High Angle – B-Side von Atsusa ================================================================================ Kapitel 23: Der Neue mit der Hasenpfote --------------------------------------- „Geheimes Logbuch eines Helden. Eintrag 248. Befinde mich erneut auf der wichtigen Mission die Welt zu verändern. Die Ankunft des Zielobjekts ist in genau 49 Sekunden zu erwarten, Sichtkontakt noch nicht hergestellt. Fehlschlag: ausgeschlossen. Alles verläuft nach Plan. ...und mal ganz unter uns, wer kann zu einem derart genialem Plan wie meinem schon Nein sagen? Immerhin kann mir in Charme, Intelligenz und Aussehen niemand das Wasser reichen. Bene,1 vielleicht dieser Ethan, aber an seinem Enthusiasmus und seiner Überzeugungskraft muss er eindeutig noch arbeiten – auch wenn seine tollen Haare ein richtiger Hingucker sind – sonst gehören bald schon alle guten Kite-Piloten dieser Stadt mir, dem unwiderstehlichen Tornado Balotelli!“ Ausharren und Däumchen drehen gehörte eigentlich nicht zu seiner Stärke, doch die Vorfreude auf das Kommende ließen die scheinbar endlose Zeit, die der blonde Anführer der Wright Kite Knights mit dem rosa – Entschuldigung! – lachsfarbenen Stirnband zwischen alten Putzlappen, Kreideboxen und eingerollten antiquierten Landkarten im Schrank der F-Klasse des ersten Jahrgangs verbrachte, auf ein erträgliches Minimum zusammenschrumpfen. Während seine blauen Augen durch den Türspalt blickten und er dumpf die Stimme der leicht überforderten Referendarin wahrnahm (sie musste nach dem plötzlichen Herzinfarkt des inzwischen in Rente gegangenen Klassenlehrers letzten Herbst dessen Stelle übernehmen und tat sich selbst jetzt, ein halbes Jahr später, noch schwer im Angesicht von 20 gelangweilt dreinschauenden Schülern für ein respektvolles Klassenklima zu sorgen), malte er sich noch einmal im Geiste seinen Plan aus. Ja, das was er vorhatte war genial. Nicht zu übersehen genial. Ein wasserdichter Plan ein neues Mitglied für den Drachenclub zu gewinnen, mindestens so genial wie die kleine Flunkerei, mit der er im September noch Wendy dazu gebracht hatte seinem Team beizutreten. „I...ich möchte euch heute ei...ein neues Klassenmitglied vorstellen. Es ist erst kürzlich aus dem Süden in unsere Stadt gezogen und ich bitte euch deswegen“, der hilflose Blick der in Sachen Brustumfang gut bestückten Lehrerin glitt von Schüler zu Schüler, „ihm den Anfang bei uns so angenehm und einfach wie möglich zu gestalten.“ Sie fixierte flüchtig Wendy, die nur gelangweilt einen Bleistift in den Händen drehte, die Wand anstarrte und sich dabei wahrscheinlich fragte, wann die Klasse endlich mal aus dem Kellerloch in ein richtiges Zimmer mit Fenstern ziehen würde. „Bitte seid nett zueinander, n...nicht pöbeln, nicht streiten, keine Erpressung und Gewalt“, ein kahl rasierter Schüler mit vernarbtem Gesicht in der letzten Reihe seufzte traurig, „werdet einfach nur gute Freunde und helft euch gegenseitig, ja?“ Die Klasse bejahte monoton, war doch mindestens die Hälfte von ihnen gedanklich schon wieder in der Pause. Die Lehrerin öffnete die Zimmertür. „D...du kannst jetzt hereinkommen, Meredith.