White Noise von Nugua ================================================================================ Prolog: Ein Notfall ------------------- Rocky verfügte über eine seltsame Gabe, die ihre Cousine aus Twindrake City scherzhaft als „Dringlichkeits-Detektor“ bezeichnete: Wenn ein Telefon klingelte, dann spürte sie intuitiv, ob es sich bei diesem Anruf um eine dringliche Angelegenheit handelte oder nicht. So war es auch an diesem Tag, dem 20. September, um 08:24 Uhr. Ihr Telefon klingelte, und sie wusste sofort, dass es ein Notfall war. Sie stand gerade in der Teeküche, die sich schräg gegenüber von ihrem Büro befand, und kochte sich ihren Morgenkaffee, als es losging. Es war, als würde das Telefon lauter und schriller klingeln als normalerweise. Rocky stürmte in ihr Büro, stolperte beinahe über den Wasserkocher, der mangels einer Abstellfläche in Steckdosennähe auf dem Boden stand, und hob ab. „Polizeirevier von Ondula.“ Kein „Guten Tag“, kein „Was kann ich für Sie tun?“ Es beanspruchte Zeit, diese Worte auszusprechen, und in Situationen wie diesen war Zeit ein kostbares Gut, das sie nicht leichtsinnig verschwenden wollte. „Guten Tag.“ Die Stimme am anderen Ende der Leitung war männlich und klang trotz der gewissen Autorität, die in ihr mitschwang, noch recht jung. Sie kam ihr außerdem vage bekannt vor, aber warum das so war, begriff Rocky erst, als der Anrufer weiterredete. „Hier ist Cheren XXX. Ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben.“ Kapitel 1: Monsentiero ---------------------- Es war eines dieser typischen Zimmer, die Pokémoncenter für wenig Geld an Trainer auf Durchreise vermieteten: 10 m² groß, ein Bett, ein Spind, ein Schreibtisch, ein schmales Regal, ein Sessel, eine Nasszelle mit Dusche, Toilette und Waschbecken. Aber dieses Zimmer hatte bereits eine persönliche Note angenommen, die darauf hinwies, dass seine Mieterin schon seit längerer Zeit hier gewohnt hatte: ein Blumentopf auf dem Fensterbrett, Bilder und Postkarten an der Spind-Tür, eine Schale mit Maronbeeren auf dem Schreibtisch, ein Filmplakat von Super Sandro schlägt zurück an der Wand über dem Schreibtisch, ein eingerahmtes Foto neben dem Bett, eine Emolga-Poképuppe auf dem Bett. Und jede Menge Bücher, Notizzettel und Kleidungsstücke, die im ganzen Zimmer verstreut waren. Bell XXX gehörte offenbar zur Sparte „kreative Chaotin“. Als Rocky mit ihrem Finger über die Schreibtischplatte fuhr, bemerkte sie, dass sich bereits ein feiner Staubfilm auf dem Möbelstück angesammelt hatte. Die Blumen auf dem Fensterbrett ließen ihre Köpfe hängen, und die Beeren in der Schale waren trocken und hart, und dadurch nicht mehr genießbar. Vier bis fünf Tage, dachte sie. Das Mädchen ist seit ungefähr vier bis fünf Tagen fort. Allerhöchstens sechs Tage, diese Orchideensorte hält sich nicht länger ohne Wasser. Das Beunruhigende daran war, dass nichts darauf hindeutete, dass Bell einen längeren Ausflug geplant hatte. Ihr Rucksack stand noch in einer Ecke, als würde er darauf warten, gleich wieder aufgesetzt zu werden. Es gab keinerlei Anzeichen eines Einbruchs oder gar von Gewalt: Das Türschloss war in Ordnung, das Fenster fest verriegelt und einmal abgesehen von der normalen Unordnung, die im Zimmer herrschte, waren keine Möbelstücke verdächtig verrutscht oder gar beschädigt. Es wirkte fast so, als wären Bell und ihre Pokémon einfach verschwunden. Rocky zog die Schreibtisch-Schubladen nacheinander auf, und entdeckte weitere Bücher, einen Notizblock, ein Kästchen mit angekauten Kugelschreibern und Bleistiften, ein Album mit Skizzen von Pokémon, offenbar selbst angefertigt, einen Viso Caster und einen Pokédex. Welcher Trainer lässt seinen Rucksack, seinen Pokédex und seinen Viso Caster zurück, wenn er auf Reisen geht? Rocky versuchte, die Geräte einzuschalten, erntete jedoch nur ein statisches Rauschen. ~ Mit einer Einwohnerschaft von 43 Personen zählte Monsentiero zu den kleinsten Ortschaften Einalls. Das Wüstendorf hatte keine eigene Verwaltung; es wurde von der Stadtverwaltung von Ondula, das nur zehn Kilometer entfernt lag, mitverwaltet. Das Pokémoncenter war die einzige öffentliche Einrichtung Monsentieros, es gab nicht einmal eine Schule – die wenigen Kinder des Dorfes gingen in Ondula zur Schule. Die Einwohnerschaft zusammenzutrommeln war eine Sache von wenigen Minuten; das war erfreulich. Unerfreulich war jedoch, dass die Befragung der Einwohnerschaft ebenfalls innerhalb weniger Minuten erledigt war. „Also noch einmal von vorne“, sagte Rocky langsam. Sie ließ ihren Blick durch die Menge schweifen, prägte sich jedes einzelne Gesicht ein, suchte nach Anzeichen von Nervosität, Furcht, vielleicht auch Nachdenklichkeit – irgendeinem Hinweis, dass einer der Dorfbewohner etwas gesehen, gehört oder getan hatte, das im Zusammenhang mit Bells Verschwinden stand. Aber sie entdeckte nichts Verdächtiges, die Leute zeigten lediglich Besorgnis und Anteilnahme. „Bell XXX, 19 Jahre alt, Assistentin von Prof. Esche, ist vor drei Wochen in Monsentiero aufgetaucht.