Lichtgeschwindigkeit von trinithy (Wichtelgeschichte für Asaliah - Licht im Dunkel) ================================================================================ Kapitel 1: 380-780 Nanometer ---------------------------- „Achtung an Gleis 2, RE 5 nach Emmerich, über Köln Hauptbahnhof, geplante Abfahrt 13Uhr 16, wegen Stellwerksproblemen, heute 25 Minuten später.“, schallt die immer gleiche, technisch generierte Ansage, nun schon zum gefühlt tausendsten Mal über den Bahnsteig und ich bin wohl nicht der einzige Fahrgast, dem das langsam den letzten Nerv raubt. Es ist schon erstaunlich, wenn man bedenkt, dass der Zug erst in Koblenz startet, also eigentlich keinerlei Gelegenheit hatte an irgendeinem Bahnhof länger zu stehen als vom Fahrplan vorgesehen. Und dennoch haben sie irgendwelche technischen Probleme oder weiß der Geier was, sodass er nicht pünktlich abfahren kann. Sänk ju for träwelling! Ich schaue ungeduldig auf die Bahnhofsuhr, die auf fünf nach halb zwei steht. Wenn man also wenigstens der Verspätung Glauben schenken darf – auf den Fahrplan der Bahn kann man ja anscheinend ohnehin nichts mehr geben – dann sollte der Zug bald einrollen und mich davon erlösen weiterhin auf meinem schwarzen Hartschalen-Trolley zu sitzen und zu frieren. Eigentlich ist es kein wirklich kalter Tag, denn der Winter lässt sich dieses Jahr ganz schön bitten. Zwar ist es lange nicht mehr so warm wie noch an Heiligabend, da hätte ich ja wirklich fast die Ostereier draußen gesucht, denn mit knapp 14 Grad hatte ich mehr Frühlingsgefühle als wirklich weihnachtliche Gedanken, aber auch mit um die 5 Grad, die hier laut einer Anzeige am Bahnsteig herrschen sollen, ist der Winter dieses Jahr längst nicht so kalt, wie er früher mal war. Und dennoch, hier so im Durchzug zu sitzen lässt mich frösteln. Irgendwo im Koffer hab ich zwar wohlweißlich Handschuhe, Mütze und Schal; die aber jetzt rauszukramen wäre doch viel zu aufwändig. Außerdem habe ich keine Lust den anderen wartenden Leuten meine benutzten Unterhosen zu präsentieren, so wie ich mein Glück kenne, würde ich, wenn ich an dem Schal ziehe, zwei Paar Shorts und mindestens einen benutzten Socken herausziehen. Denn natürlich ist der Koffer alles andere als ordentlich gepackt, ich hab heute Morgen einfach alles zu einem großen Haufen zusammengeknüllt und dann so lange auf den Kofferdeckel gedrückt, bis ich den Reißverschluss zuziehen konnte. So hab ich mir die Zeit des Zusammenfaltens und Tetris-Spielens mit Jeans und Hemden gespart und hatte wenigstens noch ein paar Minuten mehr mit Christian. Die wir, wie ich finde, auch ziemlich effektiv genutzt haben unter einer heißen, gemeinsamen Dusche vor dem späten Frühstück. Doch noch ehe ich weiter in meinen Gedanken und Erinnerungen versinken kann, holt mich der laute Gong am Bahnsteig wieder in die Wirklichkeit zurück. „Achtung an Gleis 2, Einfahrt RE 5 nach Emmerich, über Remagen, Bonn Hauptbahnhof, Köln Hauptbahnhof, Düsseldorf Hauptbahnhof, Planmäßige Abfahrt 13 Uhr 16. Achtung an Gleis 2, ein Zug fährt ein!“ Endlich, das wurde aber auch Zeit. Alle um mich herum machen sich fertig, man trippelt ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, im 10 Sekundentakt wird sich ein paar Zentimeter näher an die Bahnsteigkante geschoben und jeder hofft, dass die Tür direkt vor einem hält und man nicht derjenige ist, der als letzter ins Abteil kommt und dann wohlmöglich noch stehen muss. Die rote, zweistöckige Bahn rollt langsam ein, Bremsen quietschen und ich freue mich ein wenig, da ich eigentlich ganz gut geschätzt habe und mich nun direkt vor einer Tür wiederfinde. Kaum hat diese sich weit genug geöffnet, sodass ein Mensch gerade so durch passt, drängeln sich die ersten in den Zug, und zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich dazu gehöre. Die Hälfte meiner knapp zwei Stunden Fahrt von Frankfurt nach Koblenz habe ich gestanden und das möchte ich eigentlich bis nach Köln nicht wiederholen. Denn auch wenn der Zug noch komplett leer ist, der Bahnsteig ist verdammt voll. Jetzt, am zweiten Januar scheinen alle Menschen wieder dahin zu fahren wo sie nicht unbedingt hingehören, aber eben dorthin wo sie arbeiten und schaffen. Weg von der Familie, den Freunden, die sie lange nicht mehr gesehen haben, weg von den Liebsten und zurück in den Alltag. Der zweite Januar ist ein einziger, großer Aufbruch. Zwar sind noch nicht wirklich viele Pendler unterwegs, schon gar nicht jetzt um die Mittagszeit, aber man sieht eine Menge Studenten, zu denen ich ja ebenfalls gehöre, die zurück in ihre Unistadt müssen. Über Weihnachten war ich bei meinen Eltern, die wohnen allerdings nicht wirklich weit von mir weg, ein kleines Kaff in Rheinland-Pfalz, mit dem Auto – und ohne Stau natürlich – braucht man eine dreiviertel Stunde bis Köln, die halbe Stunde, die man im Stadtverkehr noch extra braucht nicht mit eingerechnet. Also eine Entfernung die man öfter im Jahr zurücklegt. Noch am 26. bin ich von ihnen aus nach Frankfurt gefahren um Christian zu besuchen und bei ihm war ich dann eine Woche lang, bis heute Morgen. Ich triumphiere als ich einen Sitzplatz in einem –noch- leeren Vierer ergattert habe, hieve meinen Rucksack auf das Gepäckgitter über mir und stelle den Trolley vor den Platz neben mir, sodass sich der Platz hoffentlich erst als letztes füllt. Alles Psychologie, denn jemanden zu fragen, ob er den Koffer auf die Seite stellen kann, ist wesentlich unangenehmer und damit aufwendiger für die meisten als einfach ein wenig weiter durch den Zug zu stromern, so lange noch die Hoffnung besteht, woanders einfacher an einen Sitzplatz zu kommen. Die Plätze mir gegenüber bleiben natürlich nicht frei, ein altes Ehepaar lässt sich mit einem erleichterten Stöhnen darauf nieder und dann beginnt das große Kramen und Wühlen. Anstatt einfach noch einmal aufzustehen, die Jacken auszuziehen und sie ebenfalls in die Ablage zu unseren Köpfen zu stopfen versuchen die beiden das Ganze im Sitzen. Sie haut ihm dabei mehrmals mit dem Ellbogen in die