High Angle – B-Side von Atsusa ================================================================================ Kapitel 4: Showdown im Morgengrauen ----------------------------------- Ba-dum. Ba-dum. Ba-dum. Eine leichte Brise verwandelte das Gras in ein wogendes Meer aus grüner Farbe, gesprenkelt mit trockenen gelben und braunen Flecken, die träge wie Seetang im Wind schwammen. Wendy umfasste die beiden Spulen des Lenkdrachens fester. Ihr Herz schlug vor Aufregung so laut, dass es nicht nur in den Ohren pochte, sondern bis in die Fingerkuppen spürbar war. Ihre ganze Körperhaltung straffte sich. Auch Tornado tat es ihr gleich, nachdem er noch einmal lässig sein Stirnband zurechtgerückt hatte, und machte einen großen Ausfallschritt nach vorne. Fast schien es, als spielte sich die ganze Szene im Wilden Westen ab. Zwei Duellanten, beide bereit jeden Moment den Colt zu ziehen, um dem Gegner den Garaus zu machen. Angelo hob eine Fahne, auf die ein silbernes Wappen gestickt war. „Leichter Fallwind aus westlicher Richtung. Anlaufrichtung im Uhrzeigersinn. Das 30 Sekunden Zeitlimit zum Steigen der Drachen beginnt in fünf Sekunden. Vier. Drei. Zwei. Eins. Die Leinen... LOS!“ Wie ein Fallbeil schnellte die Fahne herab und schnitt den ihr umgebenen Wind mit einem knatternden Flattern in zwei Hälften. Wendy atmete tief ein, schluckte einmal kurz und rief: „LIFT 'EM...“, sie stockte. „Hey, was wird DAS denn?“ Tornado lief bereits an und baute so durch seine Geschwindigkeit einen Gegenwind auf, um seinen Drachen, auf den weiße Federn gemalt waren, in die Luft zu katapultieren, doch als er die entrüstete Stimme seiner Kontrahentin vernahm, hielt er inne und fischte den Lenkdrachen aus der Luft. „Prego? Gibt es ein Problem?“ Wendy ballte die Fäuste. „Und ob es das gibt! Wo blieb denn der coole Spruch zu Beginn der Aufwärmphase?“ Tornado sah sie fragend an und legte den Kopf schief. Schamröte stieg ihr ihr Gesicht. „Ich meine... So ein Duell erfordert doch einen coolen Spruch, oder nicht? So mit Posen... und gegenseitigem Anstacheln...“ Wieder hatte sie den Kopf gesenkt und riskierte nur ab und an einen flüchtigen Blick auf den Clubleiter. Tornado konnte nicht anders, als in schallendes Gelächter zu verfallen. „Ein Spruch? Ridicolmente! Hahaha~!“ Wendy verzog das Gesicht und druckste herum. „Kennt ihr das hier nicht? Aber ich dachte, dass man das immer so macht. Zumindest haben das die Jungs früher immer so getan...“ Angelo räusperte sich. „Wenn ihr euch nicht beeilt, endet das erste Duell mit einem Unentschieden durch das Nicht-Erheben der Drachen!“ Tornado nickte ihm zu, dann trat er wieder zurück auf die Startposition. „Na dann lass mal deinen Spruch hören, Wendy!“ Eigentlich hatte sie jetzt gar keine Lust mehr dazu. Denn eigentlich war dieses affige Rumgepose und -geschreie so gar nicht cool. „Okay...“, sie sog scharf die Luft ein. „Dann pass' mal auf und lerne.“ Oh Mann, war das peinlich! „Erst stellt man sich so hin.“ Sie machte einen Ausfallschritt zur Seite und ging leicht in die Knie. „Dann kann man zum Beispiel seinen Drachen auf die Schulter nehmen, während ein Arm eher lässig, der andere aber angespannt ist. Etwa so.“ Tornado nickte und tat es ihr gleich. „Und jetzt...“, sie machte eine theatralische Pause. Ihr Blick wurde plötzlich ganz hart und ernst. „Jetzt nimmt man Anlauf, zählt dabei von Eins bis Drei und sagt schließlich...“ Sie wagte es kaum, den Satz über die Lippen zu bringen, so peinlich war er ihr. „...em up...