –“ „Geh zum Teufel mit deiner Ruhe! Ich werde nicht seelenruhig zusehen, wie irgendwer Misty das antut, was er mir angetan hat. Ich werde nicht zusehen, wie überhaupt irgendwer Misty irgendwas antut! Ich hol sie da raus!“ Gary sah ihn überrascht an, konnte dann aber nicht anders, als zu nicken. „Ok… Ich weiß zwar nicht, wie du das anstellen willst, aber…“ „Wenn Ishi sie da reingelockt hat, kann Ishi sie da auch wieder rausholen. Und dafür sorge ich!“ Es war lange her, dass er dermaßen entschlossen gewesen war, dass es einen Grund gegeben hatte, für etwas zu kämpfen. Aber das hier war vielleicht der wichtigste Grund, den er jemals haben würde. Er würde Misty retten. Mit einer energischen Geste griff er nach ihren Händen, drückte sie sacht, aber bestimmt, und schloss die Augen. „Misty, jetzt hör mir mal ganz genau zu. Ich weiß nicht, was Ishi dir wohlmöglich gerade einflüstert oder vorgegaukelt hat… Aber du bist jetzt nicht mehr allein. Du musst nicht allein mit ihr fertig werden. Ich bin bei dir, du brauchst keine Angst zu haben.“ Er lachte leise. „Überhaupt, wie stellst du dir das vor? Du kannst uns beiden Holzköpfe doch nicht einfach allein lassen, du weißt doch, wie das enden würde. Und wie sollen wir denn ohne dich die Welt retten, wie stellst du dir das vor?“ Mit einem Mal wurde es kalt um ihn herum, ängstlich riss er die Augen auf, nur um festzustellen, dass um sie herum nichts mehr war, nur eine dunkle Schwärze. Instinktiv zog er das leblose Mädchen in eine Umarmung und drückte sie näher an sich. Er versuchte, die in ihm aufkeimende Angst zu unterdrücken – er musste jetzt stark und mutig bleiben, sonst würde er Misty vermutlich niemals befreien können. Also harrte er in dieser bedrückenden Dunkelheit aus, wollte gerade zu einem spöttischen Kommentar ansetzen, um Misty zu signalisieren, dass er immer noch da und die ganze Situation nur halb so schlimm war, als sich die Szenerie um sie herum erneut veränderte, sich das Bildnis einer Stadt um sie herum bildete. Aber sie standen nicht mehr dort, wo sie es eigentlich hätten tun sollen. Das um sie herum, das war nicht mehr das verlassene Fabrikgelände von Foocashy City – es war Mistys Heimatstadt Azuria. An einem strahlenden Sonnentag, und mittendrin eine Arena voller Leben. Er wusste nicht, wie sie zerstört ausgesehen hatte. Er wusste nicht, wie er es im letzten Jahr geschafft hatte, überhaupt nichts von alldem mitzubekommen. War er so desinteressiert an seiner Umgebung gewesen, dass das alles spurlos an ihm vorübergegangen war? Sie mussten es doch überall erzählt haben. Sie mussten es doch in den Nachrichten gezeigt haben! Warum hatte er sich nicht für das Leben da draußen interessiert? Mit einem Mal fühlte er sich wieder schuldig und drückte das Mädchen noch ein wenig enger an sich. Aber jetzt war nicht die richtige Zeit für Schuldgefühle. Jetzt war die Zeit, um Misty zu retten. „Das ist es also. Ishi hat dir deine Arena gezeigt. Aber Misty, es ist nicht echt.“ Im nächsten Augenblick waren seine Arme leer und das Mädchen stand einige Meter von ihm entfernt, hielt die Arme vor der Brust verschränkt. Plötzlich war wieder Leben in den Augen, die ihn nun trotzig ansahen. Und auch, wenn es in dieser Situation unangebracht war, erinnerte sie ihn damit plötzlich wieder so sehr an die Misty, die er einst gekannt und so gemocht hatte. „Misty… komm, lass uns von hier verschwinden. Es ist nicht echt, lass uns zusammen –“ „Wer sagt, dass ich die Welt überhaupt retten will?“ „Was?“ „Du hast vorhin gefragt, wie ihr ohne mich die Welt retten sollt… Aber wer sagt, dass ich das überhaupt will? Wer sagt, dass es mir Spaß macht, mein Leben für eine Welt zu riskieren, in der ich anscheinend sowieso nicht glücklich werden kann?“ „Aber, ich dachte…“ „Mich hat niemand gefragt.“ Schmollend, verletzt wandte sie den Blick zur Seite. „Niemand hat gefragt, ob ich eine Feder werden will. Aber hätte ich nicht das Recht gehabt, einfach nein zu sagen? Hab ich nicht wenigstens jetzt das Recht, wenigstens jetzt das zu tun, was ich wirklich will? Das Recht, hierzubleiben, wo alles so ist, wie ich es mir gewünscht habe?“ Für einen Moment hatte er ihren Worten unsicher zugehört, aber nun war die Unsicherheit aus seinen Augen gewichen und machte einem entschlossenen Blick Platz. „Ich sage das! Nicht, dass du diese Welt gern retten würdest, oder dass es dir Spaß macht, oder dass es in Ordnung ist, dass du von irgendeinem Schicksal dazu gezwungen wurdest. Ich kann verstehen, dass du da auch gern ein Wörtchen mitgeredet hättest. Aber ich verbiete dir, hier zu bleiben! Du hast kein Recht darauf, denn diese Welt hier existiert einfach nicht! Und ich verbiete dir, in einer Traumwelt leben zu wollen!“ „Und wer gibt dir das Recht, mir etwas verbieten zu wollen?! Ishi hat gesagt, ich kann hierbleiben, Ishi hat gesagt, ich könnte hier glücklich werden und Ishi hat –“ „Gelogen! Wie soll ein Mensch in einer Welt glücklich werden, die nicht existiert? Misty, jetzt hör mir bitte mal zu, und versuch, mir auch wirklich zuzuhören. Natürlich ist es einfacher, sich in eine Traumwelt zurückzuziehen, wenn man mit seinen Problemen nicht mehr klarkommt. Natürlich ist es viel einfacher, alle Schmerzen einfach zu verdrängen und sich einzubilden, dass alles Ordnung sei. Aber glaubst du wirklich, dass das richtig ist?!“ Seine eigenen Worte trafen ihn plötzlich mit einer schmerzenden Erkenntnis. Hatte er sich nicht selbst jahrelang zurückgezogen, um all das zu verdrängen, mit dem er nicht klar gekommen war? Vielleicht bildete er sich deswegen ein, er könne sich vorstellen, was gerade in Misty vorgehen musste. „Wenn ich dadurch glücklich wäre?!“ Fast schon verzweifelt, aber auch ehrlich fragend schmetterte sie ihm die Worte entgegen. Ein leises Lachen entwich seiner Kehle. „Ja, dann vielleicht. Aber glaub mir, das wärst du nicht. Nicht lange. Du bist viel zu intelligent, um auf diesen Traum für lange Zeit reinzufallen. Selbst wenn Ishi dir das Wissen nehmen würde, dass es nur ein Traum ist und dich glauben machen könnte, es sei die Realität – du würdest schnell wieder begreifen, dass alles um dich herum nicht echt ist, nicht echt sein kann, wenn immer alles ohne jede Schwierigkeit abläuft. Und du weißt, dass es nicht so sein kann. Die Welt ist nicht perfekt.“     ***     Das Licht der Straßenlaternen hinter der Fensterscheibe war stumpf. Die Wege zu ihren Füßen verlassen. Warum hatte sie sich durch ein paar so einfache Worte verwirren lassen? Natürlich war er nicht gekommen. Das hatte sie doch vorher gewusst. Das war doch klar gewesen. Warum hatte sie sich dann erlaubt, es insgeheim doch zu hoffen? Sie hatte keine Ahnung, wo er sich momentan aufhielt. Aber sie wusste, dass er niemals wieder zu ihr kommen würde. Sie hatte ihre Chance vertan. Sie hatte es nicht besser verdient. Sie war allein.     ***     Drang er zu ihr durch? Irgendwie? Bedeutete ihr Schweigen, dass sie nachdachte über das, was er ihr gesagt hatte? Oder bedeutete es nur, dass es keinen Sinn mehr hatte, dass sie es aufgegeben hatte, mit ihm zu diskutieren? „Du würdest solch ein perfektes Leben nicht wollen. Das weiß ich einfach, weil… ich dich kenne.“ Zornig sah sie auf, wütend funkelten ihre Augen ihn an. „Was bildest du dir ein? Behauptest, mich zu kennen.“ Er verbarg ein Schmunzeln. Er kannte sie besser, als sie beide das bis vor kurzem noch geglaubt hatten. Er hatte geahnt, dass seine Bemerkung sie verärgern und so endlich wieder eine Reaktion provozieren würde. „Zumindest bilde ich mir ein, dich einmal gekannt zu haben, sehr gut sogar. Und die Misty, die ich kannte, hätte niemals aufgegeben!“ Er sah sie an, den Blick voll verzweifelter Entschlossenheit. „Misty, schwere Schicksale treffen nun mal fast jeden Menschen im Leben, manche vielleicht nur einmal, andere unter Umständen jeden Tag aufs Neue. Aber weißt du noch, was du Gary und mir gesagt hast? Dass wir alle mal schwere Zeiten durchmachen müssen und dass das noch lange kein Grund ist, sich an der gesamten Menschheit zu rächen. Und genauso ist es kein Grund, sich in eine nicht existierende Traumwelt zu flüchten! Misty, weder du noch ich können die Vergangenheit ändern, auch wenn wir das beide in einigen Punkten bestimmt ganz gern würden. Man kann an seiner Vergangenheit zugrunde gehen, oder versuchen, sie zu überwinden. Aber niemals kann man sich in einer Traumwelt dauerhaft vor ihr verstecken!!“  Die letzten Worte hatte er fast schon geschrieen, so als könne er ihnen damit irgendwie Nachdruck verleihen, als könne er das Mädchen damit irgendwie überzeugen. Aber nun schwieg er. Er wusste nicht mehr weiter. Und langsam konnte er die Angst in sich nicht mehr überspielen, die unglaubliche Angst, sie doch zu verlieren. Wenn Misty wirklich nicht wollte, wenn sie es wirklich vorzog, in der von Ishi geschaffenen Traumwelt zu bleiben, dann würde er sie nicht zurückholen können. Seine einzige Hoffnung war, dass Misty eben nicht wirklich solch ein Leben führen wollte. „Was du da sagst, klingt ja ganz gut und schön…“ Er horchte auf. Ihre Stimme war leise, nicht so aggressiv wie zuvor, beinahe verletzlich. Konnte es sein? Hatte er sie mit seinen Worten tatsächlich erreicht? „Aber… es nützt alles nichts mehr. Ich hab meine Chance vertan. Ich hab es nicht besser verdient. Ich bin allein.“ Hektisch schüttelte er den Kopf. „Aber du bist doch nicht allein!“ Einen Moment fürchtete er, die Stimme könnte ihm versagen, und seine Hände zitterten vor Aufregung. Aber er musste weiterreden, wenn er etwas erreichen wollte. „Misty, Gary und ich sind für dich da! Ich weiß, das ist in den letzten paar Tagen alles nicht so gut gelaufen, und wir hatten ja nicht gerade wenig Probleme… Aber ich verspreche dir –“ Er hielt einen winzigen Moment inne, dachte kurz nach. „Ich schwöre dir, wenn du es willst, wenn du es nur zulässt, dann… dann bin ich für dich da. So lange du mich bei dir haben willst.“ Er streckte seinen Arm aus und hielt ihr seine Hand hin. Er hoffte. Er hoffte so inständig, dass sie ihm vertrauen würde. „…Warum?“ Ash blinzelte irritiert. Dann legte sich ein zaghaftes Lächeln auf seine Lippen. „Na ja, weil ich…“ „Genug!!“ Eine tosende Stimme, die von überall zugleich und doch von nirgends zu kommen schien und in ihrer Wut mehr einem Kreischen glich, schnitt ihm das Wort ab. „Du kannst sie nicht zurückholen! Du kannst es nicht!“ Um sie herum begann es mit einem Mal dunkel zu werden und ein eisiger Wind zerrte an seiner Kleidung. Er konnte Ishis Wut spüren. „Es ist nicht fair von dir! Lass sie hierbleiben, hier hat sie alles, was sie sich wünscht! Du kannst nicht so egoistisch sein, sie wieder von hier fortzuführen!“ „Wenn hier irgendwer egoistisch ist, dann ja wohl du! Du hast sie doch nur in diesen Traum gesteckt, damit die Legende sich nicht erfüllen kann!“ Abermals streckte er die Hand nach dem Mädchen aus. „Misty, hör ihr nicht zu!“ „Was kannst du ihr schon bieten?“ „Die Realität! Und die ist so viel mehr wert als das, was du hast. Und… mich.“ Er sah sie eindringlich an. „Misty, komm zurück! Lass uns das hier gemeinsam durchstehen, und wenn wir das geschafft haben, bleiben wir für immer zusammen!“ Sie zögerte ein letztes Mal. „Ich bitte dich… nimm meine Hand.“ Und griff zu.   Seine Hände umklammerten den Körper in seinen Armen. Der Wind und die Kälte waren verschwunden. Als ihm bewusst wurde, dass er seine Augen krampfhaft geschlossen hielt, öffnete er sie vorsichtig. „Misty?“ Er hatte Angst, sie anzusprechen. Hatte Angst davor, dass er sich ebenfalls hatte betrügen lassen und dass er in Wahrheit doch nichts erreicht hatte. „Ja…?“ Umso erleichterter war er, als er nun ihre Stimme vernahm, die zwar leise und ein wenig bedrückt klang, aber immerhin endlich wieder mit ihm sprach. Reflexartig zog er sie dichter an sich, sodass das Mädchen einen überraschten Laut von sich gab. Dann traf ihn eine Erkenntnis und er ließ sie augenblicklich wieder los. „Verdammt, entschuldige, ich hab die ganze Zeit nicht daran gedacht, dass dir die Elektrizität unangenehm sein könnte, und dabei wollte ich doch –“ „Ist schon in Ordnung.“ Sie zwang sich zu einem winzigen Lächeln. „Ash?“ „Ja?“ „…Danke.“ Er erwiderte das Lächeln. „Keine Ursache.“ Er jetzt fiel sein Blick auf Gary, der neben ihnen stand und ungläubig den Kopf schüttelte. Aber auch er lächelte. „Gary, was…“ „Ich hab nicht die geringste Ahnung, wie du das angestellt hast. Aber du hast es geschafft.“ Er schenkte ihm einen Blick, der neben erstaunter Bewunderung auch unendliche Erleichterung widerspiegelte. „Willkommen zurück, Misty.“ „Ich konnte euch zwei Chaoten doch nicht alleine lassen.“ „Na sag ich doch… Gary, was ist mit Ishi?“ „Weg. Zumindest für's erste, denke ich. Wie gesagt, ich hab keine Ahnung, was da gerade passiert ist. Du hast Misty die ganze Zeit einfach nur festgehalten und sonst ist absolut nichts geschehen. Bis mit einem Mal diese ganzen Leuchtkugeln endgültig verschwunden sind und Misty die Augen geöffnet hat. Ihr könnt mir glauben, ich hab mir schon echt Sorgen gemacht, dass sie euch jetzt beide zu irgendwas bequatscht hat, weil du genauso auf nichts reagiert hast wie Misty. Aber jetzt scheint ja alles wieder in Ordnung zu sein?“ Die beiden nickten. „Könnt ihr mir dann wenigstens jetzt erklären, was hier gerade vorgefallen ist?“ Sie sahen einander ratlos an. „So ganz genau weiß ich das ehrlich gesagt auch nicht…“ „Ishi hat mir angeboten, in einer Traumwelt zu leben, in der der Unfall in der Arena nie passiert ist.“ Sie begann, zu erzählen, was Ishi ihr erzählt hatte, was Ishi ihr gezeigt hatte und von dem Traum, in dem sie sich mit einem Mal wiedergefunden hatte. Ash erzählte, wie er auf sie eingeredet hatte, was er gesagt hatte, um sie wieder zurückzuholen, und fasziniert stellten die drei fest, wie das Gesagte Mistys Traum beeinflusst hatte. Als die beiden mit ihren Erzählungen geendet hatten, war es einen Augenblick lang still zwischen ihnen, bis Ash seinen Blick unsicher in die Ferne richtete, wo sich über Neonlichtern und Reklameschildern ein tiefblauer Himmel erstreckte. „Meinst du, sie ist jetzt wirklich erst mal weg? Ich meine, warum haut sie so plötzlich ab, nur weil einer ihrer Pläne nicht funktioniert hat?“ „Warum eigentlich sie?“ Ash blinzelte irritiert. Es stimmte, sie waren irgendwann einfach dazu übergangen, von Ishi als von etwas Weiblichem zu reden. Warum? Weil sie unterbewusst immer an die Macht dachten? Die Energie? „Es war eine weibliche Stimme.“ Die beiden Jungen sahen auf. „Wer auch immer mich da zugetextet hat… das war eine weibliche Stimme.“ „Jetzt, wo du's sagst… Stimmt, sie hat ja auch ganz kurz mit mir geredet und mich angeschrieen, ich soll dich in Ruhe lassen. Du hast recht, das war eine weibliche Stimme.“ „Vielleicht hilft uns das weiter, den Ishi-Träger, oder eben die Trägerin zu finden… Wenn es nicht nur ein Trick ist, um uns zu verwirren. Aber um auf deine Frage zurückzukommen… Ich denke schon, dass sie jetzt erst mal wieder weg ist. Du darfst nicht vergessen, ihre Tricks und Vorgehensweisen sind rein psychologischer Art… Sie hetzt uns gegeneinander auf, sie versucht, uns auseinander zu bringen und will erreichen, dass wir nicht mehr an die Vollführung unserer Aufgabe glauben. Das alles kostet Zeit. Sie muss eine Menge über uns herausfinden, bevor sie etwas gegen uns verwenden kann.“ Misty nickte. „Genau. Schließlich kann sie uns nicht einfach töten, weil dann nur wieder eine neue Feder erwachen würde. Also muss sie uns anders aus dem Weg räumen. Und diese Manipulation ist zwar sehr gefährlich, aber sicherlich auch sehr anstrengend.“ „Und sie nutzt dafür jeweils unsere größten Schwächen. Bei mir war es die Tatsache, dass ich nicht mehr bereit war, jemandem zu vertrauen und in allem und jedem etwas Böses sehen wollte. Und bei Misty…“ „Die Tatsache, dass ich Angst davor habe, eine Feder zu sein, dass ich nicht weiß, ob ich für diese Bürde bereit bin… Und dass ich auch gerne Dinge aus meiner Vergangenheit ungeschehen machen will. Es wäre so einfach, die Arena wieder aufzubauen, wenn mir nicht der Mut und die Kraft dafür fehlen würde…“ „Mach dir keine Vorwürfe. Man muss nicht immer stark sein. Und schon gar nicht muss man es immer allein. Wenn du willst, und wenn das hier alles durchgestanden ist… dann komm ich mit nach Azuria und helfe dir.“ Sie lächelte ihn dankbar an und auch Gary nickte zufrieden. „Na schön, dann lasst uns jetzt zurückgehen. Hier scheint es für uns nichts mehr zu tun zu geben.“ Er hatte den beiden bereits den Rücken zugewandt, als Ash seine Frage stellte. „Und was ist mit dir, Gary?“ Er hielt inne. „Was ist deine Schwäche? Ishi wird es als nächstes unter Garantie auf dich abgesehen haben, und dann wäre es klug, schon vorher zu wissen, womit wir es zu tun haben.“ „Es gibt nichts.“ „Bist du sicher?“ Das Mädchen verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich meine, wir haben doch alle irgendwelche Schwächen.“ „Ja, sicher.“ Er unterdrückte das Husten, das seiner Kehle entweichen wollte. „Natürlich hab auch ich meine Schwächen. Aber das ist alles nichts, was Ishi irgendwie für ihre Psycho-Spielchen gebrauchen könnte.“ „Bist du dir sicher, dass du das so leicht sagen kannst?“ Misty besah ihn mit einem nachdenklichen Blick. „Ishi ist für uns bisher doch unberechenbar. Wer weiß, was sie sich alles zunutze machen kann.“ „Glaubt mir, wenn ich auch nur den geringsten Verdacht hätte, dass Ishi irgendetwas davon ausnutzen könnte, dann würde ich es euch sagen. Also lasst uns jetzt gehen.“ Ash und Misty sahen sich einen Moment lang ratlos an, folgten dann aber schließlich Gary, der sich bereits in Bewegung gesetzt hatte.   „Was hältst du davon?“ Misty zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht so recht. Einerseits glaube ich ihm, wenn er sagt, es gäbe nichts, was Ishi ausnutzen könnte… Andererseits mache ich mir Sorgen, dass er sich da vielleicht selbst überschätzt, Du kennst ihn ja auch, du weißt, dass er immer stark und unabhängig wirken will. „Ja, aber ich fürchte, dass wir im Augenblick wohl keine andere Wahl haben werden, als ihm zu vertrauen.“ Durch das geöffnete Fenster drangen die Geräusche des geschäftigen Nachtlebens von Foocashy City herein, Straßenlärm, Stimmengewirr. Nur ganz selten konnte man darunter auch das zarte Rauschen einiger Baumkronen oder die dünnen Stimmen mancher nachtaktiven Pokémon ausmachen. Nur die schrille Beleuchtung der Stadt hielt sich auf der Fensterseite des Raumes in Grenzen, und so war es lediglich eine einzelne, flackernde Straßenlaterne, die ihr schwächliches Licht ins Zimmer schickte und es praktisch nicht zu erhellen vermochte. „Ash… danke noch mal.“ „Ist doch gut. Du hast mir so viel verziehen, da war das ja wohl das Mindeste, was ich tun konnte.“ Die Dunkelheit verbarg die Regungen auf seinem Gesicht, aber das Lächeln war in seiner Stimme dafür umso deutlicher zu hören. „Also, natürlich hätte ich das auch so gemacht, auch ohne Gegenleistung!“ Er hielt kurz inne. „Und noch einmal: Ich hab alles gemeint, was ich gesagt habe. Wenn du willst, dann bin von jetzt an für dich da. Ich möchte dich auf keinen Fall ein zweites Mal verlieren. Wenn du willst, bleibe ich für immer bei dir.“ „Warum?“ Er blinzelte, bevor er nervös lachte und sich an den Hinterkopf fasst. „Ja, warum…“ Doch dann besann er sich, und seine Stimme war mit einem Mal ungewohnt stark und ruhig, als er weitersprach. „Weil wir Freunde sind. Für immer.“ Sie nickte. „Freunde.“ Die Dunkelheit verbarg die Regung ihres Körpers, als sie sich zu ihm beugte, und verbarg den Blick, mit dem sie ihn besah. Aber die Berührung, als sie ihre Lippen in einem vorsichtigen Kuss auf seine legte, war dafür umso klarer. „Für immer.“ Kapitel 11: Erkannt ------------------- Mit etwas Verspätung nach diesem unvorhergesehenen Zwischenfall traten sie ihre Reise erst am darauffolgenden Tag wieder an. Abermals überflogen sie Dörfer und Städte, unbewohnte Gegenden, dichte Wälder und weite, freie Flächen. So kamen sie einige Tage voran, ohne dass sich ein weiterer Zwischenfall ereignete. War das ein Grund, um aufzuamten? Oder sollte es sie vielmehr beunruhigen? Das Gefühl der Ungewissheit nagte an ihnen, und es wurde mit jedem Tag unerträglicher. Es missfiel den dreien, dass sie bisher nichts weiter tun konnten. Natürlich, sie hatten ein Ziel vor Augen, und große Pläne zu schmieden, noch bevor sie die ganze Legende kannten, war wahrscheinlich sowieso übereilt. Nur stand noch immer offen, was danach geschehen würde, und das Gefühl, dass Ishi es jederzeit auf sie abgesehen haben konnten, war alles andere als ermutigend.   Als sie in einigen Kilometern Entfernung schließlich das Meer erblicken konnten, wussten sie, dass sie ihr Ziel fast erreicht hatten. Nur noch die Lichter einer kleinen, recht belebt wirkenden Stadt lagen davor. „Meint ihr, wir sollten gleich heute Abend noch raus zur Insel fliegen?“ Gary blickte seine beiden Gefährten fragend an. „Ich weiß nicht.“ Misty legte die Stirn in Falten. „Es sieht nicht mehr so weit aus, aber ich denke, bis wir wirklich draußen wären, wär es sicherlich Nacht. Vielleicht sollten wir lieber bis morgen früh warten.“ „Das denke ich auch“, meldete sich nun auch der Dritte im Bund zu Wort. „Wir wissen nicht, ob Ishi nicht vielleicht bei der Legende auf uns lauert oder sonst irgendetwas vorhat, wenn wir den dritten Teil gelesen haben. Zapdos ist müde, und ich hätte auch nichts gegen eine Mütze voll Schlaf. Gehen wir lieber ausgeruht an die Sache. Irgendwo in der Stadt da unten wird es schon ein Pokémoncenter oder ein Hotel oder so etwas geben.“   Wie sich herausstellte, gab es in dem Städtchen nicht nur eine Unterkunft für Reisende – Dansazu City entpuppte sich als kleines Touristenparadies. Dicht gedrängt stand hier ein Hotel neben dem nächsten, reihten sich Pensionen und Ferienhäuser aneinander. Praktisch jeder Shop verkaufte eine umfangreiche Auswahl an Ansichtskarten des Örtchens, und als sie sich im Pokémoncenter für die Nacht niederließen, gab man ihnen sogleich den Tipp, möglichst früh am Strand zu sein, um noch einen der begehrten Plätze nah am Wasser ergattern zu können. „Danke. Aber eigentlich sind wir mehr an der Insel interessiert als am Meer.