White Noise von Nugua ================================================================================ Kapitel 1: Monsentiero ---------------------- Es war eines dieser typischen Zimmer, die Pokémoncenter für wenig Geld an Trainer auf Durchreise vermieteten: 10 m² groß, ein Bett, ein Spind, ein Schreibtisch, ein schmales Regal, ein Sessel, eine Nasszelle mit Dusche, Toilette und Waschbecken. Aber dieses Zimmer hatte bereits eine persönliche Note angenommen, die darauf hinwies, dass seine Mieterin schon seit längerer Zeit hier gewohnt hatte: ein Blumentopf auf dem Fensterbrett, Bilder und Postkarten an der Spind-Tür, eine Schale mit Maronbeeren auf dem Schreibtisch, ein Filmplakat von Super Sandro schlägt zurück an der Wand über dem Schreibtisch, ein eingerahmtes Foto neben dem Bett, eine Emolga-Poképuppe auf dem Bett. Und jede Menge Bücher, Notizzettel und Kleidungsstücke, die im ganzen Zimmer verstreut waren. Bell XXX gehörte offenbar zur Sparte „kreative Chaotin“. Als Rocky mit ihrem Finger über die Schreibtischplatte fuhr, bemerkte sie, dass sich bereits ein feiner Staubfilm auf dem Möbelstück angesammelt hatte. Die Blumen auf dem Fensterbrett ließen ihre Köpfe hängen, und die Beeren in der Schale waren trocken und hart, und dadurch nicht mehr genießbar. Vier bis fünf Tage, dachte sie. Das Mädchen ist seit ungefähr vier bis fünf Tagen fort. Allerhöchstens sechs Tage, diese Orchideensorte hält sich nicht länger ohne Wasser. Das Beunruhigende daran war, dass nichts darauf hindeutete, dass Bell einen längeren Ausflug geplant hatte. Ihr Rucksack stand noch in einer Ecke, als würde er darauf warten, gleich wieder aufgesetzt zu werden. Es gab keinerlei Anzeichen eines Einbruchs oder gar von Gewalt: Das Türschloss war in Ordnung, das Fenster fest verriegelt und einmal abgesehen von der normalen Unordnung, die im Zimmer herrschte, waren keine Möbelstücke verdächtig verrutscht oder gar beschädigt. Es wirkte fast so, als wären Bell und ihre Pokémon einfach verschwunden. Rocky zog die Schreibtisch-Schubladen nacheinander auf, und entdeckte weitere Bücher, einen Notizblock, ein Kästchen mit angekauten Kugelschreibern und Bleistiften, ein Album mit Skizzen von Pokémon, offenbar selbst angefertigt, einen Viso Caster und einen Pokédex. Welcher Trainer lässt seinen Rucksack, seinen Pokédex und seinen Viso Caster zurück, wenn er auf Reisen geht? Rocky versuchte, die Geräte einzuschalten, erntete jedoch nur ein statisches Rauschen. ~ Mit einer Einwohnerschaft von 43 Personen zählte Monsentiero zu den kleinsten Ortschaften Einalls. Das Wüstendorf hatte keine eigene Verwaltung; es wurde von der Stadtverwaltung von Ondula, das nur zehn Kilometer entfernt lag, mitverwaltet. Das Pokémoncenter war die einzige öffentliche Einrichtung Monsentieros, es gab nicht einmal eine Schule – die wenigen Kinder des Dorfes gingen in Ondula zur Schule. Die Einwohnerschaft zusammenzutrommeln war eine Sache von wenigen Minuten; das war erfreulich. Unerfreulich war jedoch, dass die Befragung der Einwohnerschaft ebenfalls innerhalb weniger Minuten erledigt war. „Also noch einmal von vorne“, sagte Rocky langsam. Sie ließ ihren Blick durch die Menge schweifen, prägte sich jedes einzelne Gesicht ein, suchte nach Anzeichen von Nervosität, Furcht, vielleicht auch Nachdenklichkeit – irgendeinem Hinweis, dass einer der Dorfbewohner etwas gesehen, gehört oder getan hatte, das im Zusammenhang mit Bells Verschwinden stand. Aber sie entdeckte nichts Verdächtiges, die Leute zeigten lediglich Besorgnis und Anteilnahme. „Bell XXX, 19 Jahre alt, Assistentin von Prof. Esche, ist vor drei Wochen in Monsentiero aufgetaucht.“ Die Augen der Menschen schienen sich ganz automatisch auf Schwester Joy zu richten. Die Leiterin des hiesigen Pokémoncenters war offenbar eine Art inoffizielles Dorfoberhaupt. Joy nickte. „Sie sagte, sie sei im Auftrag von Prof. Esche hergekommen. Sie wollte irgendetwas im Janusberg untersuchen.“ „Aber was genau sie untersuchen wollte, hat sie nicht gesagt?“, hakte Rocky nach. Ein stummes Kopfschütteln von Schwester Joy. „Und Sie haben ihr ein Zimmer vermietet.