Seite, doch er scheint das gewöhnt zu sein und erträgt es stoisch. Wenn das keine zweite Ehe ist, dann sind die dem Alter nach auch schon eine Ewigkeit verheiratet, wahrscheinlich stumpft man da gegenüber den Macken des anderen ab. Zumindest hört man sowas doch immer mal wieder. Mir direkt gegenüber hat sich natürlich der Mann gesetzt; der ist wesentlich größer als seine Frau, sodass ich meine Füße arg einziehen und schon fast unter meinen Sitz packen muss, damit ich ihm nicht mit meinen Knien gegen seine ramme. Na toll, welch eine angenehme Sitzhaltung. Und zur Seite kann ich auch nicht ausweichen, da steht mein Trolley und davor sind die Füße der Frau. Spätestens jetzt ist der Moment gekommen, da wünsche ich mir, ich wäre nicht so geizig gewesen und hätte die 30 Euro mehr für den ICE ausgegeben. Dann wäre ich wohl jetzt schon zu Hause, hätte nicht in Koblenz umsteigen müssen und mir nicht beim Warten auf einen Zug mit 25 Minuten Verspätung meine Zehen abfrieren lassen müssen. Meine Füße stecken natürlich nur in Chucks, gut es sind diese Lederchucks die angeblich für den Winter sein sollen, aber so richtig warm halten die auch nicht. Dafür sehen sie cool aus. Nicht wie diese wasserfesten Waffelstampfer, die zwar warm halten aber dafür Füße wie Big-Foot machen. Sowas kann man vielleicht tragen wenn man Schuhgröße 42 hat, aber nicht mit meinen 46, das wirkt dann unproportioniert. Als wohl alle Menschen einen Platz gefunden haben - denn es ist ziemlich voll und keiner geht mehr durch die Gänge - setzt sich der Zug langsam in Bewegung und rollt aus dem Bahnhof aus. Vielleicht sollte ich auch meine Jacke ausziehen, angesichts der Tatsache, dass ich selbst ohne weitere Verspätung noch über eine Stunde hier drin setzen werde und all die anderen Menschen in diesem Abteil zusätzlich zur Heizung Hitze verströmen. Mist, zum aufstehen ist es jetzt definitiv zu spät, es sei denn, ich will so komisch gebückt stehen mit der Kante der Sitzfläche in meinen Knien, also bleibt mir nichts anderes übrig als mich auch umständlich und höchst akrobatisch aus meinem Parka zu schälen, den auf dem Sitz neben mir zusammenzuknüllen und zu hoffen, dass Abschreckungsgrund Nummer zwei –Jacke auf Sitz – dafür sorgt, dass sich wirklich niemand neben mir niederlässt. Denn bei meinem Glück ist das ein 200 Kilo schwerer, nach Schweiß muffelnder Alter. Im Zug setzten sich nie schöne Menschen neben einen, niemals die schlanke Blondie, die ohnehin so dünn ist, dass man in keiner Weise in seinem Platz eingeschränkt ist, oder der heiße Kerl, der wie durch ein Wunder vielleicht ebenfalls schwul ist und mit dem man einen netten kleinen Zug-Flirt anfangen könnte. Nicht einmal hübsche Hetero-Kerle setzten sich neben einen, sodass man wenigstens etwas zu gucken hätte. Nein, Murphy’s Law sagt, dass alle, wirklich alle, die auf die Idee kommen neben einem Platz zu nehmen, entweder betrunkene, nach Alkohol riechende Penner, Super-Dicke, Super-Alte und vor allem immer nach irgendwelchen Körpersäften – oder wahlweise auch stark nach kölnisch Wasser – riechende Personen sind. Das brauch ich nicht. Mein Tag hat zu gut angefangen, den will ich nicht mit den Ausdünstungen anderer Menschen ruinieren. Wo ich gerade schon beim Thema Duft bin, ich stelle fest, dass mein Pulli nach Christians Parfum riecht. Er hat ja auch heute Morgen im Bad nicht damit gegeizt und vielleicht hat er auch extra ein wenig daneben gesprüht, damit ich was abbekomme und eine Erinnerung an ihn habe. Zumindest lasse ich mir von meinem Hirn diese romantische Vorstellung vorgaukeln, weil es so viel schöner ist als die Realität, dass er einfach verschwenderisch mit sündhaft teurem Duftwässerchen umgeht. So gut und edel es ja auch riechen mag, nichts für einen armen Studenten. Ich greife in meine Hosentasche und befördere mein iPhone zu Tage – gut, das ist eigentlich auch nichts für einen armen Studenten, aber hey, ich hab die ganzen letzten Semesterferien für das Teil gearbeitet, ich darf das. Meine Kopfhörer sind leider ebenso wie die Handschuhe ganz unten tief in meinem Koffer vergraben. Auf der Strecke von Frankfurt nach Koblenz habe ich schon überlegt ob ich sie suchen soll, denn ein bisschen Musik im Ohr wäre echt nicht schlecht, aber wie auch da schon, überwiegt auch jetzt die Abneigung dagegen, den anderen Zugreisenden einen Einblick in meine Klamottenwelt samt getragener Unterhosen und muffiger Socken zu geben. Von der Tube Gleitgel und den Kondomen, die in diesem Netz am Kofferdeckel hängen, mal ganz zu schweigen. Ich hatte mal welches mitgenommen, natürlich hat es meinen Koffer nicht verlassen, denn Christian war ausgestattet, aber man konnte ja nie wissen. Sicher ist sicher, in jedem Sinne dieses Spruches. Ich räkel mich etwas ungelenk, denn meine Sitzhaltung ist mir jetzt schon zu unbequem, dabei hat der Zug noch nicht einmal volles Tempo aufgenommen, da wir die Ausläufer des Bahnhofes eben erst verlassen haben, und öffne parallel auf meinem Handy – obwohl es ein iPhone ist, gehöre ich zu den Banausen, die es dennoch simpel „Handy“ nennen – die blauen Seiten. Das „Blaue Einwohnermeldeamt“ wie es von manchen scherzhaft genannt wird. Christian hab ich vor vier Monaten auch auf Gayromeo – oder Planetromeo, wie es ja jetzt international heißt, auch wenn sich das wohl in meinem Kopf niemals ändern wird – kennen gelernt. Eigentlich ein Wunder, bedenkt man, dass die meisten dort auf schnellen, unkomplizierten und oft einmaligen – nur auf die Anzahl bezogenen – Sex aus sind. Es ist schon wirklich richtig krass, wie viele notgeile, alte Säcke - anders kann man Männer über 60, die sich mit einem „Schwanzpic“ präsentieren nicht nennen - da rumlungern, um anscheinend eine versäumte Pubertät nachzuholen. Ich hab mich irgendwann mal bei diesem Portal angemeldet, als ich noch nicht in Köln studiert und bei meinen Eltern auf dem platten Land gelebt habe. Ich meine, da laufen einem nicht gerade schwule Jungs an der nächsten Ecke in die Arme und warten dann nur auf ein Date mit einem. Ich hab da irgendwie meine Chance gesehen ein bisschen Kontakt zur schwulen Außenwelt zu knüpfen, und wenn das eben beinhaltet, dass ich jede zweite Nachricht ignorieren muss, weil sie „ficken?