High Angle – B-Side von Atsusa ================================================================================ Kapitel 7: Erinnerungen an Halloween ------------------------------------ Regenrauschen. Grau verhangener Morgenhimmel. Monotones Tropfen an die Fensterscheiben. Definitiv kein Tag, um Drachen steigen zu lassen. Dafür aber ging es im Clubraum umso geschäftiger zu. Oder auch nicht. Stille herrschte, nur durchbrochen vom Geräusch einer Feile, herrschte. Leises Schnarchen, wabernde Ströme negativer Energie – fast wie aus einer Gruft – lagen über dem Turmzimmer. Dann wurde die Tür geöffnet und noch bevor sie wieder ins Schloss fiel, ertönte ein spitzer Schrei. „Was... Was machst du da mit meinem Drachen?“ Wendys Stimme überschlug sich, als sie panisch zu den Resten des schwarzen Cleavers stürmte und ein paar Tropfen kalten Regenwassers auf den Steinboden fielen. Angelo hob nicht einmal den Kopf, als er sie über den Rand seiner Brille hinweg ansah. „Die neuerliche Beschädigung machte eine gründliche Wartung obligatorisch.“ Er pustete kurz über das Ende einer Fiberglasstange und fuhr dann fort diese mit der Feile zu bearbeiten. Bei jedem Streich zuckte Wendy zusammen. Obligatorisch! Ich gebe dir gleich obligatorisch eins auf die Nase! Sie fasste sich an die Stirn. „Ja, ja!“, seufzte sie frustriert, „Ich habe dir erlaubt, dich um Cleaver zu kümmern, aber ich dachte, dass du nur die Haltungsleinen erneuerst und nicht, dass du den ganzen Drachen auseinandernimmst!“ „Meinen Berechnungen zufolge herrschte ein evidentes Ungleichgewicht zwischen den Stäben, welches eine adäquate Verteilung der Luftströmung minimierte.“, antwortete der 14-jährige trocken, während Wendy die kläglichen Reste ihres selbst gebastelten Drachen in den Händen wog. Sie hätte heulen können! Nicht nur, dass Angelo das Gestänge entfernt hatte, nein, er hatte auch die Klebeverbindungen gelöst und die einzelnen Nähte aufgetrennt. „Außerdem war eine Erneuerung der Steuerungsleinen ohnehin von Nöten, da sie aus Nylonfäden bestanden haben.“, fuhr er fort, pustete noch ein weiteres Mal den Plastikstaub von der abgeschliffenen Stange und griff nach der nächsten, um auch diese mit fachmännischem Blick zu begutachten und aufzubessern. „Eigentlich solltest du wissen, dass Nylon absolut nicht geeignet für Lenkdrachenleinen ist, da es bei starkem Zug nachgeben kann und so die Flugeigenschaften negativ beeinflusst werden. Ich frage mich wirklich, warum unser Chef so große Erwartungen an dich hat...“ Wendy fühlte ihre Schläfe pochen. Ihr Blick verfinsterte sich in gleichem Maße, wie sie ihre Fäuste ballte. Die weißen Knöchel traten hervor. Ihre Zähne mahlten. „Angelo...“, knurrte sie bedrohlich, nahe daran die Beherrschung zu verlieren, doch die monotone Stimme Tornados schaltete sich dazwischen. „Angelo, Wendy... Silenzio! Bitte beherrscht euch...“ Verwirrt wandte Wendy den Blick zum blonden Teamleiter, von dem sie nicht wirklich glaubte, dass er es war, so anders wie seine Stimme heute klang. Doch er war es, leibhaftig, saß wie immer auf seinem Thron und beobachtete das Geschehen. Nein. Eigentlich war er es nicht. Die Gestalt, die Tornado darstellen sollte, hatte tiefe Augenringe und der gebräunte Teint sah seltsam fahl aus. Eingesunken und kraftlos saß er da, kaum in der Lage die Teetasse zu halten, in die der japanische Hayate soeben eine weitere Portion eingeschenkt hatte. Zeph gähnte und streckte sich. Dass er immer von einer gewissen Morgenmüdigkeit betroffen war, war für Wendy inzwischen nichts neues mehr, immerhin war er des Nachts fast immer unterwegs, um Autoreifen und Fahrräder zu „finden“, um sie anschließend auf eBay und Konsorten zu verhökern, doch dass der Stirnbandheini so fertig war? Fast schon entspannend! Hayate deutete auf ihren Platz und rückte den Stuhl zurück. Als sie sich setzte, stellte er auch vor ihr eine Tasse ab und füllte sie mit Tee. „Etwas Milch dazu?