“ Das war keine Frage, eher eine Feststellung, um der Pokémonpflegerin weitere Informationen aus der Nase zu ziehen. Joy nickte erneut. „Normalerweise dürfen die Zimmer nur für eine Woche pro Trainer vermietet werden – das soll die Trainer zum vielen Reisen animieren und zudem sicherstellen, dass die Kapazitäten ausreichen, um alle Trainer kostengünstig unterzubringen. Aber Monsentiero ist so klein … hier kommen kaum Trainer vorbei, die Zimmer standen ohnehin leer. Darum habe ich für sie eine Ausnahme gemacht.“ „Zwischendurch waren also keine anderen Trainer da, die sich ebenfalls ein Zimmer gemietet hatten?“ „Nein.“ „Hatte Bell einen festen Tagesablauf?“ „Ja, sie hat immer morgens um acht mit uns Schwestern gefrühstückt und ist dann zum Janusberg aufgebrochen. Sie ist normalerweise zwischen 17 und 18 Uhr abends zurückgekommen.“ „Welchen Eindruck hatten Sie von ihr?“ „Sie war ein munteres Mädchen. Fröhlich, freundlich, offenherzig. Ich habe mich gerne mit ihr unterhalten. Sie … war vielleicht ein wenig tollpatschig.“ Joy knetete ihren Kittel mit einer unbehaglichen Geste und lächelte verkrampft. „Worüber haben Sie sich denn mit ihr unterhalten?“ „Über Pokémon. Hauptsächlich über ihre Zeit als Trainerin. Und über Prof. Esche, Team Plasma und Ex-Champion Lotta. Sie war schließlich ihre beste Freundin.“ „Und bevor Bell verschwunden ist, ist Ihnen da irgendwas Merkwürdiges aufgefallen? Hat sie sich anders verhalten, wirkte sie nervös oder geheimniskrämerisch?“ Joy legte die Stirn in Falten, als würde sie nachdenken, doch Rocky kam es irgendwie so vor, als würde sie es nur pro Forma tun und die Antwort längst wissen. „Nein, sie war ganz normal.“ „Okay.“ Rocky atmete tief durch und ließ ihren Blick abermals durch die Menge schweifen, bevor sie ihn wieder auf Schwester Joy richtete. „Wann haben Sie Bell das letzte Mal gesehen.“ „Ähm ...“ Zum ersten Mal trat Unsicherheit in Joys Blick. „Ich bin mir nicht sicher. Vor vier oder fünf Tagen?“ Die anderen beiden Schwestern des Pokémoncenters nickten bestätigend: „Ja, vor fünf Tagen.“ „Ja, das glaube ich auch.“ Rocky nickte nachdenklich, sagte aber nichts. Sie wartete einfach ab, Sekunde um Sekunde, ließ die Stille zu einer drückenden Last anschwellen, bis die Leute vor Verlegenheit ihrem Blick auswichen. Erst nach etwa zwei Minuten zündete sie die Bombe. „Bell ist eine ziemlich auffällige junge Frau. Sie trägt bevorzugt leuchtend orange Kleidung und Sie selbst haben ihren Charakter als „munter“ bezeichnet. Und Monsentiero ist ein kleines Örtchen, wo jeder jeden kennt.“ Rocky hob ihre Stimme etwas an, scharf und klar schnitt sie durch die heiße Wüstenluft. „Wie kann es sein, dass ein Mädchen wie Bell einfach verschwindet und niemand auf den Gedanken kommt, ihr Verschwinden der Polizei zu melden?“ Es war, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Die Dorfmeute, die bis eben noch still und schweigsam dagestanden hatte, begann wild und aufgeregt zu tuscheln. Am interessantesten jedoch war Joys Reaktion – die Frau sah aus, als hätte ihr jemand mit einer flachen Hand ins Gesicht geschlagen. Sie wurde urplötzlich leichenblass und Tränen traten in ihre Augen – als wäre ihr erst in diesem Moment wirklich bewusst geworden, dass ein Mädchen aus ihrer Mitte einfach verschwunden war und was das bedeutete. „Ich weiß es nicht!“ Die Tränen kullerten über ihre Wangen und tropften auf den heißen Lehmboden. „Ich weiß es wirklich nicht! Das hört sich jetzt wahrscheinlich verrückt an, aber … es ist mir einfach nicht aufgefallen. Ich habe überhaupt nicht an Bell gedacht. Erst, als Sie hier aufgekreuzt sind und sich nach ihr erkundigt haben, ist mir wieder eingefallen, dass sie da war!“ Ein einstimmiges, bestätigendes Murmeln raunte durch die verstaubten Gassen von Monsentiero. ~ Rocky wandte sich an ihre beiden Kollegen Joel und Jaden, die die Befragung aus dem Hintergrund heraus beobachtet hatten. „Was haltet ihr davon?