“ Die Diensthabende Schwester Joy blickte Gary ein wenig irritiert an, doch ihr perfektes Lächeln erstarb keine Sekunde. „Die Insel?“ „Ja, es gibt doch eine Insel dort draußen? Ich meine, dass sie gar nicht so weit von Dansazu City entfernt sein kann.“ „Schon, es gibt eine… Aber da gibt es eigentlich nichts zu sehen. Nur zerklüftete Felsen, nicht einmal Pokémon leben dort. Aber wenn sie euch interessiert, wünsche ich euch natürlich viel Spaß auf eurer Reise.“ Sie bedankten sich und gingen etwas ratlos auf eines der drei Zimmer, zu denen sie gerade die Schlüssel erhalten hatten. „Ein wenig merkwürdig ist das schon, oder?“ Misty blickte zwischen den beiden Jungen hin und her. „Ich meine, wo die Insel doch so nah ist, wäre es doch denkbar gewesen, dass die Menschen hier wüssten, dass dort ein Text in die Felsen geschrieben steht.“ „Na ja, aber nur wenn wir davon ausgehen, dass dieser Text auch schon da war, bevor Arktos und du dort hingekommen seid. Schließlich war es bei Lavados und mir mehr Text, wer weiß, vielleicht stand da vor euch noch gar nichts.“ „Oder nicht jeder kann die Inschrift lesen. Vielleicht liegt irgendein Zauber darauf, sodass nur Federn sie sehen können.“ Er richtete seinen Blick durch ein Fenster nach draußen, wo sich im Laufe des Abends erneut Gewitterwolken zusammengebraut hatten. Jetzt lagen sie in der Dunkelheit der Nacht verborgen, doch der Wind, der an Baumkronen zerrte und um Ecken heulte und die ersten Blitze, die nun vom Himmel zuckten, waren dafür umso deutlicher wahrzunehmen. Es gewitterte häufig in letzter Zeit, was für diese Jahreszeit eigentlich nicht ungewöhnlich war. Trotzdem wirkte der Sturm, der da gerade aufkam, angesichts ihrer derzeitigen Situation fast ein wenig dramatisch „Gut, dass wir nicht mehr rausgeflogen sind.“ Misty war seinem Blick offensichtlich gefolgt, wandte sich nun aber wieder ab. „Was Ishi wohl gerade macht? Wir haben beunruhigend lange nichts mehr von ihr gehört… Worauf wartet sie, was hält sie auf?“ „Vielleicht schmiedet sie neue Pläne? Vielleicht gehen ihr die Ideen aus, weil ihr auch klar geworden ist, dass sie nicht wirklich viel ausrichten kann.“ Ein keckes Grinsen legte sich in Garys Mundwinkel und überspielte sogar das leise Husten, das ihm während seiner Worte entwichen war. „Aber das wäre ja auch keine wirkliche Lösung für alles. Solange diese Macht existiert und jemand sie benutzt, solange irgendwer weiterhin davon beeinflusst werden könnte, könnten wir uns nie ganz sicher sein, dass alles in Ordnung ist.“ „Das stimmt. Um wirklich sicher zu sein und die Legende zu erfüllen, müssen wir Ishi auf jeden Fall stoppen.“ Es war einen Moment still, unterbrochen nur von dem Grollen und Tosen vor dem Fenster, während jeder der drei seinen eigenen Gedanken nachging. Schließlich war es Ash, der das Gespräch von zuvor nur schweigend verfolgt hatte, der nun seinen Blick vom Fenster abwandte und als erster wieder das Wort ergriff. „Habt ihr mal darüber nachgedacht, wie dieser Mensch sich fühlen muss?“ Die anderen beiden sahen auf. „Was meinst du?“ „Na ja… Gehen wir mal davon aus, wir schaffen es letztendlich tatsächlich, Ishi irgendwie zu besiegen, indem wir den Menschen, der sie beherrscht, wieder zur Besinnung bringen. Was ist dann, wenn er vorher aber schon… irgendwas Schlimmes angerichtet hat, irgendwas, was sich nicht wieder gutmachen lässt? Ich…“ Er druckste herum und man sah ihm an, dass ihm die Worte schwerfielen. „Ich war ja nun ein wenig in einer ähnlichen Lage. Ich weiß, wie furchtbar es ist, wenn man wieder zu sich kommt und begreift, was man fast getan hätte. Oder dann vielleicht sogar, was man getan hat…“ Gary nicke betreten. „Du hast recht, und ehrlich gesagt hab ich mir darüber bisher noch gar keine Gedanken gemacht…“ „Ich weiß ja, momentan ist es auch nicht so wahrscheinlich, dass Ishi vorhat, irgendwem etwas anzutun. Sie scheint es für den Moment ja nur auf uns abgesehen zu haben, und uns zu töten zum Beispiel würde ihr nichts nützen. Aber trotzdem…“ „Trotzdem sollten wir auch für diesen Menschen dafür sorgen, dass niemand zu Schaden kommt, dass Ishi kein Unheil anrichtet, das nicht mehr ungeschehen zu machen ist“, beendete Misty seinen Satz. „Also schön.“ Gary sah die anderen beiden an. „Dann sehen wir zu, dass wir nicht nur die Menschen um uns herum beschützen, sondern auch alles dafür tun, dass dieser jemand, wer auch immer er nun sein mag, sich im Anschluss an diese Geschichte nichts vorzuwerfen hat.“ Ash und Misty nickten.   Früh am nächsten Morgen ließ der strahlend blaue Sommerhimmel nicht mehr erahnen, was für ein Unwetter in der Nacht zuvor über den kleinen Ort gefegt war. Hier und dort waren Gehwege und Strandmobiliar zwar noch ein wenig nass von den Regengüssen, doch die Sonne, die selbst zu dieser frühen Stunde schon kraftvoll und wärmend war, war bereits dabei, auch diese letzten Erinnerungen auszulöschen. In der Tat hatten sich am Strand bereits die ersten Urlauber eingefunden, um sich ein besonders begehrtes Plätzchen zu ergattern, doch glücklicherweise hielt sich die Schar der Sonnen- und Meereshungrigen noch in Grenzen, und die drei Federn hatten eine Stelle etwas abseits vom Hauptstrand gefunden, wo einige große Steine und dichtes Palmengestrüpp sie vor den Augen der Touristen verborgen hielten. „Also, bereit? Es wird Zeit, dass wir endlich erfahren, ob es einen dritten Teil der Legende gibt.“ Er öffnete den Pokéball mit Lavados darin. Ash nickte, seinen eigenen, grellgelben Pokéball noch fest umklammernd. „Ich bin sicher, dass es den gibt.“ Er ließ Zapdos Lavados folgen. „Und wenn wir ihn kennen, werden wir es sicher auch endlich schaffen, Ishi zu besiegen.“ Arktos schloss sich den beiden anderen Vögeln an. Die drei Federn nickten einander zuversichtlich zu, und kurz darauf saßen sie auf den Rücken ihrer Pokémon, flogen dicht über die Wasseroberfläche, um durch das plötzliche Aufsteigen der Vögel keine Aufmerksamkeit zu erregen, und lenkten sie erst höher, als sie sicher waren, dass niemand ihnen mehr Beachtung schenken würde.   Eine alte Frau, die bis eben dabei gewesen war, mit einem Reisigbesen ihre Terrasse vom aufgewirbelten Sand der letzten Nacht zu befreien, hielt mit einem Mal in ihrem Tun inne. Irritiert sah sie auf und blickte hinüber aufs Meer, wo sich am Horizont, weit in der Ferne, drei dunkle Schatten vorm Himmel abzeichneten. Sie kniff die Augen zusammen. „Geht es also wieder los…“ Kapitel 12: Die ganze Wahrheit ------------------------------ Gischt spritzte an den zerklüfteten Felsen hoch. Wasser wusch sich in das Gestein, hatte es spiegelglatt geputzt dort, wo es mehrere Tausend Male am Tag entlang floss. Die Schwester Joy von Dansazu City hatte recht behalten: Hier gab es absolut nichts. Kein Pokémon war weit und breit zu sehen, keine Büsche, keine Gräser, nicht einmal Wasserpflanzen hatten sich in den Ritzen zwischen dem unterspülten Gestein angesiedelt. Die Insel war nichts weiter als eine große Ansammlung von Felsen und Geröll, nur selten unterbrochen von trostlosem Sandboden. Ein lebloser Haufen Stein, und mit einem Mal konnte keiner der drei Federn den Touristen und Einwohnern der Stadt mehr verübeln, dass niemand Interesse an diesem Fleckchen Insel zu haben schien. „Das ist sie also…“ Niemand außer ihnen dreien, und von ihnen war ohne Zweifel Ash derjenige, der in diesem Moment am aufgeregtesten war. Er war der einzige von ihnen, der die eingeritzten Worte noch nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, und wie sie alle bangte natürlich auch er, oder vielleicht sogar gerade er, ob es nun einen dritten Teil der Legende geben würde, ob seine Anwesenheit oder die von Zapdos oder die von ihnen beiden zusammen ein neues und dann hoffentlich letztes Stück der Inschrift freilegen würde. „Ja, das ist sie. Die Insel, auf der Gary und ich zum ersten Mal die Legende der Federn gelesen haben. Oder zumindest einen Teil davon. Und das dort…“ Doch sie musste ihren Satz nicht beenden. Viel zu imposant, viel zu auffällig türmte sich die Felswand einige Meter vor ihnen auf. Die Wand, von der sie endlich Antworten auf alle noch offenen Rätsel erwarteten. „Also, wollen wir hin?“ Eigentlich war Garys Frage überflüssig. Natürlich wollten sie sehen, wie es um die Inschrift stand, ob es abermals mehr Worte geworden waren, ob der Text um die Legende jetzt endlich vollständig war. Aber was, wenn nicht? Sicher, die Wahrscheinlichkeit war groß, dass es sich tatsächlich so abspielen würde, wie sie sich das vorgestellt hatten. Dass jeder von ihnen mit seiner Anwesenheit hier dafür gesorgt hatte, dass ein Stückchen der Legende erschienen war, warum auch immer der Text nicht von Anfang an komplett gewesen war. Aber was, wenn sie sich irrten? Wenn es doch nur ein seltsamer Zufall gewesen war, dass Gary mehr Worte hatten lesen können, nur Unachtsamkeit, dass Misty die Hinweise entgangen waren? Oder selbst wenn nicht, was war, wenn es trotzdem keinen dritten Teil der Legende geben würde? Gar nicht, oder nicht unter den Umständen, die sie, wo sie nun alle drei hier waren, geschaffen hatten? Sie hatten die ganze Zeit darauf gesetzt, dass sie nach dem Besuch auf der Insel mehr wissen würden als zuvor, dass sie im besten Fall wissen würden, was sie als nächstes zu tun hatten, wie es weitergehen sollte, wie ihre eigentliche Mission lautete. Was, wenn sie letztendlich genauso klug von hier zurückkehren würden, wie sie hierher gekommen waren? „Klar wollen wir. Ich geh jetzt hin.“ Es war Ash, der als erster das nachdenkliche Schweigen brach. Warten würde sie nicht weiterbringen. Entweder gab es einen dritten Teil der Legende, oder es gab eben keinen, aber das würde sich nicht ändern, nur weil sie hier herumstanden und sich vor der Wahrheit fürchteten. Außerdem wusste er einfach, dass es einen dritten Teil gab. Es musste einfach. Also ließ er seinen beiden Mitspielern gar nicht erst die Gelegenheit, noch einmal Widerworte anzubringen, sondern stapfte fest entschlossen auf die Felswand zu. „Ash, nun warte doch mal! Mann, ein Kindskopf wie eh und je. Ash!“ Sie lief ihm nach. Denn eigentlich wollte sie weder, dass er anhielt, noch dass er wartete. Sie wollte es einfach nur noch wissen. „Tja, dann ist das jetzt wohl der Moment der Entscheidung.“ Er richtete die Worte an sich, leise, wie das schwache Husten, das den anderen beiden diesmal verborgen blieb. Dann folgte er ihnen. Da war sie also nun. Die mystische Felswand, von der jetzt alles abhing. Es war soweit. Ein plötzliches, hauchzartes Klirren, das fast im Getöse des Meeres um sie herum untergegangen wäre, ließ die drei aufhorchen. „Was war das?“ Unsicher sah Misty sich um. „Ich weiß es nicht…“ Auch Gary ließ seinen Blick prüfend über die Umgebung gleiten, bevor er wieder bei der Wand vor sich ankam. „Aber schau mal lieber dort hin.“ Er deutete auf die Felsen, auf denen sich nun ganz klar und deutlich Reihen von Buchstaben zu Wörtern aneinanderfügten, Zeile für Zeile, ohne eine einzige Lücke darin. „Es ist mehr Text.“ Er hustete leise. „Vielleicht war die Botschaft versiegelt. Vielleicht war das das Geräusch eben, vielleicht ist das Siegel gebrochen, weil wir jetzt alle drei hier sind.“ „Ishi?“ „Gut möglich, auch wenn ich nicht weiß, warum sie die Legende dann nicht gleich ganz verschwinden lässt, sondern nur einen Gemeinschaftsausflug für uns daraus macht. Na, vielleicht kann sie es nicht anders.“ „Leute, ist das jetzt nicht egal? Ich will endlich wissen, was da steht!“ Ja, es war egal. Schweigend traten die drei an die Inschrift heran und lasen die Legende der Federn.   Es gibt da drei Mächte, die verkörpern die Elemente und halten die Welt im Gleichgewicht. Ellenki, die Kraft des Windes und der Elektrizität; Wazu, die Kraft des Wassers und des Eises und Fii, die Kraft des Feuers und der Erde. Sie sind so alt wie die Zeit und werden von den Pokémon verkörpert, die auch alt wie die Zeit sind, Zapdos, Arktos und Lavados. Und wann immer das Gleichgewicht der Welt auseinander zu geraten droht, erwachen drei auserwählte Menschen, die drei Federn. In ihnen liegt eine starke Kraft verborgen, die es ihnen erlaubt, die Elementarmächte zu bändigen und sich ihrer zu bedienen. Die drei Vögel testen die drei Auserwählten, und wenn sie sich als würdig erwiesen haben, dann verbünden sie sich mit ihnen und bringen das Gleichgewicht der Welt wieder in Ordnung. Und wer einmal eine Feder war, der bleibt es bis zu seinem Tod und bleibt bis zu seinem Tod mit seinem Vogel verbunden. Und wenn der Auserwählte stirbt, kehrt der Vogel zurück und wartet, bis er eine neue Feder erwecken muss. Das war der Teil über sie selbst, über die drei Federn, die drei Mächte und die drei Vögel. Den Teil, den sie bereits kannten. Was nun folgte, war der Teil über Ishi, über die böse Macht, die sie aus der Welt vertreiben mussten. Der Teil, der endlich Antworten bringen sollte. Und dann ist da noch eine weitere Macht, und das ist Ishi, die Kraft über die Gedanken und das Seelenleben. Aber Ishi ist anders als die anderen Mächte, und anstatt das Gleichgewicht zu bewahren, schafft sie das Besondere, und anstatt einem Auserwählten zu dienen, wird sie ab und an einer Person zuteil, die einen Neubeginn wünscht. Ishi hat die Kraft für diesen Neubeginn, und wer sie beherrscht, der beherrscht auch das Pokémon, das Ishi verkörpert; und das ist Mew. Ishi birgt die Kraft über die Gedanken, und zwar über die eigenen Gedanken, und das macht ihren Träger stark. Aber Ishi birgt auch die Macht, die Gedanken anderer zu manipulieren, und das macht sie noch stärker, und für manch einen ist sie zu stark. Mit dem richtigen Willen ist ihr Träger zu Großem fähig. Aber wer sie nicht kontrollieren kann, wer zu schwach für diese große Macht ist, den stürzt sie ins Chaos, und dann gerät Ishi außer Kontrolle und stürzt die ganze Welt ins Chaos. Und wann immer Ishi außer Kontrolle gerät, erwachen auch die drei Federn und werden von den drei Vögeln zusammengeführt. Es ist ihre Aufgabe, Ishis Träger in jedem Fall zu stoppen, was auch immer sie dafür tun müssen. Und nur gemeinsam kann es ihnen gelingen, Ishi zu bannen und zu versiegeln, auf dass sich die Welt wieder beruhigen kann. Unbehagen machte sich in ihnen breit. Und das Gefühl, bisher von völlig falschen Tatsachen ausgegangen zu sein. Nur mit Mühe konnten sie sich dazu durchringen, auch noch die letzten Zeilen der Legende zu lesen.   Aber Ishi lässt sich nicht auf ewig verbannen, und das mag gut sein oder es mag schlecht sein. Aber sie wird weiter existieren, und solange sie das tut, existieren auch Ellenki, Wazu und Fii und existieren Zapdos, Arktos und Lavados und existieren die drei Federn, die sie immer wieder aufhalten werden. Ash, Misty und Gary schwiegen. Das war es also? Das war die ganze Wahrheit hinter der Legende der Federn? Das Unbehagen von zuvor wuchs. Das, was sie da gerade gelesen hatten, das war nicht das gewesen, was sie erwartet hatten. Sie hatten erwartet, endlich alles über eine dunkle, böse Macht zu erfahren, über eine böse Kraft, die sie drei, die Helden in dieser Geschichte, beseitigen mussten, um die Welt zu retten. Und nun? „Ishi ist also keine negative Kraft, kein großer böser Gegner…“ Gary war der erste, der seine Sprache wiederfand. „Sie ist genauso eine Energie wie die drei anderen auch.“ „Und sie sollte ihrem Menschen eigentlich Glück bringen und ihm helfen.“ Misty richtete den Blick zu Boden. „Ist aber anscheinend außer Kontrolle geraten… Und anscheinend 'mal wieder'…“ „Was bedeutet“, Ash sah die anderen beiden an, „dass der Mensch, dem Ishi zuteil geworden ist, sie nicht beherrschen kann… Und das wiederum heißt…“ „Dass wir es aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem Unschuldigen zutun haben, der vielleicht überhaupt nicht weiß, oder zumindest nicht steuern kann, was er gerade anrichtet.“ „Das ist nicht unbedingt gesagt“, unterbrach Misty ihn. „Es könnte auch jemand mit wirklich bösen Absichten sein, der sich Ishi zunutze macht, um seine Pläne –“ „Was denn für Pläne?! Ishi hat doch bisher nichts getan, was nicht mit uns dreien zusammenhing! Ihr Mensch hat es nur auf uns abgesehen, spricht das nicht erst recht dafür, dass er gar keine wirklichen Pläne hat, sondern dass diese vierte Energie außer Kontrolle geraten ist?“ „Nun streitet doch nicht…“ Es war ungewohnt, dass dieser ruhige Schlichtungsversuch ausgerechnet von Ash kam. „Lasst uns zurück in die Stadt fliegen. Ich hab die Legende abgeschrieben.“ Auch wenn er sich nicht sicher war, ob das überhaupt einen Nutzen hatte. Sie hatten keinen Anhaltspunkt mehr. Sie wussten nicht, was sie als nächstes tun sollten, was als nächstes geschehen würde. Sie wussten nicht, mit wem sie es zu tun hatten und wie sie ihn besiegen konnten. Sie hatten so viel Neues erfahren, aber das änderte nichts daran, dass ihr Weg nun in eine Sackgasse mündete. „Kehren wir um.“   Eigentlich war überhaupt nicht viel Zeit vergangen, seitdem sie von Dansazu City aus aufgebrochen waren. Trotzdem kam es ihnen jetzt so vor, als müsse es mindestens eine Ewigkeit her sein, dass sie zuletzt an diesem Strand gestanden hatten. Seichte Wellen schlugen auf dem Ufer auf, die Sonne lachte vom Himmel, die fröhlichen Stimmen der Badegäste und das vergnügte Kreischen spielender Kinder tönten durch die Gegend. Sie fühlten sich hilflos. Schweigend setzten sie einen Fuß vor den anderen, die ausgelassenen Urlauber, den blauen Himmel und das noch blauere Meer keines Blickes würdigend. War es das? War das das Ende ihrer großen Pläne? Ihres heldenhaften Versuchs, die Welt zu retten? Konnten sie jetzt nichts weiter tun, als abzuwarten? Zu warten, ob Ishi einen neuen Spielzeug eröffnen würde, auf den sie dann nur reagieren konnten? Waren sie nichts weiter als Marionetten in diesem Spiel? „Ihr drei…“ Sie sahen auf. Blickten irritiert auf die alte Frau, die mit einem Mal vor ihnen stand. Sie waren so in ihre Gedanken vertieft gewesen, dass sie sie nicht hatten kommen sehen. „Können wir Ihnen helfen, Madam?“ „Ich möchte euch bitten, mit mir mitzukommen. Ich würde gerne mit euch reden.“ „Ma'am, wenn Sie uns vorher vielleicht sagen könnten, worum es geht?“ „Ihr drei… Ihr seid Federn, nicht wahr?“ Die drei sahen sich unschlüssig an. Kapitel 13: Aus erster Hand --------------------------- Man konnte sehen, wie es in den Köpfen der drei arbeitete. Bis jetzt hatten sie sich alle Mühe gegeben, um nicht aufzufallen, um niemanden in ihrer Umgebung wissen zu lassen, dass sie die drei legendären Vögel mit sich trugen und dass sie von drei mystischen Energien auserwählt worden waren. Sie hatten es getan, um die Menschen um sich herum zu schützen, um sie nicht in Panik geraten zu lassen. Aber hatten sie es nicht auch für sich getan? Um sich selbst zu schützen? Dass Ishi sie aufhalten wollte, war kein Geheimnis. Und darum war es sicher gut, wenn sie so wenig Aufmerksamkeit wie möglich erregten. Andererseits – wenn diese Frau nun ganz offensichtlich etwas von der Legende wusste, konnte sie ihnen dann nicht vielleicht weiterhelfen? Aber dafür das Risiko eingehen, vielleicht geradewegs in eine von Ishis Fallen zu laufen? „Hören Sie, Ma'am…“, begann Gary, doch er wurde augenblicklich von der Frau unterbrochen. „Mein Name ist Mary. Und ich sehe schon, dass ihr euer Geheimnis eigentlich nicht preisgeben wollt.“ Sie blickte nachdenklich in die Ferne, schien die richtigen Worte zu suchen, um die drei überzeugen zu können. „Ich habe euch mit Arktos, Lavados und Zapdos gesehen, ich weiß, dass ihr Federn sein müsst. Ich nehme an, ihr wart draußen auf der Insel und kennt nun die Legende? Ich kann mir vorstellen, dass ihr jetzt einige Fragen habt… Fragen, die ich euch vielleicht beantworten kann. Denn ich kenne die Legende der Federn ebenfalls. Aber nicht nur von den Steinmauern – ich kenne sie aus erster Hand. Ich würde euch wirklich gern davon erzählen. Damit es dieses Mal vielleicht nicht in einer Tragödie endet.“ Noch immer waren die drei nicht sicher, ob sie Mary vertrauen konnten oder ob das hilfsbereite Auftreten der alten Dame nur ein Trick war, ob das Wort Tragödie, das sie in der Tat hatte aufhorchen lassen, sie nur neugierig machen und in eine Falle locken sollte. Aber auch ohne ein Wort zu wechseln wussten die drei, dass es ihnen allen in diesem Moment ähnlich erging – sie wollten Antworten. Sie waren bereit, das Risiko dafür in Kauf zu nehmen. „Also schön.“ Diesmal war es Ash, der das Gespräch wieder aufnahm. „Wir haben da in der Tat ein paar Fragen. Wir begleiten Sie, Mary.“   Auch Marys Haus war eine Touristenunterkunft, eine kleine Pension, freundlich, schlicht aber gemütlich eingerichtet und momentan von all seinen derzeitigen Bewohnern verlassen, die sich bei dem schönen Wetter lieber am Meer tummelten. Sie hatten den eisgekühlten Tee angenommen, den Mary ihnen angeboten hatte, weil es für Ishi keinen Sinn machen würde, sie zu vergiften. „Seid ihr von weither gekommen?“ „Aus Kanto. Zumindest Ash“, Misty deutete auf den Jungen, „und ich. Mein Name ist übrigens Misty. Und das ist Gary.“ „Kanto? Das ist ein weiter Weg.“ Misty nickte. „Außerdem waren Gary und ich schon einmal auf der Insel, weil uns unsere Vögel dorthin geführt hatten. Danach haben wir Ash gefunden und na ja, nun sind wir wieder hier.“ „Und nun kenne ich die Legende auch, aber blöder Weise sind wir jetzt kein bisschen klüger, was eigentlich unsere Aufgabe ist. Wir hatten gehofft, endlich ein paar Antworten zu bekommen, aber stattdessen sind wir jetzt noch ratloser als vorher.“ „Ja“, begann Mary, „die Inschrift gibt einem in der Tat nicht vor, wie man das Problem beseitigen soll. „Mary, wo Sie doch wissen, dass dort in den Felsen eine Inschrift steht – könnte es vielleicht sein, dass Sie sie dort hineingeschrieben haben?“ Fragend sah Misty die alte Dame an, die nun den Kopf schüttelte. „Oh nein, das war nicht ich. Ich weiß nicht, wer es war, oder seit wann die Legende dort steht. Ich weiß nur, dass sie es tut.“ Ash seufzte ungeduldig. „Könnten Sie uns jetzt bitte endlich sagen, was Sie sonst noch so wissen? Selbst wenn nicht Sie es waren, die den Text in die Felsen geritzt hat – Sie meinten doch, Sie kennen die Legende aus erster Hand und dass wir bestimmt Fragen haben. Wir haben allerdings einige Fragen und wären wirklich froh, wenn wir jetzt zur Abwechslung mal ein paar Antworten bekommen könnten! Schlimm genug, dass die Felswand uns überhaupt nicht weitergeholfen hat, aber jetzt reden Sie auch nur um die ganze Sache herum.