“ Wendy nickte. Als er sich vorbeugte, um diese einzuschenken, vernahm sie seine leise Stimme. „Tornado verträgt den Regen nicht. Für ihn ist Wasser wie ein paar Ohrenschützer. Oder eher gesagt wie eine Nasenklammer.“ Er nickte und stellte noch ein paar Milchbrötchen auf den Tisch, bevor er sich zurück auf seinen Platz setzte und mit seiner angefangenen Arbeit fortfuhr. Er schnitzte einen Kürbis, so konzentriert und filigran, dass er nicht einmal ein Gesicht vorzeichnen musste. Stimmt ja! Bald war Halloween! Kein Wunder, dass es draußen so trüb und grau war. Halloween, Halloween! Ihr Herz machte einen Sprung der Vorfreude. Ja, sie liebte Halloween – besonders wegen der Streiche! Aber wer hätte gedacht, dass Balotelli so eine interessante Schwäche hatte? War ja fast schon angenehm, dass er heute nicht in der Lage dazu war große Reden zu schwingen und sein weißes Zahnpastalächeln ihr keine Kopfschmerzen verursachte! Sie zuckte mit den Schultern und nippte an der Teetasse. Auch Angelo hatte seine Arbeit beendet und gesellte sich zu der Gruppe. Obwohl... „Gesellen“ traf es eigentlich nicht. Etwas in seinen Augen ließ ihn immer weit entrückt wirken. Und wie er so in seiner Kakaotasse rührte und nachdenklich auf das halb herausgearbeitete Kürbisgesicht starrte, wirkte er fast schon traurig. Wendy hob eine Augenbraue und gab ihm einen Stoß in die Rippen. „Was ist denn mit dir los?“, scherzte sie. „Das war doch nicht so ernst gemeint! Natürlich freue ich mich, wenn du Cleaver verbessern kannst!“. Angelo kniff die Augen zusammen. „Das ist es nicht...“, brachte er gequält hervor. „Ich kann Halloween nur so absolut nicht leiden!“. Angelo hasste Menschen, denn die anderen Menschen hassten ihn. Schon immer war er der Außenseiter gewesen. War ein Kind gewesen, dem man nach der Schule auflauerte, um es zu verprügeln und alle Hefte und Bücher zu verstreuen. Ein Kind, welches man auf dem Pausenhof mied. Niemand wollte mit ihm spielen. Jeder piesackte ihn, beschimpfte ihn als „Streber“ und „Brillenschlange“. Sie konnten einfach nicht anders. Denn niemand verstand, was in seinem Kopf vorging, konnte nicht nachvollziehen, dass die Nachkommastellen der Zahl Pi viel spannender waren, als sich nach der Schule zu treffen um gemeinsam Ball zu spielen. Dass der Inhalt der Schulbücher so langweilig und einfach war, dass er die Nachmittage damit verbrachte ganze Lexikonartikel auswendig zu lernen. Als er in die Grundschule kam, ging es los. Im Kindergarten waren sie alle noch gleich gewesen, doch sobald sie anfingen zu Lesen und zu Schreiben, ging die Bildungsschere auseinander. Plötzlich war Angelo ein Außenseiter. Wurde schief angesehen, weil er alles wusste und immer mehr und mehr wissen wollte. Wurde zu einem Exoten, als er zum ersten Mal eine Klasse übersprang und von den Lehrern geliebt, als ihm dies auch ein zweites Mal gelang. Niemand verstand ihn. Und er verstand ebenso niemanden. Er ließ es einfach geschehen, dass sie ihn schubsten und traten, bis er im nassen Oktobermatsch lag und über und über mit blauen Flecken bedeckt war. Es war ihn egal. Er konnte nicht einmal weinen, als er klitschnass vor der Haustür stand und in die Augen seiner Mutter blickte, die die Hände über den Kopf schlug und nicht wusste, was sie sagen sollte. „Ist schon in Ordnung,“ sagte er monoton. „Sie verstehen mich einfach nicht.