High Angle – B-Side von Atsusa ================================================================================ Kapitel 34: Dosenravioli und Drachen ------------------------------------ Verrückt. Einfach nur verrückt. Und es wurde immer besser. Wendy fühlte sich, als hätte man ihr eine ganze Flasche Schnaps verabreicht und sie danach mit Bleigewichten an den Boden gekettet. Ihr war schlecht und sie konnte kaum atmen. Langsam, träge wie eine Schildkröte, rollte sie sich auf die Seite und musterte den bärtigen Greis und seine zwei Begleiterinnen. Im Kerzenschein konnte sie nur wenige Details ausmachen, doch es reichte, um zu erkennen, dass alle drei helle Gewänder trugen, deren Säume so lang waren, dass sie über den Boden schleiften. Nur das Gesicht des Alten war sichtbar, da er als einzige den erdfarbenen Überwurf nicht über den Kopf gezogen hatte. Sein Haar war lang und weiß, während das seiner Begleiterinnen goldblond in jeweils zwei Zöpfe gebunden fast bis zur Hüfte hing. „Gandalf?“ Neil richtete sich mit zitternden Beinen auf und torkelte mit fragendem Blick auf den alten Mann zu. „Nein... Wie hieß er noch gleich?“ Er kratzte sich den Hinterkopf. „Merlin! Ja Merlin! Du bist Merlin, nicht?“ Der Greis lachte und hob die Hand zum Vulkanischen Gruß. „Dif-tor heh smusma, junger Padawan! Lebe lang und in Frieden und möge die Macht mit dir sein! Und nein, ich bin nicht dein Vater!“ Während die Gesichter der fünf Kite Knights entgleisten, sprang Costas auf die Füße und lachte schallend. Ohne Berührungsängste zu haben, trat er auf den Mann zu und reichte ihm die Hand. „Ich hoffe doch, du lässt uns vorbei, denn wir sind kein Balrog von Mordor!“ Da hatten sich ja zwei gefunden! Der alte hob die Hand und feixte. „Nein, und ich habe auch keinen Ring, um euch zu knechten! High Five, Sportsfreund!“ Balotelli kroch behäbig auf Wendy zu. Er war voller Staub, doch konnte zumindest er sich halbwegs bewegen. „Kannst du aufstehen?“ Die Rothaarige nickte und stemmte sich behäbig hoch, sodass er ihr unter die Arme greifen konnte. Gemeinsam waren sie zwar immer noch wackelig auf den Beinen, aber immer noch besser dran als Zeph, der so müde war, dass ihn Neil und eine der Begleiterinnen stützen mussten. Einzig und allein Angelo war fit und beobachtete skeptisch das Geschehen. „Es ist lange her, dass jemand die Ruinen aktiviert hat. Und – oh Mann – das Erdbeben war so heftig wie meine Blähungen, wenn ich mal wieder zu viel Chili gegessen habe!“ Der Greis fuhr sich durch den Bart. „Aber was erzähle ich denn hier! Ihr seid sicher hungrig, nachdem ihr so lange durch die Finsternis geirrt seid!“ Er deutete auf den Ausgang. „Es ist nicht mehr weit, bis zu meinem Haus. Kommt einfach mal mit und ich erkläre euch dann alles.“ Er wollte sich gerade umdrehen, doch hielt er noch einmal inne und musterte seine sechs Besucher ausgiebig. „Sofern ihr noch Laufen könnt, versteht sich!“ Alles nickte träge. Wieder lachte der bärtige Mann und klatschte in die Hände. „Ach, so aufregend war es hier schon lange nicht mehr! Was für eine Überraschung, dass James mir solche jungen Würstchen wie euch vorbeischickt!“ Dann verschwand er erneut in dem Gang, aus dem er gekommen war und seine Stimme hallte munter von den Wänden nieder. „Ach, ist das schön! Am besten mache ich gleich den Kuchen auf, den mir James das letzte Mal mitgebracht hat! Gäste haben wir hier ja nicht sooft! Hahaha!