High Angle – B-Side von Atsusa ================================================================================ Kapitel 31: Zyklon und Antizyklon --------------------------------- Die kleinen Messingglocken schellten, als die Tür des kleinen Drachenladens geöffnet wurde. Draußen war es trist und grau, da es schon den ganzen Tag über genieselt hatte. Regennasse Luft kam mit dem Geruch von Benzin und Erde hinein, als eine kleine Gruppe das Geschäft betrat. Regenschirme wurden vor der Türschwelle ausgeschüttelt und in den Ständer getan, Kapuzen zurückgeschoben und die nassen Schuhsohlen am Abtreter provisorisch getrocknet. Dann schließlich wand man sich dem Tresen zu und blickte in ein noch unbekanntes, aber freundlich lächelndes Mädchengesicht. „Hallo und Guten Flug, was kann ich für euch tun?“ Große blaue Augen blitzten die Besucher neugierig an. Fünf Personen. Ein ganz Großer mit ungepflegtem langen Haar, Dreitagebart und trägem Blick, ein etwas dickerer gebräunter, der einen schlabberigen Anglerhut trug, ein blonder Adonis, der nur so vor Selbstbewusstsein strotzte, ein rothaariges Mädchen, das zwar Angst einflößende hellgrüne Augen, dafür aber eine süße Totenkopfhaarspange hatte und ein unscheinbarer dunkelblonder Junge mit knallroten Wangen und Ohren, der es nicht schaffte sie anzusehen und sich nervös über den Rattenschwanz in seinem Nacken fuhr. „Ciao, Bella!“, begrüßte sie der Blonde mit einem Zwinkern und trat an den Tresen heran, um ihr die Hand zu geben. Erst jetzt bemerkte sie das rosafarbene Stirnband, das ihm irgendwie die Ernsthaftigkeit nahm. „Wir wollten eigentlich zum Geschäftsleiter Mister Irwing, ist der gerade in der Nähe?“ Das Mädchen, dessen Haare die Farbe von hellem Milchkaffee hatten, sah irritiert zur Seite. Soviel Glitzer und Zahnweiß auf einmal war ihr doch etwas unangenehm. Und irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, dass der Typ sie gerade auch noch dezent beschnüffelte. „Äh... Ja...“ Sie trat einen Schritt nach hinten. Den Rest der Gruppe schien das Verhalten des Blonden nicht im geringsten zu stören. „Der macht gerade Pause, aber wenn ihr kurz wartet...“, sie faltete die Hände und brachte sich noch weiter von der glanzvollen Erscheinung weg, „dann kann ich ihn holen“. Costas nahm die Hände aus den Taschen und sah sich um. „Das ist also euer Materiallager?“ Ein enttäuschter, fast schon abschätziger Ausdruck lag in seiner Stimme. „Ziemlich klein, nicht?“ Er begutachtete die verschiedenen Synthetikstoffe, die auf Rollen in mehreren Regalen verteilt lagen und zum Teil schon eingestaubt waren. Wendy verschränkte die Arme und warf ihm einen verärgerten Blick zu. „Guten Morgen, Schlaumeier. Ist dir schon einmal aufgefallen, dass wir in einer sehr kleinen Stadt leben?“ Sie wollte gerade eine Stoffrolle aus dem Regal nehmen und sie dem dunkelhaarigen Griechen über den Kopf ziehen, da erschien auch schon der Drachenmeister. „Lange nicht gesehen, meine Freunde. Wünsche euch einen Guten Flug!“ Wie das bei Männern Mitte 50 so war, hatte er sich im letzten halben Jahr kaum verändert. Die rotbraunen Haare, die langsam ergrauten, waren wie immer kurz geschnitten und auch der Vollbart sah struppig wie immer aus. Vielleicht hatte er mehr Falten bekommen, doch lag die Zunahme an feinen Linien unter den Augen im Moment wohl eher daran, dass er die Gruppe anlächelte. „Balotelli! Wie war dein Duell gegen Ethan?