“ Meredith, oh Meredith. Welch süßer Name für ein Mädchen, dessen Körper den Duft nach Landluft verströmte! Selbst durch den Türspalt konnte Balotelli erahnen, dass Angelos gesammelte Daten zu der neuen Schülerin absolut ins Schwarze trafen. Si,2 einfach fabelhaft! Ein Naturtalent ohnegleichen! Auch wenn dem Aspekt „Natur“ durch den leichten Geruch nach Kuhdung hier mehr Gewichtung zukam. Er konnte es sich ganz genau vor seinem inneren Auge ausmalen. Meredith, dieses Mädchen würde das fehlende Puzzleteil sein, das sein Team komplettieren könnte. Jemand, der über Jahre hinweg beste Noten in kreativen Fächern erhalten hatte und durch die harte Arbeit auf dem Bauernhof der Großeltern mit Sicherheit über ein gutes Maß an Kondition verfügte. Und was das beste an ihr sein würde: mit ihrem süßen, schüchternen Charme würde sie Wendy garantiert dabei helfen, ihre mädchenhafte Seite mehr zum Vorschein zu bringen. Beide würden bestimmt ein gutes Team abgeben, gemeinsam einkaufen, stundenlang telefonieren, Pyjamapartys veranstalten, mit seiner kleinen Schwester Ocarina zusammen an Kür-Wettbewerben teilnehmen und dem Club jeden Tag selbst gemachtes süßes Gebäck mitbringen. Die Vorstellung war so perfekt, dass ihm beinahe die Tränen kamen. Ah, was war er doch für ein gewieftes Genie, jetzt in diesem Moment hier zu sein und dafür zu sorgen, dass die erste Begegnung zwischen ihm und Meredith vom Schicksal bestimmt war, so sehr, dass sie, egal was kommen würde, seine Bitte doch dem Drachenclub beizutreten nicht ausschlagen konnte! Schritte. Es wurde still in der Klasse. Alles fixierte den Neuankömmling, der mit zitternden Knien kreidebleich an der Tafel stand und sich fast in die Hose machte, der versuchte die Nervosität herunterzuschlucken, während er die Hand zum Gruß hob und mit kaum hörbarer Stimme sagte: „H...hallo.“ RUMMS! Krachend flogen die Türen auseinander, als Balotelli mit einem strahlenden Lächeln schön wie immer den Materialschrank der Klasse verließ und mit großen Schritten nach vorne schwebte. Ja, besser hatte er es nicht planen können! Er sah tadellos aus und wusste es auch. Jeder wusste es, besonders Wendy, die angesichts seiner glorreichen Erscheinung rot bis zum Haaransatz geworden war. „Ciao, Meredith!“ Er war so mit sich selbst und seinem Auftreten beschäftigt, dass er das offensichtlichste übersah. „Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen, denn ich habe nur auf dich gewartet, Bellissi...“, er wollte nach den zitternden Händen greifen und der neuen Schülerin verträumt in die Augen sehen, doch erkannte er die sich anbahnende Katastrophe gerade noch rechtzeitig, „...mo?“3 Wendy wollte vor Scham im Boden versinken. Daran, dass Balotelli ab und an – das war gelogen: IMMER – solche verqueren Anwandlungen hatte, war sie mittlerweile gewohnt, doch diese Aktion schlug dem Fass den Boden aus. Peinlich. Zum Schreien peinlich, wie er da aus dem Schrank gehopst kam, um dem armen neuen Schüler, der ohnehin aussah, als hätte er sich gerade in die Hose geschissen, noch eins draufzugeben. Hätte man nicht einfach bis nach dem Unterricht warten können, dann hätte das Missverständnis, was sich in Verbindung mit dem asexuellen Vornamen anbahnte, bestimmt nicht in einer Situation geendet, in der beide sich stotternd gegenüberstanden, zu Tode erblasst und mit dem Wunsch, den Tag noch einmal komplett neu zu beginnen. Doch wie man es nicht anders erwartet hatte, fing der Blonde sich sofort wieder und strich lässig durch seine Haare. „Scusi!4 Wie du gemerkt hast, neige ich dazu Scherze zu machen!