“ Sie hatten alles erwartet. Eine zerfallene Blockhütte mit Strohdach, ein zugiges altes Sandsteingemäuer, oder aber eine einfache Jurte, die mit Tierfellen und Teppichen ausgestattet war und in deren Mitte ein munteres Lagerfeuer knisterte. Doch als sie die wenigen Schritte, die der letzte Gang lang war, hinter sich gebracht hatten und der Greis und seine zwei Begleiterinnen ein großes, schweres Holztor öffneten, standen sie inmitten eines Orangengartens, der im Innenhof eines orientalischen Gebäudes war. Der Boden war bunt gekachelt und so sauber, als wäre er erst kürzlich gefegt worden. Kein einziges weißes Blütenblatt lag auf ihm. In der Mitte des Hofes plätscherte ein Springbrunnen, in dessen klarem Wasser gelbe Quietscheentchen und andere Plastikfiguren schwammen. Doch das war erst der Anfang der Kuriositäten. Als sie den Innenhof durchquert hatten – es war bereits Nachmittags und die Luft war angenehm warm – stieß der alte Mann erneut eine schwere Holztür auf und anstatt mittelalterlicher Flötenmusik lief... „...der Indiana Jones Soundtrack!“ Balotellis Miene hellte sich auf und er begann sich erstaunt umzusehen, nachdem er Wendy dabei geholfen hatte, sich auf einen der Sessel, die um eine große Holztafel verteilt waren, zu setzen. Er ging die nicht enden wollenden Bücher- und Filmregale an den Wänden durch und betrachtete alles ausgiebig. Neil trat neben ihn und gab hin und wieder ein überraschtes „Ah!“ und „Oh!“ von sich, denn der Greis hatte wirklich alles: Star Wars, Star Trek, Stargate, Akte X, Doctor Who, Torchwood und viele andere Serien und Filme, deren Aufzählung Stunden hätte dauern können. Während er seine Kutte auszog und darunter eine zerschlissene Jeans und ein schwarzes Metallica-T-Shirt trug, waren seine Dienerinnen hinausgegangen, um Essen für die Besucher zu holen. Schließlich hatten die Kite Knights den Rundgang beendet und sich um den großen Tisch versammelt. „Ich heiße übrigens Kermad!“, begann der alte Mann, der sich inzwischen nicht nur die langen Haare, sondern auch den Bart zu einem Zopf geflochten hatte, der von einer gelben Smiley-Haarspange zusammengehalten wurde. „Tut mir leid, wenn euch mein Erscheinungsbild und mein Haus jetzt einen Kulturschock verpasst haben, aber ich mag es nun Mal so bequem und modern zu leben, wie ihr von der Außenwelt.“ Er öffnete das mit Buntglas verzierte Fenster, das lang war und nach oben hin in einen Spitzbogen zulief, und deutete nach draußen. „Strom ist schon eine tolle Sache, das muss ich schon sagen! Seitdem James mir geholfen hat, einen Transformator an die Windmühle zu bauen, ist das Leben hier viel angenehmer geworden.“ Wieder gluckste er vergnügt. „Sagen wir so... Um die Besucher nicht zu verunsichern, tun wir bei der ersten Begegnung immer so, wie man es von diesen ganzen Zauberern und Fantasiewesen erwarten würde, obwohl diese Kutten und Überwürfe echt unbequem sind.“ Er kratzte sich ungeniert am Schritt und begann anschließend, mit dem Zeigefinger über das Bücherregal zu fahren. „Denn wer würde schon erwarten, dass die Chronik der Drachenritter von einem alten Mann geschrieben worden ist, der sich neunzig Prozent der Informationen aus anderen Büchern zusammengeklaut hat!“ Jetzt war es Wendy, die lachen musste. Doch es war kein amüsiertes Lachen, sondern eher das Lachen einer Person, die gerade die Ironie des Schicksals in einer verzweifelten Situation erkannt hatte. „Also ist alles erstunken und erlogen?“ Sie ließ sich in ihrem gepolsterten Sessel zurückfallen und atmete deutlich hörbar aus. Es war absurd. So absurd! „Aber nein, nein, nein!