High Angle – B-Side von Atsusa ================================================================================ Kapitel 9: Das Duell am alten Deich ----------------------------------- Der alte Deich lag wie ein dunkler Strich inmitten von Nebelschwaden, die vom nahegelegenen Fluss aufstiegen. Scharf pfiff der Wind, so dass sie alle froh waren, dass die zehn Windlichter, welche die Begrenzung des Kampfringes markierten, überhaupt angezündet werden konnten und brannten. Zeph, dessen Augen vom Weinen ganz rot unterlaufen waren, hatte sich – selbstverständlich auf einem geklauten Autoreifen sitzend – in eine dicke Lammfelldecke eingewickelt und putzte sich nun schon zum zehnten Mal in dieser Stunde die Nase. Nein, nie wieder würde er so viel Tabasco auf einmal trinken! Dann schon lieber eine ganze Flasche Wodka! Oder Bratensaft! Oder... Ach, alles war besser als Tabasco! Und es grauste ihn schon jetzt davor, dass dieser morgen früh wieder aus ihm herauskommen musste, denn ein weiser Mensch hatte einmal gesagt: „Richtig scharf ist es erst, wenn es zweimal brennt!“. Hayate und Tornado hatten ihre Drachen ausgetauscht und die Anfangsposition eingenommen. Da Angelo Halloween immer mied, musste Wendy notgedrungen als Schiedsrichter herhalten. „Sind alle bereit?“ Sie stellte eine Stoppuhr auf dreißig Sekunden ein und hob eine Trillerpfeife an die Lippen, da der Einsatz der Clubfahne bei derartig schlechten Sichtverhältnissen eher kontraproduktiv war. „Auf meinen Pfiff beginnt die Lift-Phase! Drei. Zwei. Eins.“ FFFFRRRIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII~TT! Wie gewohnt nahm Tornado Anlauf, um mittels Erzeugung von Gegenwind den Drachen nach oben zu befördern. Diesmal würde es ihm leichter von der Hand gehen – da war er sich sicher – denn Shinigami, Hayates Drachen, war wie Wendys Cleaver ein Leichtbaumodell, das auf Grund seiner schlanken Form hohe Geschwindigkeit aufbauen konnte, dadurch allerdings schwerer zu steuern war als sein Drachen Icarus. „LIFT 'EM UP!“ Seine Stimme hallte in der Stille des nächtlichen Deiches, die nur durch den beständig wehenden Wind durchbrochen wurde, nach. Gekonnt wie er vorging dauerte es keine fünf Sekunden, dann schwebte Shinigami, der in seiner Form an eine doppelte, mit Blut beschmierte Sense erinnerte, auf dem Windstrom. Im Gegensatz zu ihm ruhte Hayate in sich selbst. Er war nicht der Typ von Duellant, der laut schreiend durch die Gegend rannte, sondern eher ein Genießer, der sich vom Wind treiben ließ, so dass er Icarus einen halben Meter über dem Boden vor sich baumeln ließ und daraufhin begann eine anmutige Schrittfolge zu tanzen, in deren Zusammenhang er die Arme immer wieder hob und senkte, zur Seite schwang und eine Umdrehung nach der anderen vollzog, bis er einen Luftstrom erzeugt hatte, der wie Thermik auf den Drachen Icarus wirkte. „Lift 'em up... Sakura Dance Style!“ Icarus wurde von einer Windböe erfasst und mühelos in den Himmel getragen, wo er sich mit den tief hängenden Wolken vereinte. Wendy nickte zur Bestätigung und stellte die Stoppuhr ab. Zwanzig Sekunden. Kein Grund auf zeitliche Engpässe hinzuweisen. Jetzt hieß es nur noch zu beobachten, zu lernen und nebenbei darauf aufzupassen, dass die Windlichter nicht ausgingen. Denn wie, wenn nicht durch hell leuchtende Markierungen, sollte man auch sonst bei diesem Mistwetter erkennen, wer am Ende der Verlierer sein würde? Hayate verbeugte sich leicht. „Es ist mir eine Ehre, dir heute Abend im Duell gegenüberstehen zu dürfen, Tornado-sama!“ Der Angesprochene tat es ihm gleich und zwinkerte. „Bellissimo, die Freude ist ganz meinerseits! Aber das heißt nicht, dass ich es dir besonders leicht machen werde!