“ Er räusperte sich und sah dem Neuen, der ebenfalls blaue, wenn auch nicht ganz so strahlende Augen und außerdem einen lang gezüchteten dunkelblonden Rattenschwanz im Nacken hatte, mit festem Blick an. „Was ich eigentlich sagen wollte, war, dass du auserwählt bist! In dir schlummert ein Talent, welches ich von der ersten Sekunde an, die du dieses Schulgebäude betreten hast, gerochen habe.“ Er ergriff nun doch die zitternden Hände des Jungen, auf dessen nackter Stirn sich Angstschweiß gebildet hatte. „Du bist es! Du bist das fehlende Mitglied in unserem Drachenclub! Und ich, der unwiderstehliche Teamchef Tornado Balotelli, werde nicht eher ruhen, bis auch du unserer Vereinigung beitrittst.“ Er trat nun so nah an den anderen heran, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. „Also, Bellissimo, was sagst du?“ Keine Reaktion. Die blauen Augen wichen den ebenso blauen aus und gingen nervös hin und her. Schließlich ging ein Ruck durch den Körper des Jüngeren. Alles in ihm spannte sich an, er riss die Hände frei und ein Schrei kam über seine Lippen. „EIN DÄMON!“ Im nächsten Moment knallte auch schon die Zimmertür zu. Meredith O'Neil hatte die Flucht ergriffen. Verdattert sah Balotelli ihm nach. Eine Abfuhr. Dass ihm das passieren konnte? Unmöglich! Dabei war es doch... perfekt! Zumindest, wenn man von dem kleinen, aber unbedeutenden Fehler mit dem Geschlecht absah! Er konnte doch nicht... Er seufzte und straffte die Schultern. Konnte ja mal passieren, wenn man sonst immer von der Glücksgöttin Fortuna geküsst wurde! Dann fuhr er sich noch einmal durchs Haar, setzte sein strahlendstes Lächeln auf, wandte sich zum gehen und sagte: „Selbstverständlich wird er unserem Club beitreten, also versucht erst gar nicht ihn anderweitig anzuwerben. Mille grazie,5 meine Freunde! Arrivederci!“6 Heute war echt kein guter Tag. Auf einer Skala von 1 bis 10, bei der 10 einem Super-GAU mit darauf folgender Zombieapokalypse entsprach, war dieser Tag eindeutig eine 8. Blamiert hatte er sie. Vor der ganzen Klasse, deren Respekt und Abstand sie sich in den letzten Monaten durch mühevolles Pöbeln und dominantes Auftreten erarbeitet hatte. Jetzt würde ihr zwar immer noch keiner auf die Pelle rücken, aber mit Sicherheit blöd tuscheln. Einfach alles kaputt gemacht hatte dieser Penner, weil er jedem, wirklich jedem zeigen musste, was für ein Idiot er war. Und dann musste er auch noch den Drachenclub erwähnen, als wäre Drachensteigen nicht ohnehin schon die hirnrissigste Sportart der Welt. Eigentlich hatte Wendy also gar keine Lust mehr, heute noch zum Clubtreffen in das Turmzimmer zu kommen. Eigentlich hatte sie sich gefreut alle wiederzusehen, immerhin war sie in den Ferien für ein paar Tage verreist gewesen, doch nun hatte es ihr den Magen verdorben wie mit ranzigem Fett gebratener Speck. Sie seufzte und drückte die Türklinke hinunter. Die schwere Holztür knarzte beim Öffnen. Sie wollte gerade eintreten, da entgleiste auch schon ihr Gesicht, denn sie sah Dinge, die sie nicht sehen wollte. Dinge, mit denen sie nie im Traum gerechnet hatte. Und das machte sie so fertig, dass sie rückwärts wieder aus dem Zimmer gehen wollte. „Kalimera!7 Lange nicht mehr gesehen!