“ Kermad kam mit jugendlich-agilen Schritten auf sie zu und nahm ihre linke Hand. Erst musterte er sie angestrengt, dann zog er ihr ohne zu Fragen den fingerlosen Handschuh aus und pustete ihr auf die vernarbte Handfläche. Wendy wollte protestieren und die Hand wegziehen, doch als sie der warme, nach Zuckerwatte riechende Atem des Mannes berührte, erschien auf der Handfläche ein rotglühendes Zeichen, das wie ein eckiges B aussah. „Hey! Nimm deine Pfoten weg!“, protestierte sie und wollte aufspringen, doch stutzte sie, als das Zeichen unter dem Atem erschien und kurz darauf wieder verschwand. „Was? Aber wie?“ Sie ballte die Hand zur Faust und öffnete sie wieder. Nichts, nur die kreisförmige Narbe, die sich um Handfläche und Handrücken schlang, war noch zu sehen. Kermad lachte und ging zu Balotelli, um dasselbe bei ihm zu machen. „Einfach pusten, dann kommt es wieder!“ Wendy hob kritisch eine Augenbraue. Sollte es wirklich... Sie holte tief Luft und blies auf die linke Handinnenfläche. Und wie zuvor beim alten Greis, erschien auch diesmal das eckige B und verschwand wieder, als der Windhauch nachließ. Auch die anderen taten es ihr gleich. Auf Balotellis Hand erschien eine gespiegelte Eins, auf Zephs ein X, auf Neils ein eckiges R und auf Costas' ein Pfeil nach oben. Nur Angelos Hand blieb leer, hatte er doch keine Kraft übertragen bekommen, als er die Säule in der unterirdischen Halle berührt hatte. Die beiden Dienerinnen kamen mit zwei großen Tabletts herein. Eigentlich war das Geheimnis, welches die Kite Knights gerade entschlüsseln wollten, viel zu mächtig, als dass man sich ablenken lassen konnte, doch Costas und Zeph ging angesichts der üppigen Aussicht, welche die beiden Damen ihnen präsentierten, die Augen über. Beide trugen saftig grüne Dirndl mit weißen Blusen, deren Hügellandschaft noch saftiger war, als die Wiesen, auf denen schottisches Hochlandrind graste. Sogar Neil stieg das Blut in die Ohren. „Eriu! Banba! Da seid ihr ja endlich!“ Kermad ließ von Balotellis Hand ab und half den blonden Frauen, das Essen auf den Tisch zu stellen. Angesichts des vornehmen orientalischen Anwesens, in dem sie hausten, hatten die Kite Knights und ihr Begleiter eigentlich ein reichhaltiges Menü erwartet, doch das, was man ihnen vor die Nase stellte, waren... „DOSENRAVIOLI!“ Balotellis Sessel kippte nach hinten um, als er panisch aufsprang und die geöffneten Blechdosen betrachtete, in denen dampfende Ravioli mit Tomatensoße schwammen, in die man der Einfachheit halber schon eine Gabel gesteckt hatte. „Oh ja!“, lachte Kermad und stellte den Sessel wieder auf. „Die sind wirklich gut! Wir haben hier draußen nicht wirklich viel und sind froh, dass James uns alle drei Monate einmal Proviant gibt.“ Er trat hinter die beiden Frauen und legte seine Hände auf ihre Schultern. „Aber wie du siehst, schadet es nicht, sich hauptsächlich von Konserven zu ernähren! Die beiden sind jetzt über 200 Jahre alt – mein Alter könnt ihr euch ja dann vorstellen – und immer noch so putzmunter und frisch wie 20-jährige!“ Während die anderen nur mit den Schultern zuckten und gemäß der Devise 'der Hunger ist der beste Koch!' über die Ravioli herfielen, spürte Balotelli, wie ihm die Übelkeit hochkam. „Ma no, da geht doch nicht! Ich kann es mit meiner Ehre als halber Italiener nie, nie, niemals verantworten so etwas zu essen!“ Kermad sah ihn fragend an. „Soll ich dir lieber Spaghetti oder eine Suppe warm machen? Die Bohnen sind zwar nicht so knackig wie frische Bohnen, aber mit ein bisschen Ketchup drin schmeckt es eigentlich ganz gut!“ Dosenspaghetti! Bohnensuppe! Ketchup! Balotellis Finger verkrampften sich an der Tischkante. Nein, so ging das doch nicht. Er durfte jetzt nicht die Fassung verlieren. Er, der wohlerzogene und gutaussehende Balotelli würde sich nicht so einfach die Blöße geben und sich vor allen eingestehen, dass er eine Phobie vor Dosenfutter hatte! Calma é gesso! Ruhig Blut! „Zeph?