“ Die Augen der Menschen schienen sich ganz automatisch auf Schwester Joy zu richten. Die Leiterin des hiesigen Pokémoncenters war offenbar eine Art inoffizielles Dorfoberhaupt. Joy nickte. „Sie sagte, sie sei im Auftrag von Prof. Esche hergekommen. Sie wollte irgendetwas im Janusberg untersuchen.“ „Aber was genau sie untersuchen wollte, hat sie nicht gesagt?“, hakte Rocky nach. Ein stummes Kopfschütteln von Schwester Joy. „Und Sie haben ihr ein Zimmer vermietet.“ Das war keine Frage, eher eine Feststellung, um der Pokémonpflegerin weitere Informationen aus der Nase zu ziehen. Joy nickte erneut. „Normalerweise dürfen die Zimmer nur für eine Woche pro Trainer vermietet werden – das soll die Trainer zum vielen Reisen animieren und zudem sicherstellen, dass die Kapazitäten ausreichen, um alle Trainer kostengünstig unterzubringen. Aber Monsentiero ist so klein … hier kommen kaum Trainer vorbei, die Zimmer standen ohnehin leer. Darum habe ich für sie eine Ausnahme gemacht.“ „Zwischendurch waren also keine anderen Trainer da, die sich ebenfalls ein Zimmer gemietet hatten?“ „Nein.“ „Hatte Bell einen festen Tagesablauf?“ „Ja, sie hat immer morgens um acht mit uns Schwestern gefrühstückt und ist dann zum Janusberg aufgebrochen. Sie ist normalerweise zwischen 17 und 18 Uhr abends zurückgekommen.“ „Welchen Eindruck hatten Sie von ihr?“ „Sie war ein munteres Mädchen. Fröhlich, freundlich, offenherzig. Ich habe mich gerne mit ihr unterhalten. Sie … war vielleicht ein wenig tollpatschig.“ Joy knetete ihren Kittel mit einer unbehaglichen Geste und lächelte verkrampft. „Worüber haben Sie sich denn mit ihr unterhalten?“ „Über Pokémon. Hauptsächlich über ihre Zeit als Trainerin. Und über Prof. Esche, Team Plasma und Ex-Champion Lotta. Sie war schließlich ihre beste Freundin.“ „Und bevor Bell verschwunden ist, ist Ihnen da irgendwas Merkwürdiges aufgefallen? Hat sie sich anders verhalten, wirkte sie nervös oder geheimniskrämerisch?“ Joy legte die Stirn in Falten, als würde sie nachdenken, doch Rocky kam es irgendwie so vor, als würde sie es nur pro Forma tun und die Antwort längst wissen. „Nein, sie war ganz normal.“ „Okay.“ Rocky atmete tief durch und ließ ihren Blick abermals durch die Menge schweifen, bevor sie ihn wieder auf Schwester Joy richtete. „Wann haben Sie Bell das letzte Mal gesehen.“ „Ähm ...“ Zum ersten Mal trat Unsicherheit in Joys Blick. „Ich bin mir nicht sicher. Vor vier oder fünf Tagen?“ Die anderen beiden Schwestern des Pokémoncenters nickten bestätigend: „Ja, vor fünf Tagen.“ „Ja, das glaube ich auch.“ Rocky nickte nachdenklich, sagte aber nichts. Sie wartete einfach ab, Sekunde um Sekunde, ließ die Stille zu einer drückenden Last anschwellen, bis die Leute vor Verlegenheit ihrem Blick auswichen. Erst nach etwa zwei Minuten zündete sie die Bombe. „Bell ist eine ziemlich auffällige junge Frau. Sie trägt bevorzugt leuchtend orange Kleidung und Sie selbst haben ihren Charakter als „munter“ bezeichnet. Und Monsentiero ist ein kleines Örtchen, wo jeder jeden kennt.“ Rocky hob ihre Stimme etwas an, scharf und klar schnitt sie durch die heiße Wüstenluft. „Wie kann es sein, dass ein Mädchen wie Bell einfach verschwindet und niemand auf den Gedanken kommt, ihr Verschwinden der Polizei zu melden?“ Es war, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Die Dorfmeute, die bis eben noch still und schweigsam dagestanden hatte, begann wild und aufgeregt zu tuscheln. Am interessantesten jedoch war Joys Reaktion – die Frau sah aus, als hätte ihr jemand mit einer flachen Hand ins Gesicht geschlagen. Sie wurde urplötzlich leichenblass und Tränen traten in ihre Augen – als wäre ihr erst in diesem Moment wirklich bewusst geworden, dass ein Mädchen aus ihrer Mitte einfach verschwunden war und was das bedeutete. „Ich weiß es nicht!“ Die Tränen kullerten über ihre Wangen und tropften auf den heißen Lehmboden. „Ich weiß es wirklich nicht! Das hört sich jetzt wahrscheinlich verrückt an, aber … es ist mir einfach nicht aufgefallen. Ich habe überhaupt nicht an Bell gedacht. Erst, als Sie hier aufgekreuzt sind und sich nach ihr erkundigt haben, ist mir wieder eingefallen, dass sie da war!“ Ein einstimmiges, bestätigendes Murmeln raunte durch die verstaubten Gassen von Monsentiero. ~ Rocky wandte sich an ihre beiden Kollegen Joel und Jaden, die die Befragung aus dem Hintergrund heraus beobachtet hatten. „Was haltet ihr davon?“ Sie nannte die Zwei in Gedanken häufig „Jayjay“, weil ihre Vornamen beide mit „J“ anfingen. Joel war noch ein Grünschnabel, kaum 18 Jahre alt. Er ließ sich leicht aus der Fassung bringen und wurde unsicher, wenn zu viel Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet war. Aber er war ein wachsamer Beobachter, mit einem guten Blick für unauffällige Details, und gewissenhaft. Mit etwas mehr Berufserfahrung, da war sich Rocky sicher, würde er sich zu einem guten Polizisten mausern. Jaden war ein 50-jähriger, braungebrannter Muskelprotz mit einem ewig währenden grimmigen Gesichtsausdruck. Schweigsam, aber eine gute Seele. Rocky würde keine Sekunde zögern, um ihm ihr Leben anzuvertrauen, und eines Tages würde sie dies gewiss auch bei Joel tun. „Sie hat in der Vergangenheitsform gesprochen“, sagte Joel. „Sie war die beste Freundin von Ex-Champion Lotta, hat sie gesagt. War, nicht ist.