High Angle – B-Side von Atsusa ================================================================================ Kapitel 1: Der Typ, der den Wind riechen kann. ---------------------------------------------- Wenn sie ein Tagebuch geschrieben hätte, dann hätte der heutige Eintrag wohl so geklungen (selbstverständlich mit niedlicher Stimme nachgesprochen): „Liebes Tagebuch, heute ist der erste Tag nach den Sommerferien. Die Sonne scheint und es weht ein lieblicher Wind, der die ersten Herbstblätter von den Bäumen fallen lässt. Ich bin schon ganz nervös, denn heute beginnt mein neues Leben. Heute werde ich zum ersten Mal auf meine neue Schule gehen. Denn ich bin 15 Jahre alt, weiblich, gut aussehend (so mehr oder weniger) und voller Entschlossenheit neue Kontakte zu knüpfen und viel zu lernen Bis bald, deine Wendy!" … Nur hatte diese Sache einen Haken: Erstens konnte sie die Sonne nicht ausstehen – wie das nun einmal so war, wenn man helle Sommersprossenhaut hatte und nach zwei Minuten in der Sonne so rot war wie eine Krabbe in kochendem Wasser – und zweitens war ihr so überhaupt nicht danach neu anzufangen. Eigentlich hatte sie vorgehabt, mit all ihren Freunden auf dieselbe Oberschule zu gehen, doch hielten es ihre Eltern es für das Beste, sie auf die altehrwürdige private Bonzen… – nein, Oberschule – zu schicken, wo Fossilien – ähem, Lehrer – unterrichten, die selbst ihre Eltern schon unter ihren Fittichen hatten. Der Mief des Alten und Abgenutzten stand in den Gängen wie ein ungewaschener Vorhang vor dem Fenster und egal wo man nur hinsah, nur glückliche Gesichter der langweiligsten Streber der Welt. Wie hieß es so schön? Man war im falschen Film? Wohl eher in der schlechtesten Serie, die sich die Autoren von Privatsendern so ausgedacht hatten. So schlecht, dass sie weit nach Mitternacht lief, wenn ohnehin nur Arbeitslose und schlaflose Mütter vor der Glotze abhingen und es im Grunde nur taten, damit sie wieder einschlafen konnten. Wendy seufzte langgezogen und verdrehte für einen Moment hinter geschlossenen Lidern die Augen. Je länger sie hier stand, desto stärker spürte sie den eisigen Hauch der Verwesung, der von der ganzen Schule Besitz ergriffen hatte, als stünde diese kurz vor einer Zombieapokalypse. Auch die Anzeigentafel, auf der die neuen Klassenlisten aufgehängt waren, hatte seine besten Zeiten schon lange hinter sich gebracht und war vor lauter Löchern und abgeblätterter Farbe nur noch dem Namen nach ein „schwarzes“ Brett. Wendy kniff die Augen zusammen und suchte unter dem Haufen von Klassenlisten ihren Jahrgang. Wenigstens das war ein Vorteil dieser Schule: Sie war so groß – und das lag nicht nur daran, dass es viele Schüler gab, sondern war auch der der Tatsache verschuldet, dass man es für das Klügste gehalten hatte, die ganze Schule in einer alten Ritterburg zu errichten – dass sie auf keinem Fall Gefahr laufen konnte negativ aufzufallen. Denn mit Sicherheit – und das wollte sie doch hoffen – gab es immer jemanden, der noch mehr Mist bauen konnte als sie selbst. Darauf drei Kreuze! Warum war es nur so schwer seinen eigenen Namen zu finden? O'Callaghan war zwar kein Allerweltsname, doch würde wohl niemand auf die Idee kommen ihn mit einer „0“ anstatt einem „O“ zu schreiben. … Oder etwa doch?! Gelangweilt trabte sie von Klassenliste zu Klassenliste. A-Klasse, B-Klasse, C-Klasse, … Ein Zucken ging durch ihre Schläfe. Also doch! Nicht nur, dass man sie in die D-wie-Deppen-Klasse gesteckt hatte, nein, man hatte sich auch noch verschrieben und sie ab dem ersten Tag ihres neuen Highschool-Lebens als Null gebrandmarkt. Böse, grausame Welt. Fehlte bloß noch, dass Koteletti oder Zahnspange aus ihrer alten Schule plötzlich neben ihr auftauchten und sie freudestrahlend mit einer dicken, fetten und herzlichen Umarmung begrüßen würden. „Wendy, ja das ist aber auch ein Zufall, du bist auch hier?!