“ oder „an Taschengeld interessiert?“ als einzigen Inhalt hat, dann bitteschön, war das eben ein Preis, den ich zu zahlen bereit war. Mittlerweile habe ich seit eineinhalb Jahren, seit ich angefangen habe zu studieren, eine kleine Bude – ein Zimmer, Küche, Bad – ziemlich zentral in Köln und fröne ab und an auch ausgiebig dem lockeren Nachtleben. Eigentlich ist es da ziemlich leicht jemanden kennenzulernen, zwar ein wenig schwieriger als jemanden bloß abzuschleppen, aber im Vergleich zu vorher ist das alles ein Kinderspiel. Dennoch, Gayromeo hat auch seine guten Seiten. Meinen derzeit besten Freund Simon habe ich auf diesem Weg kennen gelernt. Simon ist ein Jahr älter als ich und kommt ursprünglich aus Leipzig – weswegen er manchmal, gerade wenn er betrunken ist und nicht darauf achtet, schrecklich sächselt – und wir haben irgendwann angefangen zu schreiben, als ich gerade im Abitur steckte und er noch Zivildienst geleistet hat. Wie sich rausgestellt hat, hatte er auch vor, in Köln zu studieren, was er jetzt auch tut, nämlich Sozialpädagogik. Keine Ahnung wie man so etwas tun kann, auf jeden Fall haben wir den virtuellen Kontakt gehalten und seit wir uns auch treffen konnten, hat sich eine ziemlich enge Freundschaft entwickelt. Ich glaub, am Anfang hatte Simon darauf spekuliert, dass das mit uns beiden mal etwas anderes wird als Freundschaft, aber spätestens als wir uns gegenüberstanden, mit diesem Gefühl den anderen schon ewig zu kennen, mit ihm jeden Blödsinn durchziehen und ihm alles erzählen zu können, war das verschwunden. Von mir aus war es nie etwas anderes als Freundschaft, auch wenn das natürlich einige nicht glauben, dass zwei schwule Männer einfach nur befreundet sein können ohne miteinander in die Kiste zu springen oder es zumindest mal getrieben zu haben. Ist wohl irgendwie dasselbe, wie wenn man sagt ‚Männer und Frauen können keine Freunde sein‘. Und dann gibt es natürlich noch Christian, ‚Searching_for_you83‘, wie er sich im Netz genannt hat. Eigentlich ziemlich schwachsinnig, aber mal ehrlich, es gibt wohl keinen Nickname, der nicht irgendwie bescheuert wäre. Meiner ist mittlerweile ‚Trinitrotoluol‘, weil ich seit Anfang meines Studiums irgendwas Chemisches haben wollte und mir nichts Besseres eingefallen ist. Vorher war es „Steffen90“, was an Einfallslosigkeit seinesgleichen suchte, aber man glaubt gar nicht, wie viele mich dennoch sowohl nach meinem Alter als auch nach meinem Vornamen gefragt haben. Dabei dachte ich 90 wäre angesichts meines Fotos, das ich hochgeladen hatte unmissverständlich mein Geburtsjahr und nicht mein Alter. Ich hab zwei neue Nachrichten, aber keine, die es wert wäre darauf zu antworten, also schließe ich die App wieder. Christian war ohnehin nicht on, mal davon abgesehen, dass wir zu anderen Kommunikationswegen gewechselt haben, als sich herauskristallisierte, dass wir uns mehr zu sagen haben, als den üblichen Internet-Shitty-Chat. Aber er hat weder angerufen noch bei What’s app geschrieben. Eigentlich bin ich ein wenig enttäuscht, denn nach dem Morgen heute, an dem ich eigentlich nicht wegwollte, hab ich ihm noch im Zug vor Koblenz geschrieben wie gut mir die paar Tage gefallen haben und ihn gefragt, ob er wirklich nicht zu mir nach Köln kommen will. Das hatte ich ihn auch persönlich schon mal gefragt gehabt. Er hat noch bis zum 10. Januar Urlaub, nichts zu tun, keine geplante Reise und seiner Art nach zu urteilen, wie er das Geld so ausgibt, auch keine finanziellen Probleme sich ein Zugticket für 39 Euro zu kaufen. Gut, die Rückfahrt müsste er natürlich zum gleichen Preis noch löhnen, aber dennoch, er hat mich in der Woche, die ich jetzt da war zweimal in ein nicht gerade billiges Restaurant zum Essen eingeladen, das hätte er doch nicht gemacht, wenn er davon arm geworden wäre. Vielleicht haben ihm die paar Tage nicht so gut gefallen wie mir… Andererseits, wenn ich da so ein sein Weihnachtsgeschenk denke… Missmutig öffne ich wahllos einige Apps auf meinem Handy, schließe sie wieder und überlege womit ich mich am besten ablenken könnte von den aufkeimenden Gedanken an Christian, vermischt mit den frischen Zweifeln wie es jetzt weiter gehen wird zwischen uns. Der Stand der Dinge ist einfach: Christian arbeitet in Frankfurt als Elektroingenieur und ich studiere in Köln. Ich bin 22, er wird dieses Jahr 30. Seit wir uns über das Internet kennengelernt haben schreiben wir zwar eine Menge und telefonieren auch oft – am Anfang fast jeden Abend –, doch gesehen habe ich ihn genau zweimal. Einmal ist er geschäftlich in Köln gewesen und wir haben uns auf einen Kaffee in der Stadt getroffen, das waren vielleicht 3 Stunden, wenn es hochkommt, dann hatte er einen Zug, den er kriegen musste, ICE mit Sitzplatzreservierung, so etwas kann man nicht so einfach verschieben, wenn man nicht scharf drauf ist ein neues, teures Ticket zu kaufen. Das zweite Mal ist er extra für ein Wochenende zu mir gekommen. Wir hatten zwei schöne Tage mit Kino, Essen gehen und einem Abend vor dem Fernseher auf meiner Couch mit ein bisschen Küssen und Kuscheln und ja, anschließend auch Sex in meinem Bett. Nicht gerade viel für vier Monate, deswegen war da auch nie das Gefühl, als wären wir zusammen, ein echtes Paar. Sicherlich, ich hab in der Zeit keine anderen Kerle gedatet, geschweige denn mit einem anderen geschlafen - er übrigens auch nicht, wenn man ihm das glaubt, was er so erzählt, und das tue ich. Aber es war auch keine Beziehung. So etwas kann sich doch nicht übers Telefon entwickeln. Hab ich zumindest bis vor ein paar Tagen noch gedacht. Mit klopfendem Herzen bin ich zu ihm gefahren, war wirklich nervös, ein bisschen wie zu Schulzeiten, und hab gehofft, dass es ihm nicht auffällt, immerhin merkt man schon ein wenig, dass er älter ist. Er ist nicht mehr so sprunghaft, so unentschlossen und kurzlebig