“ Er grinste sie an. Der fette Grieche, den sie an Neujahr kennengelernt hatten, saß offensichtlich am Tisch der Kite Knights, als wäre seine Anwesenheit das Natürlichste der Welt. Sein Grinsen war so breit, dass sich seine schwarzbraunen Augen zu Schlitzen verengten und sich Lachfalten darunter bildeten, etwas, das die Rothaarige im Moment so gar nicht gebrauchen konnte. Wendys Augenbrauen zuckten. „Was macht DER denn hier?“ Zeph hob für einen Moment träge den Kopf, um ihn danach erneut gleichgültig auf den Tisch zu betten und weiter zu dösen. Angelo blickte nicht einmal von seinem Laptop auf und tippte emsig weiter mathematische Gleichungen ein. Der Grieche mit den dunkelgrünen Haaren und dem alten, schlabberigen Anglerhut räusperte sich. „DER heißt immer noch Costas Nixas, 25 Jahre und der neue Aufseher eures Clubs.“ Lächelnd huschte Balotelli hinter sie, massierte ihr leicht die angespannten Schultern und schob sie wieder in das Turmzimmer hinein. „Calma e gesso,8 Bellissima!“ Wendy fauchte ihn an. „Das brauchst DU gerade sagen! Für das, was du vorhin abgezogen hast, sollte ich eigentlich mindestens ein halbes Jahr nicht mehr mit dir reden!“ Entnervt ließ sie sich auf einen Stuhl fallen und verschränkte die Arme. Das war doch alles absurd... Costas erhob sich. „Da nun alle anwesend sind, können wir ja Klartext reden.“ Er schnippte mit den Fingern und deutete dann auf sein pausbäckiges Gesicht, das von Natur aus braungebrannt war. „Wie ihr wahrscheinlich noch nicht wisst, bin ich Referendar und gerade mit meinem Studium fertig, so dass ich endlich daran arbeiten kann meine angespannte griechische Finanzlage zu entschärfen.“ Er trat neben Balotelli und klopfte ihm mehrmals fest auf die Schulter, so dass ein Zucken durch den Blonden ging. „Dieser Junge hier ist wirklich außergewöhnlich! Nachdem er mich euch vorgestellt hat, konnte ich gar nicht anders als darüber nachzudenken, wie ich als Weltmeisterschaftsveteran euch helfen könnte.“ Die beiden Anführer traten an eine Flipchart heran und enthüllten die erste Seite. „Und deswegen bin ich heute hier. Ihr habt echt Talent, das muss man schon sagen.“ Zeph nickte zufrieden. „Haben eben was drauf, nie?“9 Costas nahm einen Textmarker zur Hand. „Aber...“ Das Lächeln erstarb. „Ich finde, ihr könnt noch viel mehr aus euch herausholen. Ihr müsst von jetzt an nur mehr an euch arbeiten.“ Er schraubte die Stiftkappe ab und fing an eine Tabelle zu skizzieren. „Eure Kondition verbessern, eure Körperkraft, eure Koordination...“ Er kritzelte verschiedene Begriffe auf die Flipchart: Dauerlauf, Gewichtheben, Leichtathletik, dreidimensionale Wahrnehmung ... musste dabei aber mehrmals innehalten und korrigieren, da er aus alter Gewohnheit heraus griechische Buchstaben schrieb. Wendy erinnerte sich dunkel an die Ausführungen des Teamchefs an Silvester. War ja kaum auszuhalten, dass es jetzt noch einen von der Sorte gab. Und wann sollte sie mal für die Schule lernen? „Bin ich dagegen.“ Zephs Urteil fiel prompt. Er hatte sich aufgerichtet und fixierte den korpulenten Griechen mit trägem, aber ernstem Ausdruck. „Viel zu anstrengend, nicht möglich. Sind auch so gut genug.“ Prompt trat Balotelli an ihn heran und blickte ihn mit glänzenden Augen an, so dass ein imaginärer Regenbogen zwischen ihnen entstand. „Denk doch nur mal an die Möglichkeiten, die sich uns eröffnen, wenn wir noch stärker werden!