“, er reichte ihm die linke Hand, denn auch die Tatsache, dass er noch immer einarmig war, hatte sich – wie sollte es auch nicht anders sein – nicht geändert. „Bene!“1 Ihm war es unangenehm, ebenfalls die Linke zum Händeschütteln benutzen zu müssen, doch er lächelte charmant wie eh und je. „Ihr Tipp gelassener zu werden hat wirklich funktioniert. Und eigentlich hätte ich sogar gewonnen, wenn nicht...“, Wendy hüstelte im Hintergrund, „eine vorzeitige Intervention stattgefunden hätte.“ Der log doch. Wie gedruckt. Das Duell hatte Ethan und ihn fast umgebracht! Wenn jemand am Ende gewonnen hätte, dann wäre es sicher auch Ethan gewesen, weil dessen Schmerztoleranz und Beharrlichkeit um einiges stärker war. Glaubte Wendy zumindest. Mit Sicherheit sagen konnte sie es nicht. Dafür hätte es schon ein weiteres Duell geben müssen, aber so unsicher und niedergeschlagen, wie sie Balotelli neulich erlebt hatte, war dieser gerade bestimmt nicht in Stimmung, sich erneut mit Ethan zu messen. Der Drachenmeister löste den Händedruck, starrte darauf einen Moment lang auf seine Handfläche und leckte anschließend daran. Er nickte zufrieden. „Ich merke schon, du bist stärker geworden.“ Es erfolgte kollektive Gesichtsentgleisung angesichts des Geschmacksbedürfnisses des bärtigen Mannes. Der leckte noch einmal über die Fingerspitzen und fällte dann sein Urteil. „Aber deswegen seid ihr nicht hier. Wenn alles in Ordnung wäre, dann würdet ihr so einen alten Herrn wie mich nicht um Rat bitten, oder?“ Costas legte die Stoffrollen zurück ins Regal und trat voran. „Das stimmt. Ich habe viel über den legendären James Irwing gelesen und habe mir gedacht, dass der sich auch mal sein Bild von den vier Piloten hier machen sollte.“ Geschmeichelt winkte der Drachenmeister ab, freute sich aber insgeheim darüber, dass ihn jemand vor seiner Nichte gelobt hatte. „Ach Junge, das ist doch schon lange her! Ich bin schon lange nicht mehr die Legende, von der du sprichst.“ Costas lachte und klopfte sich mehrmals auf den Bauch. „Ja, genau, und ich bin nur der fette griechische Referendar, der nicht mal Kondition hat einen Drachen überhaupt allein steigen zu lassen, wer's glaubt!“ Von einem Moment auf den anderen verfinsterte sich der Blick des Drachenmeisters. „Ich bin schon lange im Ruhestand und nicht zu Scherzen aufgelegt, was also willst du von mir?“ Er versuchte sich vor dem anderen aufzubauen, was nicht wirklich funktionierte, da beide in etwa gleich groß waren. „Und glaub nicht ich wäre senil und hätte Alzheimer, WM-Dritter Costas Nixas.“ Er stand auf den Zehenspitzen und spuckte dem Jüngeren beim Reden kleine Tropfen ins Gesicht. Sofort brachte Costas einen Meter Abstand zwischen sie und rückte seinen Anglerhut zurecht. „Ich dachte mir, dass Sie sich mal die Kirits der Vier hier anschauen sollten. Einfach ein kurzes, zwangloses Duell, Sie gegen alle anderen.“ Das Mädchen gab einen Laut des Erstaunens von sich und baute sich neben dem Drachenmeister auf. „Aber Onkel James, das ist doch ziemlich unfair! Zumal du nur einen...“ – „Schweig, Libby!“ Sein linker Arm bildete eine Schranke zwischen ihr und dem Rest der Gruppe. Er spannte die Hand an und ließ die Finger knacken. „Du denkst, dass es unfair ist?“ Er gluckste zufrieden, ballte die Faust und hielt sie vor sein Gesicht. „Ja, das denke ich auch. Diese jungen Früchtchen putze ich doch alle auf einen Streich weg!