“ Er musste sich hinsetzen und so tun, als wäre alles in Ordnung. „Hm?“, brummte der schlaksige Pole zwischen zwei Bissen. „Hast du nicht noch ein paar Brote von gestern in deiner Tasche?“ – „Mh.“, antwortete der Angesprochene kurz und wollte eigentlich weiter essen, doch der flehende Hundeblick seines Teamchefs zwang ihn dazu, die Trägheit zu überwinden und ihm den Brotbeutel aus dem Rucksack zu reichen. Erleichtert nahm Balotelli das Päckchen entgegen. Eine Dose wurde geöffnet, Papier raschelte, ein Brot wurde ausgepackt und... „Che schifo!1 Das ist ja verschimmelt!“ Angewidert warf der Blonde das Brot zur Seite. Wie konnte das sein? Sie waren erst vor ein paar Stunden aufgebrochen und das Brot sah so grün aus, als hätte es mindestens zwei Wochen lang vor sich. Als Eriu und Banba wieder den Raum verlassen hatten, nahm Kermad am Tisch platz und aßen schweigend ihre Dosenravioli. Balotelli nahm zitternd die Gabel in die Hand und stocherte skeptisch in seiner Dose herum. „Ist nicht so schlimm“, versuchte Zeph ihn aufzumuntern, „Zuhause gibt es fast nur Essen aus der Dose, weil nie jemand da ist.“ – „Was vielleicht auch damit zusammenhängt, dass deine Eltern kein Restaurant besitzen, ma si?“ Sein Lächeln wirkte erzwungen, doch all der Ekel half ja nichts. Er war hungrig, das Brot war verschimmelt und alle anderen aßen auch, ohne sich Gedanken darüber zu machen. Als er vorsichtig an der ersten Teigtasche knabberte, begann Kermad zu erzählen. „Bei uns läuft die Zeit ihren eigenen Rhythmus. Aber zurück zum Thema! Ihr seid sicher alle neugierig, was vorhin mit euch passiert ist!“ Kollektives Nicken erfolgte. „Also!“, er klopfte einmal kurz auf den Tisch. „Es ist wie folgt: im Tempel des Äolus wird jeder, der einen Windgeist in sich trägt, einem der zehn Götter geweiht.“ Er deutete mit der Gabel auf Wendy. „Du, Mädchen!“ – „Ich heiße Wendy!“ Er nickte. „Hm, Windy, was für ein passender Name für jemanden, der die Kraft des Äolus in sich trägt.“ Sie gab es auf zu antworten. Missverständnisse, was ihren Namen anging, gab es sowieso viel zu oft. „Wenn ich den Windmarker auf deiner Handfläche richtig gedeutet habe, bist du dem Gott Belenus geweiht.“ Wendy blickte ihn skeptisch fragend an. „Belenus?“ Kermad lächelte. „Der Gott des Feuers! Sag, Mädchen – ach, ich hab deinen Namen schon wieder vergessen – kann es sein, dass du ein Abkömmling von James bist?“ – „James? Sie meinen den Drachenmeister?“ Jetzt war es Wendy, die schmunzeln musste. „Nein, ich bin nicht mit ihm verwandt. Ich bin eher... Ein Unfall.“ – „Oh!“ Der alte Mann hüstelte verlegen und wandte sich dann ruckartig Balotelli zu, der sich noch immer zwang die Ravioli hinunterzuwürgen. „Es wird dich bestimmt nicht überraschen, wenn ich dir sage, dass deine Kraft Lugh, dem Gott des Lichts geweiht ist.“ Der blonde Italiener verneinte. Kermad zeigte auf Neil und dann auf Costas. „Rigani und Tailtiu, Göttinnen von Himmel und Erde! Aber du...“ Er kniff die Augen zusammen und beugte sich vor, um Zeph intensiv zu mustern. „Bei dir ist es gar nicht so leicht! Lass mich deine Hand sehen!“ Zephs Hand schnellte im Gegensatz zu seiner sonst eher trägen Art prompt hervor. Nachdem ihm der Drachenmeister einen Einlauf verpasst hatte und auch der Rest des Teams eigentlich nie ein gutes Wort über seine Fähigkeiten verloren hatte, wollte er unbedingt wissen, ob die unheimliche Begegnung in dem unterirdischen Tempel auf auf ihm ihre Spuren hinterlassen hatte. Irgendetwas musste wohl in ihn hineingekrochen sein, denn als Kermad über seine Handfläche blas, erschien auch wie bei den anderen ein Windmarker. Irgendein Gott musste sich also einfach erbarmt haben und ihm seine Kraft gegeben haben, das war so sicher wie Kaugummis im Supermarkt klauen! „Oh! Interessant!