“ Ein schwaches Lächeln legte sich auf Marys Lippen, aber ihre Augen blieben ernst. „Du musst dann wohl die Feuerfeder sein, Junge.“ „Ähm, nein. Ich hab Ellenki. Das mit dem Feuer ist er.“ Er deutete auf Gary und Mary richtete den Blick überrascht auf den Jungen, der das Gespräch bisher nur schweigend verfolgt hatte.  „Das ist ungewöhnlich…“ Sie wandte sich zurück an Ash. „Aber nun gut, du hast recht, ihr habt lang genug auf Antworten warten müssen. Eins vorweg – ich kann euch nicht sagen, wie ihr Ishi besiegen sollt, das wird am Ende eure Entscheidung sein. Ich kann euch nur erzählen, was beim letzten Mal passiert ist, als die drei Federn erwacht sind.“ „Waren Sie denn dabei?“ „Nicht ganz. Aber ich habe die Geschichte von meiner Großmutter gehört. Der letzte Ishi-Träger, oder zumindest der letzte, von dem ich weiß, das war mein Urgroßvater.“ Hoffnung keimte in den dreien auf. Wenn Mary die Geschichte von ihrer eigenen Familie kannte, wenn sie in ihrer eigenen Familie geschehen war, dann kannte sie doch auch den Ausgang, dann wusste sie, was die damaligen Federn getan hatten, um Ishi zu besiegen. Ash hibbelte auf seinem Stuhl hin und her. „Ja und? Wie ging das ganze damals aus? Wie wurde Ishi besiegt?“ Ein Hauch von Bitterkeit schwang in ihrer Stimme mit, als sie antwortete. „Der letzte Ishi-Träger wurde getötet. Von der Feuerfeder.“ Gary wandte den Blick ab. „Die Federn von damals haben letztendlich keinen anderen Ausweg mehr gesehen. Es war das einzige, was sie tun konnten, und derjenige, der es letztendlich fertiggebracht hat, war der von Fii Auserwählte. Ich habe von meiner Großmutter gehört – denn als sie ein Kind war, kannte man die Legende hier in der Gegend durchaus noch – dass es für gewöhnlich immer Menschen mit ähnlichem Charakter sind, die von den drei Mächten auserwählt werden. Ein ruhiger, überlegender für Wazu, ein starker, aber strategisch denkender für Ellenki. Und eben ein temperamentvoller, hitziger und kühner für Fii.“ Ash und Misty sahen sich nachdenklich an, während Gary noch immer den Blick abgewandt hatte und leise, kaum hörbar hinter vorgehaltener Hand hustete. Sie fanden momentan keinen von ihnen in der Beschreibung dieser für die Mächte angeblich typischen Auswahlkriterien wieder und fragten sich einmal mehr, wieso ausgerechnet sie auserwählt worden waren. Mary fuhr fort. „Noch dazu soll es wohl oftmals die Feuerfeder sein, die den Ishi-Träger letztendlich tötet um das Gleichgewicht der Mächte wieder herzustellen.“ „Nun, aber das wird diesmal nicht so sein“, begann Ash. „Niemand von uns dreien will den Ishi-Träger töten, darum suchen wir ja so verzweifelt nach einem Hinweis dafür, was wir tun sollen.“ Abermals lächelte Mary bitter. „Das will niemand vorher, Ash. Natürlich versuchen die Federn jedes Mal alles andere Mögliche, um Ishi zu besiegen. Aber ich habe noch nie davon gehört, dass der Mensch, der von Ishi auserwählt wurde, nicht getötet werden musste, wenn Ishi erst einmal außer Kontrolle geraten ist. Das muss natürlich nicht bedeuten, dass es nicht so sein kann… Es sind nur Geschichten, und es sind alte Geschichten… Wer weiß schon, wie oft Ishi wirklich erwacht und was dann jeweils geschieht. Katastrophen sprechen sich schneller herum als glückliche Ereignisse. Vielleicht haben sich bis heute nur die spektakulärsten dieser Geschichten erhalten. Zumindest konnte mir auch als Kind schon niemand mehr von einer Begebenheit erzählen, als Ishi erwachte und sein Träger sie beherrschen konnte, als Ishi nicht außer Kontrolle geriet. Natürlich gab es auch diese Fälle und das wusste man, aber an Details konnte sich keiner erinnern. Wem fällt so eine besondere Macht schon auf, wenn sie kein Unheil heraufbeschwört… Und heutzutage kennt praktisch niemand mehr die Legende der Federn.“ „Obwohl sie da draußen an den Felsen steht?“ Fassungslosigkeit schwang in Mistys Stimme mit. „Obwohl es anscheinend ja immer wieder passiert? Wie kann es sein, dass es solche Mächte in unserer Welt gibt und niemand sie mehr wahrnimmt?“ „Tja, es ist eben eine sehr fantastische Geschichte, aber so etwas wollen die Menschen heute nicht mehr hören und schon gar nicht daran glauben. Sie sehen die Pokémon mit ihren verschiedenen Fähigkeiten, aber sie wollen nicht begreifen, dass diese Pokémon noch so viel mächtiger, zu so viel mehr fähig sind, als sie ihnen zutrauen. Wenn sich ab und an doch mal jemand auf die Insel verirren sollte und die Legende entdeckt, dann hält er es für ein Märchen aus vergangenen Tagen. Niemand glaubt mehr an solche Mächte, und niemand will mehr die alten Geschichten hören.“ „Aber wir glauben daran, und wir möchten sehr gerne erfahren, wie das ganze beim letzten Mal war.“ Ash sah sie eindringlich an. „Erzählen Sie uns von damals?“ Mary nickte. „Natürlich. Aber es ist keine schöne Geschichte.“ Kapitel 14: Alte Geschichten ---------------------------- Die Blätter der Bäume und Sträucher um ihn herum wehten sachte im Nachtwind, rauschten in der Dunkelheit, säuselten ihm ein Gutenachtlied, das ihn doch nicht müde machte. Schlafen, das hätte er bereits vor einigen Stunden sollen. Doch wann immer er die Augen schloss, kamen sie wieder, die Zweifel, die Unsicherheit, die Angst, die ihn vor jedem neuen Tag plagten. Morgen würde er wieder dorthin müssen, in die Schule. Aber was Bedenken waren, die wahrscheinlich jeder Jugendliche irgendwann einmal hegte, das waren Gefühle, die er sich nicht erlauben durfte, denn er war keiner der Schüler, die sich morgen wieder mehr oder weniger wissbegierig versammeln würden, er war der Lehrer, der ihnen dieses Wissen vermitteln sollte. John seufzte. Er war jetzt zweiunddreißig Jahre alt, hatte eine wunderschöne Ehefrau und eine hinreißende Tochter, die er beide über alles liebte. Und er arbeitete nun seit einigen Jahren in dem Beruf, von dem er seit Kindertagen an gewusst hatte, dass es der richtige für ihn war. Kindern und Jugendlichen ein wenig von dem beizubringen, was sie fürs Leben wissen mussten, sie ein kleines Stück auf dem Weg zum Erwachsenwerden zu begleiten, das war von jeher sein Traum gewesen. Aber er war längst zu einem Alptraum geworden. Die Anzeichen waren schleichend gekommen, nach und nach, sodass er ihnen zuerst nicht allzu viel Beachtung geschenkt hatte. Natürlich, es war vollkommen normal, dass man als Lehrer nicht immer von seinen Schülern den Respekt erhielt, den man sich wünschte. Er hatte gehofft, ihnen ein Vorbild sein zu können, ein Vertrauter, an den sie sich mit Problemen wenden konnten, aber natürlich war es normal, dass nicht alle seiner Schüler ihn mögen konnten. Dass nicht alle davon begeistert waren, wenn er über geschichtliche Ereignisse oder Sitten und Bräuche aus alten Tagen sprach. Das gehörte zu diesem Beruf dazu, nicht wahr? Dass die Schüler genervt waren, sobald sie ihn sahen, dass sie ihn nicht respektierten, dass sie seinen Unterricht langweilig und unnütz fanden. Die Anzeichen waren schleichend gekommen, nach und nach, aber die Erkenntnis hatte ihn eines Tages aus heiterem Himmel getroffen: Was, wenn er kein guter Lehrer war? Wenn der Traum aus Kindertagen nur ein jahrelanger Selbstbetrug war? Von da an waren die Zweifel gekommen und die Unsicherheit, wann immer er unterrichtete, wann immer er einem seiner Schüler auf dem Gang begegnete, wann immer er sich mit einem seiner Kollegen unterhielt. Was war, wenn er einfach alles komplett falsch gemacht hatte? Gab es einen Weg, da wieder herauszufinden, sein ganzes Handeln als Lehrer noch einmal zu überdenken? Einfach noch einmal von vorn anzufangen? Er wünschte sich nichts sehnlicher als einen Neubeginn. Ein lautes, deutliches Rascheln in einem der Büsche ließ John aufhorchen. War da nicht etwas gewesen? Und da! Ein schwaches, blau-violettes Leuchten hinter dem Blattwerk? Langsam stand John auf, machte ein paar vorsichte Schritte auf den Busch zu – und zuckte augenblicklich zurück, als in diesem Moment eine kleine Kreatur daraus hervorschoss, sich einmal um sich selbst drehte und dann in der Luft stehenblieb, den verdutzten Mann eindringlich ansehend. „Mii?“ John traute seinen Augen nicht. Er hatte in alten Aufzeichnungen viel über dieses Pokémon gelesen, das früher in großer Zahl die Erde besiedelt hatte, heute aber eigentlich als ausgestorben galt. Er hatte auch die Gerüchte gehört, denen zufolge es doch noch einige wenige Exemplare geben sollte, aber er hätte niemals für möglich gehalten, dass – sofern es sie denn wirklich noch gab – eines davon einmal in seinem Garten auftauchen würde. „Mew?“ Das Pokémon schien zu lächeln, als John seinen Namen aussprach, wirbelte erneut herum und blieb dann abermals reglos in der Luft stehen. Er wusste nicht, warum, aber dieses Mew war zu ihm gekommen. Es war zu ihm gekommen und es hatte irgendeinen Sinn, dass es hier war. Und er spürte, dass er es fangen musste. „Hey Mew…“ Er griff in eine Tasche der dünnen Jacke, die er sich beim Weg nach draußen übergeworfen hatte und von der er wusste, dass sich ein leerer Pokéball darin befand. „Mew, Kleines… was sagst du, würdest du gern bei mir bleiben?“ Mew blickte ihn weiterhin an. „Komm her, Mew.“ Er warf den Pokéball, das typische Leuchten erfasste den kleinen Pokémonkörper und zog ihn in das Innere des Balls. Es konnte nicht funktionieren. Mew war so ein starkes, so ein mächtiges Pokémon, es würde nicht ungeschwächt einfach in einem Ball bleiben, aber er konnte jetzt unmöglich von hier weg, um eines seiner eigenen Pokémon zu holen. Der Ball zuckte, einmal, zweimal, dreimal… Es konnte nicht funktionieren. Da kam ihm ein Wort in den Sinn. Eines, das er nicht kannte und das er niemals zuvor gehört hatte. „Ishi.“ Ein sanftes Leuchten erfasste den Pokéball mit Mew darin. Er blieb regungslos liegen. „Was…“ Und mit einem Mal veränderte sich das Äußere des Balls, wich die übliche Färbung einem dunklen Violettton und seltsame, hauchdünne Linien formten sich darauf zu einem Gebilde zusammen, das mit viel Fantasie vielleicht die Form eines Auges hatte. Er hatte Mew gefangen. Ab jetzt wird alles besser werden. Es musste einfach.     ***   Er wusste nicht genau, warum, aber seitdem Mew bei ihm war, war tatsächlich alles irgendwie besser geworden. Die Zweifel waren nicht von einem Tag auf den anderen verschwunden, aber er hatte es geschafft, sie wieder unter Kontrolle zu bekommen, sich selbst Mut zu machen und ohne Ängste an seinem Arbeitsplatz aufzukreuzen. Und er stellte fest, dass er mit dieser veränderten Einstellung mit einem Mal auch wieder den Respekt einiger Schüler für sich gewinnen konnte, dass er es schaffte, immerhin ein paar für das zu begeistern, was er ihnen beizubringen versuchte, und den Rest immerhin soweit bekam, dass sie dem Unterricht aufmerksam, wenn auch nicht immer interessiert, folgten. Ich hab's geschafft. Ich bin kein schlechter Lehrer. Ich hatte einfach nur eine schlechte Phase, aber das ist jetzt vorbei. Seiner Frau gegenüber hatte er erwähnt, wie sich sein Leben seit Mews Auftauchen verändert hatte. Vielleicht war das Pokémon so eine Art Glücksbringer, hatte er im Scherz zu ihr gesagt und sie hatte lachend zugestimmt. Aber mit der Zeit merkte John, dass das nicht alles war. Dass da noch irgendetwas anderes passiert sein musste in dem Augenblick, als er Mew gefangen hatte. Es musste mit dem Pokémon zusammenhängen, dass er seine eigenen Gedanken nun besser unter Kontrolle hatte, dass er es wieder schaffte, sie zum Positiven zu beeinflussen. Und dann hatte er gemerkt, dass er das nicht nur mit seinen eigenen Gedanken konnte…     ***     Er kannte diese Situationen, hatte sie hundertmal erlebt, von der einen und der anderen Seite. Schüler, die einen Vortrag vor der Klasse halten mussten und von denen er genau wusste, dass sie sich die letzten Wochen intensiv mit ihrem Thema auseinandergesetzt hatten. Die aber nun, wo alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet war, nervös wurden, Aussetzer hatten und mit einem Mal nicht mehr wussten, was sie hatten sagen wollen. Er konnte ihre Gedanken hören. Jedes 'Ich kann mich an nichts mehr erinnern', jedes 'Verdammt noch mal, wann war das noch?'. Und er konnte genauso sehen, dass das Wissen da war und dass es nur die Nervosität war, die es verborgen hielt. Ein kaum sichtbares Lächeln huschte über Johns Lippen, während er den Jungen vor sich beobachtete, wie er verzweifelt nach Jahreszahlen in seinem Kopf suchte. Bleib ruhig. Du weißt es doch. Keine Sorge, du schaffst das. Nur Mut. Zufrieden stellte er fest, wie die Gedanken des Jungen entspannter wurden, wie sich sein Blick festigte und schon kurz danach alles aus ihm heraussprudelte, was er zu vergessen geglaubt hatte. John nickte innerlich zufrieden. Er manipulierte diese Kinder nicht. Er half ihnen nur, ihre Gedanken zu ordnen und sich wieder zu sammeln. Auch, wenn er sie dafür ein wenig beeinflussen musste. Er meinte es nur gut mit ihnen.     ***     „Sie sind undankbar!“ Seine Frau blickte auf, als er wütend mit der Hand auf den Tisch schlug. „Wer?“ „Alle! Alle, die ich je unterrichtet habe! Viele von ihnen besuchen jetzt hoch angesehene Universitäten, einige haben schon ihre ersten eigenen Bücher verfasst – aber denkst du, von auch nur einem von ihnen käme ein Wort des Danks? Was glauben diese Kinder, wo sie ohne mich wären? Wo sie wären, wenn ich sie während ihrer Prüfungen nicht beruhigt hätte? Was meinst du, wie viele durchgefallen wären und ihren Abschluss nicht geschafft hätten?“ „John… Sie wissen es doch nicht. Du hast ihnen ohne ihr Wissen geholfen, du kannst ihnen deswegen jetzt keine Vorwürfe machen.“ Er schwieg. „Ich denke sowieso, es ist besser, wenn du damit aufhörst. Ich weiß, du meinst es nur gut… Aber man sollte sich aus den Köpfen anderer Leute raushalten.“ Aufhören? Er fing gerade erst an.     ***     Aber es war der Anfang zu seinem persönlichen Ende. Der Frust darüber, dass die von ihm unwissend Beeinflussten ihm nicht die Dankbarkeit zeigten, die er für angebracht hielt, ließ ihn nach und nach die Gedanken immer mehr Menschen beeinflussen. Nicht mehr zu ihren Gunsten, sondern für seine eigenen Zwecke. Es fing harmlos damit an, dass er sich ihre Zustimmung in Diskussionen erschlich. Kollegen, die zu sehr seiner Meinung widersprachen, dazu bewegte, die Schule zu verlassen. Dafür sorgte, dass er an die Spitze der Schulleitung kam. Dass das ganze System dort nur noch seinen Ideen entsprach. Dass die Schüler seinen Idealen folgten. Die Situation war eskaliert. Und die Macht, die eigentlich Gutes hatte bringen sollen, drohte außer Kontrolle zu geraten.     ***     Herablassend blickte John auf die drei Personen vor ihm. Die beiden Frauen und der junge Mann waren gekommen, um ihn aufzuhalten. Aber das würde ihnen nicht gelingen. Sie würden ihn nicht einschüchtern. Selbst die drei legendären Vögel, die an der Seite ihrer Schützlinge standen, konnten ihn nicht beeindrucken. Denn er wusste Mew, eines der mächtigsten, wenn nicht das mächtigste aller Pokémon neben sich. Ihr könnt mich nicht aufhalten. Ich weiß alles über euch, ich kann in euren Gedanken lesen wie andere in einem Buch. Ich kenne eure Vergangenheit, ich kenne eure Schwächen, und ich kann mir all das zunutze machen, solltet ihr auf die Idee kommen, mich angreifen zu wollen. Eine der Frauen schüttelte ihren goldblonden Schopf, während ihre Hand beruhigend durch das Gefieder von Zapdos glitt. „Wir wollen dich nicht angreifen. Aber das hier muss ein Ende haben! Du kannst die Menschen nicht so manipulieren, wie es dir gefällt.“ Und wer will mir das verbieten? Ihr? Er lachte, und diesmal war es nicht nur in Gedanken. Das könnt ihr nicht. Ich werde euch genauso manipulieren, wie ich es mit all den anderen da draußen gemacht habe. Ihr wollt mich aufhalten? Ich kann innerhalb weniger Sekunden dafür sorgen, dass ihr euch gegenseitig an den Hals springt. Ach, was sag ich. Gebt mir ein paar Minuten, und die ganze Stadt, das ganze Land steht im Krieg miteinander, wenn es mir gefällt. „Dann werden wir dafür sorgen müssen, dass du diese Minuten nicht bekommst.“ Der junge Mann streckte einen Arm zur Seite. Flammen bildeten sich rund um seine Hand, die sich im nächsten Augenblick zu einem brennenden Schwert geformt hatten. „Lawrence, warte!“ Die dritte im Bunde sah ihn eindringlich an. „Noch nicht. Noch ist vielleicht nicht alles verloren.“ Sie wandte sich an John. „Ist das dein Ernst? Du willst das ganze Land in einen Krieg stürzen? Was ist mit deiner Frau und deiner Tochter? Willst du wirklich, dass sie zu Opfern eines Krieges werden?“ John senkte den Blick, und die Überheblichkeit in seinem Gesicht wich einem Moment bitterer Frustration. „Ich habe keine Frau und keine Tochter mehr… Die beiden haben mich verlassen.“ „Ja, weil du sie vertrieben hast! Weil sie sich gefürchtet haben vor dem, was du geworden bist. Aber es ist noch nicht zu spät. Hör auf mit dem ganzen Unsinn. Lass Ishi und Mew gehen! Ich bin sicher, deine Familie wird zu dir zurückkehren, wenn du deine Fehler einsiehst.“ „Fehler?! Der einzige Fehler ist, dass ich mich die ganze Zeit von euch bequatschen lasse. Aber damit ist jetzt Schluss. Mew, Psystrahl!“ Sofort war das Pokémon an seiner Seite. Für einen Sekundenbruchteil blickte es John an, führte dann aber ohne weiter zu zögern die Attacke aus. „Wazu!“ Das schwarzhaarige Mädchen reckte ihre Hände zu beiden Seiten ihres Körpers und ließ vor den drei Federn und ihren Pokémon einen gigantischen Eisschild erscheinen, der beim Aufprall des Psystrahls in Millionen glitzernder Splitter zerbrach. Das ist doch nur lästige Zeitschinderei. Hört auf damit, mich zu bekämpfen, und schließt euch mir an. Gemeinsam könnten wir uns die ganze Welt zum Untertan machen. „Niemals! Wazu!“ Diesmal ließ sie ein funkelndes Eisschwert in ihrer Hand erscheinen. „Wir haben kein Interesse daran, die Welt zu beherrschen. Und du wirst das auch nicht tun.“ Sie eilte ihm entgegen, griff ihn mit dem Schwert an, doch bevor die Klinge auch nur in seine Nähe kam, hatte er Mew eine Barriere erschaffen lassen, an der der Angriff abprallte. Lächerlich. Jetzt riskierten sie es, auch die drei legendären Vögel angreifen zu lassen. Donnerblitze, Feuerwirbel und Blizzards schossen auf John zu, doch mit einem arroganten Lächeln und Mews Einsatz waren sie wirkungslos. Wann seht ihr endlich ein, dass ihr nicht gewinnen könnt? Ihr könnt mich weder besiegen, noch umstimmen. Ich habe nichts mehr in dieser Welt, das mir etwas bedeutet. Also kann sie von mir aus auch zugrunde gehen. Und wenn ich sie vorher noch ein bisschen beherrschen kann – umso besser. Ihr drei werdet jedenfalls niemals – Er brach jäh ab, als er plötzlich die Klinge eines Schwertes an seinem Hals spürte, als kleine Elektrofunken ihm warnend die Haut versenkten. „Was werden wir niemals?“ Das Mädchen war in einem unbeobachteten Moment an seine Seite gehastet und hatte ihn unbemerkt in diese missliche Lage gebracht. „Wir sagen es noch einmal: Hör auf mit dem Wahnsinn! Lass Ishi und Mew gehen und besinn dich wieder. Noch kann alles wieder gut werden.“ Ts, wie erbärmlich. Sich feige von hinten anzuschleichen. „Sagt der, der in den Köpfen anderer rumspukt und sie manipulieren muss, weil er es nicht schafft, sie mit Worten zu erreichen!“ Lawrence sah ihn wütend an, das Flammenschwert in seiner Hand noch immer gierig lodernd. Auch Johns Lippen bebten zornig, aber er wandte sich von dem Jungen ab und stattdessen wieder der Donnerfeder zu, die ihn mit ihrem Schwert noch immer gefangen hielt. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass du mich besiegen kann, hm? Du willst es doch auch gar nicht. Überleg mal, was hab ich dir denn getan? „Ich…“ „Phoebe, lass dich nicht von ihm bequatschen!“ Dein wahrer Feind, das bin doch gar nicht ich, nicht wahr? Hegst du nicht einen viel größeren Groll gegen diese beiden hier, die dir ständig sagen, was du tun und lassen sollst? „Phoebe, bitte! Er legt dich rein, hör nicht auf ihn!“ Und schon wieder. Als könntest du nicht für dich allein denken. Seid doch ehrlich – euch drei verbindet nichts wirklich miteinander. Ihr bedeutet einander nichts. Und inzwischen könnt ihr eure gegenseitige Anwesenheit nicht mehr ertragen. Ihr hasst euch. Viel mehr, als dass ihr mich besiegen wollt, wollt ihr doch eigentlich aufeinander losgehen. Das Donnerschwert senkte sich langsam. Starr blickte Phoebe zur Wasserfeder, die ihren Blick ebenso schweigend, ebenso kalt erwiderte. Das Eisschwert in ihrer Hand glitzerte bedrohlich. Ihr drei werdet aufeinander losgehen, ihr werdet euch gegenseitig bekämpfen, so lange, bis keiner von euch mehr am Leben ist. „…Ellenki.“ Das Donnerschwert leuchtete auf – aber diesmal war es nicht mehr gegen John, sondern gegen das andere Mädchen gerichtet. „Phoebe, nicht!“ „…Wazu.“ Auch das Eisschwert wurde von einem intensiveren Licht als zuvor erfasst. „Dorothy, hör auf damit!“ Gib doch auf. Im Grunde weißt du doch längst, dass es verloren ist. Macht eurer albernen Mission hier ein Ende. Gebt euren Kampf gegen mich auf. Euer wahrer Gegner seid ihr selbst. „…Fii.“ Das Flammenschwert loderte auf. Einmal noch richtete Lawrence seinen Blick auf die beiden Mädchen, die einander feindselig gegenüberstanden. Dann machte er einen Satz nach vorn, sein Schwert in Angriffsposition von sich gestreckt – und rammte es John ins Herz. „Was zum…“ „Ich setze dieser Mission ein Ende. Wie du es dir gewünscht hast.“ Ein sarkastisches und unendlich bitteres Lächeln huschte über seine Lippen. „Na ja, vielleicht nicht ganz so, wie du es dir gewünscht hast.“ „D-das… das wirst du…“ „Fii.