“ Wieder einmal wurde der Drachenladen spontan geschlossen und man begab sich auf eine große Rasenfläche in der Mitte eines Wohnblocks, um ein spontanes Duell auszutragen. Während Balotelli und die anderen ihre Drachen selbst aufbauten, ließ sich der Drachenmeister von seiner Nichte helfen, seinen altbewährten Delta-Lenkdrachen mit dem Gesicht und den Streifen eines Tigers zusammenzustecken. „Nicht schlecht“, begutachtete er Libbys Werk und wurde dabei ein bisschen sentimental. 25 Jahre war es nun schon her, dass ihm sein Widersacher bei einer Weltmeisterschaft den Arm abgetrennt hatte und er beinahe auf dem Platz verblutet wäre, weil er das Duell unbedingt noch gewinnen musste. Am Ende hielt er zwar den Weltcup in den Händen, musste aber mit gerade einmal 27 Jahren seine Drachensportkarriere beenden. Aber das machte nichts. Einen Laden zu besitzen und immer wieder neuen Hobbypiloten und angehenden Profis bei der Auswahl der richtigen Materialien zu helfen, hatte auch etwas Erfüllendes. Besonders, seit seine süße Nichte Libby sich auch für das Hobby interessierte und ihm zweimal die Woche im Laden aushalf. Er nahm die Drachenspulen in die linke Hand – die eine war gelb, die andere schwarz, was eigentlich ziemlich unsinnig war, da es ihm nicht zur Orientierung von rechter und linker Hand half – gab sie dann aber gleich wieder seiner Nichte zurück. „Hört mal zu!“, grollte seine Stimme über den Platz. „Ich möchte mir erst einmal eure Drachengeister ansehen, bevor es ans Eingemachte geht.“ Während Balotelli grinsend, Wendy gewohnt unbeeindruckt und Neil fest entschlossen nickte, ließ Zeph nur ein träges Brummen verlauten. Er hatte letzte Nacht schlecht geschlafen, weil er wieder einen Einsatz hatte und sich schon den ganzen Schultag über quälen müssen. Eigentlich wollte er schon längst im Bett liegen und ein paar Stündchen vor sich hin dösen, doch wieder einmal hatte ihn das strahlende Gesicht des Teamchefs, das ihn dazu genötigt hatte nach der Schule doch noch mitzukommen, um den Schlaf gebracht. Die Kirits zeigen... Das war für ihn eher Fleischbeschau. Und Fleisch war bekanntlich weder an seinem Kirit, noch an ihm selbst viel dran. Aber er wollte stärker werden. Er wollte der standhafte Spieler werden, an dem sich die Gegner die Zähne ausbissen, während er nur schief lächelte und auf eine passende Kontermöglichkeit wartete. Also mitmachen, die richtige Windböe abpassen, Anlauf nehmen und... „LIFT 'EM UP!“ Kritisch dreinblickend rieb sich der Drachenmeister das bärtige Kinn und lief vor den vier Kite Knights auf und ab. „Interessant“, murmelte er, gefolgt von „Aha!“ und „Hmm...“. Jeder der vier strengte sich an, seinen Seelenpartner auf Sichthöhe schweben zu lassen, was dazu führte, dass Darter und Sting leicht in der Luft auf und ab tanzten, Icarus, zwei Köpfe größer, mit angelegten Flügeln vor Balotelli stand – die Ähnlichkeit der beiden war deutlich zu erkennen – und Aquila, oder eher der Haufen, der einen Vogel-Kirit darstellen sollte, vor Zeph auf dem Boden hockte. Neil musterte interessiert die Darbietung der anderen. Großes Selbstvertrauen zierte Balotellis Gesicht und Wendy kicherte leise, obwohl das Halten der Energie ihnen viel Konzentration abverlangte. Nur Zeph wurde immer mürrischer und unzufriedener und brabbelte leise auf Polnisch vor sich hin. Eine Frage brannte auf Neils Zunge, die zu stellen er sich eigentlich schämte. Was, wenn sie ihn alle für verrückt und abnormal halten würden, wenn er es ihnen sagte? Er senkte den Kopf und seufzte. Lieber nicht fragen und abwarten, bis der Drachenmeister sich wieder zu Wort meldete. „Piccolo, was überlegst du denn gerade? Hat dich die strahlende Schönheit meines heroischen Kirits verunsichert?