“ Nicht… umdrehen… Tief durchatmen. Stur lächeln und winken. „Was für eine Überraschung! Thorsten!“ Thorsten Odelssohn. Auch genannt: der Stinker. „Wendy, ich wollte dich fragen, ob…“ Ein tödlicher Blick folgte. Das Pochen hinter ihrer Schläfe nahm zu, während sie mit zusammengebissenen Zähnen herauspresste: „Versuch es erst gar nicht. Ja. JA?!“ Thorsten erschauderte, als er in Wendys hervorquellende Augäpfel blickte. „Ich kenne dich nicht. Und du kennst mich nicht. Ist. Das. Klar?“ Er nickte nervös und versteckte sich hinter seiner Schultasche. Was für ein Opfer! Sie knackte mit den Fingern. „Und solltest du jemals auf die Idee kommen, mich wieder auf diese Weise anzusprechen, dann zeige ich dir gerne mal ein paar Techniken, die mir mein Vater beigebracht hat, verstehst du?“ Thorsten schluckte, nickte ein weiteres Mal unruhig mit dem Kopf und wandte sich zitternd ab. Na toll! So wie der die Beine zusammenkneift, hat der sich bestimmt eingepinkelt! Wieder seufzte Wendy langgezogen und begann den Korridor entlang zum Klassenzimmer der D-Klasse zu schlurfen. Mit jedem Schritt nahm der muffige Gestank zu. Und wie es nicht anders zu erwarten war, war auch das Klassenzimmer so tief wie ihre Stimmung: im Keller. Über ihr das hohe Deckengewölbe aus unverputztem Gestein, unter ihr ein rissiger Parkettboden, auf dem eine Staubschicht lag, die so dicht war, als hätte man ihn jahrelang nicht mehr gewischt. Und die Bänke erst! So alt, dass auf ihnen Einkerbungen wie „Siegfried + Roy, 1950“ standen. Jemand klopfte auf das Pult und räusperte sich. Genervt hob Wendy den Kopf. Selbst der Klassenlehrer schien aus dem letzten Jahrhundert – ach was, Jahrtausend – zu sein und so wie er zitterte und ächzte, brauchte er bestimmt Melissengeist in seinem entkoffeinierten Kaffee und Einreibungen aus Latschenkiefernöl, um sich jeden Morgen vom Totenbett hochzudopen. „Liebe Klasse 1D“, fing er an mit einer Stimme, die so dünn und schwach klang, dass es augenblicklich mucksmäuschenstill wurde – selbstverständlich nicht aus Interesse am Gesagten, sondern lediglich zur Steigerung des Hörverstehens – „ich entschuldige mich für die Unannehmlichkeiten, die wir euch bereiten müssen.“ Ja ja, mach' hin Alter. Und wisch' dir den Sprechkäse aus den Mundwinkeln. Ist ja nicht auszuhalten! „Dieses Jahr hat unsere altehrwürdige und renommierte Gebrüder Wright Schule besonders viele Neuzugänge zu verzeichnen, weswegen wir leider mit diesem Raum hier vorlieb nehmen müssen, bis man uns im Frühjahr nach den Abschlussprüfungen des aktuellen dritten Jahrgangs ein besseres Zimmer zuweisen kann.“ Ein Raunen der Entrüstung ging durch die Klasse. Wendy stützte den Kopf auf die Hände und blickte die kahle Wand an, um nicht länger die Sabberfäden vom Kinn des Lehrers tropfen sehen zu müssen. Wenigstens ist die Aussicht aus dem Fenster gut. Ach! Hier gibt es ja nicht mal Fenster! Was für ein Zufall! Ihr Zynismus war so beißend, dass er jedes lasche Toastbrot zu Fuß erledigt hätte. „Still, still!“, zitterte die Stimme des Lehrers. Kurz darauf formte sein fast zahnloser Mund ein Lächeln. „Wir werden einfach das Beste aus dieser Situation machen. Und jetzt … entschuldigt mich.