High Angle – B-Side von Atsusa ================================================================================ Kapitel 29: Zukunftswünsche --------------------------- Gedämpfte Stimmung herrschte im Turmzimmer. Während draußen schönstes Sommerwetter war, zogen Neil und Wendy Gesichter wie drei Tage Regenwetter und starrten ratlos auf den Wahlzettel, den jeder Schüler am Ende des ersten High-School-Jahres einreichen musste. Es war bisher ein gutes Jahr gewesen. Durch den lockeren Stundenplan, der zur allgemeinen Orientierung diente, hatten sie viel Zeit im Drachenclub verbringen können und auch sonst reichlich Freizeit gehabt, ein Privileg das dem zweiten und dritten Jahrgang nicht mehr zur Verfügung stand. Neil drehte lustlos einen Bleistift in der rechten Hand und hatte den Kopf so auf die linke Hand gelegt, das sein Mund seltsam deformiert aussah. Er holte tief Luft und seufzte laut. Eins, Zwei oder Drei. Das konnte doch gar keine so schwierige Wahl sein, wenn man nur so wenig zur Auswahl hatte. Letzte Chance sonst ist's vorbei. Wendy schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und zog die Augenbrauen zusammen. „Ich hab mich entschieden.“ Sie klickte ein paar Mal mit dem Kugelschreiber und machte ein Kreuz auf dem Papier. Anschließend unterschrieb sie den Zettel, sah noch einmal auf Vorder- und Rückseite nach, dass sie auch ja nichts vergessen hatte und stand dann auf. Neil fühlte sich gleich noch elender. Er sackte auf dem Stuhl zusammen, bis sein Kinn die Tischplatte berührte und seufzte erneut langgezogen, dann sagte er: „Ich weiß einfach nicht, was ich nehmen soll...“ Balotelli, der gerade über einem Sportmagazin brütete, welches er selbstverständlich nur wegen der attraktiven Sportler und nicht wegen des Inhalts las, legte seine Lektüre beiseite und zwinkerte ihn freundlich an. „Was ist, Piccolo, brauchst du Hilfe?“ Neil kratzte sich im Nacken und strich über seinen Rattenschwanz. „Das kann man so sagen...“ Er legte den Stift beiseite und tippte auf das Blatt Papier. „Dieser Zettel hier entscheidet darüber, was ich später mal werden will, oder?“ Wendy trat hinter ihn und stützte sich auf der Stuhllehne ab. „Und das ist so schwer? Ist doch ganz einfach: intelligent, durchschnittlich und dumm. Willst du studieren oder schnell Geld verdienen?“ Der Dunkelblonde murrte. „Ich weiß es einfach nicht. Was, wenn ich jetzt den schwersten Zweig nehme und in zwei Jahren gar nicht mehr studieren will? Oder aber den Basiszweig und dann bei all den Praktika merke, dass ich doch lieber studieren will?“ Am liebsten wollte er gar nichts ankreuzen und einfach so weiter mit der Schule machen wie bisher, doch leider würde das Orientierungsjahr nicht ewig dauern. Bald würden die Klassen neu gemischt werden und er wusste jetzt schon, dass er mindestens die Hälfte seiner Klassenkameraden, mit denen er gerade erst richtig warm geworden war, nicht mehr sooft sehen würde. Und dann musste er sich wieder neue Freunde suchen und die fanden ihn vielleicht eigenartig und dann war er wieder allein und wurde beim Sport als letzter ausgewählt und ach, das war alles viel zu kompliziert und doof... Ratlos sah er von einem Gesicht ins andere. „Wisst ihr denn schon, was ihr einmal werden wollt?“ Angelo meldete sich als erster zu Wort. „Ich werde selbstverständlich Mathematik und Physik studieren, damit ich später einmal in der Forschung arbeiten kann.