“ Er warf sein blondes Haar zurück und schob sein Stirnband nach oben. „Heute will ich es besonders schnell und hart tun!“ Hayate schmunzelte schüchtern. „Sehr wohl! In wenigen Minuten wirst du unter mir am Boden liegen!“ Hatte sie sich gerade verhört? Die Sprüche, die sich die beiden Jungen da um die Ohren warfen, waren seltsam zweideutig. „Ich doch nicht, mio Amore! Solange ich deinen Drachen in meinen Händen halte, wirst du mir hörig sein!“ Nein! Ganz bestimmt nicht! Da ging nur ihre gesunde Fantasie als fast Sechzehnjährige mit ihr durch, ganz sicher! Tornado preschte voran. „Auf einen Stoß! Los, Shinigami, Rammattacke!“ Er riss die Arme nach vorne und ließ Shinigami in einem Bogen nach unten schnellen. Doch Hayate reagierte sofort, machte eine galante Drehung und zog Icarus aus der Schussbahn. „Ein echter Samurai vergisst niemals seine Deckung!“ Er lief einen flinken Bogen und täuschte mit Icarus eine Bewegung nach Innen vor, um Tornado mit Shinigami aus der Reserve zu locken. Der Blonde reagierte sofort und schwang seine Arme nach oben, um die beiden Drachen gegeneinander rammen zu lassen und tappte in die Falle, ganz wie Hayate es erwartet und gewollt hatte. Sofort zog er Icarus zurück, flog einen kleinen Kreis und startete einen Rammangriff von hinten. „Ah!“ Die Wucht der Attacke kam so plötzlich, dass Tornado aufstöhnen musste. Er wusste ja schon seit längerem, dass Hayate ein wahrer Könner war, doch die Kraft, mit der er durch Icarus auf ihn einwirkte, nahm ihm den Atem. Und noch mehr verwirrte es ihn, als Hayate plötzlich direkt hinter ihm stand und ihm mit lasziver Stimme ins Ohr hauchte: „Habe ich etwa deinen empfindlichen Punkt getroffen?“. Wendy räusperte sich. „Jungs! So gerne ich euch auch dabei zuschaue, aber Körperkontakt ist während eines Duells verboten!“ Es fiel ihr schwer angesichts der eindeutigen Spielereien der beiden ein Erröten zu unterdrücken. Das ließ sich Tornado nicht zweimal sagen und sprintete bis zur Begrenzung des Rings. Er wusste, wie vorausschauend Hayate seine Duelle führte. Und er wusste auch, dass dieser – wenn er einmal in Fahrt kam – nicht mehr so leicht zu bremsen war. Und außerdem... Der Gedanke an das, was der Japaner mit seinem Kirit anstellen konnte, ließ ihm kalte Schauer den Rücken herunterlaufen. Er schüttelte den Kopf. Nein, nur nicht unterkriegen lassen. Immerhin war er der Anführer der „Wright Kite Knights“ und hatte so gar keine Lust, sich von der männlichen Hausfrau des Clubs die Leviten lesen zu lassen. Er presste die Lippen zusammen und sog scharf die kalte Oktoberluft ein. Jetzt war es soweit! Jetzt musste er seinen Drachengeist beschwören! „ICARUS!“, rief er mit lauter Stimme und streckte die Arme weit nach oben, um sich mit dem Himmel zu verbinden. Sofort begannen die Drachenleinen wieder wie Gitarrensaiten zu schwingen. Lichttropfen bildeten sich, die sich an der Spitze des Drachen konzentrierten. Und dann erschien er: Icarus, der geflügelte Bogenschütze, bereit seine Ladung zu verschießen! Hayate blieb die Ruhe selbst und machte nicht einmal Anstalten sich von der Stelle zu bewegen. „Nur zu“, sein Blick wurde fest, „komm endlich! Ich bin bereit!“. Tornado hob die Augenbrauen und formte ein Siegerlächeln. „Für dich doch immer, Bellissimo!“ Icarus spannte den Bogen. Die gesamte Energie sammelte sich an der Pfeilspitze, die plötzlich immer mehr verschwamm und bald nur noch als gleißende Kontur zu erkennen war. Noch einen Moment. Noch ein bisschen mehr. Der Schuss musste so präzise erfolgen, dass er seinen Kontrahenten von den Socken haute. Tornado befeuchtete die Lippen und biss die Zähne zusammen. Warum griff Hayate nur nicht an? Jetzt wäre doch die beste Gelegenheit, ihm mit einem festen Stoß ein Ende zu bereiten! Oder plante er gerade etwa seine Spezialattacke? Hoffentlich nicht! Dann lieber schnell seinen Angriff beenden und den Lichtpfeil abschießen! „Attenzione!