“ Zeph verwandelte den Regenbogen in dunkle Sturmwolken. „Muskelkater, Abnutzung der Gelenke und wenig Schlaf, nie? Dagegen. Wenn noch mehr kommt, dann trete ich aus.“ Der Blonde seufzte theatralisch, legte die Hand an die Stirn und machte einen Ausfallschritt nach hinten. „Ah, Sfaticato,10 no no! Dass du darüber nachdenkst ist eine Schande! Wir brauchen dich doch.“ Er trat an eines der hohen Turmfenster heran und blickte für einen Augenblick nachdenklich nach draußen. Tragische Geigenmusik spielte in seinem Inneren, um die Szene besser zu untermalen. „Du bist nämlich der Einzige, der uns jetzt noch retten kann...“ Zeph verzog angewidert das Gesicht und knurrte leise. „Ich will nicht...“ Doch Balotelli klatschte in die Hände und veränderte seinen Ausdruck erneut zum strahlenden Helden. „Ma si!11 Du musst nämlich etwas für uns finden!“ Noch immer zitterte Neil vor Angst. Er hatte sich in einer Ecke zusammengekauert wie eine winzige Maus, die darauf wartete von einer gigantischen Katze gefressen zu werden. Er hatte eine braune Hasenpfote hervorgeholt und wiegte sie sanft in seinen Händen. Es war ein Glücksbringer, den er schon mit sich trug seit er denken konnte. Immer wenn es ihm schlecht ging, immer wenn er Angst hatte, nahm er die Hasenpfote zur Hand und hielt sie solange fest, bis er sich besser fühlte. „Ich will hier weg, ich will hier weg“, sprach er ähnlich eines Mantras und versuchte tief durchzuatmen. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Es roch nach Schmieröl und Gummi, sowie etwas muffig und kalt. Ja, hier unten in der Fahrradgarage der Schule würde ihn sicher so schnell keiner finden. Keiner. Und vor allem nicht dieser glitzernde Dämon, der aus dem Schrank geschossen kam, um ihn heimzusuchen. Nein, er würde sich dem Bösen nicht beugen und mit aller Macht dagegen ankämpfen. Immerhin hatte er seinen Glücksbringer dabei und der würde ihn schon beschützen. Irgendwie. Hoffte er zumindest. Ein lautes Rattern ließ ihn erneut zusammenschrecken. Für einen Moment stockte ihm wieder der Atem, dann stellte er erleichtert fest, dass nur jemand sein Fahrrad geholt und ihn nicht bemerkt hatte. Was sollte er überhaupt hier? Eigentlich wollte er jetzt viel lieber bei seinen Großeltern sein. Bei den Kühen und Ziegen, den gackernden Hühnern und den neugeborenen Tieren, inmitten saftig grünem Gras unter einem wolkenlosen blauen Himmel. Doch seine Eltern mussten ja aus beruflichen Gründen in die Stadt ziehen und ihn mitnehmen, damit er ihrer Meinung nach auf eine bessere Schule gehen und sich aussichtsreiche Zukunftsperspektiven erarbeiten konnte. Dabei wollte er doch eigentlich immer nur Bauer wie seine Großeltern werden... Neil schüttelte die trüben Gedanken ab, steckte die Hasenpfote wieder ein und stand auf. Er spitzte die Ohren und strich sich aus Gewohnheit über den Rattenschwanz im Nacken. Die Stimmen der anderen Schüler drangen dumpf an sein Ohr. War wohl gerade Pause. Vielleicht war jetzt Zeit genug, sich unbemerkt wieder unter die Menge zu mischen ohne dabei Angst haben zu müssen, dass man ihn wieder anstarrte wie einen Außerirdischen. Als er gerade die Schiebetür öffnen wollte, um wieder auf den Pausenhof zu gehen, ertönte hinter ihm eine monotone Stimme: „Hab dich gefunden.