“ Er zuckte mit den Schultern und zog die Schuhe aus, während seine Mutter davon eilte, um ihm ein Handtuch zu bringen. Nein, es tat nicht weh. Nur ein bisschen. Ein weiches Handtuch wurde über seinen Kopf gelegt, die Haare trocken gerieben. Schmutz verfärbte das Handtuch, gemischt mit etwas Blut. Er hatte wohl doch mehr abbekommen. Doch was kümmerte es ihn schon? Irgendwann würden sie schon damit aufhören. Würden die Lust verlieren, wenn er nur wartete und sich nichts anmerken ließ. Und doch... Irgendwie tat es weh. Er weinte. Halloween. Halloween. Immer nur Halloween. Als gab es nichts anderes mehr in der Welt! Seit Tagen schon redete sein ganzes Umfeld von nichts anderem mehr, dabei war Halloween nichts anderes als ein christlicher Feiertag namens „All Hallows' Eve“, der Abend vor Allerheiligen, der kommerzialisiert und ausgenutzt wurde, um einen zweiten Fasching im Jahr feiern zu können. „Als was wirst du dich verkleiden?“ „Wo wollen wir uns treffen?“ „Bringst du faule Eier und Klopapier mit?“ Nein. Nein. Nein. Er würde da nicht mitmachen. Würde nach der Schule nach Hause gehen und lernen. Und hoffen, dass niemand seiner Klassenkameraden klingelte, um ihn zu belästigen. Immerhin gab es nächste Woche ein benotetes Diktat. Und darauf konnte man nie genug lernen. Einfach nicht darüber nachdenken. Nach der Paukschule nach Hause gehen. Die Hauptwege meiden und vorsichtig sein. Und doch... „Da ist ja die kleine Brillenschlange!“. Angelo zuckte zusammen. Argwöhnisch pirschte sich eine Stimme von hinten den Weg an ihn heran. Gelächter folgte. Seine Schultern versteiften. Nur nichts anmerken lassen. „Hallo Jungs!“, presste er hinaus und wandte sich um. Niemand sollte sehen, wie nervös er war, wie viel Angst er hatte erneut ein Opfer ihrer Brutalität zu werden. Dort standen sie. Zwei Köpfe größer, verkleidet als Vampir, Mumie und Zauberer. Grinsten ihn an, der Zauberer seinen Stock drohend in den Händen wiegend, bereit ihn zum zuschlagen zu benutzen. „Warst wohl noch in der Paukschule, kleiner Streber?“. Wieder Gelächter. Konnten sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen? „Ja! Und jetzt entschuldigt mich. Ich muss nach Hause!“ Er wandte sich zum Gehen. Seine Schritte beschleunigten sich. „Geh' nur zu Mami und weine! Bu-huu, heul' nur!“ Nur nicht hinhören. Einfach den einen Fuß vor den anderen setzen und laufen. Nur noch laufen. Der Vampir grinste und ließ seine spitzen Eckzähne blitzen. „Du willst doch nicht etwas weglaufen?“, drohte er. „Jungs! Fasst ihn!“ Ein Ei schnellte durch die Luft und zerplatzte zwei Schritte hinter ihm auf dem Boden. Noch eines. Und noch eines. Angelo keuchte und schnaufte. Im Sport war er noch nie gut gewesen. Doch er musste rennen! Schneller, noch schneller! Das vierte Ei traf. Und auch das fünfte. Er taumelte, stolperte über seine eigenen Füße und fiel hin. Schmerz durchfuhr seine Handflächen und Knien. Blutende, schmutzige Schürfwunden. Und es wollte nicht aufhören. Gleich würden sie ihn eingeholt haben, ihn wieder treten und schlagen wollen. Nur weglaufen. Er robbte weiter, doch er war chancenlos. Augen zu. Herzschlag bis in den Hals. Das unvermeidbare erwarten. Dann würden sie schon irgendwann aufhören. „Halt!