“ Dasselbe Gesicht blickte ihn doppelt grinsend an und machte ihn so unsicher, dass er zu stottern begann. „Sa...sagt mal, s-p-p-p-prechen eure Ki-ki-kirits eigentlich aaauch mit euch?“ Jetzt war es raus. Jetzt würde er ausgelacht werden. Peinliches Erlebnis erwartet in 3, 2, 1... „Kurwa!“2, zischte Zeph und blickte dabei grimmig Aquila an. „Kann einfach nicht ruhig sein, nie! Immer schimpft sie mit mir, sagt 'Zeph, du bist faul! Du kannst nichts, rasiere dich mal, wasch dir die Haare!', sehr nervig.“ Der Drachenmeister ging vor dem großen Steinadler auf die Knie. „Das habe ich schon vermutet. Weil ihr beide kein Team seid, kann dein Kirit – du sagst es sei ein Mädchen, ja? – nicht komplett beschworen werden.“ Zeph zog die Nase hoch. „Ist normal, nie? Männer haben Frauen, Frauen haben Männer als Kirits?“ Er deutete auf Balotelli. „Nur der nicht, weil der ist homo.“ Neil und Libby gaben ein erstauntes „Oh?“ von sich, doch Balotelli lachte nervös. „Das hat doch damit nichts zu tun! Dann wäre meine Schwester ja...“, er konnte es nicht aussprechen. Seine kleine, süße Schwester Ocarina, deren Kirit sich erst kürzlich als eine hell leuchtende Hummelfee herausgestellt hatte, konnte unmöglich... Die Vorstellung allein... Oh, oh, oh... „Damit hat das wirklich nichts zu tun!“, gab ihm der Drachenmeister recht und sah sich Sting und Darter an. „Kirits haben nicht wirklich Geschlechter. Und wenn sie sich doch mehr als das eine oder das andere zeigen, dann ist das trotzdem rein zufällig.“ Er richtete seinen Blick auf Wendy. „Was geht in dir vor, wenn du deinen Kirit beschwörst?“ Sie sah zufrieden aus. „Sting macht immer Witze, um mich damit anzuheizen.“ „Und du?“ Er fixierte Neil. „Darter ist...“, er wurde knallrot, „sie macht mir Mut und sagt mir, dass ich ein toller Typ bin...“ Mann, war das peinlich! Und Libby hörte das auch noch mit, wie er die indirekte Selbstbeweihräucherung durch seinen Drachengeist der Öffentlichkeit preisgab. „Si, Icarus sagt mir auch immer, dass ich der Beste bin!“, schwärmte Balotelli und blickte dem geflügelten Helden zwinkernd ins Gesicht. „Wir sagen uns immer wieder gegenseitig, dass wir die Stärksten und Bestaussehendsten von allen sind, migliore!“ Wendy unterdrückte den Würgereiz. „Wie ich mir gedacht habe!“, sagte der Drachenmeister erneut und sah wieder Zeph an. „Jeder schafft es, mit seiner anderen Hälfte in Einklang zu sein, nur du nicht!“ Er tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Brust. „Aber das ist okay. Du bist noch jung und bekommst das noch hin.“ Zeph fühlte sich nicht gerade motiviert von den Worten des mittelalten Mannes. Aquila prügelte noch immer verbal auf ihn ein und nahm ihm das letzte Fünkchen an Kampfgeist. Selbst Wendy hatte es nach langem Ringen mit sich selbst geschafft und war ein anderer Mensch geworden, der das Drachensteigen in vollen Zügen genießen konnte. Der Drachenmeister klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. „Zieh nicht so ein Gesicht, Bursche! Jetzt kloppen wir uns erst einmal eine Runde, und dann geht es dir besser!