“ Nie zuvor hatte ein einzelnes Wort in Lawrences Ohren so grausam geklungen. Der Körper vor ihm sackte leblos zusammen. Der violette Pokéball glitt aus Johns Hand, fiel zu Boden und zerbrach. Die beiden Mädchen starrten auf die Szenerie, gepackt von der Erkenntnis, was sie gerade beinah getan hätten und was Lawrence getan hatte, um sie zu retten. Die drei Vögel senkten die Köpfe. Mew schwebte herbei, warf einen Blick auf seinen ehemaligen Trainer. Dann wandte es sich um, hielt keinen Moment mehr inne und flog dann davon, bis der Nachthimmel es verschlungen hatte. Kapitel 15: Pläneschmiede ------------------------- Ash, Misty und Gary schwiegen. Schon vorher zu wissen, wie eine Geschichte endete, schon zu wissen, dass sie kein Happy End haben würde, nahm ihr leider nichts von ihrem Schrecken und ihrer Grausamkeit. Was Mary ihnen da erzählt hatte, das war nicht nur keine schöne Geschichte gewesen; es war das Furchtbarste, was sie jemals gehört hatten. „Natürlich weiß niemand genau, ob es sich damals nun wirklich exakt so zugetragen hat. Und jeder, der die Geschichte erzählt, schmückt einen anderen Teil etwas aus. Manche behaupten, Lawrence hätte voreilig gehandelt und die Situation hätte vielleicht noch gerettet werden können. Andere sagen, er hatte keine Wahl, weil die drei wirklich kurz davor waren, sich gegenseitig zu töten, und dass John wirklich vorhatte, die Welt in einen Krieg zu stürzen, sodass neu erwachten Federn vielleicht gar nicht genug Zeit geblieben wäre, etwas gegen ihn zu unternehmen. Die Wahrheit kennen allein diejenigen, die dabei waren; und von denen lebt heute natürlich niemand mehr.“ Wie zu sich selbst schüttelte Ash den Kopf. Auch wenn Marys Erzählung grauenvoll gewesen war, es brachte nichts, sich jetzt in Kummer über den damaligen Ausgang zu verlieren. Jetzt waren er, Misty und Gary die drei Federn, deren Auftrag es war, Ishi zu besiegen und einem Menschen vor dem Tod zu bewahren. Die Geschichte war grausam gewesen – aber hoffentlich hatte sie auch einige Anhaltspunkte geliefert, die ihnen bei ihrer eigenen Mission von Nutzen sein würden. „Mary, die drei Federn in Ihrer Geschichte… sie haben mit Waffen gekämpft?“ Mary nickte. „Ja, anscheinend ist es den Federn möglich, ihre Energien in bestimmte Formen zu zwingen.“ „Stimmt, ich habe mit Wazu doch auch schon einmal einen Schild errichtet.“ Sie verschwieg, dass es im Kampf gegen Ash gewesen war. „Meistens wählen die Federn wohl Schwerter, weil es sich damit besser kämpfen lässt als mit bloßen Energiekugeln.“ „Auch, wenn man den Umgang mit Waffen überhaupt nicht gewohnt ist? Ich stell mir das schwieriger vor, als einfach nur Energie in die Gegend zu schießen.“ „Ich weiß es natürlich nicht aus eigener Erfahrung, aber mit den von Ellenki, Wazu oder Fii geschaffenen Waffen sollen die Federn ganz automatisch umgehen können. Vielleicht solltet ihr es einfach mal versuchen?“ „Wir werden ganz sicher nicht mit irgendwelchen Waffen kämpfen!“ Gary, der sich bis eben aus dem Gespräch herausgehalten hatte, war nun aufgesprungen und blickte die anderen drei ungläubig an. „Falls ihr es vergessen habt, wir suchen nach einer Möglichkeit, Ishi friedlich zu besiegen, ohne den Menschen, der sie beherrscht, umzubringen! Ich glaube nicht, dass Waffen da sehr förderlich wären.“ „Das seh' ich anders“, entgegnete Misty. „Natürlich haben wir nicht von vornherein vor, den Ishi-Träger zu töten. Trotzdem denke ich, dass es durchaus von Vorteil wäre, wenn wir unsere Energien besser beherrschen könnten. Und ganz ehrlich… ich denke auch, dass es gut ist, für den Ernstfall gerüstet zu sein.“ Ihre Stimme war leise geworden. „Du hast doch gehört, wie das Ganze beim letzten Mal ausgegangen ist. Und bevor ich Ash oder dir wehtu…“ Sie ließ ihren Satz unbeendet. „Noch dazu hat sich jetzt nach Marys Geschichte ja immer noch keine Möglichkeit gezeigt, wie man Ishi ansonsten besiegen könnte.“ „Da bin ich mir nicht sicher…“, mischte sich nun auch Ash wieder ein. „Mary, dass die Federn zu diesem John gesagt haben, er solle Ishi und Mew gehen lassen… ist das eine Tatsache, oder möglicherweise auch nur eines der dazu gedichteten Details?“ „Ganz sicher kann ich es nicht sagen. Aber soweit meine Großmutter mir erzählte, kommt dieser Aspekt wohl in mehreren Varianten der Geschichte vor.“ „Das heißt also, dass es für den Ishi-Träger zumindest prinzipiell möglich sein muss, seine Energie irgendwie wieder loszulassen. Wir können das nicht.“ „Nein… In der Legende stand, dass wir bis zu unserem Tod Federn und die Vögel bis dahin an unserer Seite bleiben.“ „Das scheint mit Mew und Ishi also anders zu sein. Vielleicht ist das ein Punkt, an dem wir anknüpfen können. Wenn wir den Ishi-Träger davon überzeugen können, dass sein Handeln falsch ist und er Ishi wieder loswerden muss.“ Er dachte kurz nach. „Aber mal was ganz anderes – weil Misty gerade die Legende an den Felsen erwähnt hat. Mary, Sie haben doch gesagt, dass Menschen, die sie zufällig entdecken, sie nicht für real halten?“ „Genau, weil ihnen diese Worte zu fantastisch erscheinen.“ „Das mal total außer Acht gelassen – aber das heißt, dass jeder, der zur Insel kommt, die Inschrift lesen kann? Einfach so?“ Mary blinzelte irritiert, während Misty und Gary aufhorchten, wissend, worauf Ash anspielte. „Ja, natürlich. Warum sollten sie nicht?“ „Weil wir sie nicht sofort lesen konnten. Ich war mit Arktos wohl als erste von uns dreien auf der Insel, und bei mir stand dort nur lückenhaft der erste Abschnitt und ein paar kleinere Bruchstücke.“ „Und bei mir“, fuhr Gary nun fort, „war es immerhin schon ein bisschen mehr Text, aber immer noch nicht alles.“ „Erst, als Zapdos und ich jetzt auch dabei waren, war die Legende komplett. Oder zumindest denken wir, dass sie jetzt vollständig sein müsste. Wenn Sie mal einen Blick darauf werfen würden?“ Sie reichten Mary ihre Notizen, und nachdem diese sie aufmerksam durchgelesen hatte, nickte sie. „Ja, das ist die gesamte Legende der Federn. So, wie sie draußen an den Felsen steht. Und ich habe bisher noch nie davon gehört, dass sie nicht komplett dort stehen soll.“ „Dann war es wirklich Ishi.“ Ash nickte abermals zu sich selbst. „Wir hatten schon überlegt, ob sie verhindern wollte, dass wir die Legende kennenlernen. Sie muss vor uns auf der Insel gewesen sein und die Legende irgendwie für uns unkenntlich gemacht haben. Zumindest hatte sie das wohl vor.“ „Aber zum Glück für uns ist es ihr anscheinend nicht ganz gelungen“, entgegnete Misty. „Das heißt aber auch, dass Ishi die Legende ebenfalls kennt und weiß, dass es uns gibt und dass wir sie aufhalten wollen.“ „Na ja, aber das war uns ja eigentlich eh schon klar.“ Nachdem Ishi jetzt bereits zweimal versucht hatte, ihre Pläne zu sabotieren, indem sie ihre Schwächen und Ängste ausnutzte. Unschlüssig ging sowohl Ashs als auch Mistys Blick kurz zu Gary, der sich inzwischen wieder gesetzt hatte und nun schweigend aus einem Fenster sah. Sie würden wohl auch diesmal keine Antwort erhalten, also behielten sie ihre Frage für sich. „…Aber ist das nicht irgendwie ganz schön grausam?“ Mistys plötzlicher Themenwechsel ließ die anderen drei aufsehen, doch sie fuhr fort, bevor sie fragen konnten, was sie meinte. „Dass ein Pokémon seinem Trainer immer bedingungslos folgt, meine ich. Mew muss doch gewusst haben, dass Johns Ziel ein schlechtes war und dass es falsch war, was sie da getan haben. Und trotzdem würde es einem Pokémon niemals einfallen, sich seinem Trainer zu widersetzen. Leidet es nicht vielleicht auch darunter? Macht es sich keine Vorwürfe? Ich weiß ja nicht, ob das Mew immer dasselbe ist. Aber Arktos, Zapdos und Lavados…“ Unbewusst griff sie in ihre Tasche mit dem blauen Pokéball. „Die Legende sagt, sie sind so alt wie die Zeit, und es passiert immer wieder, dass Ishi außer Kontrolle gerät… Wie oft haben die drei Vögel vielleicht schon dazu beigetragen, dass jemand getötet wurde? Für die drei wiederholt sich die Geschichte immer und immer wieder… Und sie können nur hilflos zusehen und nichts tun.“ „Sie können etwas tun.“ Überrascht sah Misty Ash an. „Wer wählt die drei Federn wohl aus? Doch bestimmt nicht die drei Mächte selbst, ich meine… das sind schließlich nur… Mächte, also nichts Konkretes oder so. Ich denke, dass wir von Zapdos, Arktos und Lavados auserwählt wurden. Vielleicht sind wir drei deshalb auch so anders, als es die Federn vorher waren. Vielleicht haben die Vögel sich bisher immer Menschen gesucht, die wirklich Meister ihres Elements waren, bestimmte Charaktereigenschaften hatten und darum gut mit ihnen kämpfen konnten. Aber das hat anscheinend zu oft nicht funktioniert. Vielleicht ist es deswegen diesmal anders. Weil wir selbst nicht perfekt sind und darum den Ishi-Menschen besser verstehen können.“ „Und weil wir uns kennen. John hat doch am Ende versucht, die drei Federn gegeneinander aufzuhetzen, weil sie einander fremd waren und sich vielleicht nicht wirklich mochten. Aber ich kenne dich seit Beginn deiner Pokémonreise und Gary fast genauso lange, und ihr seid beide unglaublich wichtig für mich.“ Abermals beschlich Ash das Gefühl, dass es in Mistys und Garys Leben wohl eine gemeinsame Etappe gegeben haben musste, die er verpasst hatte. Aber das war nicht der Zeitpunkt, um danach zu fragen. „Und was Mew angeht…“ Er dachte einen Augenblick nach und dann, als ihm etwas einzufallen schien, weiteten sich seine Augen überrascht. „Doch, ich glaube, Mew weiß genau, dass es falsch ist, was sie tun. Und ich glaube, es versucht irgendwie, sich dem Ganzen zu widersetzen.“ „Wie kommst du darauf?“ „Als ich… in dieser einen Nacht versucht habe, in dein Zimmer zu kommen…“ Er konnte nicht aussprechen, mit welcher Absicht, nicht vor Mary, und die anderen beiden verstanden ihn auch so. „Da hat mir doch ein Licht die Tür geöffnet.“ „Ja. Das war vermutlich Ishi oder Mew. Und?“ „Das war nicht alles. Als ich dann bei dir war, als du noch geschlafen hast… Kurz bevor…“ Er suchte nach Worten. So erzählt klang das Ganze gerade nicht unbedingt besser, aber Mary war höflich genug, nicht nachzuhaken. „Da war draußen vorm Fenster noch mal ein Licht. Und das hat mich abgelenkt und dich geweckt.“ „Und du meinst…?“ „Ich bin mir jetzt sicher, das Licht war auch Mew. Es war bestimmt in der Nähe und es hat sich absichtlich gezeigt, sich absichtlich verraten, damit ich abgelenkt werde.“ „Das heißt“, begann nun Gary, „dass Mew wirklich weiß, dass es falsch ist, was sie tun. Und dass es auf seine Art versucht, etwas dagegen zu unternehmen.“ Ash nickte. „Und das heißt auch, dass es noch nicht beschlossene Sache ist, dass sich die Geschichte wiederholen wird. Im Gegenteil, die Chancen stehen nicht schlecht, dass sie diesmal einen anderen Ausgang findet.“ „Und wie wollt ihr jetzt weiter vorgehen?“ Mary sah die drei jungen Pokémontrainer an. „Tja, gute Frage.“ Ash legte nachdenklich die Stirn in Falten. „Unsere Pläne gingen nur bis hierher, weil wir gehofft hatten, hier Antworten und neue Anweisungen zu finden. Aber jetzt…“ „Vielleicht sollten wir als erstes versuchen, Wazu und die anderen Mächte besser beherrschen zu lernen. Und sie in die Form von Waffen zwingen zu können, für den Notfall.“ „Also bleibt ihr fürs Erste hier?“ „Ja, ich denke schon“, entgegnete Ash. „Allerdings haben wir uns aus dem Pokémoncenter schon ausquartiert, weil Schwester Joy meinte, sie erwartet für heute eine größere Gruppe Pokémontrainer. Und weil wir offiziell ja nur drei Reisende ohne Pokémon sind, haben Trainer im Center natürlich Vorrang… Dürfte nicht so einfach werden, in Dansazu City noch einen Platz zum Übernachten zu finden.“ „Was das betrifft, müsst ihr euch keine Sorgen machen. Viel frei hab ich zwar auch nicht mehr, aber wenn ihr beiden Jungs euch ein Zimmer teilt, dann bekomm ich euch schon noch unter.“ „Wirklich? Das wäre wunderbar, Mary. Vielen Dank!“ Für einen kurzen Moment spielte Gary mit dem Gedanken, Ash und Misty vorzuschlagen, ob nicht lieber sie beide sich das Zimmer teilen wollten. Aber wenn Ash auch nur noch ein bisschen der kleine Junge von damals war, würde er diesen Vorschlag vehement und mit hochrotem Kopf ablehnen. „Also gut, dann ist das beschlossene Sache.“ Und so sagte er nichts. Kapitel 16: Herzblut -------------------- „Ellenki!“ Elektrofunken zuckten zwischen seinen Händen, die er dicht vor seinem Körper und nur ein paar Zentimeter voneinander entfernt hielt. Er versuchte sie zu bündeln, versuchte, aus den einzelnen Fünkchen ein Ganzes zu machen. Ein winziges, zufriedenes Lächeln kniete sich in seine Mundwinkel, als es ihm tatsächlich gelang, eine kleine, glühende Energiekugel zu erschaffen. Aber er durfte jetzt nicht unachtsam werden, nicht die Konzentration verlieren, die er sich so mühsam aufgebaut hatte. Langsam zog er die Handflächen auseinander, zog so die Lichtkugel in eine längliche, zylindrische Form. 'Ein Schwert…ein Schwert sollst du werden.' Er versuchte, sich die Form eines solchen genau vorzustellen, den Griff, die Parierstange und natürlich vor allem die Klinge, lang, breit, kraftvoll. Der Funken-Zylinder vor ihm wurde dicker, dichter, dann flacher, als er versuchte, die Schwertklinge auszuformen. 'Komm schon…' Das Leuchten breitete sich weiter aus, nahm die groben Züge eines Breitschwerts an, eines sehr primitiven zwar, aber immerhin doch die eines Schwerts. Er fasste nach dem Griff – und das Funkengebilde löste sich in Luft auf. „Verdammt!“ „Kopf hoch, Ash. Es hat doch schon gut funktioniert.“ Mary schenkte ihm ein gütiges Lächeln. „So etwas braucht Zeit.“ „Aber die haben wir vielleicht nicht…“ Sofort versuchte er es ein zweites Mal, aber die Frustration über den fehlgeschlagenen Versuch erlaubte es ihm nicht, die nötige Konzentration aufzubringen. Ash seufzte und ließ seinen Blick zu Misty schweifen, die gerade in diesem Moment ein paar probierende Kampfbewegungen mit einem langen, glitzernden Eisdegen vollführte. Dann ließ sie ihn verschwinden, rief abermals Wazu an und erschuf mit einigen wirbelnden Handbewegungen ein bläulich schimmerndes Kurzschwert. „Misty liegt das Ganze offensichtlich mehr als mir…“ Schließlich war es ihr mit ihrem Eisschild als erste von ihnen dreien gelungen, ihre Energie in eine bestimmte Form zu zwingen. „Ja, die Federn sind wohl unterschiedlich begabt im Umgang mit Wazu, Ellenki und Fii. Ganz besonders Talentierte müssen wohl auch den Namen ihrer Energie nicht einmal mehr aussprechen, um sie benutzen zu können.“ „Sehr aufbauend…“ Und er wäre schon froh gewesen, wenn er es überhaupt geschafft hätte, seine Waffe zu führen. Aber nun gut, darum waren sie ja hier, um den Umgang mit ihren Energien und den Elementarwaffen zu erlernen. „Ellenki!!“ Und wer war er denn, sich von einem Rückschlag unterkriegen zu lassen. Auf seiner Pokémonreise damals hatte es immer und immer wieder Rückschläge gegeben, immer wieder war er an seine und die Grenzen seiner Pokémon gestoßen, war frustriert gewesen, aber letztendlich an jeder noch so großen Herausforderung gewachsen. „Ellenki!!!“ Diesmal hatte er sie nicht an seiner Seite, all die Pokémon, die er in den Jahren so lieb gewonnen hatte, nicht einmal Pikachu, von dem er sich eigentlich nie wieder hatte trennen wollen. Diesmal kam es auf ihn an, und er würde kämpfen, er würde alles geben, um letztendlich zufrieden und stolz auf sich an die Seite seiner Freunde zurückkehren konnte.   Garys Blick ruhte schweigend auf den beiden trainierenden Auserwählten. Er war nicht gern gekommen, um dem Training zuzusehen. Er hatte befürchtet, wenn er es tat, würden sie versuchen, ihn umzustimmen. Versuchen, ihn dazu zu überreden, doch auch mit Fii in der Form einer Waffe zu kämpfen. Andererseits erschien es ihm unfair, sich einfach aus der ganzen Sache herauszuhalten, als ginge sie ihn nichts an. Sie mochten verschieden an ihre Aufgabe herangehen, aber sie waren immer noch ein Team. Sie wollten nicht enden wie die letzten drei Federn, also mussten sie einander unterstützen, selbst wenn sie nicht derselben Meinung waren. Und tatsächlich hatten weder Ash noch Misty auch nur ein einziges Wort darüber verloren, dass es ihnen lieber gewesen wäre, hätte er sich ihrem Training angeschlossen. Sie hatten akzeptiert, dass das Kämpfen mit einer Waffe für ihn keine Option war. Im Gegenzug hatte er akzeptiert, dass sie es tun wollten, dass sie in der Lage sein wollten, es tun zu können, falls die Situation es erforderte. Die Sonne brannte heiß vom Himmel herab, ließ die Luft flimmern und trieb ihnen allen, nicht nur den Trainierenden, den Schweiß auf die Stirn. Gary hoffte inständig, dass die Situation es nicht erfordern würde. „Ellenki!“ „Wazu!“ Denn er wusste nicht, wie die Geschichte dann enden sollte.   Mit einem herzhaften Stöhnen ließ Ash sich auf die eine Hälfte des gemütlichen Doppelbetts fallen, streckte alle Gliedmaßen von sich und schloss für einen Moment erschöpft die Augen, nur um sie gleich danach wieder zu öffnen. „Puh… Das war ein Tag. Wenn ich es mir in Zukunft aussuchen kann, wünsche ich mir nicht mehr so viele anstrengende Erlebnisse auf einmal…“ Gary betrachtete den anderen Jungen einen Augenblick lang und nickte dann zögerlich. Ja, es war in der Tat einiges an diesem einen Tag geschehen. Der Aufbruch zur Insel am frühen Morgen, der dritte Teil der Legende, das Treffen mit Mary und dann die alte Geschichte. Auch ohne das Training war es ein bisschen viel für einen Tag gewesen. Es war mehr als Zeit, dass dieser nun endlich ein Ende fand. „Am besten sollten wir einfach schnell schlafen. Wer weiß, was uns morgen erwartet.“ „Ich glaub, ich kann jetzt noch gar nicht schlafen. Ich bin noch total aufgewühlt, vom Training, von den ganzen Sachen, die wir heute erfahren haben. Von dem, was wir alles noch nicht erfahren haben…“ Abermals ging Garys Blick skeptisch zu Ash. Er hätte es doch tun sollen. Er hätte ihm vorschlagen sollen, sich mit Misty ein Zimmer zu teilen, egal, was Ash davon gehalten oder wie er reagiert hätte. „Also, wollen wir vorm Schlafen… Ich weiß nicht, uns einfach noch ein bisschen unterhalten?“ Gary unterdrückte ein Husten. „Unterhalten? Worüber denn?“ Und versuchte, so gleichgültig wie nur irgendwie möglich zu klingen. „Na ja, ich weiß auch nicht… Keine Ahnung, über irgendwas halt.“ Ash hatte die Arme mittlerweile hinter dem Kopf verschränkt und starrte zur Zimmerdecke, schien zu überlegen, über welche Nichtigkeit man vorm Zubettgehen noch ein wenig plaudern konnte. „…Zum Beispiel hast du mir immer noch nicht erzählt, wo du all die Jahre gewesen bist.“ Oder so hatte er gedacht. Aber das war keine Nichtigkeit, und er kaufte Ash nicht ab, dass ihm dieses Thema ganz zufällig in den Sinn gekommen war. Wahrscheinlich wollten er und Misty ihn immer noch aushorchen, um in Erfahrung zu bringen, in welcher Weise er für Ishi angreifbar war. Aber Gary stand nicht der Sinn nach solchen Plaudereien, jetzt schon gar nicht, und er bereute einmal mehr, dass er der Zimmeraufteilung ohne Widerworte zugestimmt hatte. Er hoffte, Ash auch ein weiteres Mal mit einer möglichst nichts aussagenden Antwort abspeisen zu können. „Hab doch schon gesagt, mal hier, mal da… nirgendwo im Besonderen.“ „Hast du Misty dann 'hier' oder 'da' getroffen?“ Er sah überrascht auf. „Und jetzt tu bitte nicht so, als würdest du nicht wissen, wovon ich rede. Wenn es mich nichts angeht, dann erzähl mir keine Details, das ist ok. Aber ich will einfach nicht mehr länger raten müssen, ob… da mal was zwischen euch war.“ Darum ging es ihm? Um Misty? Er fühlte sich erleichtert, aber auch ein wenig überrumpelt, weil er es nicht gewohnt war, die Gedanken seines Gegenübers nicht einschätzen zu können. Sollte er Ash davon erzählen? Im Grunde gab es nichts, was dagegensprach, und auch Misty würde wohl kaum etwas dagegen haben. Viel zu erzählen gab es da ohnehin nicht. „Ja, da war was.“ Ash, der sich nun wieder aufgesetzt hatte, nickte, kurz und sachlich, weil er keine so direkte, keine so schlichte und irgendwie nichtssagende Antwort erwartet hatte. Er hatte zwar gehofft, endlich Klarheit zu bekommen, aber dass Gary ihm jetzt wirklich ohne großes Drumherumreden geantwortet hatte, dass er jetzt wusste, was er längst vermutet hatte, überforderte ihn ein wenig. „Aber das ist vorbei. Du musst dir also keine Gedanken machen.“ „Ich –“ Doch er brach ab und schwieg, weil er ganz offensichtlich nicht so recht wusste, was er eigentlich sagen wollte, und es entlockte Gary ein für ihn untypisches, sanftes Lächeln. Ein wenig peinlich berührt wandte Ash den Blick ab. „Wie… ist es denn dazu gekommen?“ „Das war gar keine spannende Geschichte… Vor anderthalb Jahren etwa bin ich mal wieder in die Gegend von Azuria gekommen. Wir liefen uns zufällig über den Weg, kamen ein wenig ins Gespräch und haben dann mehr Gefallen aneinander gefunden, als wir zuerst gedacht hatten.“ Ash nickte verstehend. „Es war eine Weile ganz nett, aber dann…“ Gary schwieg und Ash sah auf, überrascht, dass diese eben noch so ungezwungene Erzählung plötzlich ernster zu werden schien. „Aber dann ist das mit der Arena passiert. Ich war nicht dabei, ich hatte mich nie sehr für diese Wassershows begeistern können, und Misty hatte mir versichert, dass es ok war, wenn ich mich lieber meinem Pokémontraining widmen wollte, weil doch die Liga bald wieder anstand.“ An der er letztendlich genauso wenig wie Ash teilgenommen hatte. „Jedenfalls war nach diesem Vorfall alles anders. Misty hatte andere Sachen im Kopf und ich das Gefühl, dass ich trotz allem hätte da sein sollen, auch wenn das nichts geändert hätte. Letztendlich haben wir eingesehen, dass das mit uns nicht mehr funktionierte und sind wieder unserer eigenen Wege gegangen.“ Ash nickte abermals. Das war eine umfangreichere Erklärung gewesen, als er es erwartetet hatte. Und trotzdem fand er, dass eine wichtige Sache noch nicht gesagt war. „Hast du sie denn… na ja…“ „…ja?“ „…geliebt?“ Gary war überrascht von dieser Frage und zu seiner weiteren Verwunderung musste er selbst einen Moment darüber nachdenken, nickte dann aber. „Ja, doch, ich denke, irgendwie schon. Und sie ist mir ja auch immer noch unglaublich wichtig. Aber die romantischen Gefühle für sie überlasse ich jetzt besser anderen.“ Er überlegte, ob er seinen Worten noch eine weitere Bemerkung folgen lassen sollte, wurde aber davon abgehalten, als ein plötzliches Husten ihn überrumpelte. Die eine Hand vor den Mund gepresst, die andere zur Faust geballt wandte er sich ab, wollte die Überraschung und die Besorgnis in Ashs Blick nicht sehen. „Alles in Ordnung?“ Er nickte, presste die Lippen aufeinander, versuchte, seinen Körper wieder unter Kontrolle zu bekommen. Als es ihm gelang, legte sich ein schnippisches Lächeln in seine Mundwinkel. „Alles in Ordnung. Muss mich verschluckt haben oder so.