“ Der Greis sah ihm ins Gesicht, blies dann noch einmal auf die Handfläche, nickte und sah ihn wieder an. „Sehr interessant! Das habe ich mir doch schon gedacht, als du hier reingekommen bist!“ Zeph wurde hellhörig und hob den Kopf. „Was bedeutet das?“ Ein X auf der Handfläche hätte genauso gut auch „unfähig“ und „unbekannt“ bedeuten können, doch das Lächeln des Alten stimmte ihn seltsam zuversichtlich. Der Drachenmeister hatte gesagt, dass er ein Antizyklon wie der Chef, Wendy und Costas war, was bedeutete, dass er irgendetwas machen musste, was warme Luft produzierte, die nach oben stieg – so hatte er es zumindest nachgelesen, nachdem sie zurück waren. Doch was außer Licht, Feuer und Wüstensand war denn noch warm? Die unbekannte, total abgedrehte Kraft, die nur ein X verdient hatte? Passte nicht zu ihm. Irgendetwas starkes, beständiges, das war er, Zeph Sokolewsky, auch wenn es ihm ein Rätsel war, wie er dann einen Vogel als Kirit haben konnte. Aber wenn man es sich genau überlegte... Was hatte ein Skorpion mit Feuer zu tun? „Das, was ihr auf der Hand tragt, sind germanische Runen, Futhark, um genau zu sein! Manche sehen schon aus wie Buchstaben, andere sind aber ganz anders! Das, was du sicher als X lesen würdest, ist eigentlich ein G!“ Kermad lachte. „Verrückte alte Sprache, nicht? Aber für uns ist es gar nicht so abwegig, immerhin sind wir das alte Volk! Die Túatha Dé Danann, das vierte irische Volk!“ Während die anderen mit ihrer Mahlzeit fortfuhren, versuchte Zeph nicht mit den Gedanken abzuschweifen. Warum konnte der alte Mann nicht endlich sagen, was seine Kraft war? „Oh!“, sagte Kermad wieder, „Es tut mir leid! Wir haben hier so selten Besuch und wenn James einmal da ist, dann bleibt er meistens nicht mal eine Stunde und verschwindet sofort wieder, nachdem er uns neuen Proviant und Alltagsgegenstände vorbeigebracht hat. Wisst ihr, wir leben hier in einer ganz kleinen Sphäre! Nach dem Haus und der Windmühle ist fast schon Schluss. Da ist kein Platz für große Anbaufelder und Tierzucht. Obwohl wir ein paar Hühner haben, ja, das ist schön!“ Zeph zog seine Hand beiseite und blickte den alten Mann verärgert an. Zumindest versuchte er es. Mit seinen trägen Augen wirkte selbst der ernsthafteste Blick seltsam harmlos. „Was ist es?“, fragte er noch einmal mit Nachdruck. Das war ja schlimmer, als wenn der Chef wieder einmal über das Erzählen belangloser Alltäglichkeiten die Zeit vergaß und er sich immer zwingen musste, nicht einzuschlafen! „Hmm... Ja! Diese Rune steht also für Gobban, ein vorzüglicher Patron für jemanden wie dich, junger Padawan!“ – „Gobban?“ Zeph hob eine Augenbraue. Auch die anderen hatten ihr Mahl beendet und lauschten nun interessiert den Ausführungen Kermads. Doch weiter kam der Greis nicht. Mit einem lauten Knall krachte plötzlich etwas sehr Großes auf das Dach des Hauses. Erst knarrte und ächzte der Dachbalken noch unter dem plötzlichen Einschlag, doch dann splitterte das Holz und ein Teil des Daches polterte auf den Tisch herab. Erschrocken sprangen die Kite Knights auf und blickten in das Loch der Decke, welches nun einen hellen Sonnenstrahl in den Raum warf, der sich durch den aufgewirbelten Schutt deutlich abzeichnete. Ein ohrenbetäubendes Brüllen erklang, welches das gesamte Haus zum Erzittern brachte und allen schmerzhaft in den Ohren stach. Dann schob sich