wie die meisten schwulen Männer in meinem Alter. Ich selbst verleugne zwar vehement, auch so zu sein, aber ausschließen kann ich es nicht, denn man nimmt sich selber immer anders wahr, als andere einen sehen. So eine von Simons Binsenweisheiten aus dem Studium, die sich mir leider ins Hirn gebrannt hat, sooft wie er sie mir schon um die Ohren gehauen hat. Auf jeden Fall war es der Moment, als ich seine Wohnung zum ersten Mal betreten habe und ihm etwas später dabei zugesehen habe, wie er uns Abendessen gekocht hat, da mir aufgefallen ist, dass ich mich tatsächlich in diesen Mann verliebt habe. Über einen Chat, über Skype, über Fotos, die er mir geschickt hat, über seine Stimme am Telefon, habe ich mich in meine Vorstellung von Christian verliebt, das war mir irgendwie schon klar, aber als ich ihn wiedergesehen habe und er mit mir geredet und mich angelacht hat, während er Gemüse geschnitten hat, wurde mir bewusst, wie exakt meine Vorstellung und die Realität übereinander passen. Etwas, das nicht wirklich oft passiert. Die Tage bei ihm waren wirklich schön und haben mich nur noch mehr in allem bestätigt, vor allem darin, dass er niemand ist, der sich leicht in die Karten gucken lässt. Er ist ein Mensch, den man manchmal nur schwer einschätzen kann. Zwar hat er mich heute Vormittag zum Bahnhof gebracht, mir einen Abschiedskuss am Gleis gegeben und gesagt, wie schön die Zeit und auch die Silvesternacht war, aber er wollte nicht mit zu mir nach Köln, obwohl er Zeit hätte. Heißt das jetzt, dass die Zeit schön war, dass er mich gern hat, aber ihm eine Fernbeziehung nicht in den Kram passt? Ist der Abschiedskuss wirklich ein Abschied gewesen oder war es einer mit Aussicht auf Wiedersehen? Je länger ich darüber nachdenke, umso weniger weiß ich eine Antwort auf die Frage. Wieso verdammt antwortet er nicht auf meine Nachricht, er ist doch sonst auch jemand, der sein Smartphone wohl mit unter die Dusche nehmen würde, wenn es wasserfest wäre. Eigentlich will ich gerade gepflegt in eine Schlechte-Laune-Phase verfallen, doch dazu kommt es nicht, denn da schiebt sich mir ein Blatt Papier ins Sichtfeld und ich höre die Stimme des alten Mannes, der mir gegenüber sitzt und dessen monotones Bassbrummen ich die ganze Zeit schon als Hintergrundgeräusch im Ohr habe. „Entschuldigen Sie, könnten sie vielleicht vorlesen, wo wir umsteigen müssen und wann unser Anschlusszug kommt, das müsste da auf dem Zettel stehen und ich habe meine Brille vergessen…“ Zum ersten Mal sehe ich auf, um mir den Mann genauer anzusehen. Er hat ein großväterliches Lächeln und um die Augen herum knittert sich die Haut in einer Menge Lachfältchen. Auch wenn die Mundwinkel dabei nach unten hängen, wirkt es irgendwie nicht unfreundlich. Ein wenig senil vielleicht, aber gut, das macht wohl einfach das Alter. „Jetzt lass doch den jungen Mann, Edgar…der sieht schwer beschäftigt aus!“, haut ihm seine Frau wieder einmal in die Seite und hätte ich den Zettel nicht bereits in meinen Händen, hätte sie ihm den wohl auch weggerissen. Ich muss schmunzeln, denn wenn ‚schwer beschäftigt‘ bedeutet, dass ich abwesend auf „Bejeweled“ gekommen bin bei meinen Gedanken, sodass ich automatisiert, aber hektisch mit dem Zeigefinger auf den Touchpad rumgetippt habe, dann war ich wohl produktiver als ich mir selber zugestanden hätte. „Ist schon okay…“, murmel ich und sehe mir den ausgedruckten Fahrplan mit handschriftlichen Notizen am Rand genauer an. „Also sie müssen in Düsseldorf umsteigen und ihr Anschluss kommt erst um viertel vor vier, das sollten sie also locker, trotz Verspätung, noch schaffen, vorausgesetzt die wird nicht noch größer“, gebe ich den beiden Auskunft und jetzt lächelt auch die Frau dankbar. „Hab ich dir doch gesagt, Edgar, Düsseldorf, nicht Köln!“ Ist fast schon wieder niedlich, wie er geknickt seinen Irrtum eingesteht, mir mehr als einmal dankt und den Zettel dann wieder ordentlich faltet und in die Tasche seiner Jacke, die auf seinem Schoß liegt, fummelt. Ich geb zu, ich mag alte Menschen nicht besonders, die meisten entpuppen sich als entrüstete Moralapostel wenn sie einmal herausfinden, womit ich so meine abendliche Freizeit verbringe, und irgendwie stimmt mich da auch die Entschuldigung „Das kommt halt aus einer anderen Zeit“, nicht wirklich versöhnlicher. Ist mir doch egal wann jemand geboren wurde und was da für eine Zeit war. Jetzt ist das Jahr 2013 – wenn auch erst seit zwei Tagen – und wer jetzt noch lebt, sollte sich doch an dem orientieren, was jetzt ist. Ich rede doch auch nicht mehr von der DDR, nur weil es die in meinem Geburtsjahr noch gab. Und die alten Leute, die eigentlich ganz in Ordnung sind…nun ja, die schmeiße ich einfach mit den anderen in einen Topf. Wohl nicht gerade die beste Methode, aber ich weiß auch nicht, wie ich das ändern soll, ich kann das einfach nicht sonderlich gut. Aber das Ehepaar mir gegenüber weckt gerade tatsächlich dieses innere Schmunzeln in mir, denn jetzt redet sie wieder auf ihn ein und erklärt wie sie am besten und schnellsten von einem Bahnsteig zum anderen kommen in Düsseldorf und er nickt ergeben und streichelt ihr dabei über die Hand, die er hält. Wenn irgendwo das Etikett ‚wie ein altes Ehepaar‘ passt, dann doch bei den beiden. Ich find es erstaunlich, mache Menschen scheinen ein Leben lang zusammenzubleiben, keine Ahnung ob das bei den beiden so ist, aber mein in romantische Hormone getauchtes Hirn will das gerade einfach annehmen. Und es stellt mir weiterhin die Frage, was ich eigentlich in zehn Jahren will. Ob ich dann immer noch im Internet nach Dates suche, ob ich dann immer noch One-Night-Stands und Spaß an der ganzen Sache habe, oder ob ich mir dann wünschte, es hätte mal was länger gehalten? Scheiße, dieses ganze Verliebtsein, sodass ich im Moment zwischen Glückseligkeit und Liebeskummer taumel, macht mich irgendwie empfänglich für Gedanken, die ich eigentlich jetzt gar nicht haben will. Wo ist eigentlich die gute Stimmung von heute Morgen hin, als ich einfach noch genossen habe, wie