“ Als wüsste sie, dass das Mädchen bereits tot ist. Diesen Satz sprach Joel nicht aus, aber Rocky wusste, dass er das dachte; sie sah es in seinen Augen. Rocky nickte, ihr war das auch aufgefallen. „Wir dürfen jetzt aber keine voreiligen Schlüsse ziehen. Es kann genauso gut sein, dass sie es aufgrund der Situation nur vermutet.“ Und dafür hätte sie leider gute Gründe. Die Wahrscheinlichkeit, dass Vermisste nach dem dritten Tag ihres Verschwindens wiedergefunden wurden, war statistisch gesehen sehr gering. Und Bell war bereits seit mindestens vier Tagen verschwunden. „Irgendwas stimmt hier nicht“, sagte Jaden. „Ich bin mir nur nicht sicher, was.“ Er fummelte in seiner Hosentasche herum und förderte eine Zigarettenschachtel zu Tage. Rocky beobachtete mit wachsender Beunruhigung, wie er eine der Zigaretten anzündete und begann, daran zu ziehen. Jaden rauchte nur in absoluten Ausnahmefällen, wenn ein Fall ihn emotional sehr belastete. Das letzte Mal hatte sie ihn vor 14 Monaten rauchen sehen, damals, als die Plasma-Bewegung ihren Höhepunkt erreicht hatte, und es zu gewaltsamen Ausschreitungen gekommen war. Rocky nahm ihren Polizeihut ab, der plötzlich unangenehm eng auf ihrem Kopf zu sitzen schien. Sie wischte sich mit einem Handrücken über die Stirn, wischte die nun feuchte Hand an ihrer Hose ab und setzte den Hut wieder auf. Dann zog sie ein Funkgerät aus ihrer Gürteltasche. „Alpha an Delta, bitte kommen.“ Rauschen. Sie versuchte es nochmal: „Alpha an Delta, bitte kommen.“ Nichts als Rauschen. Rocky unterdrückte ein frustriertes Seufzen und steckte das Funkgerät zurück in die Tasche. Aus diesem Grund hasste sie Außeneinsätze in Monsentiero: Die elektromagnetische Strahlung, die vom Janusberg ausging, legte ständig die Elektronik lahm. Es war fast unmöglich, Monsentiero übers Telefon zu erreichen, und andere Geräte wie Fernseher und Radio funktionierten ebenfalls kaum. Das war neben der Abgelegenheit und Unwirtlichkeit des Landes der Hauptgrund dafür, dass immer mehr Menschen abwanderten. Die Stadt starb aus. Langsam, aber stetig. In zwanzig Jahren würden wahrscheinlich nur noch alte Menschen hier wohnen, und sich gegenseitig beim Sterben zusehen. … Ein sehr morbider Gedanke, der ihr nicht dabei helfen würde, Bell wiederzufinden. „Joel, ich möchte, dass du zurück nach Ondula fährst. Sag Melina, dass sie die Datenbanken durchgehen und nach ähnlichen Fällen suchen soll. Wir haben es hier vielleicht mit einem Serientäter zu tun. Verständigt auch die anderen Dienststellen, vielleicht wissen die etwas, das uns weiterhelfen kann. Sobald Melina instruiert ist, kommst du zurück, klar?“ Joel nickte eifrig. Rocky wartete noch ein paar Sekunden, doch der Junge rührte sich nicht vom Fleck. „Sofort, Joel!“ Joel zuckte zusammen und hetzte dann wie ein aufgescheuchtes Dusselgurr zu seinem Moped. Rocky sah ihm mit einem leichten Kopfschütteln hinterher. „Jaden, du durchsuchst das Dorf und befragst nochmal die Einwohner. Jeden einzelnen. Nimm dir zuerst die Kinder vor, die neigen eher dazu, Dinge auszuplappern.“ Jaden antwortete indirekt, indem er seine Zigarette auf dem Boden austrat. „… Und was willst du tun?“ Rocky nahm einen Pokéball von ihrem Gürtel und rief ihr Terribark. „Ich sehe mir diesen Berg einmal genauer an.“ Kapitel 2: Der Janusberg ------------------------ Auf die Technik mochte in dieser Gegend kein Verlass sein – auf ihr Terribark hingegen schon. Es konnte problemlos eine Spur von Bell aufnehmen und verfolgen. Der Weg zum Janusberg war kurz, aber beschwerlich. Sie musste sich durch Dornengestrüpp kämpfen und einen sehr steilen Anstieg überwinden, bis sie endlich den Eingang des Berges erreichte. Die Hitze wurde dabei von Minute zu Minute unerträglicher. Es war schon erstaunlich, wie viel eine Entfernung von wenigen Kilometern ausmachen konnte: In Ondula wehte zu dieser Zeit bereits ein kühler Wind, der nach Winter roch und schmeckte, aber hier am Janusberg herrschte eine trockene Hitze, die ihre Kehle ausdörrte. Innerhalb kürzester Zeit war sie schweißgebadet, obwohl sie bereits ihren Hut abgenommen und ihren Blazer ausgezogen hatte, sodass sie obenrum nur noch eine dünne weiße Bluse trug. Ihre Schuhe hätte sie liebend gern auch ausgezogen, aber der Boden war so heiß, dass sie unmöglich barfuß darauf laufen konnte. Am schlimmsten waren aber die Sandkörner. Sie schienen einfach überall zu sein: in ihren Haaren, Augen, Ohren, sogar in ihrer Unterwäsche. Der Bergeingang gähnte ihr wie ein gieriger Schlund entgegen. Willkommen in der Hölle, dachte Rocky zynisch, bevor sie ein weiteres Pokémon – Sodachita – aus ihrem Pokéball rief. ~ Im Inneren des Berges war es stockfinster und warm wie in einem Backofen. Rocky musste den Weg mit ihrer Stablampe beleuchten. Terribark drückte sich winselnd gegen ihr Bein; sie ging kurz in die Hocke, um es zu streicheln und ihm gut zuzureden. „Ruhig, mein Kleiner. Wir schaffen das schon.“ Sodachita schien keine Angst zu haben, das war immerhin etwas. Rocky hob die Stablampe hoch über ihren Kopf und schwenkte sie langsam hin und her, um sich einen Überblick zu verschaffen. Erkaltetes Lavagestein. Verzerrte Schatten, die bei jeder Bewegung der Lampe wie ein eigenständiges Lebewesen durch die Ecken huschten. Rötlich flirrende Luft. Schwefelgestank. „Bell?