ein Schemen vor das Loch im Dach und ließ den Sonnenstrahl verschwinden. Dort, wo eben noch ein Fleckchen blauer Himmel zu sehen war, blickte nun ein gigantisches, rotglühendes Auge auf die Tafelrunde herab. Obwohl jedem von ihnen die Knie zitterten, waren alle Kite Knights wie gelähmt. Unfähig, auch nur einen Mucks von sich zu geben, standen die fünf Clubmitglieder und ihr Betreuer starr um die Holztafel herum und sahen dem Ungetüm direkt ins Auge. Sie wussten nicht, was es war. Niemand von ihnen hatte je zuvor etwas ähnliches gesehen. Das rote Auge hatte eine geschlitzte Pupille, die sich angespannt, fast schon wütend verengte und hektisch von einem zum anderen blickte. Hin und wieder zwinkerte das Monster und man sah, dass es mit dunkelgrünen, fast schon erdfarbenen Schuppen bedeckt war, von denen eine so groß war wie ein Handteller. Allein das Loch im Dach vermochte nichts über die wahre Größe des Ungetüms zu sagen, doch das Grollen und Schnauben verriet, dass es sich zumindest um ein Monster der Größe eines Tyrannosaurus Rex handeln musste, wie sie ihn alle aus dem Jurassic Park kannten. Mindestens. Ein Geruch von Harz und Schwefel lag in der Luft, gepaart mit verbranntem Holz. Das Dach ächzte so laut unter dem Gewicht des Monsters, dass jedem von ihnen bewusst war, dass es nicht mehr lange halten würde. Aber was sollten sie tun? „Scheint ja ein großes Krokodil zu sein, welches es sich dort oben gemütlich mach!“, versuchte Costas zu scherzen, doch es klang erbärmlich und nicht überzeugend. Wieder grollte das Monster und Staub regnete herab. Panisch sprang Kermad unter den Tisch und hob zitternd die Hände über den Kopf. „Oh, oh, oh! Der Torwächter ist sauer! Ich glaube, ich mache mir gleich in die Hose!“ Als erneut ein armdicker Holzbalken herabfiel, taten es die Kite Knights dem Alten gleich. Eine mit schwefelgelben, gebogenen Krallen besetzte Pranke riss ein weiteres Stück aus dem Dach heraus. Alle waren sich sicher, dass es wohl besser gewesen wäre, nach draußen zu gehen, anstatt von einem Dach erschlagen zu werden, doch niemand traute sich, auch nur einen Schritt vor die Tür zu setzen, da niemand wusste, wie groß und mächtig das Ungetüm auf dem Dach wirklich war. „Torwächter?“ Balotelli versuchte das Zittern in seiner Stimme zu verbergen, doch konnte sein bleich gewordenes Gesicht nicht die Angst verbergen. Jetzt, da er einmal mehr einer Situation auf Verderb und Gedeih ausgeliefert war, kam es ihm so vor, als wäre die Entführung seiner Schwester durch den seltsamen Brezelbäcker Olaf letzten Herbst nichts weiter als eine leichte Turnübung gewesen. Er schloss die Augen und dachte an das süße, lachende Gesicht seiner kleinen Schwester, die ihm zuwinkte und „Toto!“ rief, dachte an all die verrückten und aufregenden Dinge, die sie im Drachenclub zusammen erlebt hatte und rief sich schließlich Hayates Gesicht ins Gedächtnis. Wenigstens hatte ich schon mal Sex... Der Gedanke war in jener Situation so unpassend und doch so beruhigend, dass er schmunzeln musste. Kermads hektisches Nicken holte ihn wieder zurück auf den Boden der Tatsachen. „Ja, ja! Der Torwächter! Ein direkter Nachkomme des Äolus, der jeden, der diesen Ort verlassen will, vor eine Prüfung stellt.“ Wendy stöhnte entnervt und drehte sich auf den Rücken. Wieder rummste es laut. Nicht mehr lange, und sie würden alle platt wie eine Flunder unter dem Tisch liegen und höchstens noch als Salamibelag für eine Pizza taugen. „Erst dieser plötzlich erscheinende Eingang in den Grabhügel, dann dieses mysteriöse Licht in der Höhle und jetzt auch noch“, sie lugte für einen winzigen Augenblick unter dem Tisch hervor, um sich zu vergewissern, dass ihre Vermutung stimmte, „ein echter Drache?