“ Tornado hob die Hand ans Ohr. „Prego? Kannst du das noch einmal wiederholen?“ Wendy presste die Lippen aufeinander. Ihre Zähne mahlten. Nein, das war schon in Ordnung so. Dieser Spruch war absolut richtig und total cool. „Es heißt: Lift 'em up! LIFT 'EM UP! Verstanden?“ Tornado hob erstaunt eine Augenbraue. „Lift 'em up? Das ist...“, er rang nach Worten. Wendy wollte vor Scham im Boden versinken. Warum hatte sie nicht die Klappe gehalten? „Fantastico! Das ist der coolste Spruch, den ich je gehört habe! Warum bin ich nicht früher darauf gekommen!“, platzte es aus ihm heraus. Was für ein Idiot. Definitiv ein Idiot! „Zehn, neun, acht...“, unterbrach Angelos Stimme das kurze Intermezzo. Tornado nickte Wendy zu. „Bereit?“ Sie bejahte. „Dann geht es jetzt also endlich los! Eins!“ „Zwei!“ „Drei!“ „LIFT 'EM UP!“ Wie auf Bestellung schwoll der Wind an, verwandelte sich in eine Sturmböe, die zusammen mit dem Strudel, den Tornado und Wendy im Anlauf erzeugten, zu einem Wirbelsturm wurde, der die ersten Herbstblätter vom Boden fegte. Die Leinen strafften sich, als die beiden Lenkdrachen Halt auf einer günstigen Strömung fanden. Fast lautlos flatterten sie im Wind und zerrten angriffslustig an den Griffen, die fest und sicher in den Händen ihrer Piloten lagen. „Wendy, O'Callaghan!“, fing Tornado pathetisch an. „Es ist mir eine Ehre, mich heute mit dir duellieren zu können! Und jetzt bitte ich mich zu entschuldigen, denn gleich...“, er wechselte die rechte Spule zu der in der linken Hand und schob sein Stirnband zurück, „...machen Icarus und ich richtig ernst!“. Die Spule wechselte in die richtige Hand zurück. Keinen Augenblick später schnellte seine rechte Hand wie bei einem Schlag hervor, während er mit seinem Körper einen Halbkreis beschrieb. Der weißgeflügelte Drache flog eine scharfe Kurve und sauste mit atemberaubender Geschwindigkeit auf den nur wenige Meter entfernten Totenkopfdrachen, doch Wendy reagierte schnell. Sofort zerrte sie die Leinen zur Seite, um Cleaver nach unten ausweichen zu lassen, während sie selbst ein paar Schritte rückwärts machte. „Va bene!“, konstatierte Tornado. „Wirklich nicht schlecht!“ Er passte sich der Bewegung an und spurtete einige Schritte auf sie zu. Dies katapultierte Icarus zwar einige Meter zurück, doch gab es ihm genug Gegendruck, um seinen nächsten Angriff zu starten. Er breitete die Arme aus und warf sie nach vorne, um eine Rammattacke zu starten, doch Wendy reagierte keinen Moment zu spät. Sie sprintete los, direkt auf Tornado zu, nur um sich in letzter Sekunde nach hinten zu werfen und auf den flachen Absätzen ihrer Schuhe an ihm vorbei zu schlittern. Rasch fing Tornado Icarus ab, beschrieb eine liegende Acht mit seinen Armen und drehte sich um, als sich der Drache stabilisiert hatte und auch Wendy Cleaver wieder sicher auf den Aufstrom gebracht hatte. „Respekt.“, sagte er. „Ausweichen kannst du wirklich gut!“ Wendy verzog das Gesicht. „Im Weglaufen war ich schon immer unschlagbar...“ Tornado wischte sich den Schweiß von der durch das hochgeschobene Stirnband feucht gewordenen Stirn. „Du bist wirklich talentiert. Doch den nächsten Angriff kannst du nicht überstehen.“ Er machte eine leichte Verbeugung. „Ich präsentiere dir nun die Seele meines Drachen. Icarus, erscheine!