“ „Okay, wenn du meinst…“ Nichts war in Ordnung. Sein Brustkorb brannte und er spürte deutlich, dass das noch nicht alles gewesen war. „Na ja, aber damit dürften deine Fragen wohl beantwortet sein.“ Er musste hier raus. „Also kannst du jetzt sicher beruhigt schlafen.“ Er musste hier raus, bevor Ash noch mehr sah, als er schon gesehen hatte. Ash nickte, nicht so sehr aus Zustimmung, sondern viel mehr aus Überforderung. Der plötzliche Stimmungsumschwung, Garys so plötzlich wieder abweisendes Verhalten irritierten ihn und er wusste nicht damit umzugehen. Gary hätte gern noch abgewartet, bis Ash sich wirklich schlafen legte, bis er eingeschlafen war und er ungesehen davonschleichen konnte. Aber so lange konnte er nicht warten. Wortlos stand er auf, wich erneut Ashs fragendem Blick aus. „Wo willst du hin?“ „Raus. Nur kurz. Schlaf du schon mal.“ Es musste ihn zufriedenstellen. Er konnte ihm keine anderen Antworten geben. „…Gary, ist wirklich alles ok?“ Hinter zusammengepressten Lippen brachte er irgendwie ein 'Ja.' zustande.   Seine Füße stolperten über trockenes Gras, weg von Marys Pension, weg von seinen Freunden, die so ahnungslos bleiben sollten, wie sie es im Moment waren. Ziellos trottete er vor sich hin, nun wieder heftiger hustend, bis das Geländer einer kleinen Böschung ihn stoppte. Halt suchend krallten sich seine Hände um die Eisenbrüstung. Das Husten dauerte an. Seine Brust schmerzte, sein Hals schmerzte, das kalte Metall unter seinen Händen schmerzte ebenso wie die ganze Situation, in der er sich befand. Das Husten wurde stärker, trieb ihm den Schweiß auf die Stirn, in den Nacken, aber der hämmernde Schmerz, der seinen ganzen Körper erfasst zu haben schien, ließ ihn nichts anderes wahrnehmen. Geistesgegenwärtig griff er in eine seiner Hosentaschen, zerrte ein Taschentuch daraus hervor und presste es sich vor die Lippen, hustete hinein. Tränen der Anstrengung traten ihm in die Augen, aber er konnte nicht einmal sie beachten, wartete nur, dass es endlich vorbei war, dass sein Körper ihm endlich wieder gehorchte. Mit unendlicher Erleichterung stellte er schließlich fest, wie das drückende Gefühl in seiner Brust langsam nachließ, wie das Husten schwächer wurde und der Schmerz sich zwar bei weitem nicht verflüchtigte, aber von Augenblick zu Augenblick so viel aushaltbarer wurde. Er sah auf das Taschentuch, sah die roten, unheilvollen Flecken, die sich dort ausbreiteten, und er konnte nicht verhindern, dass eine leichte, leise Angst in ihm aufkam. Aber eigentlich war das kein Grund, panisch zu werden. Es war nicht zum ersten Mal geschehen, und es würde nicht das letzte Mal gewesen sein. Er wusste es. Er wusste, woran er war. Mit einer energischen Bewegung legte er das Tuch zusammen, wischte sich mit einer sauberen Ecke über die Augen und stopfte es zurück in seine Tasche. Es war alles in Ordnung. Einen Moment noch, dann konnte er wieder zurück zu Ash gehen, der inzwischen bestimmt, hoffentlich schon schlief, und dann würde wieder alles normal und gut sein wie zuvor. Nur einen kurzen Moment noch. Ein leises Rascheln, eine leichte Bewegung in einem der Büsche neben ihm ließ ihn aufhorchen. Ein Pokémon? Dankbar für die Ablenkung richtete er seinen Blick zur Seite, aber als die kleine, schwarze Kreatur aus dem Blätterwerk hervortrat, krampfte sich seine Brust abermals zusammen, aber anders diesmal und viel, viel schmerzhafter. Warum? Warum ausgerechnet jetzt? Einen Augenblick lang betrachtete er das kleine Wesen, aber dann musste er den Blick abwenden. „Ich weiß, dass du nicht real bist. Mir machst du nichts vor.“ Als ob er so leicht zu beirren wäre. Als ob der Anfall von eben ihn so verletzlich gemacht hatte. Der Schatten verharrte für einen Moment an Ort und Stelle, dann wandte er sich zum Gehen. Gary seufzte. „…Nein, bleib ruhig.“ Der Schatten hielt inne, sah sich um und fand Garys Blick, der nun wieder auf ihm ruhte. Der Junge machte ein paar Schritte auf den Schatten zu, hockte sich zu ihm ins Gras und ließ seine Hand über das seidige Fell gleiten. „Ist egal. Für einen Abend lass ich mir gern etwas vorgaukeln.“ Kapitel 17: Begegnungen ----------------------- Der Sommerhimmel über Dansazu City erstrahlte erneut in dem unnatürlichsten, euphorischsten Blau, das er hatte aufbringen können, nur ganz selten von einem wie gemalten Wölkchen unterbrochen. Den Vormittag hatten zwei der drei Federn abermals mit dem Training mit ihren Elementarwaffen verbracht; mehr oder minder erfolgreich. Während Misty mehr und mehr zu der Erkenntnis kam, dass ihr filigrane oder präzise Waffen wie Degen oder Bogen mehr lagen als sperrige, vor allem auf Kraft ausgelegte Schwerter, hatte Ash es immerhin schon ein paar Mal öfter geschafft, Ellenki in die Form eines eben solchen zu führen und ein paar erste Kampfversuche damit unternommen. Aber dann hatten sie beschlossen, ihr Üben für den Rest des Tages ruhen zu lassen und sich anderen Plänen zu widmen. Es beschäftigte die drei noch immer, dass sie hier in Dansazu City mit Mary auf jemanden getroffen waren, der außer ihnen von der Legende der Federn wusste, der sogar so viel mehr über die Geschichte wusste als die derzeitigen Federn selbst. Ausgerechnet hier, ausgerechnet in der Stadt, vor dessen Küste die kleine Insel mit der geheimnisvollen Inschrift ruhte. Ein Zufall? Und wenn es kein Zufall war, wenn die Legende in dieser Gegend doch noch verbreiteter war, als Mary annahm? Sie hatte selbst zugegeben, dass sie schon lange mit niemandem mehr darüber gesprochen hatte, weil sie immer wieder erlebt hatte, dass sie doch niemand ernst nahm. Warum sollte es anderen dann nicht ähnlich ergangen sein? Warum sollte es in dieser Stadt nicht noch Weitere geben, die von der Legende wussten und die ihnen vielleicht etwas Hilfreiches erzählen konnten? Vielleicht, wenn sie nur angestrengt suchten, konnten sie so jemanden finden, und vielleicht brachte es sie der Erfüllung ihrer Aufgabe doch noch einen Schritt näher. Sicher, bisher hatten sie es ihre ganze Reise über strikt vermieden, über die Legende der Federn oder auch nur über die drei legendären Vögel zu sprechen, um kein Aufsehen zu erregen. Und so ganz wohl war ihnen nicht dabei, die Menschen in Dansazu City nach Dingen zu fragen, die sie eigentlich lieber vor ihnen verborgen hätten. Aber andererseits – was hatten sie schon zu verlieren? Ishi wusste schon lange, dass es sie gab, wer sie waren und wo sie sich aufhielten, vor ihr konnten sie sich längst nicht mehr verstecken. Und wenn sie sich einfach nur wie die üblichen Touristen nach einer alten Legende erkundigten, die ja immerhin zuletzt in dieser Gegend hier erwähnt worden war, würde wohl niemand in Panik geraten, der nicht ohnehin wusste, dass die Geschichte wahr war. Schlimmstenfalls würde man sie drei als Spinner und abergläubisch abtun. Also fingen Ash, Misty und Gary an, zu fragen. Noch einmal im Pokémoncenter, in den Hotels und Pensionen, in Restaurants und Supermärkten, an den Souvenirbuden und in den Souvenirläden, bei den Fremdenführern, die lauthals für ihre Rundfahrten durch die Stadt warben. Aber nichts. Dass man ihnen ab und an erzählte, dass es draußen auf dem Meer eine Insel gab, in deren Felsen angeblich etwas eingeritzt sein sollte, war das Höchste, was sie erreichten. Misty seufzte. „Ich weiß, ich sollte nicht mich nicht beschweren… Weil wir ja eh wussten, dass es nicht gerade wahrscheinlich ist, jemanden zu finden, der die Legende kennt. Aber frustrierend ist es trotzdem. Warum sind die Leute hier alle so ignorant, dass sie nicht einmal wissen, was direkt vor ihrer eigenen Insel passiert? Dass keiner die Legende für wahr hält, ok, aber dass die meisten nicht einmal wissen, dass sie existiert?“ Gary schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Sieh es ihnen nach. Dansazu City ist eben eine Touristenmetropole, und mit einer verstaubten, unrealistischen und alten Geschichte kann man kein Geld verdienen. Außerdem, was hätten wir davon, wenn mehr Leute wüssten, dass es die Legende gibt? Solange wir niemanden finden, der weiß, dass sie wahr ist und der uns am besten auch noch irgendwas erzählen kann, was wir noch nicht wissen, ist es doch gleich, ob die Leute hier die Inschrift kennen oder nicht.“ Misty nickte zustimmend. „Ja, du hast ja recht…“ Sie atmete noch einmal tief durch und stemmte dann die Hände in die Hüften. „Also schön, was soll's. Versuchen wir es eben weiter, vielleicht…“, sie sah sich um, „in dem Nudelsuppenrestaurant da vorn? Wir könnten sowieso langsam mal was essen.“ „Gute Idee. Was ist mit dir, Ash?“ Der Angesprochene nickte stumm, ohne wirklich zu registrieren, worum es ging. Den ganzen Vormittag über war er immer wieder in Gedanken versunken, Gedanken über die etwas seltsame Situation vom vorherigen Abend und darüber, ob er sie nicht doch noch einmal hätte ansprechen sollen. Entweder bei Gary, und eigentlich hatte er auch genau das in der vergangenen Nacht noch vorgehabt. Aber während er so auf seinem Bett gelegen hatte, sich darüber ärgernd, dass er zu perplex gewesen war, um Gary einfach nachzulaufen, hatte ihn letztendlich doch die Müdigkeit übermannt. Und dabei hätte er definitiv noch Fragen gehabt. Fragen danach, was plötzlich mit ihm los gewesen war, warum er ihre Unterhaltung so Hals über Kopf abgebrochen hatte. Aber vor allem hatte er auch noch Fragen zu ihrem eigentlichen Gesprächsthema gehabt. Es hätte ihn schon noch, oder sogar vor allem, interessiert, wie Misty die ganze Sache damals gesehen hatte und wie sie sie jetzt sah. Aber das waren wohl Dinge, die er wenn dann lieber mit dem Mädchen direkt besprechen sollte, statt Gary hinter ihrem Rücken über sie auszuhorchen. Aber war das etwas, das er in ihrer momentanen Situation einfach so ansprechen konnte? Was würde sie von ihm denken, dass es etwas so verhältnismäßig Belangloses war, das ihn beschäftigte? Andererseits fragte er sich schon, was diese kleine Begebenheit, nachdem er Misty vor Ishi gerettet hatte, zu bedeuten hatte. Ob sie etwas zu bedeuten hatte. Und ob er eigentlich wollte, dass sie etwas zu bedeuten hatte. Nur wichtiger als all diese Fragen, die er sich oder ihr immer noch stellen konnte, wenn sie die Welt erst einmal gerettet hatten, wäre es vielleicht gewesen, mit ihr über Garys seltsames Verhalten zu sprechen. Aber da heute Morgen nichts mehr an ihm an dieses eigenartige Ereignis von zuvor erinnert und er sich so normal wie immer gegeben hatte, hatte auch Ash letztendlich geschwiegen. Vielleicht interpretierte er zu viel in alles hinein. Vielleicht war er einfach nur enttäuscht, dass ihr Gespräch ein so jähes Ende genommen hatte, gerade, als es für ihn erst angefangen hatte. „Ash, kommst du?“ Er bemerkte, dass er sich von seinen eigenen Gedanken hatte ablenken lassen, und lief den anderen beiden eilig hinterher.   Das Restaurant war ein kleiner, aber sehr gemütlich eingerichteter Laden. Die maritim anmutende Dekoration an Wänden und vor den Fenstern, bestehend aus Muschelschalen, kleinen Netzen und hübsch geknüpften Tauen passte zwar nicht so ganz zu einem traditionellen Nudelsuppenrestaurant, dafür aber umso mehr zu dem Strandstädtchen, das Dansazu City nun einmal war. An Theke und um kleine Tischchen drängten sich die Gäste, und ein brummendes, aber nicht unangenehmes Stimmenwirrwarr erfüllte den Raum. Die drei sahen sich nach einem freien Platz um, aber in diesem Augenblick kam auch schon ein junger Mann auf sie zu, um die Hüften eine schwarze Schürze gebunden, in der Hand einen Notizblock, mit dem er ihnen freudig zuwinkte. „Willkommen, die Herrschaften, einen Platz für drei? Wenn Sie möchten, hier –“ Doch er brach ab, starrte mit einem Mal ungläubig auf die drei Jugendlichen und die Überraschung, als er sie erkannte, stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. „Ach du… die Knirpse! Wobei, eigentlich, so knirpsig seid ihr gar nicht mehr…“ Auch Ash und Misty traf nun die Erkenntnis, instinktiv gingen sie in Abwehrhaltung und Ash ertappte sich dabei, wie er nach einem Pokéball an seinem Gürtel greifen wollte, erinnerte sich jedoch rechtzeitig daran, dass er ja nur Zapdos bei sich trug und dieses hier loszulassen keine gute Idee war. „James!“ Also half nur der verbale Angriff. „Dann sind Jessie und Mauzi doch bestimmt auch nicht weit. Hat Team Rocket es immer noch nicht aufgegeben, anderen Leuten ihre Pokémon zu stehlen? Bringt aber nichts, ich hab Pikachu nicht dabei. Ihr könnt also –“ „Nun halt mal die Luft an, immer mit der Ruhe.“ Beschwichtigend hob James die Hände und versuchte den ersten Gästen, die sich irritiert umgewandt hatten, mit einem freundlichen Lächeln zu signalisieren, dass alles in Ordnung war. „Ja, Jessie und Mauzi sind auch hier. Aber was Team Rocket treibt, interessiert uns nicht mehr. Wir haben mit Team Rocket nichts mehr am Hut.“ „Ach, und das sollen wir euch glauben? Das ist doch wieder nur einer eurer Tricks, um den ahnungslosen Leuten hier ihre Pokémon abzuknöpfen.“ „Ich kann ja verstehen, dass ihr misstrauisch seid… aber bitte macht doch nicht so einen Aufstand, die Gäste werden schon unruhig.“ Sichtlich hilflos sah James sich um. „Oder schlimmer, Jessie könnte unruhig werden, und dann –“ Aber er kam nicht einmal mehr dazu, seinen Satz zu beenden. „Verdammt noch mal, was ist denn das für ein Lärm?!“ Da hob sich am hinteren Ende des Raums schon ein Vorhang und die zweite wohlbekannte Gestalt trat hervor. „James, kannst du nicht mal für Ruhe sorgen? Was ist denn überhaupt…“ Aber er sagte nichts, und er musste auch nichts sagen, weil sie in diesem Moment ebenfalls die drei Gäste erblickte und augenblicklich verstand, was hier vor sich ging. „Ach nee.“ Sie verschränkte die Arme vor ihrem Körper und blickte die Jugendlichen missmutig an. „Lasst mich raten: Wir haben uns jetzt… vier Jahre oder so nicht gesehen, ihr stolpert zufällig in dieses Restaurant, und statt mal einen Moment daran zu denken, dass in vier Jahren eine Menge passiert sein kann, macht ihr hier einen Aufstand und beschuldigt uns wer weiß welcher Absichten.“ „Eigentlich waren es fünf Jahre…“ „Ruhe, James, ich rede jetzt!“ „Aber Jessie, Liebes, du sollst dich doch momentan nicht so aufregen…“ „Ach was, ich bin schließlich nicht krank. Und ich rege mich nun mal auf, wenn hier drei nichts wissende Knirpse reinmarschieren, die allem Anschein nach nur vom Körper, aber nicht vom Geist her gewachsen sind und mir mit ihrem Gebrüll die Gäste vergraulen!“ Er verkniff sich den Kommentar, dass die meisten Gäste momentan vor allem wegen ihres Wutausbruchs verunsichert zu ihnen herübersahen. „Also, ihr habt jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder, ihr verschwindet sofort aus meinem Laden und tretet mir in eurem ganzen Leben nie wieder unter die Augen! Oder ihr setzt euch brav an einen Tisch, bestellt wie jeder andere auch und denkt mal ein bisschen darüber nach, dass ihr nicht von allem eine Ahnung habt.“ Ash und Misty sahen sich unschlüssig an, während Gary abwartend daneben stand. Er war diesen beiden, oder Team Rocket generell, während seiner Pokémonreisen nur selten begegnet, wusste aber, dass Ash und Misty sich unzählige Male mit ihnen hatten herumschlagen müssen. Ob sie ihnen jetzt vertrauen sollten oder lieber das Weite suchten, das überließ er also ihnen. „Na schön.“ Es war Ash, der als erster von ihnen wieder das Wort ergriff, ruhiger diesmal, wenn auch immer noch zögernd. „Du hast recht, wir haben uns lange nicht gesehen, und in so vielen Jahren kann eine Menge geschehen.“ Das hatte er schließlich mehrfach selbst erfahren. Also warum sollte es nicht wahr sein? Wenn er sich von allem abgewandt und allen misstraut hatte, warum sollen Jessie und James dann nicht das Gegenteil getan und sich wirklich ein anderes, ehrliches Leben gesucht haben? Irgendetwas an den beiden erschien ihm so echt, so wirklich, dass er mit einem Mal bereit war, ihnen zu glauben, oder ihnen wenigstens erst einmal in Ruhe zuzuhören. Und wenn sich das ganze doch als Scharade herausstellen sollte – nun, sie hatten in der Vergangenheit mehr als einmal über Team Rocket triumphiert, und für den absolut schlimmsten Fall wussten sie ein paar sehr mächtige Pokémon an ihrer Seite. „Wir bleiben.“ Jessie nickte zufrieden, nun ebenfalls ruhiger, und winkte eine Kellnerin herbei. „Tess, gib den dreien hier einen Tisch und nimm ihre Bestellungen auf.“ Dann wandte sie sich wieder an die drei Federn. „Ich helfe Mauzi eben in der Küche, dann komme ich wieder. Und wehe, es gibt hier noch mal so einen Aufstand!“ Sie ließen sich von dem Mädchen an einen der Tische setzen, wählten aus der Karte, die sie ihnen gegeben hatte, beobachteten, wie James seinerseits eifrig zwischen den Gästen umhereilte, die sich inzwischen beruhigt und die kleine Auseinandersetzung von zuvor scheinbar schon wieder vergessen hatten. Es war ein wenig seltsam, und das Seltsamste war vielleicht, dass Ash mit einem Mal nicht mehr misstrauisch war, und Misty ebenfalls nicht, das glaubte er an ihrer entspannten Körperhaltung und Mimik ablesen zu können. „Schon komisch, oder?“ Er legte seine Hände um das Wasserglas vor sich, drehte es hin und her und beobachtete die Lichtreflexionen. „Die Vorstellung, dass die zwei, oder die drei, jetzt tatsächlich rechtschaffene Leute sein sollen? Das hätte ich mir damals niemals vorstellen können, und auch nicht, dass ich es irgendwie glauben würde, wenn es passieren würde.“ Anderseits hatte er sich sicher auch niemals vorgestellt, sein Ziel, der größte Pokémonmeister aller Zeiten zu werden, von einen Tag auf den anderen aufzugeben. „Ja… aber wenn Jessie und James es geschafft haben, ihr kriminelles Leben hinter sich zu lassen und noch mal ganz von vorn zu beginnen, dann muss es doch auch irgendwie möglich sein, den Ishi-Menschen zu retten. Menschen können sich ändern, selbst, wenn sie vielleicht viele und große Fehler begangen haben. Gary nickte zustimmend, aber sie konnten ihr Gespräch über ihre Mission nicht vertiefen, da sich in diesem Moment Jessie und James wieder zu ihnen gesellten, die eine mit noch immer etwas säuerlicher Miene, der andere beschwichtigend wie eh und je. „So.“ Mit verschränkten Armen ließ Jessie sich auf einem Stuhl am Tisch der drei nieder. „Und bevor wir jetzt irgendwas erzählen, erst mal raus mit der Sprache – was führt euch überhaupt in diese Gegend? Ich weiß, Dansazu City ist bei Touristen unglaublich beliebt, aber ihr drei seht mir nicht so aus, als würdet ihr hier Urlaub machen. Und wieso hast du gesagt, du hast Pikachu nicht bei dir? Ich hab dich, glaube ich, noch kein einziges Mal ohne gesehen.“ Sie hätten vielleicht einen Moment darüber nachdenken sollen, welche Geschichte sie Team Rocket – oder jetzt eben nicht mehr Team Rocket – auftischen sollten. Umso überraschter waren Misty und Gary, als Ash ohne jedes Zögern das Wort ergriff. „Wir sind wie immer auf einer Pokémonreise, was sonst sollten wir am anderen Ende der Welt machen? Ich habe Pikachu und auch meine anderen Pokémon nicht dabei, weil ich noch mal ganz von vorn beginnen wollte, so, als hätte ich meine Reise gerade erst begonnen. Als neue Herausforderung, sozusagen. Ich habe nur ein einziges Pokémon bei mir, eines hier aus der Region.“ Er klopfte sich vielsagend auf die Tasche mit dem Pokéball darin, die seine ungewöhnliche Farbe und den geheimen Inhalt verborgen hielt. „Und Misty und Gary begleiten mich, weil das Reisen zusammen mehr Spaß macht.“ „Und weil er mir auch nach sechs Jahren immer noch ein neues Fahrrad schuldet.“ Ein unterdrücktes Lächeln huschte über Ashs Lippen, und fast hätte es die Fassade gebrochen, die er soeben errichtet hatte. „Was ihr nicht sagt…“ „Und wie seid ihr hier gelandet? Und wie kam es überhaupt dazu, dass ihr Team Rocket verlassen habt?“ „Kennst du das Gefühl, wenn du eines Morgens aufwachst und dir denkst: 'So kann es nicht weitergehen'?“ Jessie sah die drei eindringlich an. „Ich meine, wir waren aus ganz verschiedenen Grünen zu Team Rocket gekommen, aber weder mir, noch James oder Mauzi hatte es das gebracht, was wir uns davon erhofft hatten. Wir waren nichts weiter als ein paar tölpelhafte, erfolglose Kriminelle und ständige Fußabtreter für den Boss. Also haben wir eines Tages beschlossen, dass es reicht. Wir haben Team Rocket den Rücken gekehrt, was einfacher war, als wir befürchtet hatten, weil uns dort scheinbar niemand vermissen würde. Mauzi haben wir freigestellt, ob er sich uns anschließen oder zu Giovanni zurückkehren will, und dann haben wir drei so viel Abstand wie nur irgendwie möglich zwischen uns und unsere Vergangenheit gebracht. Wir haben uns mehr schlecht als recht durchgeschlagen, haben die schlechtbezahltesten Jobs gemacht, um uns irgendwie über Wasser zu halten, aber irgendwie haben wir auch diese Zeit überstanden.“ „Weil wir uns hatten.“ Jessie sah auf, als sie mitten in ihrer Erzählung unterbrochen wurde, schwieg dann aber. „Schließlich war nicht alles an der Zeit bei Team Rocket schlecht gewesen. Wir hatten gelernt, auch in den miesesten Zeiten zusammenzuhalten, und wir hatten gelernt, mit allen möglichen Situationen zurechtzukommen. Nach und nach haben wir es geschafft, sogar ein bisschen Geld anzusparen, und dann haben wir alles auf eine Karte gesetzt und dieses Restaurant eröffnet. Es war ein bisschen heikel, aber es hat sich gelohnt und ich würde es jederzeit wieder tun.“ Fast liebevoll ließ er seinen Blick durch den Raum, über die vergnügten Gäste schweifen. „Aber dass es so gut funktionieren würde, hätten wir dann auch nicht gedacht. Ich meine, jetzt haben wir sogar eine eigene Angestellte, was so gar nicht geplant war, aber vieles im Leben kommt eben anders, als man denkt.“ „Richtig, ursprünglich hatte Mauzi die Gäste bedient, das kam bei den Leuten ganz gut an, so ein sprechendes Pokémon.“ „Auch, wenn er es nie gern gemacht hat und jetzt ganz froh ist, dass er in der Küche stehen kann und sich nicht mehr zur Schau stellen muss.“ „Miauz, genau!“ Überrascht fuhren Jessie und James herum, als sie hinter sich die Stimme des Pokémons hörten. „Mauzi! Solltest du nicht eigentlich hinten sein?“ „Schon, aber ich habe gehört, dass wir prominente Gäste haben, und da muss ich doch wenigstens mal kurz vorbei schauen.“ „Nichts da, scher dich sofort wieder an die Arbeit!