“ Sie trat von unten gegen die Tischplatte. „Langsam glaube ich echt, dass wir irgendetwas geraucht haben, das ist doch alles nicht möglich!“ Drache! Ein Drache! Ein riesenhaftes, feuerspeiendes Monster mit großen, ledrigen Flügeln und einer schuppigen Haut wie ein Krokodil und einem Körper wie ein T-Rex – nur nicht mit so behinderten Ärmchen – welches mit einem alten Sack und zwei dickbrüstigen Blondinen zusammen in einer Dimensionsblase mitten im Nirgendwo hockte und mit Sicherheit Hundefutter aus der Dose fraß! Costas kroch neben sie und versuchte zu Grinsen. Langsam fügte sich das Bild zusammen. „Genauso unmöglich wie ein Buch, das wie zugeklebt ist, wenn man nicht zu den Auserwählten gehört und einen Windzug heraufbeschwört, wenn man es öffnet?“ Neil auf der anderen Seite fügte hinzu: „Genauso unmöglich wie Drachengeister, die mittels eines Lenkdrachens beschworen werden und die mit einem reden?“ Wären sie nicht offensichtlich gerade in einer ziemlich brenzligen Situation gewesen, hätte Wendy gelacht. „Warum frage ich mich so etwas überhaupt noch?“ – „Weil man sich als sterbliches, menschliches Wesen nur so davon überzeugen kann, dass man nicht den Verstand verliert“, setzte Angelo nach und putzte sich die verstaubte Brille. „Seitdem ich Tornado kenne, haben so viele Begebenheiten meinen Glauben auf die Probe gestellt. Ich war beunruhigt, weil ich es nicht verstehen konnte, egal wie sehr ich auch darüber nachdachte und es nachrechnete.“ Er setzte sich die Brille wieder auf. Der Angriff des Drachen war kurzzeitig zum Erliegen gekommen, da sich dieser entschlossen hatte, vom Dach abzulassen und sich stattdessen dazu entschlossen hatte – wie jeder normale Besucher – die schwere Holztür als Eingang zu benutzen. „Ich habe mich dazu entschlossen, manche Dinge einfach als gegeben zu akzeptieren und nach meinem besten Wissen und Gewissen dazu beizutragen, zumindest die rationale Seite in diesem Sport zu unterstützen.“ Das Grollen und Krachen kam nun nicht mehr von oben, von der Seite, denn der Drache begann, mit seinem Kopf immer und immer wieder gegen die Tür zu schlagen. Balotelli war fast schon gerührt, doch er musste schreien, um gegen das Krachen anzukommen. „Angelo! Was wären wir nur ohne dich! Du bist der einzig Normale in diesem Haufen von Verrückten!“ Die eisernen Scharniere in den Wänden gaben langsam nach. Nicht mal mehr eine Minute, und der Kopf des schuppigen Ungetüms würde im Zimmer erscheinen. Wendy wollte protestieren, dass sie sich nicht zu den Verrückten zählte, doch Kermad heulte auf einmal laut auf. „Du meine Güte! Junge, Junge, Junge! Ihr habt doch nicht etwa einen Normalsterblichen mit euch gebracht?“ Wäre es möglich gewesen, noch bleicher als kreidebleich zu werden, dann wäre dies Kermad gelungen. Ohne Rücksicht zu nehmen, kroch er über Wendy und Neil drüber und schnappte sich Angelos linke Hand. Langsam wurde es wirklich eng unter dem großen, runden Holztisch. „Nein, nein, nein!“, Kermad schüttelte den Kopf und blies dem Teamtechniker der Kite Knights auf die linke Hand, doch so sehr er es auch hoffte, keine Rune erschien auf dessen Handinnenfläche. „Ach du meine Güte!“, rief er erneut, „Kein Wunder, dass der Torwächter verärgert ist! Nur die Auserwählten, die von den Göttern geweiht wurden, haben das Recht diesen heiligen Ort hier zu betreten!“ Er schluckte und blickte mit betretenem Blick in die Runde. „Alle anderen … müssen sterben.“ Hosted by Animexx e.V. 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