“ Jemand schob sich zwischen Angelo und die drei Angreifer. Ein wehendes rotes Cape über einem blauen Spandex-Anzug. Rote Stiefel, eine rot abgesetzte Unterhose über dem Anzug, sowie ein gelb leuchtendes „S“ auf der Brust. Angelo rieb sich die Augen. Wären die blonden Haare nicht gewesen, dann hätte er für einen kurzen Moment geglaubt den echten Superman vor sich zu sehen. Doch er war es nicht. Es war ein Junge, vielleicht zwei Jahre älter als er, aber größer als die drei Angreifer, der sich zwischen sie stellte und durch seine ausgebreiteten Arme verhinderte, dass man Angelo wieder verprügelte. „Schämt ihr euch nicht, euch an Schwächeren zu vergreifen? Ohibò!“ Er ballte die Faust und blickte die drei verkleideten Jungen drohend an. „Kommt noch einen Schritt näher und ich zeige euch einmal, wie das ist, wenn man zu den Schwächeren gehört, senti!“ Er meinte es ernst. Die Jungen wichen zurück. Sie kannten ihn. Wussten, dass der blonde Junge aus der Parallelklasse keinesfalls zu unterschätzen war und zudem weitere Freunde hatten, mit denen man sich besser nicht anlegte. „Tse!“, der Vampir verzog das Gesicht. „Hältst dich wegen deiner Verkleidung wohl heute für den echten Superman, Balotelli?“ Der Junge warf den Kopf zurück und grinste. „Selbstverständlich! Denn heute ist Halloween. Heute bin ich besonders stark. Neugierig geworden?“ Mit festem Schritt ging er auf die drei Jungen zu, die immer mehr in sich zusammensanken, je näher er ihnen kam. „Ich rate euch, diesen Jungen von jetzt an in Ruhe zu lassen!“ Er verschränkte die Arme und zwinkerte. „Ihr wisst doch, dass ich Italiener bin. Meine ganze Familie ist bei der Mafia! Basta!“ Eine theatralische Pause folgte, in der er den Jungen noch näher kam, bis er schließlich dem Vampir direkt ins Ohr flüstern konnte: „Du willst doch nicht, dass ich deine Füße einbetonieren lasse, um dich anschließend im Fluss zu versenken?“ Der bleich geschminkte Vampir wurde noch weißer im Gesicht. Nervös schüttelte er den Kopf. Auch die Mumie und der Zauberer taten es ihm gleich. „Dann lasst ihr ihn also in Ruhe?“ Sie nickten. Er lächelte. „Sehr schön! Und jetzt zieht Leine! Andare!“ Während die Jungen davonrannten, beugte sich Superman herab und legte seine Hand auf Angelos Schulter. „Alles in Ordnung bei dir?“ Angelo nickte stumm und putzte seine Brille mit dem unteren Ende seines Pullovers. Als er sie wieder aufgesetzt hatte, nahm der andere Junge schon seine Hände und begutachtete sie. „Ahi! Das sieht aber nicht gut aus! Und deine Knie bluten ja auch!“ „So etwas passiert einfach. Immer wieder.“ Angelos Stimme klang monoton wie immer. Doch dann gab ihm der blonde Junge einen Klaps auf die Schultern und lachte: „Aber ab jetzt nicht mehr! Ich werde ab jetzt auf dich aufpassen! Promessa!“ Angelo wollte etwas entgegnen, doch der Junge ließ sich nicht unterbrechen. „Wir müssen jetzt erst einmal deine Wunden versorgen. Und dann ist es Zeit für eine Pizza! Weißt du, meine Eltern haben nämlich eine Pizzeria!“ Hörte der auch einmal auf zu reden? „Wie heißt du überhaupt? Mein Name ist Tornado Balotelli und ich bin 12 Jahre alt!“ - „Angelo Devlynn, 10 Jahre.“ Wann hatte ihn das letzte Mal jemand nach seinem Namen gefragt? Fühlte sich auf jedem Fall komisch an. „Freut mich dich kennenzulernen! Benvenuto, Angelo.“ Er lächelte und hielt ihm die Hand hin. Angelo blickte schüchtern von der Hand zu Tornados Gesicht und wieder zurück. Dann nahm er zögerlich die Hand und entgegnete errötend: „Mich auch, Tornado!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)