er gestöhnt hat unter der Dusche, wie sich seine Haut unter meinen Fingern anfühlt, wie seine Lippen schmecken und wie sein Lachen klingt und wo ich nichts schöner fand, als die kurzen hellen Härchen in seinem Nacken, die sich immer aufgestellt haben, wenn ich ihn sanft darauf geküsst habe? Als ich noch keinen Gedanken daran verschwendet habe, was jetzt passieren wird und wo ich auch noch nicht angenommen hatte, dass es ihm anders gehen könnte als mir. Ich weiß, es ist eigentlich kindisch und unreif, das ganze daran festzumachen, dass er mir bisher nicht geantwortet hat und er nicht so einer spontanen Schnapsidee von mir Folge leistet und sich in den nächstbesten Zug setzt um mit mir zu kommen. Wenn man es mal objektiv betrachtet, heißt es wohl nur, dass er kein spontaner Typ ist, was er mir auch mal gesagt hat, und dass er gerade nicht an sein Handy geht oder im Funkloch steckt. Mehr nicht. Mein Kopf macht daraus allerdings all die kleinen Fragen, all die Zweifel, dass Christian wohl nicht so angetan war von mir, wie ich von ihm. Dabei hatte ich wirklich das Gefühl, dass sich daraus etwas entwickeln könnte. Da hab ich allerdings auch noch keine Sekunde daran verschwendet, wie die Fernbeziehung wohl funktionieren und klappen könnte. Mal ehrlich, ich kann mir das nicht leisten jedes zweite Wochenende nach Frankfurt zu fahren, weder vom Geld her, noch von der Zeit, manchmal brauch ich eben auch den ganzen Sonntag zum Lernen. Und ich kann ja schlecht von ihm erwarten - nur weil er mehr Geld verdient, als ich mit meiner blöden Schülernachhilfe - dass er sich immer in den Zug schwingt. Und nur alle paar Monate mal sehen…das kann nicht klappen. Nicht im Anfangsstadium einer Beziehung, zumindest nicht für mich. Aber ich dachte ja auch bis vor kurzem noch, dass ich mich niemals über ein paar Treffen und das Internet verlieben könnte. Ich wende meinen Blick aus dem Fenster, es hat angefangen zu regnen, wie passend. Ist ja fast wie der tragische Höhepunkt eines schlechten Liebesfilms, fehlt nur noch, dass jetzt irgendwie tragische Geigenmusik ertönt und Christian mir eine SMS schreibt mit „War schön dass du da warst, aber das wird nichts mit uns.“ Ich schrecke regelrecht zusammen als mein iPhone tatsächlich in diesem Moment in meiner Hand vibriert. „Sorry, hab schlechten Empfang…reden später, okay? Wann kommt dein Zug an, dann ruf ich ne halbe Stunde später mal an.“, steht da auf meinen Display, als letzter Eintrag meiner Konversation mit Christian. Soll mich das jetzt beruhigen oder nicht? Gut, er hatte keinen Empfang, das ist also die Erklärung wieso er nicht eher geantwortet hat, aber was soll dieses „wir reden später“? Läutet man so nicht Schluss machen ein? Allerdings hätten wir dafür ja zusammen sein müssen. Oder aber für ihn war es bereits so eine Art Beziehung, soll ja Leute geben, für die geht das alles irgendwie schneller, auch wenn ich nicht gedacht hätte, dass er dazu gehört. Dafür wirkte er eigentlich immer zu realistisch, mit einem zu klaren Blick auf das Leben, wie es läuft und was er will und was nicht. Nicht wie jemand, der nach ein paar Chat-Dates direkt von einer festen Beziehung spricht und Besitzansprüche kundtut. „Eigentlich soll der Zug um halb drei ankommen, hat derzeit noch 20 Minuten Verspätung, versuchs also um halb vier mal!“ Als ich das eingetippt habe knacken die Lautsprecher und kaum verständlich kündigt der Zugführer an, dass wir in Kürze in Bonn halten werden und derzeit tatsächlich nur noch 15 Minuten Verspätung haben, irgendwie scheinen wir also mächtig Gas gegeben zu haben, und konnten so die zehn Minuten wieder gut machen. Von Bonn aus dauert es noch gut eine halbe Stunde bis Köln, die Hälfte der Zeit habe ich jetzt also mit Gedanken verschwendet, die ohnehin sinnlos sind und mich nur unglücklich machen. Toll. Wieso haben Züge manchmal diesen Effekt auf mich? Ich spüre die Trägheit meiner Masse, als die Bremsen einsetzten und der Zug langsamer wird und in den Bahnhof einrollt. Mittlerweile hat es sich ganz schön zugezogen draußen und obwohl es gerade mal kurz nach zwei Uhr ist, bin ich froh, dass das Licht im Zug an ist. Gut, eigentlich könnte es mir ja egal sein, schließlich brauche ich das gerade eigentlich nicht, im Grunde starre ich nur aus dem Fenster, zähle abwesend die Regentropfen und warte darauf endlich zu Hause zu sein und Christian anzurufen. „Boah näää... was das denn? Alles voll, oder was? Muss isch stehen, is ja scheißee~!“ Ich wäre fast aufgeschreckt als ich den doch ziemlich quengeligen Tonfall mit der Aussprache, als hätte die sprechende Person bisher weder etwas von korrekter Artikulation noch von funktionierender Grammatik gehört, neben mir vernehme und wende neugierig den Blick zur Seite. Es ist schwer sich das Augenrollen und Lachen zu verkneifen, denn es sind Menschen wie diese Tussi – anders kann man es nicht nennen – die da steht mit ihren langen, schwarzen Haaren, den knallrot geschminkten Lippen, den pinken, künstlichen Fingernägeln und der hässlichen Leggins in Silberoptik, zu einem paar Fellstiefeln und einem Rock, der mehr ein breiter Gürtel ist, die dafür sorgen dass Klischees und Stereotypen immer aufrecht bleiben. „Ja wart mal…Isch bin jetzt Zug, hier ist voll voll und der Empfang is kacke…ruf späta nochmal an!