“ Er wandte sich seiner Nichte zu, die noch immer schüchtern im Hintergrund stand. „Libby, setz doch schon mal den Kaffee auf. Das hier wird nicht lange dauern!“ Als die liebevoll selbstgebackenen Kekse, die in den unterschiedlichsten Tierformen und Kakaoanteilen daherkamen, auf den Tisch gestellt wurden, war Costas der Erste, der mit seinen dicken Finger in die Schüssel griff und zielsicher nach dem Krokodil fischte. Während der Drachenmeister seinen kochend heißen schwarzen Kaffee schlürfte und Libby ihren Kaffee noch mit viel Milch und noch mehr Zucker streckte, waren die vier Kite Knights noch immer nicht ansprechbar. Kreidebleich um die Nase saßen alle – bis auf Balotelli, der seine Verunsicherung einmal mehr gekonnt weglächelte, aber sich durch das Zittern seiner Hände verriet – auf einer Sitzbank im Garten und sahen apathisch ins Leere. Neil würgte leise. Es hatte schon lange aufgehört zu nieseln und die Vögel waren erneut aus ihren Unterschlüpfen herausgekommen, um zu zwitschern. An den Kanten des Sonnenschirms, unter dem sie saßen, sammelte sich das Regenwasser und tropfte nach unten. Stille. Tropf. Tropf. Tropf. SCHLÜRF. Knurps-knurps. Zurückhaltend, als würde er sich an den Keksen verbrennen, griff Neil in die Schüssel. Jetzt bloß nicht wieder kotzen müssen! Ein schüchternen Blick in Libbys Richtung erfolgte, die ihm freundlich zunickte, als er dem Vogel – War es ein Albatros? – den Kopf abbiss. Tränen schossen ihm in die Augen. Der Geschmack war so wundervoll, dass er ganz sentimental wurde und an die Plätzchen seiner Großmutter denken musste. Was die wohl gerade machte? Bestimmt die Kühe melken, die Schafe scheren, oder aber den Stall ausmisten. Sein Gesicht, das erst ein leichtes Rosa angenommen hatte, wurde erst rot, dann weiß und schließlich ungesund blau. Er hielt sich die Hände vor den Mund und versuchte den Würgereiz noch zu unterdrücken, doch war sein Wille schwächer als sein Körper. Wie von der Tarantel gestochen sprang er auf, rannte zu dem nur wenige Schritte entfernten Fliederbusch und übergab sich heftig. Libby sah ihm enttäuscht nach. Kleine Tränen der Enttäuschung bildeten sich in ihren großen, blauen Augen. „Sind meine Kekse denn wirklich so schlecht?“ Sie kannte ja viele Reaktionen, aber dass jemand schon nach einem Bissen seinen kompletten Mageninhalt nach außen beförderte, kam selbst für sie überraschend. Doch Balotelli winkte ab: „Ma no! Der Kaffee und die Plätzchen sind wirklich wunderbar! Piccolo reagiert nur äußerst sensibel auf Anstrengung.“ Neil setzte sich zurück an den Tisch und griff nach einer Serviette, um sich den Mund abzuwischen. Mann, das war ja total peinlich! So konnte er Libby doch nie wieder unter die Augen treten! Mit roten Ohren und gesenktem Blick hörte er daher nur halbherzig zu, als der Drachenmeister nun endlich erklärte, was vorhin passiert war. Alles hatte ganz harmlos angefangen. Mister Irwing hatte seinen Drachen steigen lassen – auch wenn Neil die Lift-Technik doch ziemlich albern vorkam, weil er sie mit einem Arm ausführte und ihr die Bezeichnung „Rolling Punch“ gegeben hatte – und sie gebeten ihn anzugreifen. Alle stürzten sich sofort auf ihn. Er beschwor seinen Kirit, der trotz feuerspeiender Tigergestalt auf den Namen Leon hörte, und dann... Dann ging alles plötzlich ganz schnell. Ein Schritt auf Zeph zu und ein kurzes Aufeinandertreffen von Leon und Aquila. Aquila verschwand, Zeph