“ Jessie stand auf und rückte den Stuhl zurecht, auf dem sie gesessen hatte. „Wir waren ohnehin gerade fertig. James, kümmere dich dann bitte auch wieder um die Gäste. Ich geh mit Mauzi zurück in die Küche.“ Er nickte und sah ihr einen Moment nach, bevor er sich wieder den drei Jugendlichen zuwandte. „Und? Glaubt ihr uns?“ Irgendwie war es eine seltsame Frage, fast ein wenig überflüssig, aber als Ash nun bekräftigend nickte, fühlte es sich richtig an, dass sie gestellt worden war. „Ja, wir glauben euch. Und wir wünschen euch alles Gute für die Zukunft.“ „Euch auch.“ James lächelte. „Was auch immer ihr damit vorhabt.“ Dann ließ er die drei ohne ein weiteres Wort sitzen und ging wieder seiner eigentlichen Arbeit nach. Fast sofort danach erschien die junge Kellnerin wieder, stellte vor ihnen ihre Bestellungen ab und schenkte jedem ein freundliches Lächeln, wobei sowohl Ash als auch Misty auffiel, dass diese Geste bei Gary ein paar Augenblicke länger andauerte. Und auch, als sie den dreien sagte, dass sie sich einfach melden sollten, wenn sie noch irgendeinen Wunsch hatten, lag ihre Aufmerksamkeit einen Moment länger auf dem Jungen, der davon jedoch nichts zu bemerken schien. „Ich glaube, du gefällst ihr“, sagte Misty mit einem Schmunzeln auf den Lippen, als das Mädchen gegangen war. „Wem?“ „Na, der Kellnerin. So wie die dich angesehen hat…“ „Ist mir nicht aufgefallen.“ „Im Ernst? Sogar ich hab mitbekommen, dass sie dich angestarrt hat.“ Ash sah ihn überrascht an und Misty nickte zustimmend. „Du hast doch früher keine Gelegenheit ausgelassen, um zu flirten. Oder ist sie nicht dein Typ?“ „Haben wir im Moment nicht ganz andere Sorgen als so etwas?“ „Ach, ich weiß nicht.“ Misty füllte ihre Sprechpause mit einem Löffel Suppe. „Ist es nicht gut, wenn wir auch ein 'Danach' haben, auf das wir uns freuen können? Ich weiß, wir haben eine sehr wichtige Aufgabe und das sollte immer an erster Stelle stehen. Aber wir haben doch auch noch ein Leben danach. Warum nicht jetzt schon damit anfangen, schöne Erinnerungen für morgen zu schaffen?“ Gary schwieg, schien nachzudenken und schüttelte dann den Kopf. „Morgen werdet ihr beide wieder trainieren, wir haben bis dahin vielleicht jemanden gefunden, der noch etwas über die Legende weiß, und falls nicht, sollten wir uns Gedanken darüber machen, wie es jetzt weitergehen soll.“ Misty verdrehte genervt die Augen, verkniff sich aber einen Kommentar dazu, dass Gary ganz genau wusste, was für ein 'morgen' sie gemeint hatte. „Meint ihr, wir sollten noch mal zur Legende gehen? Nachschauen, ob wir vielleicht noch irgendetwas übersehen haben?“ Ash sah die anderen beiden fragend an. „Ich glaube nicht, dass das was bringt“, kam die Antwort von Gary. „Wir haben die Inschrift auf den Felsen doch sehr sorgfältig untersucht und jedes Wort abgeschrieben. Außerdem hat Mary doch auch gemeint, dass die Legende so, wie wir sie jetzt kennen, komplett ist.“ „Die Legende?“ Ash, Misty und Gary zuckten innerlich zusammen, als von der Kellnerin, die gerade am Nachbartisch ein paar Schüssel zusammengeräumt hatte, diese Worte und der dazugehörige fragende Gesichtsausdruck kamen. „Meint ihr die Inschrift in den Felsen draußen auf der Insel? Ihr habt sie gelesen?“ Für einen Moment befürchteten die drei Federn, sie hätten vielleicht zu viel gesagt, hätten nicht so unachtsam erwähnen sollen, dass sie drei etwas mit der Legende zu tun hatten. Aber dann – war das hier vielleicht die Chance, nach der sie gesucht hatten? Ganz offensichtlich wusste dieses Mädchen ja zumindest, dass die Inschrift existierte. „Ja, genau die… Weißt du zufällig was darüber?“, fragte Ash. „Nicht viel.“ Die Kellnerin stellte die Schüsseln wieder auf den Tisch und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. „Nur, dass es sich bei der Inschrift um eine Legende handeln soll, die sich um Mew, Arktos, Lavados und Zapdos dreht. Und ihr habt sie wirklich gelesen? Entschuldigt, wenn ich so neugierig frage. Aber ich… arbeite im Moment an einem Buch über Pokémon-Legenden und –Sagen aus der ganzen Welt. Ich bin überhaupt nur wegen dieser Legende hier in Dansazu City und war überrascht zu hören, dass ihr sie gesehen habt. Ich bin nämlich bisher nicht dazu gekommen, zu überprüfen, ob dort wirklich etwas in den Felsen steht. Ohne Pokémon ist man heutzutage nur wenig mobil.“ „Ja, es gibt wirklich eine Inschrift auf der Insel, und sie handelt von einer Legende um die drei Vogelpokémon und Mew. Wir interessieren uns auch ein bisschen dafür, weißt du.“ „Ah, verstehe.“ Sie lächelte die drei an und schien einen Moment nachzudenken. Dann fuhr sie fort. „Vielleicht könnten wir uns mal ein bisschen darüber austauschen, vielleicht hilft uns das ja irgendwie gegenseitig weiter.“ Sie wussten nicht, ob das Mädchen wirklich irgendwelche hilfreichen Informationen für sie hatte, oder ob ihre Kontaktfreudigkeit vielleicht doch nur an Gary lag. „Klar, wieso nicht.“ Aber was hatten sie schon zu verlieren. „Prima! Wollen wir dann vielleicht –“ „Tess, schwatz nicht so viel, hilf mir hier lieber mal!“ „Ja!“ Sie seufzte. „Ihr hört, ich muss arbeiten. Aber vielleicht habt ihr heute Abend Zeit, wenn ich fertig bin? Wir könnten uns unten am Strand treffen?“ Sie willigten ein, das Mädchen schenkte ihnen noch ein Lächeln und machte sich dann wieder an ihre Arbeit.   Viel später am Abend, während sich draußen am Strand drei Auserwählte mit einer Kellnerin trafen und die Sonne längst untergegangen war, lag das kleine Nudelsuppenrestaurant in Ruhe und inzwischen verlassen da. Nur ein schwaches Licht im Inneren verriet, dass sich immerhin seine Besitzer noch darin aufhielten und die Vorbereitungen für den nächsten Tag trafen. James war soeben damit fertig geworden, die Stühle auf die Tische zu stellen und Jessie griff gerade nach einem Besen, um den Raum auszufegen. Er nahm ihn ihr aus der Hand. „Lass mich doch machen…“ Sie widersprach nicht, stützte stattdessen die Unterarme auf die Theke, lehnte den Kopf auf ihre Hände und blickte nachdenklich vor sich hin. „James, findest du nicht auch, dass irgendwas an den Knirpsen seltsam war? Ich meine klar, wir haben sie lange nicht gesehen… aber ich habe das Gefühl, dass da irgendwas in der Luft liegt. Irgendwas hat sie beschäftigt, irgendetwas, worüber sie nicht reden konnten. Irgendetwas scheint ganz und gar nicht in Ordnung zu sein.“ Er hatte stur auf den Besen gestarrt, aber jedes ihrer Worte gehört, jedem ihrer Bedenken Beachtung geschenkt. Nun stellte er das Putzgerät zur Seite und trat an sie heran. „Ich weiß, was du meinst. Aber ich kann dir leider auch nicht sagen, ob da was dran ist und ob es für uns irgendwie von Bedeutung ist. Aber ich verspreche dir“, und mit diesen Worten trat er hinter sie und legte die Arme um sie, „dass ich auf dich aufpassen werde. Auf euch.“ Sie lächelte, wenn auch unsicher, und legte eine Hand auf seine. Kapitel 18: Glück und Glas -------------------------- Vom Hauptstrand drang immer wieder schallendes Gelächter herüber. Eine Gruppe Jugendlicher schien es sich dort im Sand bequem gemacht zu haben und nun vergnügt den Tag ausklingen zu lassen; im Schein der einzelnen Laternen, die sie als Lichtquellen mitgebracht hatten, waren ihre Konturen nur schwach zu erkennen. Dort, wo die drei Federn und ihre neue Bekanntschaft sich aufhielten, weiter ab vom Badestrand, wo der feine Sand unförmigen Steinen gewichen war, war es ruhiger und die vier allein. Die Kellnerin, die Ash, Misty und Gary an diesem Mittag in Jessies und James' Restaurant kennengelernt hatten, war eben erst zu ihnen gestoßen und hatte sich sogleich für ihr spätes Kommen entschuldigt. „Schon gut, du hast ja gesagt, dass du wahrscheinlich lange arbeiten musst.“ Ash sah sie freundlich an. „Ich glaube, wir haben uns vorhin gar nicht vorgestellt? Ich bin Ash, und das sind Misty und Gary. Ähm, und du warst …?“ „Tess.“ Sie erwiderte das Lächeln und ließ sich neben den dreien auf dem Boden nieder. „Danke, dass ihr so lange gewartet habt. Ehrlich gesagt bin ich mir aber gar nicht sicher, ob ich euch nicht irgendwie zu viel Hoffnung gemacht habe. Ihr scheint ja sehr an der Legende der Federn interessiert zu sein. Ich fürchte aber, dass ich euch nicht wirklich etwas Neues darüber erzählen kann. Ich war nur überrascht, dass ihr die Legende lesen konntet.“ Ash schüttelte den Kopf. „Vielleicht erzählst du uns genau damit schon etwas Neues.“ Tess sah den Jungen fragend an, aber es war Misty, die weitersprach. „Ja, denn von dir hören wir zum ersten Mal, dass es die Möglichkeit gab, dass wir sie nicht lesen können. Alle anderen, die wir gefragt haben und die irgendetwas von der Legende wussten, haben nie angemerkt, dass sie vielleicht nicht für jeden sichtbar ist, oder irgendwie versteckt oder verschlüsselt.“ „Allerdings“, setzte Ash das Gespräch nun fort, „war es wirklich so, dass am Anfang nicht der komplette Text an den Felsen stand.“ Sie hatten eine Weile darüber gesprochen, ob sie dem fremden Mädchen wirklich davon erzählen sollten, oder ob es vielleicht schon zu viel über sie verriet, ob es schon verriet, dass sie mehr mit der Legende zu tun hatten als andere. Bis zuletzt waren sie nicht ganz sicher gewesen, was wohl die beste Entscheidung war, aber nun, da Tess hier bei ihnen saß, hatten sie das Gefühl, dass es in Ordnung war, wenn sie ihr davon erzählten. Und da sie sich in den letzten Tagen mehr als einmal auf ihr Gefühl verlassen hatten, hatten sie sich auch diesmal für diesen Weg entschieden. Wenn Tess annahm, dass die Legende wahr war, wenn sie wusste, dass es die drei Auserwählten gab, dann würde es vermutlich keinen Unterschied machen, wenn sie etwas ahnte. Und wenn sie nichts von alldem wusste, dann würde sie durch ihre Erzählungen jetzt auch keinen Verdacht schöpfen. „Nicht der komplette Text?“ „Ja, wir drei kennen uns zwar schon länger, waren aber unabhängig von einander auf der Insel.“ „Und erst, als ich als letzter von uns dort war, konnten wir die ganze Legende lesen.“ „So ist das also. Ihr musstet erst alle drei hin, bevor der Text vollständig war.“ Tess starrte an den dreien vorbei hinaus auf das Meer und schien angestrengt nachzudenken. Aber dann schüttelte sie den Kopf. „Tut mir leid, ich verstehe das leider auch nicht. Ich … habe eben nur davon gehört, dass nicht jeder die Legende lesen können soll, darum war ich ja so überrascht, dass ihr sie kanntet.“ „Na ja, irgendwer muss sie wohl lesen können, sonst gäbe es ja niemanden, der sie kennt. Und du kennst sie ja schließlich auch.“ Tess sah auf, als nun zum ersten Mal in diesem Gespräch Gary das Wort ergriff, und seine harschen Worte irritierten sie einen Moment, bevor sie nickte. „Ja, ich habe auf meinen Reisen davon gehört, ich weiß schon gar nicht mehr, wann und wo genau. Die Menschen kennen teilweise so viele fantastische Geschichten, auch wenn natürlich nicht alle von ihnen wahr sind. Ich kenne den Inhalt der Legende der Federn und ich weiß, dass es einen Auserwählten gibt, der durch die Kraft der Gedanken die Chance auf einen Neubeginn hat. Und auch, dass die drei legendären Vögel Arktos, Lavados und Zapdos mit drei weiteren Auserwählten einschreiten, wenn sie der Meinung sind, diese Kraft würde außer Kontrolle geraten. Aber ich habe die Legende nicht selbst gelesen, ich war nicht draußen auf der Insel. Wie gesagt, ohne Pokémon oder ein Boot, mit dem man dorthin kommen kann, ist es schwierig, die Legende mit eigenen Augen zu sehen.“ Mit einem Mal schien das Mädchen ein wenig traurig, und Ash hätte ihr gerne angeboten, ihr die Legende draußen in den Felsen zu zeigen. Aber da die drei ihr nicht offenbaren konnten, welche Pokémon sie mit sich führten und wie sie zur Insel gekommen waren, schwieg er. „Wie kommt es eigentlich, dass du kein Pokémon hast? Das ist heutzutage doch eigentlich sehr ungewöhnlich.“ Und darum verunsicherte es ihn auch, als Misty nun diese Frage stellte, und er hoffte, dass Tess nicht im Gegenzug neugierig wurde, wie sie drei eigentlich die Insel erreicht hatten. Nun, wobei, sie konnten immer vorgeben, dass jemand auf einem Boot sie mitgenommen hatte. Tess indessen lächelte müde. „Ja, ich weiß, es ist nicht normal, kein Pokémon zu besitzen. Es ist nicht so, dass ich Pokémon nicht mögen würde, und natürlich habe ich als Kind wie alle anderen eines bekommen.“ Sie dachte kurz nach. „Vor gut zehn Jahren war das jetzt. Aber ich hatte einfach kein Talent für das Trainieren und Kämpfen. Ich bin eine Weile durch das Land gezogen, eine sehr lange Weile sogar, mehrere Jahre lang. Aber es wurde einfach nicht besser und war am Ende nur noch frustrierend. Ich habe die wenigen Pokémon, die ich besaß, an Freunde gegeben und eingesehen, dass der Traum vom Pokémonmeister wohl nicht meiner war.“ Sie sagte es sanft, mit einen Lächeln auf den Lippen, aber irgendwie versetzte es Ash einen Stich. Vielleicht, weil ihre Geschichte seiner ein wenig ähnelte. Sich nach vielen Jahren eingestehen zu müssen, dass der Traum, den man hatte, sich wohl niemals erfüllen würde oder dass er einem einfach nicht mehr das bedeutete, was er einst getan hatte, war eine schmerzliche Erfahrung. Mit einem Mal tat sie ihm leid, und er hätte gerne irgendetwas Aufbauendes zu ihr gesagt, weil er sie nett fand und ja gerade selbst erlebte, dass man manchmal Altes von sich streifen musste und dafür etwas Neues fand, auf das man sich konzentrieren konnte. Vielleicht, wenn sie sich zu einem anderen Zeitpunkt kennengelernt hätten, wenn er nicht gerade in der Vollfüllung einer wichtigen Aufgabe gesteckt hätte, die nicht zuließ, dass sie zu sehr Kontakt zu anderen Menschen aufnahmen, vielleicht hätten sie Freunde werden können und er ihr zeigen, dass es immer wieder Chancen im Leben gab, noch einmal von vorn zu beginnen. Ein Jammer. Ash blinzelte, irritiert von dem Gedanken, der sich nicht anfühlte, als wäre er von ihm gekommen, und seine Brust verkrampfte sich, als ihm klar wurde, was das bedeutete. Ishi? Hier? Jetzt? Was sollte diese Aussage, wollte sie ihnen drohen? Er versuchte, einen möglichst unauffälligen Blick zu den anderen beiden Federn zu werfen, aber Misty und Gary schienen nichts bemerkt zu haben, also ließ er sich ebenfalls nichts anmerken. Er durfte Tess da nicht mit reinziehen, musste verhindern, dass Unschuldige in diesen Kampf involviert wurden, der nur sie drei und Ishi etwas anging. Es riss ihn aus seinen Gedanken, als Tess plötzlich aufstand, sich den Staub von ihrem Kleid klopfte und den dreien ein entschuldigendes Lächeln zuwarf. „Es tut mir leid, ich fürchte, ich habe eure Zeit verschwendet. Ihr hattet euch sicher mehr von mir erhofft und jetzt habe ich euch nur mit meiner Lebensgeschichte gelangweilt. Ich fand es trotzdem sehr nett, euch kennenzulernen.“ Sie warf einen kurzen Blick zu Gary, aber als sie ihn erwidert fand, wandte sie sich sogleich ab. „Na ja, wir laufen uns bestimmt noch mal über den Weg. Man sagt doch, man sieht sich immer zweimal im Leben. Also, macht's gut.“ Und mit einem letzten, freundlichen Lächeln ließ sie die drei zurück und machte sich auf den Weg zurück in die Stadt. Die drei Federn sahen ihr einen Moment lang schweigend nach, aber dann ergriff Ash das Wort. „Habt ihr Ishi eben auch gehört?“ „Was, Ishi war hier?“ Misty sah ihn entsetzt an und auch Gary stand die Verwunderung ins Gesicht geschrieben. „Ja, eben, kurz, während wir uns mit Tess unterhalten haben. Das heißt, ich weiß natürlich nicht, ob sie nicht immer noch in der Nähe ist.“ „Was wollte sie?“ „Ich weiß es nicht so genau … Ich hab darüber nachgedacht, dass es schade ist, dass wir uns nicht richtig mit Tess anfreunden können, weil wir ja niemanden in Gefahr bringen dürfen. Und da hat sie 'Ein Jammer' gesagt. Das war aber auch schon alles.“ „Klingt irgendwie, als würde sie uns verspotten.“ Gary legte die Stirn in Falten. „Aber es scheint ja nicht so, als würde sie jetzt einen Angriff planen. Also lasst uns zurück zu Mary gehen.“ Die anderen beiden stimmten zu und gemeinsam setzten sie sich in Bewegung, über das steinige Ufer zurück in Richtung Stadt, über die grasbewachsenen Hügel, die vorm Strand abfielen. Es war erstaunlich still, immer seltener drang von unten her ein vereinzeltes Lachen herüber, und die sanften Geräusche von allerlei Nachtgetier waren leise und unaufdringlich. Umso deutlicher war in diesem Schweigen mit einem Mal ein kurzes, klägliches Fiepen zu hören. Die drei Federn sahen sich an. War das eine Einbildung gewesen? Wohl kaum, wenn sie es alle drei gehört hatten. Aber was war es gewesen? Und wo kam es her? Aber da ertönte das Geräusch auch schon ein weiteres Mal, länger diesmal und noch eine Spur kläglicher. Es klang jetzt ziemlich deutlich wie das verzweifelte Jammern eines Pokémons. Die drei wandten sich von ihrem Weg ab und folgten, allen voran Ash, den Lauten in die Richtung, aus der sie zu kommen schienen. Dichtes Gestrüpp machte das Vorankommen ein wenig schwierig, aber Ash stapfte unbeirrt durch das hohe Gras weiter, bis zu einer kleinen Buschgruppe, die die Quelle des Klagens zu sein schien. Ohne große Umschweife ging Ash auf die Knie und schob mit den Händen die Äste eines Buschs zur Seite. „Ash, sei vorsichtig …“ Aber nicht minder neugierig als der Junge starrte nun auch Misty gefolgt von Gary in die Dunkelheit unter den Strauch, ohne jedoch etwas erkennen zu können. Auf Ashs Lippen aber legte sich ein Lächeln, als er zwischen den Blättern und Ästchen eine kleine, pelzige Gestalt ausmachte. „Na, was bist du denn für ein kleines Ding? Wie kommst du denn hierher, hm?“ Seine Stimme war sanft und leise und er hoffte, das Pokémon, das ihn nun mit großen Augen ein wenig ängstlich ansah, damit beruhigen zu können. „Was ist es denn?“ Ash antwortete ihr nicht, sondern streckte vorsichtig die Hand aus. „Na komm her, mein Kleines. Wir tun dir nichts …“ Er reckte die Hand noch ein wenig weiter, verschwand nun seinerseits fast unter dem Busch, und als er kurz darauf wieder unter ihm hervorkam, hatte er ein kleines, braunes Pelzknäuel im Arm. „Es ist ein Evoli.“ Das kleine Pokémon ließ ein klagendes 'Eee!' ertönen. „Ist es verletzt?“ Ash schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Ich weiß nicht, warum es so gejammert hat. Vielleicht ist es jemandem ausgebüxt und ruft jetzt nach seinem Trainer.“ „Und dann sucht es niemand?“ Misty dachte einen Moment nach. „Wilde Evoli gibt es nur ganz selten, und so zutraulich, wie es ist, hat es sicher jemandem gehört.“ „Du meinst, es wurde von seinem Trainer freigelassen?“ Gary, der bis zu diesem Moment nichts gesagt und dem Evoli nur einen kurzen Blick geschenkt hatte, mischte sich nun doch in das Gespräch ein. „Misty meint, es wurde ausgesetzt. Den meisten Pokémon macht es nichts aus, wieder in die Wildnis entlassen zu werden, weil sie auch dort sehr gut zurechtkommen. Aber es stimmt schon, Evoli gibt es nur sehr selten in freier Wildbahn, und da sie so anhänglich und zutraulich sind, finden sie sich dort nicht mehr zurecht, wenn sie einmal an Menschen gewöhnt waren. Außerdem“, er griff an den Hals des Pokémons, ignorierte das überraschte Quieken und strich vorsichtig das Fell zur Seite, sodass ein abgetragenes Halsband und die Reste einer Lederleine sichtbar wurden; der dichte Pelz hatte beides bis eben verborgen gehalten. „War es irgendwo angebunden. Also, wenn es nicht doch jemandem abgehauen ist, wurde es definitiv ausgesetzt.“ Ash nickte. „Dann sollten wir es erst mal mitnehmen. Lasst uns noch schnell im Pokémoncenter vorbeischauen. Um sicherzugehen, dass es nicht doch irgendwie verletzt ist. Und vielleicht vermisst es ja doch jemand …“   Im Pokémoncenter hatte niemand ein Evoli als vermisst gemeldet und Schwester Joy konnte sich auch nicht erinnern, in der letzten Zeit eines gesehen zu haben. Damit stieg die Wahrscheinlichkeit, dass jemand das kleine Ding ausgesetzt hatte. Immerhin war es kerngesund, nur ein wenig ausgehungert, aber nachdem es in wenigen Minuten eine beachtliche Menge Pokémonfutter verdrückt hatte, war es zusammengerollt und seelenruhig eingeschlafen. „Und was machen wir jetzt damit?“ Ash betrachtete das schlafende Bündel in seinem Schoß. „Normalerweise würde ich ja sagen, einer von uns soll es behalten, und Schwester Joy hat ja auch gesagt, das Pokémoncenter ist überfüllt und es wäre gut, wenn das Evoli schnell einen neuen Trainer findet. Falls es doch jemand sucht, können wir es ja immer noch zurückgeben …“ „Aber wir können es ja schlecht mitnehmen. Wir haben extra unsere anderen Pokémon zuhause gelassen, um sie nicht in Gefahr zu bringen, jetzt können wir das Kleine nicht bei uns haben.“ Ash nickte zu Mistys Worten. „Dann schicken wir es am besten morgen früh zu Professor Eich. Heute Nacht behalte ich es erst mal bei uns. Es soll nicht denken, dass es schon wieder abgeschoben wurde.“ Misty stimmte ihm zu während Gary nur abermals schwieg, ein leichtes Husten unterdrückend.   Das Evoli schlief weiter, als Ash es auf seiner Hälfte des Doppelbetts absetzte, zuckte nur kurz mit den Ohren und rollte sich dann noch ein wenig dichter zusammen. Ein Lächeln huschte über Ashs Gesicht, während er sich nun selbst auf seinem Bett niederließ. „Ich merke gerade mal wieder so richtig, wie sehr ich meine Pokémon vermisse, ganz besonders Pikachu. Ich bin so froh, wenn das alles hier zuende ist und ich endlich zu ihnen zurück nach Hause kann.“ Er sah hinüber zu Gary, und dass der Junge sich wie in letzter Zeit häufig in Schweigen gefüllt hatte, machte es ihm nicht gerade einfach. „Wie ist es bei dir, Gary? Wir haben uns so lange nicht gesehen, ich weiß überhaupt nicht, was du inzwischen alles für Pokémon hast.“ Er dachte einen Moment nach, sah kurz auf das Evoli und dann wieder zurück zu Gary. „Hey, du hattest doch auch mal ein Evoli! Dass ich da vorhin nicht dran gedacht hab. Ist ja kein Wunder dann, dass du dich so gut mit ihnen auskennst.“ Garys Miene blieb undeutbar. „Ja, ich hatte eines.“ „Vielleicht solltest du das Kleine hier dann nehmen. Aus deinem hast du ein Nachtara gemacht, nicht wahr?“ Er lachte leise. „Das ist so lange her … Bestimmt ist es inzwischen sehr stark geworden. Und bestimmt vermisst du es und deine anderen Pokémon genauso wie ich meine, stimmt's?“ Er lächelte ihn aufrichtig an. „Ich besitze keine Pokémon mehr.