“, plärrt sie in ihr Handy und hat dabei ihre grässlich pinke Plastiktasche in Lederoptik in der Armbeuge baumeln und legt sich mit ihren Stiefel, die natürlich knappe 10 Zentimeter Absatz haben, erst einmal fast auf die Fresse als der Zug sich wieder in Bewegung setzt. Wäre vielleicht ganz hilfreich gewesen, denn dann hätte sie nicht noch mindestens fünf Minuten weiter Wortkotze in ihr Handy geätzt. Ich weiß nicht wieso, aber diese Stimmlage bringt mich auch direkt an den Rand des Wahnsinns. „Mach ma Platz und tu Koffer weg…“ Oh, ich glaube jetzt bin ich gemeint. Ganz toll, wieso müssen diese Tussis immer so viel Selbstvertrauen haben, dass sie selbst ein mit Jacke belegter Sitz und ein Koffer nicht davon abschrecken, sich genau dahin setzen zu wollen. Aber ich denke es braucht schon eine gehörige Portion Selbstbewusstsein – oder eine gestörte Selbstwahrnehmung – um sich mit diesem Leoparden-Felljäckchen in Kombination mit den übrigen Klamotten überhaupt auf die Straße zu trauen. Ich grummle etwas Unverständliches, von dem ich selber nicht genau weiß, was es mal werden sollte, außer ein Laut meines Unmutes, und sehe noch, wie die alte Frau mir gegenüber ebenfalls sehr kritisch auf meine Sitznachbarin in Spe guckt. Ich hieve den Koffer auf den Gang – dann kann da jetzt eben nur noch jemand durch der entweder magersüchtig dünn ist, oder Beine hat, die lang genug sind um drüber zu steigen – nehme meine Jacke auf den Schoß und rutsche selber auf den äußeren Platz, damit ich bei meinem Koffer bin und ihn notfalls zur Seite nehmen kann. Der modische Totalschaden sieht ein wenig ungeduldig und verärgert aus, als sie mit einem großen Schritt über die Beine der alten Frau stiefelt um in die Ecke auf den Sitzplatz zu kommen. Dabei tritt sie dem Mann auf den Fuß, der sich aber tapfer nichts anmerken lässt. Ich stütze meine Hand auf der Armstütze ab und lege meinen Kopf in die Handfläche und versuche den starken Parfümgeruch, den ich jetzt erst wahrnehme, da sie so dicht neben mir sitzt, einfach wegzuatmen, aber es klappt nicht. Dieser Duft riecht genauso billig wie der Rest an dieser Tussi. Ich hasse solche Menschen. Es geht da nicht speziell um Frauen, die sich kleiden als wenn sie ihre Klamotten farbenblind für den Straßenstrich ausgesucht hätten, auch nicht um den oft mit Migrationshintergrund verknüpften Assi-Slang und auch nicht darum, dass nun einmal nicht jeder ein Superhirn sein kann und es zu einem offensichtlichen Intelligenz- und Vernunftsgefälle kommt. Es sind vielmehr wandelnde Klischees, bei denen alles zusammenkommt. Leute, von denen man eigentlich immer behauptet, es gäbe sie nicht, und wenn man ihre Eigenschaften aufzählt, nennen einen alle vorurteilsbelastet. Aber dann begegnet man ihnen immer wieder, den Exemplaren, die all das verkörpern, was angeblich nur ein Klischee und absolut nicht wahr ist. Wegen solchen Leuten – also nicht wegen der Tussi neben mir, aber wegen anderen wandelnden Klischees – muss man selber damit leben, von anderen mit Stereotypen gleichgestellt zu werden. Schwule mit Tunten, Blondinen mir geballter Dummheit, Ausländer, mit pöbelnden Harz-IV-Kanacken. Ja, manchmal könnte ich mich stundenlang über so etwas aufregen, aber heute geht das recht schnell wieder vorbei, denn als sie endlich ihr Telefon wegsteckt – ein Hoch auf die Funklöcher auf der Strecke zwischen Bonn und Köln – und ich daher nicht mehr zuhören muss, kann ich ganz schnell ausblenden wer da neben mir sitzt. Meine Gedanken kehren ohnehin wieder zurück zu Christian. Zu der Silvesternacht, die wir alleine verbracht haben. Erst waren wir was essen, bei einem Italiener, und dann wollten wir eigentlich noch zu einer Party gehen, doch das haben wir dann nicht getan. Ich weiß, er wäre mit mir auf diese Party in einem der angesagtesten Clubs gegangen, auch wenn er eigentlich nicht viel für das Partyleben übrig hat. Aber spätestens nach dem Nachtisch – also dem, der aus Schokoladenmousse und Vanillesoße bestand – hatte ich selber kein allzu großes Verlangen mehr danach, ihn jetzt mit anderen Leuten zu teilen, also haben wir den Rest des Abends in seinem Bett verbracht und uns einen zweiten Nachtisch der besonderen Art gegönnt. Und auch noch einen dritten. Zwischendrin waren wir draußen auf der Straße und haben uns das Feuerwerk, das einige Kids aus seiner Nachbarschaft exzessiv gezündet haben, angeschaut, aber länger als eine knappe Stunde war das nicht. Mit dem restlichen Sekt haben wir dann, ohne dicken Wintermantel – ohne jegliche Klamotten – direkt auf seiner großen, gemütlichen Couch angestoßen. Anscheinend muss sich ein seliger Ausdruck auf mein Gesicht geschlichen haben, bei diesen Gedanken, denn die Frau mir gegenüber lächelt so unsagbar wissend. Wenn die wüsste, dass ich nicht an meine tolle Langzeitfreundin denke, sondern an einen Mann, den ich im Internet kenne gelernt und mit dem ich die letzte Woche nicht unbedingt ein Keuschheitsgelübte eingehalten habe, dann würde sie wahrscheinlich puterrot anlaufen. Warum müssen Köln und Frankfurt nur so scheiße weit auseinander sein? Gut, es hätte schlimmer kommen können, Hamburg-München oder Rostock - Saarbrücken. Wenn ich mal genau darüber nachdenke, gibt es eine ganze Menge mehr Städte, die weiter wegliegen als Frankfurt, aber dennoch, Bonn wäre für mich näher gewesen. Oder Leverkusen. Oder Düsseldorf – ich bin ja kein gebürtiger Kölner, also darf ich auch in die verbotene Stadt. Ich schließe die Augen und sehe sein Gesicht vor mir, wie er heute Morgen aus der Dusche kam, die hellbraunen Haare in nassen Strähnen im Gesicht. Er hat einen Drei-Tage-Bart, den er aber akkurat jeden Tag stutzt, sodass er nur eine schmale Kante am Kinn stehen hat und um den Mund herum. Bis ich ihn damit gesehen habe, wusste ich nicht einmal, dass ich darauf stehe, dass ich überhaupt auf Männer mit Gesichtsbehaarung stehe, aber zu ihm passte es von Anfang an so perfekt, dass seine Wangen und das Kinn wohl regelrecht leer wirken würden, wenn der Bart nicht wäre. Er hat breite Schultern aber seine Unterarme sind, als würden sie absichtlich einen Kontrast dazu bilden, ganz schmal. Er ist nicht sonderlich trainiert, also er hat weder einen starken Bizeps, noch ein Sixpack, aber er ist auch nicht wirklich undefiniert. Man könnte fast schon sagen ‚durchschnittlich‘ nur dass ich daran überhaupt nichts durchschnittlich finde, für mich ist er irgendwie besonders. Wieder so ein Gedanke, der mir klar macht, dass ich mich mit Anlauf und Frühstart in ihn verknallt habe, denn egal wie lange ich auch überlege, ich finde ihn einfach perfekt. Bei ihm mag ich sogar die Haare am Oberkörper, die feine Spur, die aus seiner Hose hinaus nach oben zu wachsen scheint, dabei hasse ich Körperbehaarung an anderen Stellen als an den