wurde, wie so häufig, zu Boden geschleudert und verlor die Kontrolle über den braunen Steinadlerdrachen. Mit dem Schwung aus dieser Attacke ging er nun auf Wendy zu. Goldenes Feuer vermischte sich mit pinkem zu einem Wirbel, den er auf Balotelli schickte, der ohnehin anfällig für Nahkampfattacken war. Icarus ging in Flammen auf und stürzte auf Wendy hinab, die sich mit einem Hechtsprung zur Seite retten musste. Sting blieb im Gebüsch hängen und war ausgeschieden. Schließlich stürmte der Drachenmeister auf Neil zu, der Darters Ultraschallattacke ausführte, um den mächtigen Gegner auf Distanz zu halten. Doch die hell lodernde Feuersbrunst, die er zuvor bei Wendy angezapft hatte, prallte auf die Schallwellen und verursachte eine laute Explosion. Neil behielt zwar die Kontrolle über seinen Drachen, doch die Kraft seines Kirits schwand, sodass ein weiterer Angriff ihm den Gnadenstoß gab. „Im Grunde habt ihr alle gar keine Ahnung, was vorhin passiert ist, nicht?“ Er nahm noch einen großen Schluck aus der Kaffeetasse, stellte diese dann ab und wischte sich über den buschigen braunen Bart. Betretenes Nicken. Nur Costas lehnte sich wissend zurück und winkelte lässig ein Bein an. Der Drachenmeister erhob sich. „Wenn ich euch nun also sage, dass in eurem Team ein Zyklon und drei Antizyklone sind, dann hört sich das bestimmt neu für euch an, nicht?“ Er blickte in fragende Gesichter. „Und wenn es mich nicht täuscht, dann müsste dieser unscheinbare Japaner, Hayate hieß er glaube ich, auch ein Zyklon sein.“ Wendy verschränkte die Arme und hob genervt eine Augenbraue. „Reicht es nicht einfach uns zu sagen, dass wir zu schwach sind und mehr trainieren müssen?“ Sie schlug die Beine übereinander und tappte mit dem Standfuß mehrmals auf den Boden. „Wir waren zu Viert und haben gegen einen... einarmigen Banditen verloren, der seine besten Jahre schon hinter sich hat. Und das nur...“, sie äffte seinen Tonfall nach, „weil ihr keine Ahnung über Zyklone und Antizyklone habt“. Sie war müde und gereizt und nicht mal Kaffee und Zucker halfen ihr dabei wieder auf die Spur zu kommen. Natürlich hatte sie erwartet, dass es kein leichter Kampf werden würde, aber einfach so ausgebootet zu werden, ohne überhaupt eine richtige Attacke zeigen zu können, gab ihrem Selbstvertrauen doch einen herben Dämpfer, zumal sie auch nicht gerade glücklich darüber war, dass sie maßgeblich dazu beigetragen hatte Balotellis Drachen zu zerstören. „So ist es“, gab der Drachenmeister ihr Recht und blickte in den wolkenverhangenen Himmel. Eine Windböe zerzauste sein kurzes Haar und den gestutzten Bart. So wie er dastand, erinnerte er Wendy ein wenig an ihren Vater, dessen Erscheinung aber um einiges wilder und kantiger war. Und so fühlte es sich auch an. Wie von Eltern belehrt zu werden, wenn man aus Unwissen einen Fehler begangen hatte. „Den Zusammenhang zwischen Drachensteigen und Wetter kennt ja jeder. Kein Wind, keine Drachen, so einfach ist das.“ Er fuhr sich über das Kinn und überlegte, wie er es so einfach wie möglich erklären könnte. „Dabei gibt es Aufwinde und Fallwinde.“ Er wandte den Blick vom Himmel ab und sah erneut den fünf Gästen ins Gesicht. Libby war eine weitere Kanne Kaffee holen gegangen. „Wenn ich euch nun also sage, dass jeder Pilot durch seinen Kirit selbst indirekt das Wetter verändert, glaubt ihr mir das dann?