“ Neil entglitt ein Schrei, als der hagere Hüne Zeph so plötzlich auftauchte, doch bevor er panisch die Flucht ergreifen konnte, hatte dieser ihn auch schon gepackt und in einen sandfarbenen Jutesack gesteckt. „Was man findet, darf man auch behalten“, fuhr der Braunhaarige mit dem trägen Blick fort, während er mit sichtlichem Vergnügen den Sack verschnürte und ihn sich über die Schulter warf, „und deswegen kommst du jetzt mit, nie?“ Neil wusste nicht, was er tun sollte. Sein ganzer Körper verfiel in eine Schockstarre und der einzige Gedanke, der ihm durch den Kopf ging, war: „Nur nicht in die Hose machen! Die ist frisch gewaschen!“ Das konnte doch alles nicht wahr sein. Erst diese unheimliche Begegnung der dritten Art im Klassenzimmer und jetzt wurde er auch noch entführt? Wenn doch wenigstens Brittany das Kälbchen da wäre, um ihn mit seinen großen, braunen Augen zu beruhigen! Doch anstatt treuer, brauner Kuhaugen war das erste, was er sah, als man ihn zu Boden schmiss und aus dem engen Jutesack befreite, die blauen Augen Balotellis. Grinsend beugte sich der Teamchef nach unten und blickte das wie Espenlaub zitternde Bündel an. „Piccolo,12 endlich sehen wir dich wieder!“ Neil wimmerte leise. Er war verflucht. Ganz bestimmt. Costas griff unter seine Arme und half ihm sich aufzurichten. Nervös blickte er sich um. Da war ein zu kurz geratener Typ mit halbmondförmiger Lesebrille, der von seinem Laptop aufsah und ihn kritisch musterte. Dann der gruselige Große mit dem Dreitagebart, der ihn entführt hatte. Sogar das rothaarige Mädchen aus seiner Klasse saß da und fixierte ihn skeptisch, während der Blonde mit dem rosafarbenen Stirnband erneut in sein glitzerndes Dauerlächeln verfallen war. „Schön, dass du da bist!“ Balotelli legte seine Hände auf die Schultern des Jüngeren. „Wie ich dir bereits gesagt habe, finde ich, dass in dir ein außergewöhnliches Talent schlummert. Und deswegen wirst du ab heute ein Mitglied der Wright Kite Knights, unseres Drachenclubs, sein!“ Neil schluckte, doch der Kloß im Hals wollte nicht verschwinden. Der Blick des Blonden war so aufmunternd und motivierend, dass er fast schon wie eine unnachgiebige Drohung wirkte. „Drachen...club?“ Costas nickte bestätigend und schloss dabei kurz die Augen. „Ja, ein Club, in dem man Lenkdrachen baut und mit ihnen Wettkämpfe austrägt. Ist doch echt cool, oder?“ Er hob den Daumen zur Motivation und versprühte damit auf seine ganz persönliche Art die glitzernde Aura eines Siegers. Neil lächelte nervös und hob abwehrend die Hände. Seine Schultern verspannten sich. „Dass es so einen Sport gibt... Das ist euer Ernst, oder?“ In den Mienen der anderen konnte er nicht lesen, dass der dicke Erwachsene hinter ihm gerade einen Scherz gemacht hatte und das machte ihn noch unsicherer als ohnehin schon – wenn es überhaupt möglich gewesen wäre, dass man noch unsicherer werden konnte. „Und ich soll dafür also ein Talent haben?“ Er schüttelte vehement den Kopf. Der kleine Zopf im Nacken wedelte dabei aufgeregt hin und her und gab ihm ein leicht welpenhaftes Aussehen. „Das muss ein Irrtum sein, denn...“, er holte tief Luft und machte sich bereit dafür mit einem Satz die Hoffnungen aller Anwesenden zu zerschlagen, „ich kann doch gar nicht Drachensteigen!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)