“ Er schloss die Augen und spannte seinen ganzen Körper an. Zuerst passierte gar nichts, doch dann begannen die beiden Drachenleinen zu vibrieren wie die Saiten einer Violine, die mit einem Bogen angespielt wurde. Eigentlich wäre jetzt der perfekte Moment für einen Angriff, doch ich muss einfach wissen, was er gemeint hat! Wendy konnte ihren Blick nicht abwenden. Die Seele seines Drachen? Was für einen Stuss erzählte der Stirnbandheini da, der – nebenbei gesagt – mit hochgeschobenem Stirnband aussah wie ein Mädchen mit rosafarbenem Haarreifen. So etwas gab es doch nicht. Es gab nur Wind, Bewegung und Kraft. Gewinnen konnte nur derjenige, der seine eigenen Schwächen kompensieren konnte. Derjenige, der seine Trägheit durch Stärke und seinen körperlichen Nachteil durch Flinkheit ausgleichen konnte. Und der den Weg des Windes voraussehen konnte. Wusste, welche Bewegungen des Piloten den Lenkdrachen auf welche Weise in seiner Bahn beeinflussten. Das alles. Und nichts mehr. Den Geist des Drachen rufen? Das war doch nur Esoterik! Am besten würde Tornado gleich anfangen die Kräfte des Kosmos anzurufen und mit Außerirdischen telepathischen Kontakt aufzunehmen. Doch dann geschah es. In dem Moment, als die Morgensonne sich ihren Weg über die Zinnen der Burg gebahnt hatte und die Schatten verblassen ließ, begann der weiße Lenkdrachen zu strahlen. Spiralen aus gleißendem Licht bahnten sich ihren Weg von Tornados Handflächen nach oben und umschlossen den Drachen vollständig. Dann blitzte es, gefolgt von einem lauten Donnergrollen. Wendy kniff die Augen zusammen und hob schützend die Arme vor das Gesicht. Cleaver schwankte unruhig im Wind. Sogar der Boden unter ihren Füßen begann zu erzittern, als auf den Tragflächen des Drachen der geflügelte Icarus auftauchte und seinen Lichtbogen spannte. „Du... Du verarschst mich doch gerade, oder?“ Sie glaubte nicht an das, was sie sah. Sie wollte es einfach nicht glauben. „Ikarus! Entfessle den Zorn des Himmels! Avanti!“ Die Lichtgestalt breitete die Flügel aus, zog die Bogensehne bis auf das Maximum zurück – und schoss. Plötzlich ging alles ganz schnell. Gleißendes Licht, gefolgt von einer Schockwelle, die Wendy mitten ins Herz traf und sie von den Füßen fegte. Meterweit trug es sie, bis sie schließlich unsanft auf dem Rücken landete und vor Schreck die Leinen losließ. Cleaver geriet ins Trudeln, hielt sich noch für einen Augenblick auf der Luftströmung, stürzte dann aber wie ein Stein zu Boden, wo er schließlich mit einem lauten Krachen zum Stillstand kam. „Das Duell ist entschieden! Der Sieger ist Tornado!“, erklang Angelos gnadenlose Stimme, während das Licht langsam abebbte. Tornado holte die Leinen ein und fischte Icarus aus der Luft, als er nur noch einen Meter über ihm schwebte. Dann ging er zu Wendy, die noch immer ganz geblendet war und sich schmerzend das Hinterteil rieb, und streckte ihr mit aufgesetztem Siegerlächeln die Hand entgegen. „Das war ein großartiges Duell. Fantastico!“ Wendy starrte abwechselnd von der Hand zu Tornados Gesicht und zurück. Sie wollte es immer noch nicht glauben, doch der stechende Schmerz in ihrer Brust war ein untrügliches Zeichen dafür, dass gerade etwas geschehen war, was sie niemals für möglich gehalten hatte. Zögernd nahm sie seine Hand und ließ sich von ihm aufhelfen. „Das ist doch nicht möglich...“, murmelte sie vor sich hin und schüttelte den Kopf. Tornado nickte stürmisch und klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. „Ma si! Das was du eben gesehen und gespürt hast, war mein Kirit – mein Drachengeist.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)