“, rief Tornado und umklammerte die Drachenspulen fester. „Ich komme! Icarus, Lichtpfeilregen!“ Auf Kommando verschoss Icarus seine Ladung. Tropfen aus gleißendem Licht schlugen rings um Hayate auf dem Boden ein und blieben als weiße Pfeile stecken. Und auch Hayate selbst wurde mit einem mal überschüttet von Lichtenergie, die ihn mit beiden Beinen auf den Boden festnagelte. „Wie bitte?“ Hayate blickte sich erstaunt um, doch seine Füße bewegten sich unter den weißen Pfeilen kein Stück. Es war kein Schmerz, der seinen Körper durchfuhr, sondern eher ein Gefühl als hätte man seine Beine mit schweren Bleigewichten fixiert, die es unmöglich machten auch nur einen Schritt zu gehen. Tornado lachte laut auf. „Ich habe dich festgenagelt! Gib es zu, dass du verloren hast und ich es voll drauf habe, Bellissimo!“ Hayate schloss für einen Moment die Augen. Dann schüttelte er den Kopf und blickte seinen Teamchef mit eisigem Blick an. „Ich habe doch nur darauf gewartet, dass du deine Ladung verschießt! Denn jetzt kann ich dir den Rest geben!“ Er leckte sich über die Lippen. „Vielleicht kann ich meine Beine nicht mehr bewegen, aber meine Hände sind dafür frei und aktiv wie immer, Tornado-sama!“ Der Angesprochene schluckte. Und auch Wendy, die irgendwann aufgehört hatte die unanständigen Andeutungen während dieses Duells mitzuzählen, sah skeptisch zu dem Japaner mit den violetten Haaren. Konnte das wirklich sein? Hatte Hayate etwa absichtlich nicht reagiert, nur damit der Chef seine Kirit-Energie aufbrauchte? Ihr Blick glitt zum blonden Teamleiter. Oh-oh. Und er steht auch noch direkt am Rande des Kampfringes! „Hayate, lass es ruhig angehen...“ Tornado lachte nervös. „Ich bin schon ganz K.O., also bitte mach es nicht zu fest, prego?!“ Doch Hayate hörte nicht auf ihn. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem unheimlichen Grinsen. „Sayonara, Tornado-sama!“ Dann ließ er Icarus in einem Halbkreis auf den Blonden schnellen und fegte ihn aus dem Ring. „WAAAH!“ Die Attacke traf Tornado so fest, dass er die Leinen von Shinigami losließ und mehrere Meter durch die Luft geschleudert wurde. Und noch mehr: Gerade, als er wieder unsanft auf dem Rücken gelandet war, überschlug sich sein Körper mehrmals und er rollte die Böschung hinab. PLATSCH! „Das Duell ist entschieden! Gewinner ist Hayate mit Icarus!“ Wendy pfiff ab. Die Lichtpfeile verblassten, so dass der Japaner sich wieder frei bewegen konnte. Augenblicklich stürzte er zum Rand des Ringes, hinter dem der Teamchef in den Fluss gefallen war. „Tornado-sama? Ist alles in Ordnung?“ Sein Gesichtsausdruck und seine Stimme waren mit einem Mal wieder die alten, nämlich sanft und unscheinbar wie eine japanische Kirschblüte im Wind. Ein mitleidiges Stöhnen erklang aus dem Nebel. „Alles in bester Ordnung! Das werden ein paar schöne blaue Flecken, danke auch, mio Amore!“ Tornado rappelte sich auf und schüttelte sich das Wasser aus der Kleidung und den Haaren. „Ist das kalt! Ich bin klatschnass!“ Wendy schnappte sich die Lammfelldecke von Zeph, der noch immer unter den Nachwirkungen des Tabascos litt – und somit nur ein leises Murren des Widerstands verlauten ließ – und ging vorsichtigen Schrittes mit Hayate das Gefälle zum Flussbett hinab. „Herzlichen Glückwunsch!“ Sie reichte ihm die Decke, damit er zumindest etwas Wärme abbekam. „Ihr beide wart heute großartig! Ihr habt die Prüfung des Drachen bestanden!“ Sie applaudierte. „Ha-tschi!“ Hayate reichte Tornado ein Taschentuch. „Ich würde sagen, dass die Party damit für heute gelaufen ist?