“ Das war bei seiner Intelligenz und seinem Auftreten auch überhaupt nicht überraschend. „Gebrauchtwagenhändler“, erklärte Zeph kurz und knapp und lehnte sich zurück. „Bin nicht so schlau und möchte schnell arbeiten. Autos sind toll.“ Neil sah nach hinten, um Wendys Antwort zu hören. „Lach nicht, okay?“ Sie druckste herum. „Ich möchte in ein paar Jahren gerne meinen eigenen Irish Pub aufmachen. Die Leute nachts betrunken machen, dann den Laden aufräumen und tagsüber schlafen und den ganzen Hausfrauenkram erledigen.“ Ihre Lippen kräuselten sich beleidigt, als sie sah, wie sich Neil tatsächlich ein Grinsen verkneifen musste. „Ich habe gesagt: lach nicht!“ Sie errötete und blickte peinlich berührt aus dem Fenster. „Ich will einfach nicht studieren, sondern viele Praktika machen und Berufserfahrung sammeln. Also hab ich mich auch für den Basiszweig entschieden.“ Neil wollte auch von Balotelli hören, für was er sich vor einem Jahr entschieden hatte, doch dieser nahm stattdessen seine Schultasche und wandte sich zum Gehen. „Scusi, aber Costas hat gesagt, dass ich noch ein paar Dokumente für den Club abholen soll. Arrivederci!“ Der Dunkelblonde legte den Kopf schief und kaute auf dem Ende des Bleistifts herum. Das Verhalten des Clubchefs kam ihm zwar suspekt vor, doch füllte das Wissen darüber, dass es ihm wohl irgendwie unangenehm war über die Zukunft zu sprechen, auch nicht sein Blatt aus. Wendy schnappte sich ihren Wahlzettel und drehte sich ebenfalls zur Tür. „Ich denke, ich muss dann auch mal gehen und das hier abgeben!“ Als sie und Balotelli das Zimmer verlassen hatten und die Tür zuknallte, zuckte Neil nur mit den Schultern. „Ich denke...“, er holte seine Hasenpfote aus der Tasche und ließ sie vor sich hin und herbaumeln, „ich sollte vielleicht einfach auf gut Glück wählen“. Er presste die Lippen zusammen, machte eine Faust um den Bleistift und nickte entschlossen. „Ja, die goldene Mitte wird immer die beste Wahl sein!“ Tap-tap-tap. „Bleib stehen!“ Keine Reaktion. Tap-tap, tap-tap. „Ey, jetzt warte doch mal!“ Wendy hechtete ein paar Schritte nach vorne und packte Balotelli an der Schulter, um ihn aufzuhalten. Er blieb zwar stehen, doch schlug er prompt ihre Hand weg und ließ den Kopf hängen. Es war bereits später Nachmittag, so dass die meisten Schüler bereits nach Hause gegangen waren. Der Pausenhof war menschenleer und die Schritte der beiden hallten laut auf dem Kopfsteinpflaster. Wendy umkreiste den Blonden und baute sich mit ernstem Blick und verschränkten Armen einer Mauer gleich vor ihm auf. „Du hast doch was!“ Keine Antwort. Balotellis Blick ging leer auf den Boden. Wendy wurde schier wahnsinnig bei dem Anblick. Ihr Kiefer mahlte. Mit einer Hand zog sie an seinem lachsfarbenen Stirnband und ließ es zurück auf seine Stirn schnippen, um ihm eine indirekte Schelte zu geben. „Lass das, Bellissima...“ Die sonst so selbstbewusste Stimme klang brüchig und leise. Wendy schnaubte laut und schubste ihn leicht. „Hey hör mal, ich muss mir dein Gelaber immer anhören, wenn ich einen schlechten Tag habe! Jetzt darf ich dir wohl auch mal was Gutes tun, wenn es dir nicht so pralle geht, oder?“ Sie senkte den Kopf und sah ihm so tief in die Augen, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. Stechende hellgrüne Iris traf auf trübe blaue, die ihr auswich. Sie knurrte gereizt. „Komm mal mit!“ Wieder trat sie hinter ihn und bugsierte ihn erbarmungslos zu einem der Bäume am Schultor. Der Wind rauschte in den grünen Blättern, als sie sich zu den Wurzeln niederließen und ihre Rücken an die Baumrinde betteten. Es war derselbe Baum, an dem sie sich an Wendys erstem Schultag getroffen hatten, um die Unterhosenfarben der Mädchen zu erraten. „Schon komisch, wie die Zeit vergeht...