“ Das Lächeln erstarb. „Was? Aber wieso? Nicht einmal Nachtara? Ich hatte damals den Eindruck, dass es dir besonders am Herzen lag, dass es dein Lieblingspokémon war, so wie Pikachu für mich.“ Gary schwieg weiterhin, aber diesmal sah man ihm an, dass er mit sich rang, dass er anscheinend nicht wusste, ob er etwas sagen wollte oder nicht. Und schließlich gab er Ashs fragenden, eindringlichen Blick statt. „Nachtara ist gestorben.“ Die Verwunderung und das Entsetzen standen Ashs ins Gesicht geschrieben. „Das tut mir leid. Wirklich …“ Gary nickte. „Wie ist das passiert? Ich meine, falls du drüber reden willst.“ Er schüttelte den Kopf, fuhr im Gegensatz zu dieser Geste aber mit seinen Worten fort. „Es kam sehr plötzlich und unerwartet … Ich war mal wieder unterwegs, damals, gar nicht lange nachdem Misty und ich uns getrennt hatten. Wir waren draußen in den Wäldern, weit entfernt von jeder Zivilisation, haben gegen einen Haufen wilder Pokémon gekämpft, immer wieder. Teilweise, weil ich sie fangen wollte, teilweise als Training, und ab und an, wenn wir uns zu weit in die Reviere anderer Pokémon vorgewagt hatten, mussten wir auch kämpfen, um uns zu verteidigen. Weil ich Nachtara selten im Pokéball hatte, hat es mich oft von sich aus verteidigt, wenn wir von Pokémon angefallen wurden. Und in irgendeinem dieser Kämpfe, mit irgendeiner Verletzung, die es sich zugezogen hat, muss es sich irgendwas eingefangen haben, eine Infektion oder sonst was … Erst hab ich nur gedacht, dass Nachtara von den vielen Kämpfen erschöpft war, zumal wir auch lange in keinem Pokémoncenter mehr gewesen waren. Aber dann hab ich gemerkt, dass das nicht alles war, dass es krank war, dass die Tränke und Gegengifte, die ich dabei hatte, nicht halfen und dass wir dringend in ein Pokémoncenter mussten. Ich …“ Er suchte nach Worten. „Ich hab wie blöde nach dem nächsten Center gesucht, ich weiß noch, dass ich stundenlang mit Nachtara auf dem Arm durch den Wald gehetzt bin und wie erleichtert ich war, als wir uns endlich einer Stadt näherten.“ Der Blick auf seinem Gesicht wurde ausdruckslos. „Aber als wir das Pokémoncenter erreicht hatten, war es zu spät.“ Ash schluckte schwer. Sein Magen verkrampfte sich und seine Brust fühlte sich an wie zugeschnürt. „Danach hab ich meine anderen Pokémon an andere Trainer weitergegeben, in fähigere Hände. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, dass ich in der Lage war, mich um sie zu kümmern.“ „Das … das ist wirklich furchtbar. Das tut mir so leid, Gary.“ Es erinnerte ihn an sein allererstes Abenteuer mit Pikachu, als sich das kleine Pokémon vollkommen verausgabt hatte, um ihn zu beschützen. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. „Aber Gary …“ Er legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Es ist nicht deine Schuld. Ich weiß, das ist eine schreckliche Geschichte … Aber du konntest mit so etwas nicht rechnen, und du hast alles versucht, um dein Pokémon zu retten. Es ist nicht deine Schuld.“ „Denkst du, das weiß ich nicht?!“, fuhr Gary ihn an und Ash war überrascht und schockiert zugleich, Tränen in seinen Augenwinkeln zu sehen. „Meinst du, das macht es irgendwie besser?! Erzähl mir nicht, du würdest dir keine Vorwürfe machen, wenn Pikachu dir unter den Händen weggestorben wäre!“ Abermals spürte Ash, wie sich sein Körper verkrampfte. „Du weißt nicht, wie das ist, wenn jemand stirbt, den du in deinen Armen hältst … Und das ist gut so.“ Seine Stimme war nun leiser und ruhiger als zuvor, seine Miene gefasst. „Das ist eine Erfahrung, die ich niemandem wünsche. Ich weiß nicht, ob ich damals nicht doch etwas hätte tun können, ob ich Nachtara hätte retten können, wenn ich ein bisschen früher gemerkt hätte, was los war, wenn wir nicht so weit weg von der nächsten Stadt gewesen wären. Ich weiß, dass es nicht meine Schuld war, aber das ist etwas, was du nie wieder im Leben vergisst. Und ich weiß, dass ich es niemals wieder zulassen werde, dass jemand vor meinen Augen stirbt, egal, ob Mensch oder Pokémon …“ Da schenkte Ash ihm ein liebevolles Lächeln. Sachte zog er ihn näher an sich und lehnte seine Stirn gegen Garys. „Und das ist der Grund, warum du eine Feder geworden bist.“ Er berührte seine Lippen in einem kurzen, sanften Kuss und sah ihn danach wieder an. „Lavados muss es so leid sein, dass es gerade immer wieder die Feuerfeder ist, die den Ishi-Träger tötet. Ich denke, das ist der Grund, wie die drei legendären Vögel diesmal die Federn auserwählt haben. Mit dir haben wir jemanden, der mit aller Macht verhindern wird, dass der Ishi-Träger getötet wird, und mit Misty jemanden, der es tun kann, falls es keinen anderen Ausweg gibt.“ „Und was ist mit dir?“, fragte er heiser, nicht böse über den plötzlichen Themenwechsel. Ash dachte einen kurzen Augenblick nach, schüttelte dann aber den Kopf. „Ich weiß es nicht … Das werden wir wohl erst noch herausfinden.“ Er ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen und blieb bei dem Evoli hängen, das noch immer tief und fest schlief und sich von ihrem Gespräch eben nicht hatte aus der Ruhe bringen lassen. „Gary … Ich denke, du solltest das Evoli trotzdem nehmen. Oder vielleicht erst recht. Ich kann mir vorstellen, dass es schwer ist und bestimmt wehtut … Aber vielleicht hilft es dir auch, einen Schlussstrich zu ziehen und einen Neuanfang zu machen?“ Schweigend betrachtete Gary das Pokémon, das friedlich atmete und ein wenig so aussah, als würde es im Schlaf lächeln. Ein Neuanfang. Das war es doch, was in der Legende dem Ishi-Träger versprochen worden war, aber warum sollte es nicht auch auf die anderen Federn zutreffen? Doch Gary schüttelte den Kopf. „Nein … Nimm du es, oder gib es Misty. Ich kann nicht.“ Ash nickte überrascht, aber verständnisvoll. „In Ordnung.“ Er nahm das Evoli vorsichtig hoch und legte es behutsam neben seinem Kopfkissen ab, bevor er unter die Bettdecke schlüpfte. „Aber wenn du es dir anders überlegst …“ Er ließ seinen Satz unbeendet und Gary nickte ausdruckslos, bevor er sich von seinem Bett erhob und zur Tür ging. Ash sah überrascht auf. „Wohin gehst du?“ „Noch mal kurz an die frische Luft. Ich brauch einen Moment für mich allein.“ Ash nickte verstehend. Die Zimmertür fiel leise ins Schloss.   ***   „Zögern wir es nicht mehr länger heraus … Es wird Zeit, die Sache zu beenden.“ Kapitel 19: Unwahrheiten ------------------------ Als er nach dem Hörer griff, stellte er überrascht fest, dass er die Nummer noch immer auswendig kannte. Er hatte sie in den letzten Jahren nicht mehr gewählt, war, wenn überhaupt, für einen Besuch hinüber gelaufen, anstatt das Telefon zu benutzen; aber in seinem Gedächtnis war die Zahlenreihenfolge fest verankert. Mit einem Lächeln auf den Lippen, weil er sich über diese Tatsache irgendwie freute, wollte er zu wählen beginnen, doch da legte sich Garys Hand auf seine und hielt ihn davon ab. Fragend sah Ash den anderen Jungen an. „Ash, tu mir einen Gefallen, wenn du mit Opa sprichst … Sag ihm nicht, dass ich hier bin oder dass du mich getroffen hast.“ Verwunderung machte sich in seinem Gesicht breit. „Was? Warum nicht? Du hast dich all die Jahre nicht bei ihm gemeldet, meinst du nicht, er macht sich Sorgen und würde sich freuen, mal wieder was von dir zu hören?“ „Ja … Wahrscheinlich.“ Er wandte den Blick ab, unsicher, wie er seinen Satz fortführen sollte. „Er soll nicht wissen, dass ich kein Trainer mehr bin und wie es dazu kam. Schon gar nicht jetzt und einfach so nebenbei am Telefon. Aber wenn du ihm sagst, dass ich hier bin, dann wird er mit mir sprechen wollen, und ich kann ihm das nicht verheimlichen. Ich kann es ihm aber auch nicht sagen.“ Sehr langsam nickte Ash. Ja, er konnte einigermaßen nachvollziehen, was in Gary vorging. Und er verstand, dass jetzt wirklich nicht der optimale Zeitpunkt war, um diese große Last, die Gary seit so langer Zeit mit sich herumtrug, zu offenbaren. „In Ordnung, ich sage ihm nichts. Aber wenn das hier vorbei ist, dann kommst du wieder mit nach Hause, und dann sprichst du mit ihm.“ Gary nickte.   „Ja bitte? Hier ist das Labor von Professor Eich, und ich bin höchstpersönlich am Telefon!“ Ash hatte den Professor schon immer nur als Mann fortgeschrittenen Alters gekannt, der sich in seiner Art und seinem Verhalten seine Jugendlichkeit jedoch bewahrt hatte. Aber in den letzten Jahren war er zusehends gealtert, und auch wenn er es zu verbergen versuchte, so wie jetzt am Telefon, verriet etwas in seiner Stimme doch, dass er nicht mehr der gleiche Mann wie vor fünf Jahren war. „Professor Eich, ich bin es! Ash!“ Und auf die gleiche Art und Weise, mit der der Professor vorzutäuschen versuchte, dass die Welt noch immer in Ordnung war, setzte auch Ash nun ein Lächeln auf und hoffte, dass es seine Stimme erreichte. „Ash! Na so eine Überraschung! Delia hat mir erzählt, dass du mit Misty zu einer neuen Reise aufgebrochen bist. Du hast dich ja nicht mal mehr verabschiedet.“ „Ja, das ging alles ein wenig schnell.“ „Und wo seid ihr jetzt?“ „In Dansazu City.“ „Donnerwetter, da seid ihr ja wirklich weit gekommen. Dann habt ihr sicherlich auch schon eine ganze Menge erlebt?“ „Ach na ja, es geht.“ Er war froh, dass er sich dagegen entschieden hatte, die Bildfunktion des Telefons zu nutzen. „Hmhm, ist ja fast wie in alten Zeiten, nicht wahr? … Es ist wirklich lange her, dass ihr zu eurer Pokémonreise aufgebrochen seid.“ Seine Stimme klang mit einem Mal noch rauer als zuvor und Ash wusste, dass er nun nicht mehr über ihn und Misty, sondern über Gary sprach. „Professor Eich, weswegen ich eigentlich anrufe … Wir haben ein ausgesetztes Evoli gefunden. Im Pokémoncenter hier ist kein Platz dafür, darum würde ich es gerne behalten. Aber ich glaube, momentan wäre es besser für das Kleine, wenn es bei Ihnen wäre und erst mal wieder zur Ruhe kommen könnte.“ „Oh, ein Evoli?“ Ashs Hand verkrampfte sich um den Hörer und er erwartete, dass der Professor irgendetwas sagen würde, was er jetzt absolut nicht hören wollte. Aber nach kurzem Schweigen fuhr er gespielt gelassen fort. „Natürlich, dann schick es mir doch her.“ „Vielen Dank, Professor! Ich muss dann jetzt auch auflegen, wir haben noch eine Menge vor. Ich schicke Ihnen das Evoli sofort.“ „Mach das, Ash. Und viel Erfolg auf deiner Reise! Und grüß Misty von mir!“ „Mach ich.“ Er legte so viel Freude in seine Stimme, wie er nur konnte. Er fühlte sich wie ein Verräter.   „Na, hat alles geklappt?“ Ash nickte auf Mistys Frage. „Ja, das Evoli ist sicher bei Professor Eich angekommen. Ich denke, da wird es ihm erst mal gut gehen. Er lässt dich grüßen.“ „Oh, danke.“ „Und Gary“, der Angesprochene sah auf, „ich habe dir den Gefallen getan und dem Professor nicht gesagt, dass wir dich getroffen haben. Ich verstehe deine Gründe und ich respektiere sie, auch wenn es nicht gerade einfach war, ihm das zu verheimlichen.“ Misty sah überrascht auf, wollte wohl etwas sagen, aber Ash ließ sie nicht zu Wort kommen. „Aber dafür möchte ich, dass du Misty erzählst, was du mir gestern Nacht erzählt hast.“ Nun war es an Gary, ihn überrascht anzusehen, aber auch ihm ließ Ash nicht die Gelegenheit, etwas zu erwidern. „Ich weiß, dass das eine schwierige Sache ist und ich verstehe, dass du sie lieber für dich behalten willst. Aber darauf kann ich momentan leider keine Rücksicht nehmen. Wir sind darauf angewiesen, uns gegenseitig blind vertrauen zu können und dafür ist es meiner Meinung nach wichtig, dass wir alles übereinander wissen. Du hast mir schließlich auch von Mistys Vergangenheit erzählt, ihr kennt meine, und nun ist es an der Zeit, dass du ihr deine offenbarst.“ Für ein paar Augenblicke sahen sich beide Jungen schweigend in die Augen. Es war erstaunlich, mit welchem Ernst, aber auch mit welcher Kühle Ash diese Worte von sich gegeben hatte. Worte, die keinerlei Widerworte akzeptierten, und das verstand auch Gary, weshalb er nun langsam nickte und sich von der Bank, auf der er und Misty gesessen hatten, erhob. „Na schön. Aber nicht hier.“   Beinahe erschrak Ash darüber, wie gefasst Gary jetzt war, als er seine Geschichte ein zweites Mal erzählte. Hatte er in der vergangenen Nacht noch verzweifelt und unheimlich verletzlich gewirkt, so waren seine Worte diesmal knapp, sachlich und beinahe ausdruckslos. Es musste ihn Einiges an Überwindung kosten. Und auch ohne dass man ihm sein Leid ansah, schwieg Misty betroffen, unterbrach ihn kein einziges Mal und schien, als er geendet hatte, ihre Tränen zurückhalten zu müssen. „Das tut mir wirklich, wirklich sehr leid, Gary. Bist du deswegen spurlos verschwunden und hast dich nie bei einem von uns gemeldet?“ Er nickte und sie gab dem Bedürfnis nach, aufzustehen und ihn in den Arm zu nehmen. „Warum hast du uns denn nicht mal jetzt was gesagt? Das muss doch furchtbar sein, so etwas für sich zu behalten.“ Er löste sich sanft aus der Umarmung. „Es ist auch furchtbar, darüber zu reden. Und es ändert nichts.“ „Doch, das tut es.“ Die beiden sahen zu Ash. „Nicht für dich, aber für uns drei als Federn. Ishi hat beide Male einen wunden Punkt aus unserer Vergangenheit genutzt, um uns anzugreifen. Es liegt auf der Hand, dass sie bei dir das gleiche versuchen wird.“ „Ash hat leider recht. Ich weiß nicht, ob sie bei dir auch versuchen wird, dich in eine Traumwelt zu locken, in der Nachtara noch lebt. Aber sie weiß sicher von diesem Vorfall, und irgendwie wird sie versuchen, dieses Wissen für ihre Zwecke zu benutzen.“ „Hat sie ja schon.“ Fassungslosigkeit und Entsetzen machten sich in den Gesichtern der anderen beiden Federn breit. „Was?! Sie hat was? Und warum erzählst du uns das erst jetzt?“ Ash sah ihn wütend an. „Weil es nicht weiter wichtig ist! Mit so blöden Tricks kriegt Ishi mich nicht. Sie hat es einmal versucht und ich habe ihr klargemacht, dass ich darauf nicht reinfalle und sie sich die Mühe schenken kann. Ich weiß, dass Nachtara tot ist und dass es nichts gibt, was es zurückbringen könnte.“ „Dann hättest du uns erst recht davon erzählen können! Noch vor kurzem hast du mich quasi dazu gezwungen, euch zu erzählen, was mich 'damals' so belastet hat, und Mistys Vergangenheit hast du mir auch einfach so erzählt!“ Noch immer lag Wut in Ashs Blick. „Aber du machst aus allem eine große Geheimniskrämerei. Wo du warst, was dir passiert ist – und jetzt das! Wie sollen wir einander denn vertrauen, wenn du uns so etwas Wichtiges verheimlichst?!“ „Ich hab doch schon gesagt, es ist nicht wichtig!“ Auch Gary schien nun wütend zu werden, und es war ein seltsamer Anblick, weil er in den vergangenen Tagen immer nur still und abweisend gewesen war. „Und woher sollen wir wissen, dass du nicht schon längst unter dem Bann von Ishi stehst?! Bei mir ist das schließlich auch ganz schleichend passiert.“ „Dann ändert es eh nichts, oder?! Wenn du glaubst, dass ich so blöde bin, mich von Ishi bequatschen zu lassen –“ „Ach, soll das etwa heißen, Misty und ich wären blöd? Weil uns genau das passiert ist?“ „Jungs, bitte …“ Beschwichtigend hob Misty ihre Hände, brachte etwas Abstand zwischen die beiden aufgewühlten Federn. „Lasst nicht zu, dass wir Ishi gar nicht brauchen, um uns zu zerstreiten.“ Einen Moment lang sahen sich die beiden feindselig an, dann atmete Gary tief durch und senkte den Blick. „Entschuldige, Ash. Und du auch, Misty. Nein, das habe ich natürlich nicht gemeint. Ich weiß, dass ihr nichts dafür konntet, dass Ishi euch so beeinflusst hat. Und ich behaupte ganz bestimmt nicht, dass mir das nicht passieren könnte. Aber ich bin ganz sicher, dass in dieser Nacht, als sie es versucht hat, nichts passiert ist. Es gäbe keine Möglichkeit, wie sie Nachtara verwenden könnte, um mich irgendwie zu beeinflussen oder gegen euch aufzuhetzen. Ich glaube, das hat sie auch verstanden.“ „Na schön.“ Ash war nun ebenfalls ruhiger. „Hat sie irgendwas zu dir gesagt?“ Gary schüttelte den Kopf. „Ok … Aber damit wissen wir nun, dass sie es wirklich als nächstes auf dich abgesehen hat. Das heißt, wir sollten ab jetzt noch wachsamer sein. Und Gary? Keine Geheimnisse mehr, verstanden?“ Er nickte. „Keine Geheimnisse.“ Er unterdrückte das Husten.   ***   „Und ehe sie sich versehen, werden sie nicht mehr Seite an Seite kämpfen.“ Kapitel 20: Auf Abwegen ----------------------- „Ellenki!“ „Wazu!“ Der gewaltige Blitz, der dem gelb funkelnden Schwert entwichen war, zerbarst an dem Schild aus Eis, der sich erst Sekundenbruchteile vor diesem Zusammentreffen gebildet hatte. Aber schon im nächsten Augenblick stand der Junge direkt vor dem Mädchen und stieß sein Schwert kraftvoll nach vorn – der Eisschild zerbrach mit einem leisen Klirren. Misty wich zurück, versuchte, etwas Abstand zwischen sich und Ash zu bringen. Rasch hob sie die Hand, rief Wazu an und ließ einen filigranen Degen erscheinen, doch sie kam nicht dazu, ihn auch zu benutzen, da hatte die breite Klinge des Elektroschwerts ihn schon in Tausend Teile zerschlagen. Schweiß trat ihr auf die Stirn, während sich in Ashs Mundwinkel nun ein siegessicheres Lächeln kniete. Aber noch hatte er nicht gewonnen. Als er zum nächsten Angriff überging, hatte sie bereits einen neuen Eisschild geschaffen, an dem Ellenkis Funkenregen nun hilflos abprallte. Und schon im nächsten Moment ließ sie den Schild wie eine Eiswand nach vorne rasen, woraufhin Ash, der damit nicht gerechnet hatte, schützend sein Schwert vor sich hielt. Der Schild zersprang daran, gab aber dafür den Blick auf Misty frei, die nun einen blau glitzernden Bogen in den Händen hielt, einen funkelnden Eispfeil fest gespannt. Eindringlich sah sie Ash an.  „Du kannst noch immer keinen Schild mit Ellenki formen, oder?“ Ash ließ das Schwert sinken. „Nein, kann ich nicht.“ „Ok.“ Sie senkte ebenfalls ihre Hände; der Bogen verschwand. „Dann ist es zu gefährlich, hier weiterzumachen.“   „Kein schöner Anblick, die Federn gegeneinander kämpfen zu sehen, oder?“ Gary sah auf. Er hatte Mary nicht kommen hören, die sich nun schwerfällig neben ihm ins Gras setzte. Er wandte den Blick von ihr ab und richtete ihn wieder auf Ash und Misty, die nun mit einer neuen Übung begonnen hatten. „Nein, ist es nicht.“ Er verschwieg, dass er es schon einmal gesehen hatte und dass es damals kein Spiel, kein Training gewesen war, sondern bitterer Ernst. „Aber sie meinen, so könnten sie ihre Energien am besten trainieren.“ „Sie machen ihre Sache gut. Also denke ich, dass sie recht haben.“ Er entgegnete nichts. Auch Mary schwieg nun, beobachtete wie er eine Weile die Kampfübungen, die Ellenki- und Wazu-Rufe, das Zerschellen und Neuentstehen von Waffen und Schilden. Dann richtete sie ihren Blick wieder auf Gary. „Meinst du, ihr werdet es schaffen?“ Er sah sie an, die Spur eines verschmitzten Lächelns auf seinen Lippen. „Das ist eine komische Frage. Gibt es denn eine andere Möglichkeit? Sind wir nicht die 'Guten', die diesen Kampf gewinnen müssen? Ich meine, das ist kein Wettbewerb, keine Pokémonliga oder ein Sportturnier, wo man sein Bestes gibt, um am Ende möglichst gut abzuschneiden und sagen zu können, dass man alles versucht hat. Hier geht es um ein Menschenleben, und wenn sich die Sache schneller ausbreitet, als wir sie eindämmen können, vielleicht noch um so vieles mehr. Keiner würde wohl antworten: 'Mal sehen, wir werden es auf jeden Fall versuchen' … Deine Frage ist so ehrlich, dass sie mir Angst macht.“ „Und? Glaubst du, ihr schafft es?“ „Ja, das tue ich. Denn alles, was ich zulasse, dass man dem Ishi-Träger antut, werde ich mir niemals verzeihen können.“ „Dir geht es vor allem um diesen Menschen, nicht wahr? Ash und Misty versuchen vor allem, die Welt zu retten. Aber du …“ „Ich möchte die Welt genauso vor ihrem Untergang oder irgendeinem grauenhaften Schicksal bewahren. Und Ash und Misty sind genauso wie ich der Meinung, dass wir alles versuchen werden, um den Ishi-Träger zu beschützen.“ „Trotzdem.“ Sie betrachtete ihn ausgiebig. „… Du hast gesehen, wie jemand gestorben ist, nicht wahr?“ Seine Augen weiteten sich überrascht, aber er antwortete nicht. Sie nickte dennoch, verstehend, wissend. „Ich bin eine alte Frau. Ich habe viel erlebt und viel gesehen. Auch ich musste Lebewesen gehen lassen, die ich sehr geliebt habe. Zuletzt meinen Mann. Wenn man einmal gesehen hat, wie jemand stirbt, ist man nicht mehr der gleiche.“ Seine Brust verkrampfte sich. „Wie muss es da nur den drei Vögeln gehen, die das anscheinend immer wieder mit ansehen müssen … Kein Wunder dann, dass Lavados diesmal jemanden wie dich erwählt hat.“ Er stand auf, schweigend, sah sie nicht an und entfernte sich ohne ein weiteres Wort. Für eine Weile sah Mary nachdenklich in die Richtung, in die er gegangen war, obwohl sie ihn dort längst nicht mehr erblicken konnte. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Ash und Misty, die in diesem Moment ihr Training unterbrachen und auf sie zukamen. „Mary, wo ist Gary?“ Suchend sah Ash sich um, denn er hätte schwören können, dass der andere Junge vor einigen Minuten noch an der Seite der alten Frau gewesen war. Außerdem sah Gary ihnen jedes Mal zu, selbst wenn er sich an den Kämpfen nicht beteiligte. „Ich weiß es nicht genau. Wir haben ein bisschen geredet, über eure Aufgaben als Federn. Dann ist er wortlos aufgestanden und gegangen.“ Ash seufzte. „Das macht er in letzter Zeit ständig.“ Auch ohne sie anzusehen wusste er, dass beide Frauen ihn überrascht und fragend ansahen. „Von jetzt auf gleich irgendwohin verschwinden … Ich mein', ok, einmal war es, als er mir das von seinem Nachtara erzählt hat. Da versteh' ich's ja, wenn er ein bisschen Ruhe und Abstand brauchte.“ „Nachtara …“ Ash hatte eigentlich weitersprechen wollen, aber nun richtete er seinen Blick überrascht auf Mary, als sie den Namen des Pokémons leise und nachdenklich aussprach. „Ist das das Pokémon, das er … verloren hat?“ Ashs Verwunderung wuchs, und auch Misty war nun sichtlich irritiert. „Woher wissen Sie das, Mary? Hat Gary Ihnen etwa davon erzählt?“ „Oh, ich wusste es nicht, aber deine Reaktion zeigt mir, dass ich recht habe. Wundert euch nicht zu sehr. Mit dem Alter bekommt man ein Gespür für gewisse Dinge. Ich habe es mir einfach gut zusammengereimt.“ „Aha …“ Die Silben kamen langsam, zögerlich, und Ash versuchte sich an das zu erinnern, was er zuvor hatte sagen wollen. „Haben Sie mit Gary eben auch über Nachtara geredet, als er gegangen ist?“ „In gewisser Weise schon.