“ Der Blonde fröstelte. Wendy blickte auf die Uhr. „Oh je! Ja, das ist sie! Es ist schon nach 23 Uhr!“ Sie seufzte enttäuscht. „Ach Mann, ich wollte doch Süßigkeiten sammeln gehen! Jetzt habe ich ganz umsonst vier Wochen lang Eier stehengelassen! Soll ich jetzt Küken züchten, wenn ich sie heute nicht mal mehr an Hauswände werfen kann?“ Tornado klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. „Bellissima! Nächstes Jahr können wir das ja machen! Und dann bringe ich meine kleine Schwester mit – und die ist so süß, dass sie die meisten Süßigkeiten von allen bekommen wird! Haaa-tschii!“ Das Lächeln kehrte in Wendys Gesicht zurück. „Versprochen?“ – „Versprochen!“ Etwa zehn Minuten später schloss Wendy leise die Tür auf und trat auf Zehenspitzen in ihr Zuhause ein. Draußen auf der Veranda brannten noch immer die Kürbislaternen, doch im Haus selbst war es stockdüster. Sie tastete die Wand nach dem Lichtschalter ab und trat in die Küche ein, denn nach all der Aufregung war es jetzt an der Zeit für einen kleinen Nachtimbiss und eine kühle Limonade! Als das Licht anging, stach es ihr für einen Moment in den Augen, so dass sie die Stirn kräuseln und blinzeln musste. Nanu? Wo war den der Rest des Kürbis-Quiche hin? Und wo Speckröllchen mit Kürbisfüllung? Keine Muffins? Nicht ein Kürbispudding? Waren hier geheime Kräfte des Verschwindens am Werk? Schmollend ließ Wendy sich auf einen Stuhl fallen und äffte gedanklich den Tonfall ihrer Mutter nach. „Erwartest du ein ganzes Bataillon? Das ist viel zu viel zu essen!“, hatte sie am Nachmittag noch gesagt und am Ende waren sämtliche Reste verschwunden und verputzt. Sie stützte den Kopf in die Hände und ließ ihren Blick über den Küchentisch schweifen. Drei Teller standen da, mehrere leere Flaschen Guinness, sowie eine dreiviertel geleerte Flasche Schnaps. Ihre Eltern hatten also doch noch Besuch bekommen, den sie großzügig mit den Resten verköstigt und danach in allerbester irischer Gastfreundschaft abgefüllt hatten? Sie rümpfte die Nase. Oh nein. So verschmutzt, wie der eine Platz war, wusste sie genau welches Schweinchen wohl zum Abendessen vorbeigekommen war und wohl mit dem dämlichen „Süßes, sonst gibt’s Saures!“ Spruch und einem Sixpack Bier nach ihr gefragt hatte. Sie schüttelte den Kopf. Oh Mann! Ihre Eltern waren schon echt unverantwortlich, wenn sie mit einem Sechzehnjährigen zusammen ungeniert Alkohol tranken, zumal Wendy bei dieser Kombination nicht einmal sagen konnte, wer am Ende wen unter den Tisch gesoffen haben musste. Und nein. Das gefiel ihr so ganz und gar nicht gut, was in ihrer Abwesenheit hier geschehen war. Entweder, weil sie es verpasst hatte, oder weil sie sich Sorgen machte, dass der Besucher wieder irgendetwas im Suff anstellen würde, was er später bereute. Nicht gut. Ganz und gar nicht gut. Sie öffnete die Schnapsflasche und gab einen kleinen Schuss in die kalte Limonade. Ja, sie ärgerte sich maßlos. Nicht nur über das, was passiert war, sondern auch, dass sie es wieder einmal verpasst hatte sich zu versöhnen. Sie seufzte und ließ den Kopf auf die Tischplatte gleiten. Freundschaft war schon eine komplizierte Sache, denn irgendwer war immer derjenige, der mehr gab, als er effektiv zurückbekam, so dass irgendwann auch mal Schluss sein musste. Irgendwann war das Maß einfach voll, musste die Notbremse gezogen und einfach mal eine Pause gemacht werden. Nur... Warum tat es dann so weh? Wendy knirschte mit den Zähnen und blickte den leeren, aber vollgekrümelten Stuhl an. „Du kannst manchmal echt ein Arschloch sein! Aber du bist und bleibst mein bester Freund!“ Sie hob das Limonadenglas an und prostete dem Stuhl zu. „Cheers! Oder eher... ¡Chinchín!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)