“ Balotelli nickte stumm. „Ich glaube, vor ein paar Monaten hätte ich noch gesagt 'Soll er doch an seiner miesen Laune verrecken! Geschieht ihm ganz Recht, dass er am Heulen ist!' – oder so ähnlich.“ Der Gedanke daran, wie sie damals drauf war, war fast schon komisch! „Aber hör mal, du hast neulich in der Pizzeria einen ganz schönen Seelenstriptease mit mir abgezogen, also will ich auch wissen, welche Laus dir über die Leber gelaufen ist!“ Während sie ernst, fast schon schmollend, dreinblickte, legte sie ihren Arm um seine Schulter und zog ihn so zu sich heran, wie er es auch mit ihr unter dem Tresen gemacht hatte. Es war ihr peinlich und sie wurde rot dabei, doch redete sie trotzdem mit fester Stimme weiter. „Ich sag dir was: ich hab ein echt großes Problem. Ich kann das einfach nicht mit ansehen, wenn Menschen, die mir was bedeuten, leiden müssen.“ Sie strich ihm durch das blonde Haar. „Das hat etwas damit zu tun, was mit meinem Daddy passiert ist.“ Es wurde eine längere Geschichte, die schon in Wendys Kindheit ihren Anfang nahm. Damals war ihr Vater einmal sehr berühmt unter dem Namen „The Pirate“ gewesen, da er sich lange Zeit als Profi-Wrestler behaupten konnte. Sie und ihre Mutter waren bei jedem Wettkampf dabei und feuerten ihn an, auch wenn das vielleicht für ein kleines Mädchen nicht so gut war, wenn sie muskelbepackten Männern dabei zusah, wie sie sich in Schaukämpfen gegenseitig wehtaten. „Doch eines Tages, da war ich glaube ich zehn Jahre alt, ging alles schief...“ Balotelli hob fragend den Kopf. Wieder hatte sich eine bisher verschlossene Tür in Wendys Seele geöffnet, die eine Erinnerung preisgab, die noch schmerzhafter als der Verlust von Valds Vertrauen sein musste. „Eigentlich war es ein Routinewettkampf. Alle Aktionen werden vorher abgesprochen, so dass jeder Wrestler weiß, was auf ihn zukommt, doch dieses eine Mal...“, sie schluckte, „ging alles schief.“ Sie blickte zum Schultor, damit Balotelli ihr nicht mehr ins Gesicht sehen konnte. „Mein Vater sollte ganz normal einen Stuhl über den Kopf geschlagen bekommen. Nichts besonderes, nur gab genau in diesem Moment das Material nach und kurz darauf hatte er einen riesigen Plastiksplitter im Kopf stecken...“ Balotelli dachte irgendetwas Aufmunterndes sagen zu müssen, doch Wendy blickte ihn an und lächelte. Lächelte auf eine gequälte Art und Weise. „Da lag Daddy dann da und war eigentlich tot, aber irgendwie haben sie es doch geschafft ihn wiederzubeleben.“ Sie zeigte auf ihr rechtes Auge. „Nur das da konnten sie bei ihm nicht wieder heil machen.“ Sie zog die Beine an sich heran und stützte den Kopf auf den Knien an. „Einfach nur zusehen zu können, wie er dort lag und sie immer und immer wieder Herzmassagen und Mund-zu-Mund-Beatmung machen mussten, hat mich eines schwören lassen: Nie wieder.“ Sie ballte die Faust, um das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken. „Ich will nie wieder mit ansehen, dass Menschen, die ich liebe, leiden müssen. Lieber würde ich mich für sie aufopfern, bis es mich innerlich zerreißt.“ Jetzt musste sie sich doch über die Augen wischen, obwohl sie eigentlich nicht weinen wollte. „Also sag mir bitte endlich, was mit dir los ist, damit ich dir helfen kann!