“ Sie nannte die Zwei in Gedanken häufig „Jayjay“, weil ihre Vornamen beide mit „J“ anfingen. Joel war noch ein Grünschnabel, kaum 18 Jahre alt. Er ließ sich leicht aus der Fassung bringen und wurde unsicher, wenn zu viel Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet war. Aber er war ein wachsamer Beobachter, mit einem guten Blick für unauffällige Details, und gewissenhaft. Mit etwas mehr Berufserfahrung, da war sich Rocky sicher, würde er sich zu einem guten Polizisten mausern. Jaden war ein 50-jähriger, braungebrannter Muskelprotz mit einem ewig währenden grimmigen Gesichtsausdruck. Schweigsam, aber eine gute Seele. Rocky würde keine Sekunde zögern, um ihm ihr Leben anzuvertrauen, und eines Tages würde sie dies gewiss auch bei Joel tun. „Sie hat in der Vergangenheitsform gesprochen“, sagte Joel. „Sie war die beste Freundin von Ex-Champion Lotta, hat sie gesagt. War, nicht ist.“ Als wüsste sie, dass das Mädchen bereits tot ist. Diesen Satz sprach Joel nicht aus, aber Rocky wusste, dass er das dachte; sie sah es in seinen Augen. Rocky nickte, ihr war das auch aufgefallen. „Wir dürfen jetzt aber keine voreiligen Schlüsse ziehen. Es kann genauso gut sein, dass sie es aufgrund der Situation nur vermutet.“ Und dafür hätte sie leider gute Gründe. Die Wahrscheinlichkeit, dass Vermisste nach dem dritten Tag ihres Verschwindens wiedergefunden wurden, war statistisch gesehen sehr gering. Und Bell war bereits seit mindestens vier Tagen verschwunden. „Irgendwas stimmt hier nicht“, sagte Jaden. „Ich bin mir nur nicht sicher, was.“ Er fummelte in seiner Hosentasche herum und förderte eine Zigarettenschachtel zu Tage. Rocky beobachtete mit wachsender Beunruhigung, wie er eine der Zigaretten anzündete und begann, daran zu ziehen. Jaden rauchte nur in absoluten Ausnahmefällen, wenn ein Fall ihn emotional sehr belastete. Das letzte Mal hatte sie ihn vor 14 Monaten rauchen sehen, damals, als die Plasma-Bewegung ihren Höhepunkt erreicht hatte, und es zu gewaltsamen Ausschreitungen gekommen war. Rocky nahm ihren Polizeihut ab, der plötzlich unangenehm eng auf ihrem Kopf zu sitzen schien. Sie wischte sich mit einem Handrücken über die Stirn, wischte die nun feuchte Hand an ihrer Hose ab und setzte den Hut wieder auf. Dann zog sie ein Funkgerät aus ihrer Gürteltasche. „Alpha an Delta, bitte kommen.“ Rauschen. Sie versuchte es nochmal: „Alpha an Delta, bitte kommen.“ Nichts als Rauschen. Rocky unterdrückte ein frustriertes Seufzen und steckte das Funkgerät zurück in die Tasche. Aus diesem Grund hasste sie Außeneinsätze in Monsentiero: Die elektromagnetische Strahlung, die vom Janusberg ausging, legte ständig die Elektronik lahm. Es war fast unmöglich, Monsentiero übers Telefon zu erreichen, und andere Geräte wie Fernseher und Radio funktionierten ebenfalls kaum. Das war neben der Abgelegenheit und Unwirtlichkeit des Landes der Hauptgrund dafür, dass immer mehr Menschen abwanderten. Die Stadt starb aus. Langsam, aber stetig. In zwanzig Jahren würden wahrscheinlich nur noch alte Menschen hier wohnen, und sich gegenseitig beim Sterben zusehen. … Ein sehr morbider Gedanke, der ihr nicht dabei helfen würde, Bell wiederzufinden. „Joel, ich möchte, dass du zurück nach Ondula fährst. Sag Melina, dass sie die Datenbanken durchgehen und nach ähnlichen Fällen suchen soll. Wir haben es hier vielleicht mit einem Serientäter zu tun. Verständigt auch die anderen Dienststellen, vielleicht wissen die etwas, das uns weiterhelfen kann. Sobald Melina instruiert ist, kommst du zurück, klar?“ Joel nickte eifrig. Rocky wartete noch ein paar Sekunden, doch der Junge rührte sich nicht vom Fleck. „Sofort, Joel!“ Joel zuckte zusammen und hetzte dann wie ein aufgescheuchtes Dusselgurr zu seinem Moped. Rocky sah ihm mit einem leichten Kopfschütteln hinterher. „Jaden, du durchsuchst das Dorf und befragst nochmal die Einwohner. Jeden einzelnen. Nimm dir zuerst die Kinder vor, die neigen eher dazu, Dinge auszuplappern.“ Jaden antwortete indirekt, indem er seine Zigarette auf dem Boden austrat. „… Und was willst du tun?“ Rocky nahm einen Pokéball von ihrem Gürtel und rief ihr Terribark. „Ich sehe mir diesen Berg einmal genauer an.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)