“ Ihr Ruf geisterte durch den Tunnel, brach sich an den Wänden, verformte sich zu einem „Ellellellell?“, das noch lange nachhallte, als würden die Wände verstohlen miteinander flüstern. „Bell, bist du hier? Wenn du mich hören kannst, antworte! Wenn du nicht rufen kannst, versuche, dich durch Klopfen bemerkbar zu machen!“ Rocky lauschte angestrengt, hörte aber nichts anderes als das Echo ihrer Stimme und das Atmen ihrer Pokémon. ~ Sie traf schon bald auf eine Abzweigung, und dann auf eine weitere. Das Berginnere entpuppte sich als verschlungenes Labyrinth. Rocky ging methodisch vor, nahm erst den äußeren Gang, markierte die Wände in regelmäßigen Abständen mit Kreidezeichen, und arbeitete sich allmählich zum Herz des Berges vor. Immer wieder geriet sie in Sackgassen, immer wieder rief sie nach Bell, ohne eine Antwort zu erhalten. Gelegentlich traf sie auf wilde Pokémon, hauptsächlich auf Flampions und Kieslinge, die sich offenbar in ihrer Ruhe gestört fühlten und sie deshalb angriffen. Sodachita wurde zum Glück spielend mit ihnen fertig. Nachdem sie drei Stunden lang erfolglos herumgeirrt war, traf sie auf einen unterirdischen Lavasee. Die Hitze war an dieser Stelle so unerträglich, dass ihre Augen tränten und ihre Lippen aufplatzten. Rocky klammerte sich an der Bergwand fest und starrte auf die glühende Lava, die in drei Metern Entfernung träge hin und her schwappte. Da lag etwas auf dem Boden, auf der anderen Seite des Sees. Etwas Buntes. Rocky rief ihre Pokémon in ihre Bälle zurück. Sie tränkte einen dünnen Seidenschal mit Wasser und wickelte ihn um ihr Gesicht, bis Mund und Nase bedeckt waren. Dann ging sie los. Langsam, sorgsam auf jeden Schritt achtend, umrundete sie den Lavasee, bis sie endlich, nach 10 quälenden Minuten, auf der anderen Seite angekommen war. Der Abstand zwischen Felskante und Lava war an einigen Stellen nicht einmal einen Meter breit, und sie sah sich schon mehrmals abstürzen und in die Lava fallen, doch nichts dergleichen geschah. Das bunte Ding, das sie gesehen hatte, war ein grüner Stoffbeutel, der mit Lebensmitteln gefüllt war: eine Flasche Wasser, bereits angebrochen, eine Flasche Limonade, eine Packung Cracker und getrocknete Früchte. Von seinem Besitzer war weit und breit nichts zu sehen. Rocky drückte den Beutel an ihre Brust und starrte erneut in die Lava. Hatte dieser Beutel Bell gehört? War Bell hier gewesen? War sie vielleicht in die Lava gestürzt und gestorben? Ein eisiger Schauer lief über ihre Schultern, trotz der flirrenden Hitze. ~ Als sie endlich wieder draußen ankam, war es schon später Nachmittag. Rocky begriff nicht, warum ihr die Luft außerhalb des Janusberges vor einigen Stunden noch so heiß und stickig vorgekommen war – es war paradiesisch. Sie ließ sich auf einen Stein sinken, atmete tief durch und leerte eine ganze Flasche Wasser auf einmal. Anschließend versuchte sie, Jaden und Joel zu erreichen, kam aber weder per Funk noch per Viso Caster durch. Es war nicht wirklich überraschend, aber trotzdem irgendwie enttäuschend. Als sie sich gerade dazu aufraffen wollte, wieder aufzustehen und zurück ins Dorf zu laufen, begann ihr Terribark wie verrückt zu bellen. Rocky blickte sich um, konnte aber keine potentielle Gefahrenquelle ausmachen – bis ihr ein Schatten auf dem Boden auffiel. Sie schaute nach oben und entdeckte ein Flugpokémon, das gerade zur Landung ansetzte und direkt auf sie zuhielt. Sie war schon kurz davor, ein weiteres Pokémon zu rufen und zum Angriff überzugehen, doch dann erkannte sie, wer auf dem Pokémon saß, und brach mitten in der Bewegung ab. Arenaleiter Cheren war gekommen. Kapitel 3: Schlechte Neuigkeiten -------------------------------- Das Durchwahlgeräusch ertönte. Dreimal, viermal, fünfmal. Die Anzeige auf seinem Viso Caster blieb schwarz. Cheren verdrehte innerlich die Augen. Wissenschaftler … warum war es immer so schwierig, sie zu erreichen? Endlich, nach dem siebten Klingeln, wurde sein Anruf entgegen genommen, und Prof. Esche erschien auf seinem Display. „Oh, hallo Cheren, wie geht es dir?“ Ich sitze seit sieben Stunden auf meinem Fasasnob fest, habe noch mindestens eine weitere Stunde Fliegen vor mir, und keine Ahnung, was mit Bell los ist. Und mir ist kalt. Und mein rechter Fuß ist eingeschlafen. „Den Umständen entsprechend“, sagte er knapp. „Hören Sie, Professor, ich kann bereits den Janusberg sehen und werde wahrscheinlich bald nicht mehr in der Lage sein, Sie zu erreichen, weil sie Verbindung in der Gegend so schlecht ist. Ich wollte nur noch einmal anrufen und fragen, ob Sie etwas Neues von Bell gehört haben?“ Der beinahe flehende Unterton in seiner Stimme erschreckte ihn ein wenig. Insgeheim wusste er selbst, dass es sinnlos war, nachzufragen – wenn Prof. Esche in der Zwischenzeit wirklich etwas von Bell gehört hätte, hätte Sie ihn längst informiert, oder es spätestens jetzt gesagt. „Hä, von wem? Ach ja, Bell! Ach, du meine Güte, Bell!“ Das Gesicht der Professorin wurde mit einem Schlag aschfahl. Cheren zog alarmiert die Augenbrauen hoch. „Professor?! Alles in Ordnung?!