“ „Dann ist es ja kein Wunder, wenn er sich wieder verkrümelt“, entgegnete Misty. „Ich werd' mal schauen, ob ich den Jungen irgendwo finde.“ Mary erhob sich vom Boden, mühsam, doch bevor Misty ihr aufhelfen konnte, hatte sie es aus eigener Kraft geschafft und trottete nach einem kurzen Abschiedswort davon, in die Richtung, in die zuvor Gary gegangen war. Erst, als sie außer Sichtweite war, durchbrach Ash das Schweigen. „Ich weiß nicht.“ „Hm? Was weißt du nicht?“ „Ob wirklich nur Nachtara der Grund dafür ist, dass Gary sich ab und zu davonmacht. Das war gestern nämlich nicht das erste Mal. Er hat das vorher schon gemacht, als wir uns abends in unserem Zimmer unterhalten haben.“ „Und worüber habt ihr euch da unterhalten?“ „Über dich.“ „Über mich?“ Ihre grünen Augen blitzten ihn verwundert an, und er musste den Blick abwenden und ärgerte sich darüber, dass ihn das Thema nun doch in Verlegenheit brachte. „Na ja … Mehr über euch. Also über eure Beziehung.“ Sie hätte wohl nicht verwundert sein dürfen, weil ihr durch Ashs Worte ein paar Stunden zuvor hätte klar sein müssen, dass er bereits alles wusste, was Gary ihm hatte erzählen können. Und trotzdem überraschte es sie, und vor allem hatte sie mit einem Mal ein schlechtes Gewissen und das Gefühl, nicht ehrlich zu Ash gewesen zu sein, weil sie es ihm nie selbst erzählt hatte. „Wie … seid ihr denn da drauf gekommen?“ „Na ja, ich war … neugierig? Ganz offensichtlich hattet ihr in den letzten Jahren irgendwann einmal Zeit miteinander verbracht, und ich wollte einfach wissen, was für Zeit das war. Er hat mir auch so ziemlich alles erzählt, denke ich, aber dann, mitten im Gespräch, hat er plötzlich abgebrochen und meinte, er müsse mal kurz raus. Hatte sich verschluckt, oder so. Ich war vollkommen perplex und hab gar nicht gerafft, was los war, und mich gefragt, ob ich ihn irgendwas Falsches gefragt hatte. Aber es hatte eigentlich nicht den Eindruck gemacht, als ob er mir irgendwas nicht erzählen wollte.“ Ash seufzte. „Und dann erzählt er uns heute nebenbei, dass Ishi versucht hat, ihn mit Nachtara auszunutzen. Ich weiß nicht, vielleicht war das sogar in dieser Nacht?“ „Wir hätten ihn mehr dazu fragen sollen.“ „Ja, hätten wir. Aber ich war vorhin so wütend, und jetzt würde es mir leid tun, Nachtara noch mal anzusprechen … Weißt du, ich will ihm ja glauben, wenn er sagt, da ist nichts mit Ishi passiert. Aber ich weiß einfach nicht, ob er das selbst einschätzen kann. Und dass er sich jetzt wieder mal allein davonmacht, dass er immer erst auf Nachfragen irgendetwas erzählt … Wenn ich ehrlich bin, macht es mir das etwas schwierig.“ Er hatte sagen wollen, macht es mir das etwas schwierig, ihm zu vertrauen, aber dann hatte er es doch nicht fertiggebracht, diese Worte auszusprechen. Durfte er soweit gehen? Durfte er wirklich denken, dass er anfing, Gary zu misstrauen? Wenn die Federn anfingen, aneinander zu zweifeln, war das dann nicht schon der Anfang vom Ende? Sie mussten einander vertrauen, blind, in jeder erdenklichen Situation, sonst würde Ishi leichtes Spiel mit ihnen haben. Er schüttelte den Gedanken beiseite. „Und Mary war gerade auch so seltsam … Ich weiß manchmal nicht, ob sie wirklich nur eine alte Frau mit viel Durchblick ist oder ob sie mehr weiß, als sie sagt.“ „Sollen wir vielleicht auch erst mal zurückgehen und schauen, was mit Gary ist? Vielleicht hatte es ja einen ganz banalen Grund, dass er gerade gegangen ist.“ Ash dachte kurz nach, dann schüttelte er den Kopf und irritierte Misty damit. „Ehrlich gesagt … Ist es ok, wenn ich auch mal für ein Stündchen oder so verschwinde? Wir wollten ja eh gerade Pause machen. Ich hab einfach das Gefühl, ich brauch mal einen Moment für mich. Versteh das nicht falsch, es ist nicht so …“ Er suchte nach Worten, fand aber keine und fühlte sich mit einem Mal hilflos, weil er nicht wollte, dass Misty irgendetwas Falsches dachte. Doch sie lächelte sanft und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ist schon ok. Wir hocken jetzt seit Tagen ständig alle aufeinander, ich kann verstehen, wenn du mal eine Auszeit brauchst.“ Er nickte, so unendlich dankbar, dass sie tatsächlich zu verstehen schien, was in ihm vorging. Es war nicht so, dass er die Gegenwart der anderen beiden nicht mehr ertrug, aber bevor Misty vor ein paar Tagen zu ihm gekommen war, hatte er die meiste Zeit allein verbracht, nur mit seinen Pokémon, und hatte vielen seiner Gedanken nachgehen können. Auch wenn das zu diesem Zeitpunkt sicherlich nicht der beste Zeitvertreib gewesen war, im Moment fehlte es ihm einfach, auch mal einen Moment für sich zu sein, um sich selbst sammeln und seine Gedanken sortieren zu können. „Danke.“ Er schenkte ihr ein aufrichtiges Lächeln. „Ich werd' ein bisschen spazieren gehen und komm dann später zur Pension zurück, ok?“ „Klar. Und ich versuche inzwischen mal rauszufinden, was zwischen Gary und Mary war.“   Ehrlich gesagt hatte er Angst gehabt. So sehr er auch spürte, dass er diese Auszeit brauchte, zunächst hatte er befürchtet, dass sie ihm nicht gut tun würde. Dass er in alte Muster verfallen, sich wieder abschotten würde, dass er spürte, dass ihm die Gegenwart anderer Menschen doch zu viel war. Doch glücklicherweise war dem nicht so. Zwar genoss er es tatsächlich, einfach einmal schweigend durch die belebten Straßen laufen zu können, aber irgendwie, und das konnte er sich selbst nicht so recht erklären, war das ein anderes, angenehmeres Alleinsein, als das, was er noch bis vor kurzem gelebt hatte. Ja, jetzt brauchte er mal ein Weilchen für sich, aber später, da würde er zu Misty und Gary zurückkehren und gemeinsam würden sie schon irgendeine Lösung für alles finden, was vor ihnen lag. Als Ash sich nun umschaute, um zu sehen, wo sein zielloser Gang ihn eigentlich hingebracht hatte, stellte er zu seiner Verwunderung fest, dass sich nur ein paar Meter vor ihm wieder das kleine Nudelsuppenrestaurant befand, in dem sie gestern diese unverhoffte Begegnung gehabt hatten. Er zögerte. Sollte er seinen Weg einfach fortsetzen, oder den Zufall nutzen und noch einmal vorbeischauen, wenigstens ein kurzes 'Hallo' da lassen? Doch irgendwie fühlte es sich falsch an, noch einmal hineinzugehen. Das gestern, das war eine dieser besonderen Ereignisse im Leben gewesen, die man einfach so stehen lassen musste. Eine schöne Erinnerung, die man sich bewahren musste, indem man nicht versuchte, sie zu wiederholen. Nun, vielleicht war das alles etwas zu kitschig und übertrieben. Vielleicht hätte es überhaupt keinen Unterschied gemacht, wenn er heute ein weiteres Mal in das Restaurant eingekehrt wäre. Aber er entschied sich dagegen und wollte seinen Weg gerade fortsetzen, jetzt mit einem Lächeln auf den Lippen, als in diesem Moment Tess durch die Ladentür trat. Ihre Blicke trafen sich, und augenblicklich wurde sein Lächeln größer. Sie schien überrascht ihn zu sehen, und ihn überraschte es, dass er jetzt zielstrebig auf sie zulief. Ja, er hatte allein sein wollen. Doch jetzt kam ihm der Gedanke, dass es vielleicht gar nicht das Alleinsein war, das er vermisste, sondern die Möglichkeit, einfach mal wieder mit jemand anderem als den immer gleichen Menschen zu sprechen. War er bei Misty und Gary, ging es, natürlich, um die Legende. Und sprach er, wie an diesem Vormittag, mit jemandem, der ihm nahe stand, der aber nichts von der ganzen Geschichte wusste, dann plagte ihn ein schlechtes Gewissen. Selbst gestern mit Jessie und James war es beinahe seltsam gewesen, ihnen das ganze zu verheimlichen, auch wenn diese Verbindung so eine ganz andere war und sie sich außerdem seit Jahren nicht gesehen hatten. Aber Tess war eine Fremde. Wenn er mit ihr plauderte, dann war es in Ordnung, nicht alles preiszugeben, dann war es in Ordnung, auch mal über Belanglosigkeiten zu reden. „Hi, Tess!“ Sie lächelte. „Na, schon Feierabend?“ „Nein, nur Pause. Um diese Zeit ist nie viel los, da sind die meisten Leute lieber am Strand. Dafür ist abends die Hölle los.“ „Glaub ich gern, ich hab ja gesehen, wie voll es bei euch war. Halte ich dich von irgendwas ab, oder wollen wir ein Stück zusammen gehen?“ Sie wirkte noch immer überrascht, und Ash konnte es ihr nicht verübeln. Seine Anhänglichkeit musste ihr seltsam vorkommen, im Grunde wunderte er sich ja über sich selbst. Man hätte glauben können, er wolle das Mädchen angraben, dabei war es wirklich nur die Sehnsucht nach einem anderen Gesprächspartner, die ihn so forsch sein ließ. Verschreckt zu haben schien er sie aber nicht, denn sie nickte nun langsam. „Meinetwegen … Ich habe nichts Besonders vor. In den letzten Tagen bin ich einfach ein wenig durch die Stadt gelaufen oder habe mich an den Strand gesetzt und aufs Meer hinaus gesehen.“ Sie gingen wieder in Richtung Strand, blieben aber diesmal oberhalb des Hangs, der die asphaltierten Straßen von Sand und Meer trennte. Unten tobte das Leben, kein Vergleich zu der beschaulicheren Atmosphäre, die gestern geherrscht hatte, als sie vier sich hier getroffen hatten. Ash lehnte sich an das Geländer der Böschung und sah in die Ferne. Die Sicht war klar und draußen auf dem Meer konnte man schemenhaft die Insel mit der Legende erkennen. „Bist du heute gar nicht mit Misty und Gary zusammen?“ „Nein, wir … ich hatte Lust, einfach mal was alleine zu machen.“ Sie nickte. „Dansazu City ist schön.“ Bis eben war ihm dieser Gedanke noch kein einziges Mal gekommen. Gut, er hatte auch nicht wirklich die Zeit gehabt, sich ein Urteil über diese Stadt zu bilden, und er wusste auch nicht, was ihn jetzt zu dieser Aussage verleitet hatte. Es war immer noch ein Touristenstädtchen und ein typischer Urlaubsort. Aber irgendetwas gefiel ihm an Dansazu City. „Ja, und voll.“ Er lachte lautlos. „Das stimmt. Gefällt es dir denn nicht hier? Warum bist du denn dann hier?“ „Wegen der Legende.“ Er hatte vergessen, dass sie zumindest grob von der Legende wusste. „Ich bin ständig mal hier, mal da, immer auf der Suche nach neuen Geschichten.“ „Fast wie ein Pokémontrainer, der von einem Abenteuer ins nächste zieht.“ „Ja, fast wie ein Pokémontrainer … nur ohne Pokémon.“ Er betrachtete sie von der Seite, doch sie hielt ihren Blick starr in die Ferne gerichtet und sah ihn nicht an. „Bereust du es manchmal?“ „Was?“ Nun blickte sie doch überrascht hinüber. „Dass du sie weggegeben hast.“ Sie zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder ab. „Was hätte es denn gebracht … Ich habe so viele Jahre meines Lebens damit verbracht, einem Traum hinterherzujagen, den ich nicht erreichen konnte. Da war es besser, einen Schlussstrich zu ziehen.“ Lieber ein Ende mit Schrecken? „Aber du hättest doch auch …“ „Ich weiß, was du sagen willst. Natürlich, als ich gemerkt habe, dass das Trainer-Sein nichts für mich ist, da hätte ich mich nicht zwangsläufig von meinen Pokémon trennen müssen. Viele halten sich Pokémon einfach als Haustiere, und vielleicht hätte ich das auch tun können. Aber …“ Sie biss sich auf die Unterlippe, schien unsicher, ob sie weitersprechen sollte. „Aber ich weiß, dass ich einfach jemand bin, der etwas komplett und ganz von sich stoßen muss, um wirklich damit abschließen zu können. Ich musste mich einfach von meinen Pokémon trennen, weil ich es sonst bestimmt doch wieder versucht hätte. Und außerdem hätte es wehgetan, durch sie immer wieder an mein Versagen erinnert zu werden.“ „Ist es ein Versagen, zu merken, dass man dem falschen Traum hinterhergerannt ist?“ „Wenn alle von dir erwarten, dass es dein Traum ist, vermutlich schon.“ Er wusste es doch selbst. Er hatte gesehen, wie die Menschen um ihn herum reagiert hatten, als er beschlossen hatte, nicht mehr in der Pokémonliga anzutreten. Aber er hätte es niemals fertiggebracht, sich von seinen Pokémon zu trennen. „… Was hattest du für Pokémon?“ „Ein Tauboga, ein Fukano, Wiesenior, Rattfratz … Halt all die typischen Pokémon, die man auf so einer Reise eben trifft.“ Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. „Ich wollte immer irgendwann mal ein Evoli haben. Aber es hat sich leider nie ergeben. Na ja, letztendlich wäre es eh egal gewesen.“ „Ein Evoli? Wir haben gestern Nacht hier am Strand eins gefunden. Irgendwer muss es ausgesetzt haben. Wir haben es erst mal mitgenommen und zu Professor Eich geschickt, bei dem auch meine anderen Pokémon sind. Aber, falls du …“ „Nein! Ich hab's dir doch gesagt, ich musste sie weggeben, weil ich sonst niemals mit dem ganzen Trainer-Sein hätte abschließen können. Vielleicht wirkt das auf dich zu radikal, aber ich kann anders einfach keinen Schlussstrich ziehen.“ Ash nickte. „Tut mir leid, ich wollte dich nicht verletzen …“ Sie seufzte. „Schon gut. Ich sollte jetzt sowieso langsam wieder zurück.“ „Oh, ok. Dann mach's gut!“ Er sah ihr unsicher nach, als sie sich nun auf den Rückweg machte, und hatte ein schlechtes Gewissen, dass er das erst so lockere Gespräch in eine blöde Richtung gelenkt hatte. Kapitel 21: Auf welcher Seite ----------------------------- Sie waren nicht blind. Sie bekamen es mit, wenn Gary sich nun immer öfter von ihrem Training für eine Weile entfernte, wenn er sich abends aus ihren Gesprächen ausklinkte und sich immer wieder für einen Moment davon machte. Er hatte ihnen glaubhaft versichert, dass es ihm während des Gesprächs mit Mary, das plötzlich auf Nachtara gefallen war, einfach zu viel geworden war, dass das ein Thema war, über das er nicht sprechen wollte, und schon gar nicht mit jemandem, der ihm im Prinzip fremd war. Aber was war mit all den anderen Malen, die er sich davonschlich? Sie hatten gezögert, ihn darauf anzusprechen, und als sie es letztendlich getan hatten, hatte er nur gesagt, dass er eben diese Momente für sich brauchte, und nachdem sich Ash ja ebenfalls das eine Mal für eine Weile losgesagt hatte, konnte es ihm niemand verübeln. Eigentlich. Denn die Zweifel blieben. Es wirkte wie eine Ausrede, wenn Gary es sagte, und dachten die beiden daran, dass er ihnen bisher schon so einiges verschwiegen hatte, dann wurde ihnen mulmig zumute, und sie fürchteten sich davor, an ihm zu zweifeln und befürchteten, dass es vielleicht nicht ganz ungerechtfertigt war. Ishi musste es auf ihn abgesehen haben. Und wenn er sich vor ihnen verkroch, anstatt mit ihnen zu reden, war die Gefahr groß, dass ihr irgendein perfider Plan gelingen würde.   Es war jetzt schon eine ganze Weile her, dass sie das Licht gelöscht und einander eine gute Nacht gewünscht hatten. Und obwohl ihn das Training des Tages angestrengt hatte, obwohl ihm die Müdigkeit in den Knochen steckte, konnte Ash nicht einschlafen. Ein paar Mal hatte er sich von einer Seite auf die andere geworfen, hatte versucht, alle Gedanken beiseite zu schieben und endlich Ruhe zu finden, doch es war ihm nicht gelungen. Schließlich war er reglos auf dem Rücken liegen geblieben, den Blick an die dunkle Zimmerdecke gerichtet, wo es doch nichts zu sehen gab, und wartete nun darauf, dass die Müdigkeit ihn übermannte. Als Gary sich im Bett neben ihm regte, huschte für einen Sekundenbruchteil der Anflug eines Lächelns über seine Lippen. War doch nett zu wissen, dass er anscheinend nicht der einzige war, der nicht zur Ruhe kam. Doch er folgte seinem ersten Impuls nicht, Gary darauf anzusprechen, sondern verharrte stattdessen plötzlich noch stiller als zuvor und wartete ab. Der andere Junge setzte sich auf, seine Bewegungen, die in der Dunkelheit mehr zu hören als zu sehen waren, wirkten hastig, nervös. Er schien in seine Schuhe zu schlüpfen, warf sich eine Jacke über, hustete hinter vorgehaltener Hand. Dann schlich er beinahe lautlos aus dem Zimmer und verschloss die Tür leise hinter sich. Ashs Herz raste. Schon wieder. Er machte es schon wieder. Und dass er sich extra angezogen hatte, sprach dagegen, dass er einfach nur zur Toilette gehen wollte. Aber jetzt, mitten in der Nacht, konnte er niemandem mehr erzählen, dass er nur mal eben eine Auszeit brauchte. Also was steckte wirklich dahinter? Was verschwieg Gary ihnen? Entschlossen sprang Ash aus dem Bett und warf sich ein paar Sachen über. Es gab wohl nur eine Möglichkeit, das herauszufinden, und auch, wenn es alles andere als nett war, einem Freund heimlich hinterher zu schleichen, es blieb ihm wohl keine andere Wahl. Wie Gary zuvor öffnete er die Zimmertür fast geräuschlos und spähte den Gang hinunter. Es war niemand zu sehen. Leise ging er die paar Schritte zum Nebenzimmer, in dem Misty schlief, und klopfte an die Tür. Das Geräusch klang in der Stille gleichzeitig unendlich laut, sodass er befürchtete, Gary, wenn er denn noch nah genug war, könnte ihn hören, aber auch so leise, dass er nicht wusste, ob Misty davon wach werden würde. „Misty?“ Aber er hatte jetzt nichts zu verlieren. „Misty, mach um Himmels Willen auf! Es ist wichtig!“ Erleichterung machte sich in ihm breit, als sich die Tür nun tatsächlich öffnete und Misty ihn überrascht ansah. „Ash? Was …“ „Keine Zeit.“ Er schob sich an ihr vorbei und schloss die Tür hinter sich. „Gary ist gerade schon wieder abgehauen, mit Schuhen und Jacke und allem. Mir reicht's jetzt, ich will jetzt endlich wissen, was hier los ist. Also zieh dir was an und komm mit, wir haben nicht viel Zeit, sonst verlieren wir ihn vielleicht.“ Misty war mit einem Mal hellwach. Sie wusste noch nicht, wie sie es fand, dass sie Gary nachspionieren würden, aber ja, vielleicht war es die einzige Möglichkeit, endlich herauszufinden, was er vor ihnen verbarg. In Windeseile schlüpfte sie in ihre Jacke und stieg in die Schuhe, dann folgte sie Ash auf den Flur. „… Ist das fair, Ash?“ Er sah das Mädchen, das dicht hinter ihm lief, nicht an. „Ist es fair, dass er nicht ehrlich zu uns ist? Entweder ist es wirklich kein Drama, was er da vor uns verheimlicht, aber dann könnte er uns wirklich genug vertrauen, um uns davon zu erzählen. Oder es ist ein Drama, und dann müssen wir erst recht wissen, was Sache ist. Ich kauf ihm nicht mehr ab, dass er nur hin und wieder mal einen Moment für sich braucht. Nicht jetzt, nicht mitten in der Nacht.“ Sie traten hinaus ins Freie, wo Mond- und Laternenlicht die Dunkelheit erhellten. „Und was, meinst du, könnte er uns verheimlichen?“ Ash biss sich auf die Unterlippe. Er hätte gerne behauptet, sich darüber bisher noch keine Gedanken gemacht zu haben. Aber er hatte es getan, und alles, was ihm dabei in den Sinn gekommen war, gefiel ihm überhaupt nicht. „Na ja, es liegt wohl nahe, dass Ishi irgendwie involviert ist, wenn es wirklich eine große Sache ist … Wer weiß, womit sie ihn vielleicht schon bequatscht hat. Ich weiß nicht, vielleicht … arbeitet er schon längst gegen uns. Ohne es zu wollen, natürlich!“, fügte er seinen Worten hastig hinzu. „Ich weiß nicht … Meinst du nicht, das hätten wir dann doch bemerkt? Du warst schließlich auch vollkommen verändert, als du unter Ishis Einfluss gestanden hast, von mir mal ganz zu schweigen. Hätte ich zu dem Zeitpunkt schon gewusst, zu was Ishi fähig ist, wäre ich gleich auf die Idee gekommen, dass sie etwas mit dir gemacht haben muss.“ „Eben.“ Ash sah sich suchend um. „Und Ishi weiß auch, dass wir das inzwischen wissen. Also muss sie vielleicht subtiler vorgehen, langsamer. Wenn sie Schritt für Schritt irgendwas mit Gary angestellt hat, so langsam, dass es uns nicht auffällt … Verdammt, ich weiß es doch auch nicht! Ich weiß nur, dass hier irgendwas absolut nicht in Ordnung ist und dass es Zeit wird, dass wir ihn zur Rede stellen, und zwar so, dass er sich nicht mit irgendwelchen Lügen rausreden kann.“ Das Blut rauschte in seinen Ohren, und trotzdem kam ihm jeder seiner Schritte unendlich laut vor, jeder Grashalm, der unter seinen Schuhen brach, schien ein unsägliches Getöse zu verursachen. Er hatte Angst. Angst davor, sich gleich mit einer Wahrheit konfrontiert zu sehen, die er vielleicht, wahrscheinlich gar nicht kennen wollte. Aber er würde nicht davonlaufen. Nicht mehr. Er würde sich dieser Angst stellen. Wenn er, wenn sie auserwählt waren, wenn es nun mal ihre Pflicht war, ihren Teil der Legende zu erfüllen, dann mussten sie da jetzt durch, dann mussten sie Gary jetzt zur Rede stellen. Egal, wie ihm die Wahrheit gefiel. Ash sah sich in der Dunkelheit nach dem anderen Jungen um. Ein heftiger Wind war plötzlich aufgekommen, zerrte an seiner Kleidung, zerzauste seine Haare. „Ash, was machen wir, wenn …“ „Wir kriegen das hin.“ Er wollte nicht wissen, was sie sagen wollte. Mit einer fahrigen Bewegung versuchte er, sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht zu streichen. „Wir kriegen das hin. Egal, was es ist, wir drei sind Freunde, und es kann keine so große Katastrophe sein, dass wir das nicht hinkriegen würden.“ Es klang wie ein Mantra, mit dem er sich selbst zu beruhigen versuchte, aber es schien zu funktionieren. Er atmete tief durch. Der Wind verschwand so plötzlich, wie er gekommen war. Und dann sah er ihn. Zugegeben, er konnte die Gestalt bei den Lichtverhältnissen nicht wirklich identifizieren. Aber abgesehen davon, wer es denn bitte sonst sein sollte, der sich mitten in der Nacht hier draußen an den Böschungen rumtrieb, wusste er einfach, dass der Mensch, der dort vorn an der Brüstung vor dem Abhang stand, Gary war. Seine Schritte wurden schneller. Er würde seiner Angst nicht nachgeben. Es war viel beängstigender, sich vor etwas Unbekanntem zu fürchten, als endlich die Wahrheit zu kennen. Nur noch wenige Meter. Gleich würde er seinen Namen sagen, ihn damit wahrscheinlich aufschrecken, vielleicht würde er sogar fliehen, aber sie würden ihn nicht lassen, sie würden ihn zur Rede stellen und diese Sache ein für allemal klären, damit niemand mehr Angst haben musste. Aber dann blieb er abrupt stehen. So plötzlich, dass Misty, die direkt hinter ihm gewesen war, beinahe in ihn hineinlief. „W-“ Doch die Frage blieb ihr im Hals stecken. Gary stand an der hüfthohen Brüstung, eine Hand umklammerte das raue Metall, die andere war kraftlos zur Faust geballt. Der Mond schob sich hinter den Wolken hervor und warf sein fahles Licht auf das Gesicht des Jungen. Und auf das Pokémon, das neben ihm in der Luft schwebte. Der zierliche kleine Körper, die spitzen Ohren, der lange dünne Schwanz mit der buschigen Quaste, die wachen blauen Augen waren unverkennbar. „Was zur … Gary?!“ Aufgeschreckt sahen das Pokémon und der junge Mann hoch. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)