Armen und Beinen. Aber bei ihm konnte ich meinen Kopf stundenlang auf der Brust liegen lassen und mit den Fingerspitzen in den Haaren rumkreisen, die viel, viel zu kurz sind um sie wirklich irgendwie zu kräuseln, aber ich hab es dennoch aus einer Laune heraus immer wieder versucht. Nur am Rande kriege ich mit, dass der Zug jetzt bereits schon zum zweiten Mal anhält, anscheinend sind wir in Köln Süd, und ich habe Brühl gedanklich komplett verpennt. Ich ziehe wieder mein Handy hervor, doch seit eben hat sich nichts getan. Hätte mich auch gewundert, denn schließlich merkt man ziemlich deutlich, wenn der Vibrationsalarm angeht, zumindest wenn das Teil in der Hosentasche ist. Also schiebe ich es seufzend in meine Tasche zurück und spiele dann gedankenverloren an dem Band, das ich um mein Handgelenk trage, herum. Es ist ein schwarzes Lederband, etwas breiter, mit einem Schnallenverschluss, an dem eine gravierte Metallplatte befestigt ist. Das war Christians Weihnachtsgeschenk an mich und auf die Platte hat er „380-780nm“ gravieren lassen. Ich muss zugeben, es hat eine ganze Ewigkeit gedauert, bis ich es kapiert habe, und das, obwohl ich ja eigentlich derjenige von uns beiden bin, der auf so einen fachiditiotischen Nerd-Kram abfährt. Das hab ich ihm glaub ich auch schon mehr als einmal erzählt, denn immerhin bewahre ich meine Gewürze in Reagenzgläsern mit Stopfen auf. 380 bis 780 Nanometer ist der Bereich der elektromagnetischen Strahlung, den wir mit unserem Auge sehen können, das sichtbare Spektrum, oder ganz schlicht und einfach „Licht“ genannt. Es ist nicht nur ein Geschenk, das ganz nach meinem Sinn ist, schließlich steh ich auf Lederarmbänder – was ich ihm wohl auch schon mal gesagt habe – und auf naturwissenschaftliche Anspielungen, nein, wenn man es genauer betrachtet ist es auch unglaublich kitschig. Nur eben so, dass es kaum einem auffällt. Denn in Form dieses Armbands trage ihn immer bei mir, Christian, auf dessen Klingelschild „C.Licht“ steht und der seine Klingel nach 23 Uhr immer ausschaltet, da zu oft sein Klingelknopf mit dem Lichtschalter verwechselt wird. So ein Geschenk macht man eigentlich keinem, der einem nichts bedeutet, oder? Das altbekannte und irgendwie nervige „Pling“, das eine Durchsage ankündigt, ertönt, und kurz darauf hört man wieder die Stimme des Zugführers, in einer für die deutsche Bahn erstaunlich guten Qualität. Er nuschelt auch gar nicht so, wie man es sonst so gewöhnt ist von den Ansagen, die nach einer Menge Rauschen auf „….in Fahrtrichtung links!“, enden. „Sehr geehrte Fahrgäste, in wenigen Minuten erreichen wir Köln Hauptbahnhof. Sie haben Anschluss an…“doch da schalte ich schon wieder ab. Ich brauche keine Anschlusszüge, immerhin bin ich am Ziel, wieder in meinem vorübergehenden Zuhause, auch wenn ich mir durchaus vorstellen könnte auch für länger nach Köln zu ziehen. Nur dann nicht in eine Studentenbude. Umständlich, ohne meinen Trolley umzutreten oder der alten Dame mir gegenüber auf die Füße zu stapfen, stehe ich auf und bekomme es irgendwie hin, meine Jacke anzuziehen ohne jemandem meine Ellbogen ins Gesicht zu rammen – auch wenn es mir bei der Tussi neben mir wohl nur halb so leid getan hätte, wie es meine gute Erziehung eigentlich von mir verlangt. Der Zug wird bereits wieder langsamer – hat er doch eigentlich nach dem letzten Halt nie wieder richtig volle Fahrt aufgenommen, zumindest meinem Empfinden nach – und um mich herum machen sich eine Menge Menschen fertig, ziehen ihre Jacken an, holen - wie ich - ihre Taschen und Rücksäcke aus der Ablage und zwängen sich bereits an Sitznachbarn vorbei, die noch nicht in Aufbruchsstimmung sind und ganz offenbar weiter als Köln fahren wollen. Gedämpft, aber immer noch laut, höre ich das Quietschen der Bremsen und sehe bereits den Bahnsteig, dann leuchtet das grüne Licht um den Knopf an der Tür herum auf und ein Mann, der vor mir steht betätigt ihn. Im Strom der ganzen Aussteigenden, gegängelt von den Wartenden, die ungeduldig sind einzusteigen, hieve ich meinen Koffer die zwei Treppen auf den Bahnsteig, lasse mich zur nächsten Treppe treiben und gehe hinunter. Dabei nehme ich sogar noch einen zweiten Koffer in die Hand, denn eine zierliche Frau mit Kleinkind auf dem freien Arm war anscheinend nicht geduldig genug, auf den Aufzug zu warten oder den Bahnsteig zur nächsten Rolltreppe entlang zu gehen, und müht sich nun mit ihrem neon-giftgrünen Hartschalenkoffer und einer schwer aussehenden Umhängetasche ab. Also trage ich ihr dieses farblich verboten gehörende Monstrum an Koffer, das sich anfühlt, als hätte sie nur Wasserflaschen und Bücher drin, die letzte Stufen hinab und mache mich dann eiligen Schrittes auf den Weg durch die Vorhalle. Wenn ich alleine unterwegs bin, habe ich einen ziemlich schnellen Schritt drauf und lasse mich da auch von Menschen um mich herum und einem Trolley hinter mir, nicht merklich abbremsen. Darin Entgegenkommenden auszuweichen bin ich in meiner Zeit hier in Köln Meister geworden. Mit diesem Tempo und meinem geschäftigen Scheuklappenblick – der Kölner Bahnhof wird sich in einer Woche nicht erwähnenswert verändert haben, wo sollte ich also hingucken? – eile ich auf die U-Bahn Station zu. Obwohl die Halle riesige gläserne Scheiben hat, fast schon wie eine Kuppel, ist es viel zu dunkel für diese Tageszeit. Es hat sich feste eingeregnet draußen und prasselt selbst in der Halle, in all dem Gesprächslärm, hörbar munter und erbarmungslos auf das Dach. Da spüre ich plötzlich mein Handy in der Tasche vibrieren und ohne meinen Schritt wirklich zu verlangsamen – alles eine Frage der Übung und Gewohnheit – befördere ich es zu Tage und starre auf das Display, das mir mitteilt: „Christian ruft an“ Hatte ich nicht gesagt, er soll es um halb vier probieren? Jetzt ist nicht mal ganz drei Uhr. Scheint ja was furchtbar wichtiges zu sein, was er mit mir ‚bereden‘ will. Mein Herz schlägt plötzlich so schrecklich beklommen, nicht schneller oder langsamer, nur härter gegen meine Brust. „Hi?