“ „Ja, ich meine nein, ich meine ...“ Prof. Esche schüttelte den Kopf, als wollte sie einen lästigen Gedanken abschütteln. Dann seufzte sie. „Tut mir leid, Cheren, ich bin wohl gerade etwas durch den Wind … ich hatte total vergessen, dass du auf dem Weg zum Janusberg bist, um Bell zu suchen. Ich war so beschäftigt, und … meine Güte, wo hab ich nur meinen Kopf?“ Die Frage war rein rhetorisch, und Cheren hatte ehrlich gesagt keine Ahnung, was er darauf antworten sollte, darum überging er sie einfach. „Ähm, das soll wohl heißen, dass Sie nichts von Bell gehört haben.“ „Leider nicht.“ Prof. Esche kratzte sich mit einer hilflosen Geste am Kopf. „Hat sich die Polizei noch nicht bei dir gemeldet?“ „Nein.“ Und das war kein gutes Zeichen. Wenn sie Bell gefunden hätten, wären sie längst dazu gekommen, ihn zu informieren. Dass bisher keine Antwort gekommen war, bedeutete höchstwahrscheinlich, dass sie Bell nicht gefunden hatten und immer noch in Monsentiero waren, um nach ihr zu suchen. Und dieser Gedanke machte ihm Angst. Aber es hatte keinen Sinn, das Prof. Esche spüren lassen. „Okay, danke, Professor. Das war erst einmal alles, ich will Sie nicht länger bei der Arbeit stören. Ich melde mich später wieder.“ „Danke.“ Sie schien noch etwas sagen zu wollen, aber nicht die richtigen Worte zu finden. Cheren machte es ihr leicht, indem er das Gespräch einfach wegdrückte. Seine Nerven lagen sowieso schon blank, da brauchte er keine leeren Worte zur Aufmunterung. Und er selbst hatte auch keine auf Lager. „Sie hatte Bell vergessen?“, murmelte er leise, um seiner Empörung Luft zu machen. „Was, bei Arceus, war denn das?“ Fasasnob stieß ein zustimmendes Kreischen aus. ~ Es war schon seltsam: Während des ganzen Fluges hatte sich Cheren darüber geärgert, dass er zum Warten und Nichtstun verdammt gewesen war. Aber jetzt, da er endlich am Ziel seiner Reise angekommen war, hatte er plötzlich Angst, zur Landung anzusetzen. Dort unten wartete eine Antwort auf ihn, und zu landen bedeutete, sich dieser Antwort zu stellen, ganz gleich, wie unschön sie auch sein mochte. War er wirklich bereit dazu? Vielleicht war Bell tot. Vielleicht war Bell verschwunden. Vielleicht war sie verletzt. Vielleicht hatte sie ihre Verabredung auch einfach nur vergessen und er machte sich mit seiner Panikmache zum Trottel der Nation. Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Konnte er es ertragen, die Antwort auf seine Fragen zu erhalten? … Er musste. Er ließ Fasasnob auf einem Felsvorsprung in der Nähe des Bergeingangs landen. Rockys Terribark kläffte aufgeregt, offenbar eingeschüchtert von seinem großen Flugpokémon, und Fasasnob, das angespannt und müde von der langen Reise war, schnappte wütend in Terribarks Richtung. Cheren beschloss, der Sache ein Ende zu setzen, bevor die Situation eskalieren konnte – er strich Fasasnob dankbar durch sein Gefieder, bevor er es in seinen Pokéball zurückrief, damit es sich ausruhen könnte. Terribarks Gekläff verstummte auf der Stelle. Cheren sprang vom Felsvorsprung herunter und überwand die letzten Meter, die ihn von Officer Rocky trennten. „Was haben Sie herausgefunden?“, fragte er forsch. Im nächsten Moment wurde ihm klar, wie unhöflich sein Auftreten war, und er räusperte sich kurz. „Entschuldigung. Guten Tag. Haben Sie etwas herausgefunden?“ Die Polizistin musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen und grinste kurz, als sie seine Entschuldigung hörte. Gleich darauf wurde ihr Gesichtsausdruck wieder ernst. Ihr Terribark wuselte aufgeregt um in herum und schnüffelte an seinen Schuhen. „Guten Tag. Leider nichts Gutes. Du hattest Recht, uns anzurufen, deine Freundin ist wirklich verschwunden. Sie wurde zuletzt vor fünf Tagen gesehen. Ich habe den ganzen Berg nach ihr abgesucht und zwei Kollegen von mir suchen gerade in Monsentiero nach ihr. Das ist leider alles, was ich finden konnte.“ Sie hielt ihm einen grünen Stoffbeutel vor die Nase. „Kommt er dir bekannt vor?“ Cheren betrachtete den Beutel, doch in seinem Gedächtnis rührte sich nichts. „Nein.“ Oh Arceus, flüsterte eine leise, nutzlose Stimme in seinem Kopf. Sie ist wirklich verschwunden. Ihr ist irgendwas passiert. Cheren zwang sich, die Stimme zu ignorieren und sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Nicht in Panik verfallen. Nachdenken. Lösungsorientiert handeln. Nur so konnte er Bell helfen. „Der Beutel könnte ihr gehören. Grün ist eine ihrer Lieblingsfarben. Aber ich kann es nicht mit Sicherheit sagen.“ Den Inhalt zu betrachten half ihm auch nicht weiter. Er wandte sich wieder an Officer Rocky. „Was haben Sie sonst noch herausgefunden?“ Die Polizistin wischte ihre Haare glatt und setzte sich ihren Hut mit akribischer Genauigkeit wieder auf den Kopf. Die Geste erinnerte ihn an sich selbst, wenn er seine Krawatte richtete. Vielleicht war es genau wie bei ihm ein unbewusster Tick. „Wir sollten zurück zum Dorf gehen. Meine Kollegen warten sicher schon auf mich, vielleicht wissen sie inzwischen auch mehr. Ich werde dir unterwegs alles erzählen.