“ Er griff sich an die Brust, atmete einmal tief ein und sagte dann nüchtern: „Ich habe einen Herzinfarkt.“ Das dumpfe Klatschen seines nach vorn gebeugten Körpers auf das Pult ließ Wendy für einen kurzen Moment aufschrecken. Alles wurde plötzlich ganz hektisch. Man riss die Tür auf und Schüler, die schon vom Aussehen her den Stempel „Streber“ und „Klassensprecher“ verdient hatten, stürmten hinaus und holten Hilfe. Wendy hingegen streckte sich, gähnte einmal kräftig, verzog die Mundwinkel zu einem süffisanten Lächeln und sagte zu sich selbst: „Das ist der beste erste Schultag, den ich je hatte!“ Es war kaum zu glauben, dass es sie gab. Doch sie war da, selbst an einer so großen Schule. Die Rede ist von Stille. Stille, wie sie in alten Gemäuern vorkam: Hallende, tickende Standuhren, das Knarzen und Ächzen im Gebälk, romantisch knisternde Kaminfeuer, … Das alles gab es nicht. Es gab nur eine alte Bibliothekarin, verschrumpelt wie eine getrocknete Pflaume, die jeden, der es nur wagte den Mund zu öffnen mit ihren flaschenbodendicken Brillengläsern anstarrte und wortlos den Zeigefinger an die Lippen legte. Alles in allem war die Schulbibliothek also ein ziemlich langweiliger Ort, an dem mit Sicherheit nichts passieren konnte, was Wendy auf irgendeine Weise zu einer Katastrophe machen konnte. Die Bücherregale waren so vollgestopft, dass sie vor Gewicht fast schon im Fußboden versanken und die meisten Bücher so unappetitlich und verstaubt, dass sie niemand auch nur mit spitzen Fingern anfassen wollte. Der perfekte Ort also, um die Zeit bis zur Vertretungsstunde totzuschlagen. Eigentlich wollte Wendy in Ruhe die neueste Ausgabe der „Monthly Wrestling“ lesen, doch der Blick von Fräulein Trockenpflaume in ihrem Nacken ließ sie rastlos die Gänge auf- und abwandern. Jeder Schritt verursachte ein lautes Knarzen, sodass es unmöglich war, sich unauffällig in eine Ecke zu verkriechen und die Zeitschrift auszupacken. Naja, vielleicht gab es unter all diesen Wälzern und Schinken ja doch ein Exemplar, das nicht unter ihren Fingern zerbröselte und sich gut als Versteck für ein Sportmagazin eignete… Sie kniff die Augen zusammen und legte den Kopf in die Seite, um zumindest dem Anschein nach die Buchtitel lesen zu können, doch keines schien groß oder stabil genug für ihre Zwecke zu sein. Argyrographie des Grauens, Quarternio und Sedez im Fokus der Gesellschaft, Tantiemen individuell reorganisiert, Inklusive Pädagogik mit Hühnern, Hunden und Alpakas. Ist das überhaupt meine Sprache? Fast war es ihr, als wollte sich ihr Gehirn im plötzlichen Fluchtreflex vor so viel geballter Intellektualität verflüssigen und durch die Nase hinaus auf den Boden tropfen. Oh Mann… Vielleicht hatte das ja doch einen Grund, dass sie mich in die D-Klasse gesteckt haben! Doch dann entdeckte sie doch noch etwas. Ganz hinten in der letzten Reihe stand ein Buch in passender Größe mit dunkelbraunem Ledereinband, auf das in teilweise abgeplatzten Goldlettern Folgendes geschrieben stand: Wind – Die Chronik der Drachenritter. Wendy zuckte mit den Schultern und befreite den Folianten aus dem Klammergriff des Regals, klopfte den Staub von seinem Deckel und wollte es gerade aufschlagen, als sie ein seltsames Geräusch vernahm. Sie spitzte die Ohren und blickte sich um. Was ist das nur? Stille. Ich frage mich… Das kann doch nicht sein, dass hier jemand ist. Bei dem Boden würde selbst eine Maus noch Lärm machen… Dann wieder: Ein leises, fast nicht hörbares Schnüffeln. Wendy kniff die Augen zusammen und schärfte ihre Sinne. Eins… Zwei… Drei!! Sie schnellte herum, um dem