“, melde ich mich. „Sieh mal nach links!“ Bitte was? „Sieh nach links!“, wiederholt er noch einmal energisch und jetzt bleibe ich verwundert stehen. Hebe mein Handy etwas vom Ohr weg und starre wohl reichlich verdattert darauf, dann aber folge ich zaghaft der Aufforderung und wende meinen Kopf nach links. Ich stehe unweit des Eingangs zur U-Bahnstation, direkt vor mir ist die Douglas-Filiale und dann links von mir, etwas abseits der Ameisenstraße, die sich aus eiligen Reisenden gebildet hat, die zu den Gleisen hetzen, steht er. Breit grinsend, nahezu strahlend steht er da und lässt sein Handy vom Ohr sinken, als er merkt, dass ich ihn erkannt habe und mit ein paar großen Schritten ist er auch schon bei mir. „Überraschung!“ Wenn er so strahlt sieht man ihm gar nicht an, dass er sieben Jahre älter ist als ich, dann wirkt er eher wie ein Schuljunge. Ein Schuljunge mit Bart zwar, aber ich meine ja auch nur die Mimik. „Wie…was….kneif mich! Was machst du denn hier? Und wie bist du hergekommen?“ Ich bin zu perplex, als dass ich mich rühren und etwas intelligentere Sätze als diese Fragen formulieren könnte. Doch Christian lässt sich davon anscheinend nicht beirren und grinst einfach weiter vor sich hin. „Ich bin hier, weil ich noch eine ganze Woche Urlaub habe und gemerkt habe, dass ich mich schrecklich langweilen würde, so alleine zu Hause, also hab ich einfach gehofft, dass dein Angebot noch steht und ich einfach bei dir bleiben kann.“ Jetzt endlich löst sich mein Starre und die Verwunderung und ich spüre wie sich meine Mundwinkel heben, ich den Trolley Trolley sein lasse und den letzten halben Meter Distanz zwischen uns überwinde und ihn umarme. Es ist eine schöne, warme Umarmung und er schlingt seine Hände um meine Hüften, denn ich bin ein paar Zentimeter größer als er und es würde sich irgendwie komisch anfühlen, wenn er versuchen würde, sie um meine Schulter zu schlingen. „Natürlich steht das Angebot noch! Aber wie kommst du hierhin..?“ „Mit dem Zug, genauso wie du.“ Dieses unverschämte Grinsen, als er sich von mir löst und mit den Händen in Richtung meines Koffers deutet, von dem wir ein wenig weggedriftet sind während der Begrüßung und der jetzt etwas verwahrlost und alleine rumsteht. „Hol den mal besser, sonst wird er entweder geklaut oder löst noch einen Polizeigroßeinsatz aus. Please don’t leave any luggage unattended!“, zitiert er lachend und folgt mir. „Als ich vom Bahnhof wieder zu Hause war, hab ich gemerkt wie leer meine Wohnung plötzlich wieder war und wie schön es gewesen ist, dass da jemand war….dass du da warst“, er redet jetzt leise, dass nur ich ihn hören kann, auch wenn er angesichts der Geräuschkulisse wohl ruhig etwas lauter reden könnte. Was soll’s, ich beschwer mich nicht, so habe ich einen Grund mehr, ihm ganz nahe zu kommen. Ich spüre wieder dieses Kribbeln in meinem ganzen Körper, dass ich auch in den letzte Tagen sooft gespürt habe. „Und da fiel mir auf wie bescheuert es von mir war, nicht einfach auf dein Angebot einzugehen und mitzukommen. Aber vielleicht hab ich zu dem Zeitpunkt nur nicht vermutet, dass ich dich so schnell vermissen würde... aber das hab ich!“ Eigentlich steh ich ja nicht so auf Liebesgeständnisse in der Öffentlichkeit, aber erstens kann es ja ohnehin keiner hören - auch der zärtliche Blick ist nur für mich bestimmt - und zweitens ist das hier Köln, da drehen sich eh nur noch Touristen um. „Also hab ich kurzerhand meine Tasche gepackt….“ Er deutet auf eine große, schwarze Sporttasche, die um seine Schulter hängt, „…hab dabei die Hälfte vergessen, bin wieder zum Bahnhof und hab mir eine Karte für den ICE eine Stunde später geholt. Eine ganze Stunde später und dennoch musste ich jetzt noch über eine Stunde im Starbucks sitzen und warten. Ehrlich, ich versteh nicht wieso du die Regionalverbindung vorgezogen hast.“ „Kann ja nicht jeder wie Krösus reisen…“, stichel ich, doch mein Lächeln entschärft das ganze hoffentlich wieder. „…oder mit Licht-geschwindigkeit.“ Herrlich, ich merke ja jetzt erst, welch ein Potential sein Nachname mir so bietet, auch wenn er ein bisschen beleidigt grummelt. Allerdings ist das so offensichtlich gespielt, dass ich beschließe es nicht weiter ernst zu nehmen. Wollte ich doch eben noch in ein Schlechte-Laune-Tief verfallen, so merke ich nun ganz deutlich den Aufwind eines Glückshormone-Hochs, dass sich in mir breit macht und ich beuge mich vor und küsse ihn einfach. Mitten in der Bahnhofshalle und alles um mich herum wird gleichgültig und unwichtig. Da gibt es nur ihn und mich und das schöne Gefühl, dass ich jetzt noch eine Woche länger genießen kann, mich in diesen tollen Mann verliebt zu haben, der mal eben 70 Euro für eine ICE Fahrt – ich weiß ja was das kostet –ausgibt, einfach nur um Zeit mit mir zu verbringen. „Ich muss noch einkaufen, ich hab meine Zahnbürste und Socken zu Hause vergessen....“, teilt er mir mit, als ich den Kuss löse und dann starrt er an mir vorbei durch die verglaste Front. „Ist ganz schön dunkel geworden….“ Es kommt beiläufig und erst als er das schelmische, einen Scherz ausheckende Grinsen auf meinen Lippen bemerkt, versucht er noch einzulenken „Nein..sag’s nicht..“ Doch zu spät, denn die Worte haben sich bereits auf meinen Lippen geformt. „Macht ja nichts, ich habe ja jetzt Licht.“ „Das mit den dummen Nachnamenswitzen kannst du gleich mal wieder aufhören, sonst setz ich mich direkt in den nächsten ICE zurück…“ Aber er lacht dabei und greift nach meiner Hand, als ich mich wieder in Bewegung setze. Da bleibt nur eins zu hoffen, dass der Spruch stimmt: Wie das Jahr angefangen hat, so wird es auch enden. Denn daran, ich bei Christian, Christian bei mir, daran könnte ich mich glatt gewöhnen. +Ende+ Ich hoffe sehr, es hat dir, mein lieber Wichtel, gefallen und allen anderen auch :) Ich gebe zu, ich habe mich sehr ausführlich mit den Beschreibungen von der Atmosphäre im Zug und am Bahnhof aufgehalten, aber das war mein Versuch den Wünschen gerecht zu werden :) LG trinithy Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)