“ Er warf einen letzten Blick auf den Eingang des Janusberges, nickte dann aber. Wenn sie sagte, sie hatte alles untersucht, wollte er ihr das glauben. Die Aussichten, etwas Neues in Monsentiero zu erfahren, waren wirklich besser, als allein im Dunkeln zu tappen. Im wahrsten Sinne des Wortes. ~ Er hatte sein eigenes Terribark gerufen, damit es zusammen mit seinem Artgenossen spielen konnte, während Rocky ihre Geschichte erzählte. „Wir haben natürlich zuerst ihr Zimmer untersucht. Es war etwas unordentlich, sah ansonsten aber völlig normal aus. Es hatte nicht so gewirkt, als hätte Bell vorgehabt, zu gehen. Alles war noch an seinem Platz. Es gab keine Spuren eines gewaltsamen Eindringens oder eines Kampfes. Es schien fast so, als hätten sie und ihre Pokémon sich einfach in Luft ausgelöst.“ Ihre Worte gingen Cheren durch Mark und Bein und verwandelten die Sorgen, die er bisher empfunden hatte, in nacktes Entsetzen. Er kannte Menschen, die in der Lage waren, sich unbemerkt an andere Leute heranzuschleichen und sie zu verschleppen, ohne dabei Spuren zu hinterlassen. Er hatte es selbst erlebt, damals vor einem Jahr, als er diesen Psychopathen G-Cis zusammen mit Lauro abgeführt hatte: Die drei Ninja, die sich das Finstrio nannten, hatten sich unbemerkt an sie herangeschlichen, G-Cis einfach aus ihrem Griff entwunden und waren dann mit ihm im Schlepptau getürmt. Dieses Ereignis verfolgte Cheren bis heute – er fühlte sich schuldig, weil G-Cis noch auf freiem Fuß war und weiterhin eine Gefahr für Einall darstellte. Allein die Vorstellung, dass dieser Geistesgestörte für Bells Verschwinden verantwortlich sein könnte, bereitete Cheren Übelkeit. Und allzu abwegig war diese Vermutung nicht. Team Plasma war seit Ns Niederlage gegen Lotta zwar inaktiv, doch sie wussten alle, dass G-Cis noch lange nicht aufgegeben hatte. Der Mann hatte geschworen, Rache an Lotta zu nehmen, und Bell war ihre beste Freundin … Und Lotta war nicht einmal in Einall, sondern irgendwo in Kanto, tausende Kilometer entfernt und nur durch einen sehr trägen Postweg erreichbar, denn eine Telefonleitung zwischen Einall und Kanto gab es nicht, dafür war die Entfernung zwischen den beiden Kontinenten zu groß. „-eren? Cheren? Cheren!“ Rocky berührte ihn leicht an der Schulter, und es kostete ihn alle Selbstbeherrschung, die er aufbringen konnte, um nicht vor Schreck zusammenzuzucken. Er konnte es sich nicht leisten, jetzt einen unseriösen Eindruck zu machen – nicht, wenn er weiterhin in die Ermittlungen involviert werden wollte. Deshalb wartete er eine Sekunde, die er dazu nutzte, sich wieder geistig zu sammeln, bevor er sich schließlich zur Seite drehte und Officer Rocky ansah. „Ja?“ Sie sah ihn eindringlich an, tat seine kurze geistige Abwesenheit dann aber mit einem Schulterzucken ab. „Mir ist gerade noch etwas eingefallen. Wir haben ein Inventar der Gegenstände aufgestellt, die in ihrem Zimmer waren, und dabei haben wir auch die Kleidungsstücke genauestens aufgelistet. Ihre Lieblingskleidung, die sie auf dem Foto trug, das du uns gemailt hast, war noch da. Aber etwas anderes hat gefehlt. Wenn du für längere Zeit verreist, wie viele Pyjamas nimmst du dann mit?“ „... Zwei“, antwortete Cheren. Die Richtung, in die das führte, gefiel ihm gar nicht. „Genau, zwei. Die meisten Menschen nehmen mindestens zwei Pyjamas oder Nachthemden mit, weil sie etwas zum Wechseln dabei haben wollen. Wir haben aber nur ein Nachthemd gefunden.“ „Mit anderen Worten, sie ist verschwunden, während sie ihre Schlafkleidung trug.“ „Es ist anzunehmen.“ ~ „Da ich dir jetzt alles mitgeteilt habe, was ich weiß“, sagte Rocky über sein brütendes Schweigen hinweg, „hatte ich gehofft, dass du nun bereit bist, mir im Gegenzug ein paar Fragen zu beantworten.“ Sie wartete gar nicht erst ab, ob er einwilligte, oder nicht, und redete gleich weiter. „Schildere mir bitte noch einmal, wie du auf das Verschwinden deiner Freundin aufmerksam geworden bist.“ Es war wie eine Bitte formuliert, doch Cheren spürte, dass es in Wahrheit gar keine war. Aber ihm war das nur Recht. Vielleicht half ihm das Reden, das Bild von Bell, die im Schlaf überfallen wurde, aus dem Kopf zu kriegen. „Vor zwei Tagen waren Bell und ich in Vapydro City verabredet. Wir wollten zum Pokéwood und uns die Premiere des neuen Kinofilms Super Sandro schlägt zurück 2 ansehen. Bell liebt diese Filmreihe ...“ Die Erinnerung an Bell, die vor Begeisterung förmlich gesprüht hatte, als er sie zur Premiere des ersten Films eingeladen hatte, wurde einen Augenblick lang übermächtig, und Cheren stockte kurz. Er lockerte seine Krawatte, die ihm plötzlich viel zu eng zu sitzen schien. „... aber sie tauchte nicht auf. Ich habe versucht, sie anzurufen, kam aber nicht durch.“ „Warum hast du nicht gleich die Polizei gerufen?“ Da war sie, die Frage, die ihn schon seit Stunden quälte. Warum hast du nicht eher reagiert, du Idiot? Warum hast du so lange gewartet? „Ich hatte gedacht, es wäre nichts Ernstes.“ Wie sollte er das einem Menschen, der Bell nicht persönlich kannte, begreiflich machen? „Sie müssen verstehen, Bell … verspätet sich häufig. Wenn wir jedes Mal, wenn Bell sich zu irgendeinem Termin verspätet hatte, die Polizei eingeschaltet hätten, hätten Sie ziemlich viele Überstunden gemacht. Sie ist ...