plötzlich aufgetauchten Angreifer ihren Ellenbogen in die Rippen zu stoßen, doch bevor sie ihre Bewegung vollenden konnte, packte man sie rabiat am Nacken und zog sie am letzten Bücherregal vorbei in einen kleinen Raum. RUMMS! Die Tür knallte ins Schloss. Für einen kurzen Moment war es finster, dann zog jemand an einem Schalter und eine Glühbirne an der Decke verströmte schummeriges, gelbes Licht. Draußen blickte die Bibliothekarin von ihrer Lektüre auf, rückte die Brille zurecht und zuckte mit den Schultern. Schüler… „Sag' mal, was fällt dir eigentlich ein? Hast du sie noch alle, mich hier in die Besenkammer zu ziehen?!“ blaffte Wendy ihren Entführer an, hielt dann aber für einen Moment inne und hob eine Augenbraue. „Also wenn du glaubst, dass rosafarbene Stirnbänder an Kerlen gut aussehen, dann muss ich dich leider enttäuschen!“ Der blonde Junge schnaubte vor Entrüstung und stemmte die Hände in die Hüften. „Prego? Dieses wunderschöne Stirnband ist nicht rosa, es ist lachsfarben! Ca-pi-sce?!“ Mit jeder Silbe kam er Wendy näher. Als er schließlich nur eine Handbreit von ihrem Gesicht entfernt war, schloss er die Augen, atmete tief ein und sagte verträumt: „Bellissima, deine kupferroten Haare riechen wundervoll nach gebratenem Speck!“ „WIE BITTE?!“ Wendy stieß ihn vehement von sich weg, sodass er gegen das Regal mit den aufgestapelten Putzutensilien fiel. Mehrere Lappen purzelten herunter. „Ich esse jeden Tag ein gesundes und gehaltvolles Frühstück! Wie meine Haare riechen geht dich ja wohl einen feuchten Dreck an!“ Ihre Stimme überschlug sich. Ein Freak. Mit 100-prozentiger Sicherheit ein Freak. Er lächelte, fuhr sich durch das blonde Haar und hob das Buch auf, welches Wendy vor lauter Schreck fallengelassen hatte. Oh nein. Jetzt fängt der auch noch an zu glitzern! Ich glaube, mir wird schlecht! „Du bist heute zum ersten Mal an unserer Schule und hast auf Anhieb die Chronik der Drachenritter gefunden, fantastico!“ Wendy verschränkte die Arme und legte skeptisch den Kopf schief. „Was redest du denn für einen Stuss?“ Es wurde echt immer besser. Erst wurde sie in die D-wie-Deppen-Klasse gesteckt (zum Glück war ihr wenigstens dort Thorstens Anwesenheit verwehrt geblieben), dann bekam der Klassenlehrer einen Herzinfarkt und jetzt war sie schon mit einem scheinbaren Geruchsfetischisten, der ein tuckiges Stirnband trug, Sterne sprühte und irgendwelches Kauderwelsch laberte, von dem sie nichts verstand, in der Besenkammer gelandet. Hoffentlich bin ich heute Abend noch Jungfrau! Der seltsame Typ strich über den Buchrücken und fuhr mit fast schon unheimlich ruhiger Stimme fort. „Du hast den Test bestanden. Unter all diesen Büchern hast du den Ruf dieses einen Buches vernommen.“ Was für ein Idiot. Definitiv. Am Ende verknalle ich mich noch in den! „WIE BITTE?!“Das war Zufall! Und nichts anderes!“ Sie war genervt. Sie wollte nur raus aus dieser Besenkammer und zurück in das staubige, muffige Keller-Klassenzimmer, das ihr auf einmal seltsam wohlig und angenehm vorkam. „Ma si! Ich habe mich entschieden“, fuhr er fort und nahm eine theatralische Pose ein. „Du gehörst zu den Auserwählten. Du wirst ein Mitglied in unserem Lenkdrachenclub werden!“ „WIE BITTE?!“ Zum dritten Mal. Staub rieselte von der Decke, als wäre er durch ihre laute Stimme aufgeschreckt worden. „In dir schlummert ein echter Drachenkämpfer. Dafür bürge ich mit meinem Namen.“ Dafür bürge ich mit meinem Namen! Hört der sich überhaupt zu? „Und ich … heiße Tornado Balotelli!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)