“ Schweigen. Nur der Wind rauschte in den Baumwipfeln, während beide sich einfach nur ansahen. Traurig und betroffen trug jeder sein eigenes Kreuz mit sich. Und wie Wendy zuvor eine Tür ihrer Seele aufgeschlossen hatte, war nun auch Balotelli dazu in der Lage, über seine Gefühle zu sprechen. In seinem Gesicht arbeitete es. Erst versuchte er es noch zurückzuhalten, doch dann brach alles aus ihm hinaus und er drückte Wendy fest an sich. „Ich halte das einfach nicht mehr aus! Ich vermisse Hayate so sehr!“ Der Tränenschwall weinte Wendys Schulter nass, während die Rothaarige selbst gerade nicht wusste, was sie sagen sollte. Irgendwie war es zum Lachen. Sie offenbarte hier das dramatische Geheimnis ihrer Vergangenheit und er jammerte nur herum, weil er Liebeskummer hatte? „Ist schon gut.“ Beruhigend strich sie ihm über den Hinterkopf. Das war ja fast schon wie bei einem Baby! Balotelli schluchzte. „Ich hab ja versucht ihn zu vergessen. Ich war sogar mit anderen Typen unterwegs, aber... Es geht einfach nicht!“ Er drückte sich fester an sie, als hatte er in seinem Inneren die Angst auch noch sie zu verlieren. „Warum musste Piccolo auch nach unseren Zukunftsvorstellungen fragen? Ich habe echt versucht das mit Hayate zu verdrängen, aber dann musste ich doch wieder darüber nachdenken...“ Ganz schön. Erzähl nur weiter. „Über was?“ Er machte eine kurze Pause, als wäre es ihm peinlich, worüber er nun sprechen wollte. „Na ja... Dass ich später mal unsere Pizzeria übernehmen werde, spricht ja wohl für sich, aber...“, er druckste herum. „Ich möchte auch gerne mal heiraten. Und vielleicht sogar Kinder adoptieren.“ Oh mein Gott. War das gerade rosa. Nein, lachsfarben. Wendy schüttelte den Kopf und lachte nervös. „Und ich dachte die ganze Zeit, du steckst das einfach so weg.“ Balotelli richtete sich auf und wischte mit dem Ärmel seiner schwarzen Schuluniform die Tränen weg. „No, eigentlich bin ich viel unsicherer, als man es vermuten würde.“ Er versuchte zu Lächeln wie immer, doch es sah seltsam gequält aus. „Ich war eigentlich immer nur so stark, weil ich wusste, dass Hayate hinter mir steht und mich immer wieder angeschoben hat.“ Langsam stand er auf und klopfte sich die Erde von der Hose. „Und jetzt höre ich kaum noch was von ihm und denke, dass wir uns vielleicht nie wieder sehen werden.“ Auch Wendy erhob sich und berührte aufmunternd seine Schulter. „Du liebst diesen Kerl wirklich.“ Seine Wangen nahmen ein zartes Rot an, dann klopfte auch er ihr auf die Schulter. Der tragische Ausdruck in seinem Gesicht war verflogen. „Glaub mir, irgendwann wirst du auch einmal deine bessere Hälfte finden, Bellissima.“ Er wandte sich ab und grinste. Wer weiß, ob du sie nicht vielleicht schon gefunden hast... Wendy stemmte die Hände in die Hüfte und stampfte mit dem Fuß auf. „H...hör auf so blöd zu grinsen! Ich erzähl dir nie wieder was! Und höre dir nie wieder zu, also... HÖR AUF!“ Unter schallendem Gelächter Balotellis gingen beide zurück zum Schulgebäude. Die Abendsonne ließ ihre Schatten immer länger werden, bis sie schließlich mit einem dritten Schatten verschmolzen. „Ah, gut dass ich euch beide noch sehe!“ Costas breites Lächeln erschien auf der Bildfläche. „Ich habe mir nämlich ein neues Trainingsprogramm für euch ausgedacht.“ Beide hielten inne und musterten den dicken Griechen. Wendy war noch immer puterrot und auch Balotellis Gesicht hatte wieder eine gesunde Farbe. Costas fuhr fort: „Ich dachte mir, jetzt, da ihr wieder zu Viert seid, solltet ihr unbedingt mal einen Battle Royale austragen!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)