“ Ihm fiel kein passendes Wort ein, darum ließ er den Satz unvollendet in der Luft hängen. „Jedenfalls hatte ich geglaubt, sie würde sich nur ein wenig verspäten, oder dass ihr vielleicht etwas dazwischen gekommen war. Aber als ich sie gestern immer noch nicht erreichen konnte, habe ich angefangen, mir Sorgen zu machen. Wie gesagt, Bell liebt diese Filmreihe, und sie hatte sich schon seit Monaten auf diesen neuen Film gefreut. Dass sie die Sache einfach so sausen ließ, kam mir im Nachhinein doch merkwürdig vor. Deshalb hielt ich es für klüger, einmal nachzuhaken, nur für den Fall ...“ Und nun war dieser Fall leider eingetreten. Rocky musterte ihn mit einem Gesichtsausdruck, den er sehr gut kannte und umso mehr hasste – Mitleid – aber Cheren brachte es nicht fertig, sich darüber zu ärgern. Es gab einfach dringendere Probleme. ~ Die Sonne ging gerade unter, als sie Monsentiero erreichten. Ein stämmiger Mann in Polizeiuniform – Cheren schätzte ihn auf etwa 50 Jahre – schien bereits auf sie zu warten, denn er kam ihnen sofort entgegen, als er sie bemerkte. „Rocky.“ Sein Blick flackerte kurz zwischen Cheren und Rocky hin und her, bis er sich schließlich wieder auf seine Kollegin richtete. „Wir müssen reden.“ Der Universalcode für „Es gibt Probleme“, dachte Cheren. Rocky schien das Gleiche zu denken; sie straffte ihre Schultern, als würde sie sich innerlich gegen eine neue Schreckensbotschaft wappnen. Sogar die beiden Terribarks schienen zu spüren, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Bitte, lass Bell nicht tot sein, oh bitte, lass Bell nicht tot sein- „Was ist los?“, fragte Rocky. „Wo ist Joel?“ „Darüber wollte ich mit dir reden.“ Ein erneuter, ablehnender Blick in Cherens Richtung – was auch immer das Problem war, der Mann wollte Cheren nicht bei diesem Gespräch dabei haben. Rocky bemerkte das ebenfalls. „Du kannst ruhig offen reden. Was ist los?“ „Joel ist nicht zurückgekommen!“ Es platzte regelrecht aus dem Polizisten heraus. Kapitel 4: Neue Fragen ---------------------- Rocky atmete scharf ein. „Ich war über fünf Stunden weg. Die Fahrt nach Ondula dauert nur 20 Minuten. Er hätte längst wieder hier sein sollen!“ „Ich weiß. Ich konnte meinen Posten nicht verlassen, deshalb habe ich mein Navitaub losgeschickt, um nach Joel zu suchen, aber das ist auch nicht zurückgekehrt.“ Das war schlecht. Navitaub war ein tagaktives Pokémon, es konnte im Dunkeln nicht sehen. Da die Sonne inzwischen untergegangen war, standen die Chancen nicht gut, dass es vor dem nächsten Morgen zurückkommen würde. Und die Zahl der Vermissten war damit auf zwei gestiegen. Drei, wenn man das Pokémon mitzählte. „Hast du versucht, Melina zu erreichen?“, fragte Rocky. Sie klang so elend, wie Cheren sich fühlte, doch sie hielt sich wacker. „Natürlich. Hat nicht geklappt. Dieser verdammte Berg mit seiner verdammten Strahlung.“ „Was haben deine Untersuchungen hier ergeben?“ „Nichts, was uns wirklich weiterbringt. Ich habe jeden einzelnen Stein und jede einzelne Tonscherbe in diesem verdammten Dorf umgedreht. Keine Spur von dem Mädchen und auch von Joel nicht. Habe nochmal alle Leute hier befragt, viel Neues hat sich nicht ergeben. Die Schwestern des Pokémoncenters haben Bell vor fünf Tagen um etwa 19 Uhr das letzte Mal gesehen, als sie gemeinsam zu Abend gegessen haben. Danach wurde sie noch einmal von einer älteren Dame gesehen, allerdings nur als Umriss hinter dem Fenster. Die Frau hat einen Abendspaziergang gemacht und ist an Bells Fenster vorbei gekommen. Hat ihre Silhouette hinter dem Fenster gesehen. War so gegen 21 Uhr.“ Der Mann zog eine Zigarettenschachtel aus seiner Tasche und ließ den Deckel auf und zu schnappen, als würden seine Finger danach gieren, eine Zigarette aus der Packung zu nehmen, es aber nicht wagen. „Sie bleiben bei dem, was sie ganz am Anfang schon gesagt hatten: dass sie Bells Verschwinden einfach nicht bemerkt hatten. Sie hatten alle vergessen, dass Bell hier war, bis wir heute auftauchten und sie darauf aufmerksam gemacht haben. Vielleicht-“ Er brach ab, als Cheren neben ihm zusammenzuckte. „Sie hatten vergessen, dass Bell hier war?“, wiederholte Cheren alarmiert. „Ja. Klingt irre, ich weiß. Vielleicht vertuschen sie etwas und decken sich alle gegenseitig.“ „Oder auch nicht.“ Das Telefonat mit Prof. Esche fiel ihm wieder ein. Was hatte sie noch einmal gesagt? „Tut mir leid, Cheren, ich bin wohl gerade etwas durch den Wind … ich hatte total vergessen, dass du auf dem Weg zum Janusberg bist, um Bell zu suchen.“ Es war ihm damals schon seltsam vorgekommen, aber er hatte sich keinen Reim darauf machen können. Prof. Esche vergaß vielleicht manchmal alles andere um sich herum, wenn sie mit ihrer Arbeit beschäftigt war, aber Bell war fast so etwas wie eine Tochter für sie. Niemals würde sie Bell einfach vergessen, schon gar nicht, wenn sie eventuell in Gefahr schwebte. Und doch hatte sie sie vergessen. Und die Dorfbewohner hatten Bell ebenfalls vergessen?! Das konnte unmöglich ein Zufall sein. Er wandte sich wieder an den Polizisten. „Haben Sie die Leute auch gefragt, welche Pokémon sie besitzen?“, fragte er eindringlich. Der Polizist wich verdutzt einen Schritt zurück. „Ja. Aber warum-“ „Waren da auch Psychopokémon dabei? Oder vielleicht Geisterpokémon?