“ Jeder prüfte in seiner Erinnerung all die Drachenduelle, die er selbst ausgetragen oder erlebt hatte. „Balotelli!“ Der Angesprochene schreckte für einen kurzen Moment hoch, als die schneidende Stimme des Erwachsenen ihn direkt ansprach. „Wann immer du dich duelliert hattest, gab es danach schönes Wetter, nicht?“ Er nickte zustimmend. „Mädchen!“ Er konnte sich Wendys Namen nicht merken. „Bei dir ist das doch genau so!“ Wendy, die noch nie großartig darüber nachgedacht hatte, erforschte ihren Geist. Grübelnd kräuselte sie die Stirn und biss sich auf die Lippe. „Das ist ja auch normal, wenn man Feuer und damit Hitze erzeugt.“ Der Drachenmeister schlug mit der Faust auf den Tisch und zeigte dann auf sie. „Bingo! Und was ist Wärme? Ein Hochdruckgebiet!“ Neil klatschte mit der Hand auf seine nackte Stirn. „Das ist es!“ Er erinnerte sich dunkel an den Erdkundeunterricht der Mittelschule. „Ein Hoch ist ein Antizyklon und es dreht sich immer im Uhrzeigersinn.“ Der Groschen war gefallen. Mit einem Mal verstand jeder, warum der Drachenmeister so schnell gewinnen konnte. Er, der selbst das Feuer kontrollierte und ebenfalls ein Antizyklon war, hatte sich die rechtsdrehenden Luftströme, die Zeph, Wendy und Balotelli umgaben, zunutze gemacht. Er hatte erst Zeph ausgehebelt, Wendys Energie angezapft, Balotelli in der nächsten Luftumdrehung damit angegriffen und schließlich den letzten Schwung genutzt, um auch Wendy zu eliminieren. „...und als ich angegriffen wurde, da trafen rechts- und linksdrehende Luftströme aufeinander und es gab einen Knall.“ Wow. Da glänzte er einmal mit Wissen und dann war die hübsche Nichte des Drachenmeisters nicht da. „Richtig, Bürschchen. Normalerweise würden beide Ströme sich dann aufheben, aber weil ich deutlich mehr Erfahrung und Kraft habe, kam ich trotzdem durch und konnte dir eins überbraten.“ Er lächelte zufrieden und setzte sich wieder an den Tisch. „Nur, damit ich das richtig verstanden habe...“, meldete sich der blonde Italiener zu Wort, „Ethan ist bestimmt ein Zyklon, si?“ Mister Irwing nickte bestätigend. „Ihr habt euch solange geprügelt, bis keiner mehr durchkam, oder?“ Libby war zurückgekehrt und schenkte ihm eine weitere Tasse heiß dampfenden Kaffee ein. „Plus und Minus ergibt Null.“ Wieder trank er, ohne vorher zu pusten, einen großen Schluck. „Natürlich konntet ihr das bisher nicht so genau feststellen, weil ihr fast alle Antizyklone seid. Ihr habt euch nur immer gegenseitig stärker gemacht. Selbst Costas mit dem Erdelement ist ein Antizyklon. Nur euer Neuer hier, der kontrolliert den Wind und ist ein Zyklon.“ Alle Blicke richteten sich auf Neil, der schon wieder rot geworden war, als Libby zurückkam. Er fühlte sich dazu verpflichtet etwas zu sagen, doch einmal mehr verließ ihn die Fähigkeit zu sprechen. Zum Glück meldete sich Zeph zu Wort. „Dachte immer, ich wäre Wind. Aquila ist ein Vogel, warum bin ich dann ein Antizyklon?“ Der Drachenmeister klopfte sich einmal fest auf den Oberschenkel und leckte sich über die Lippen. „Du Lulatsch bist eben nicht das, was du zu glauben gedacht hattest! Aber weißt du was?“ Er leerte die Kaffeetasse in einem Zug und deutete an, dass ihm die Gruppe wieder in den Laden folgen sollte. „Ich habe eine gute Idee, wie du es herausfinden könntest, aus welchem Element du deine Stärke beziehst. Ich finde nämlich, ihr solltet nächstes Wochenende unbedingt einmal wandern gehen!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)