“ „... Nein. Nein, tut mir leid. Warum-“ „Verdammt!“ Cheren raufte sich die Haare, ohne es bewusst wahrzunehmen; seine Gedanken rasten. „Cheren“, sagte Officer Rocky mit harter Stimme. „Wenn dir etwas eingefallen ist, das uns weiterhelfen könnte, dann sag es gefälligst!“ „Bell wurde entführt“, sagte Cheren. Er betrachtete den Janusberg, der sich in einiger Entfernung als dunkler Schatten vor dem Horizont abzeichnete. „Ich weiß nicht, von wem, und ich weiß nicht, warum, aber ihr Entführer hat sich große Mühe gegeben, keine Spuren zu hinterlassen. Er hat ein Pokémon benutzt, das die Hypnose-Attacke beherrscht, aber von so einer Art der Hypnose habe ich noch nie gehört.“ „Wie kommst du auf Hypnose?“, fragte Officer Rocky. „Die Dorfbewohner hatten Bell vergessen.“ Und das war eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Bell konnte man nicht vergessen, schon gar nicht in einer kleinen Ortschaft wie Monsentiero. Bell war die Art von Mensch, die anderen Leuten im Gedächtnis hängen blieb. Sie war die Art von Mensch, die mit einem breiten Grinsen im Gesicht in ein Zimmer fegte, wie ein Wasserfall plapperte, aus Tollpatschigkeit irgendeinen Blödsinn anstellte, und damit alle aufheiterte. Die Art von Mensch, der man nicht böse sein konnte, selbst wenn man es wollte. Und egal, was Bell tat, sie war dabei auffällig. „Und sie waren nicht die einzigen. Prof. Esche hatte sie ebenfalls vergessen, ich hatte erst vor wenigen Stunden mit ihr telefoniert und sie reagierte zuerst ganz verwirrt auf den Namen Bell, als wüsste sie nicht, wer das ist. Kommt Ihnen das bekannt vor?“ Die Polizisten tauschten einen vielsagenden Blick. „Es muss eine Art von Hypnose sein, anders kann ich es mir nicht erklären“, fuhr Cheren fort. „Jemand hat versucht, Bell aus den Gedächtnissen der Menschen zu löschen.“ Er betrachtete seinen Viso Caster, der in dieser Gegend absolut nutzlos war. Er fragte sich, wie Bells Eltern reagieren würden, wenn er sie anrufen und ihnen von Bell erzählen würde. Oder Lotta. Oder Kamilla, Artie, Lauro. Würden sie ihn alle mit dem selben verwirrten Gesichtsausdruck anstarren wie Prof. Esche? „Und die Hypnose muss sehr stark sein, wenn sie sogar auf Menschen wirkt, die sich etliche Kilometer entfernt aufhalten und keinen direkten Kontakt zu dem Anwender-Pokémon hatten.“ Das leise Schnappen eines Feuerzeugs ertönte – der Polizist hatte sich nun doch eine Zigarette angezündet. Normalerweise wäre Cheren nun ein paar Schritte vor ihm zurückgewichen – er hasste Zigarettenrauch – doch im Moment kümmerte es ihn kaum. „Aber eins verstehe ich nicht“, sagte der Polizist langsam. „Wenn sie so großen Wert darauf gelegt haben, das Mädchen verschwinden zu lassen, warum haben sie dann nicht ihr Zimmer leergeräumt? Warum Hinweise zurücklassen, die darauf hindeuten, dass Bell hier war?“ Cheren tippte mit dem Zeigefinger gegen seine Nasenwurzel – eine Angewohnheit, die noch aus der Zeit stammte, zu der er eine Brille getragen hatte, und die sich auch jetzt, da er Kontaktlinsen trug, nicht so leicht ablegen ließ. „... Ich weiß es nicht.“ „Wer hätte überhaupt ein Interesse daran, Bell zu entführen?“, hakte Rocky nach. „Hatte Bell Feinde?“ „Mir kommt eigentlich nur Team Plasma in den Sinn. Oder, besser gesagt, G-Cis. Mit den eigentlichen Zielen von Team Plasma hatte dieser Mann ja nichts am Hut.“ „Aber ich dachte, G-Cis wäre zuletzt in Kanto gesichtet worden“, sagte Rocky. „Das war doch der Grund, warum Lotta nach Kanto gegangen ist, nicht wahr? Um nach ihm zu suchen.“ „Vielleicht war das eine Falle“, murmelte ihr Kollege leise. Es war, als würde eine eiskalte Hand nach Cherens Herz greifen und zudrücken. Nein. Er konnte es sich nicht leisten, jetzt auch noch um Lotta besorgt zu sein. Lotta hatte oft genug bewiesen, dass sie auf sich selbst aufpassen konnte. Und sie hatte Zekrom. Das hier war etwas anderes. Er schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass G-Cis hinter dieser Entführung steckt. Ich hätte es geglaubt, wenn diese ganze Hypnose-Geschichte nicht gewesen wäre, aber G-Cis hat es gar nicht nötig, auf solche Tricks zurückzugreifen. Warum sollte er Bells Entführung unter den Teppich kehren? Sie würde ihm nur etwas nützen, wenn er sie als Druckmittel gegen Lotta einsetzen könnte, und dann wäre es viel sinnvoller, ihre Entführung an die große Glocke zu hängen, statt sie zu vertuschen. Und G-Cis hätte auch keinen Grund, Ihren Kollegen zu beseitigen.“ „... Also wären wir wieder am Anfang“, murmelte Rocky. „Und wenn es etwas mit ihrem aktuellen Forschungsprojekt zu tun hat? Vielleicht hat sie etwas herausgefunden, das sie nicht wissen sollte. Cheren, weißt du, was sie hier am Janusberg untersuchen wollte?“ „Nein, leider nicht.“ Cheren erwischte sich dabei, schon wieder an seiner Krawatte herumzufummeln. Er musste wirklich lernen, diese Masche in den Griff zu kriegen. „Sie wollte es mir erst sagen, wenn sie Ergebnisse vorzuweisen hat.“ „Sie hat Notizen in ihrem Zimmer hinterlassen“, sagte Rocky. „Wie wäre es, wenn wir uns die noch einmal genau ansehen? Vielleicht hilft uns das ja weiter.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)