High Angle – B-Side von Atsusa ================================================================================ Kapitel 12: Alles auf Null! --------------------------- „AQUILA!“ Ein Adlerschrei ertönte, als Zephs treuer Kirit aus dem Lenkdrachen empor schnellte und das fallende Mädchen vor dem sicheren Tod bewahrte. Blind tastete sich der Adler hervor, denn die Luft war mit einem Mal erfüllt von Staub. Ja, die Bombe war explodiert. Der Brezelkönig war so verunsichert von der plötzlichen Energieansammlung, dass er vor Schreck den Auslöser gedrückt hatte. Das war der Moment, in dem der ganze Schwindel aufflog. Die kräftigen Krallen des Adlers schlangen sich um den ohnmächtigen Körper von Tornados Schwester. Mehrere Flügelschläge formten kleine Wirbelstürme in der großen Staubwolke, dann war der Sturz kurz über dem Boden abgefangen. Vorsichtig setzte der Kirit das Mädchen ab, dann wurde er in Zephs Drachen zurück gesogen. „Okarina! Mia chiara Sorella, hörst du mich?“, presste Tornado unter Husten hervor. Die Bombe war direkt neben seinem Kopf explodiert und dennoch war er... am Leben? Er hatte den Geschmack von Brezeln und Salz auf der Zunge. Und als er sich über die Augen wischte und seine Haare ausschüttelte, stoben viele kleine Brotkrumen davon. „Alles klar hier unten, nix passiert!“, rief Zeph mit zu einem Trichter geformten Händen nach oben. „Hab nur ein Stück Brezel an die Stirn bekommen, blutet ein bisschen!“ Tornado atmete erleichtert auf. „Geht es dem Rest auch gut?“ Er tastete sich weiter auf der Verladebrücke voran. Nicht einmal ein Loch hatte die Bombe in den Stahlträger gefressen. Es war alles nur eine billige Show gewesen, um seine Familie einzuschüchtern. Fast schon zu komisch! Hätte dieser verrückte Bäckermeister Mehl anstatt gemahlenen Brotresten und Brezeln für seine Bombe verwendet, dann hätte sich durch den Funken alles in ein brennendes Inferno verwandelt, doch so waren sie – Gott sei Dank! – alle mit dem Schrecken davongekommen. Wirklich alle? Noch immer stand Wendy kerzengerade da. Apathisch. Mit starrem Blick verfolgte sie durch die Staubwolke hindurch die helle Spur des kleinen Skorpions, den sie unter Aufbringung all ihrer Kraft beschworen hatte. Flink krabbelte das rosarote Tier wie auf einer unsichtbaren Leiter empor, bis es schließlich die Plattform erreicht hatte, auf welcher der Brezelkönig zusammengesackt war. Dann ging alles ganz schnell. Der spitze Stachel schnellte empor und stach Olaf mitten ins Herz. Während dessen Gesicht langsam wieder eine normale Farbe annahm, verblasste der Kirit, bis er schließlich ganz verschwunden war. Olaf riss die Augen weit auf. Er zitterte. „Was... habe ich nur getan?“ Er fasste sich an die Brust. Das Bild vor seinen Augen war unscharf und veränderte sich mit jedem Atemstoß. Mit einem Mal fühlte er... Ja, was fühlte er? Entsetzen. Und Reue. Was hatte ihn nur dazu gebracht, solche schlimmen Dinge zu tun? Ja, natürlich war die Konkurrenz im Gastronomiegewerbe hart, aber bisher war doch alles gut gelaufen. Wann, wann hatte ihn der Hass nur so verzehrt, dass er... Er konnte es kaum in Worte fassen. Mit wackeligen Beinen stand er auf und wandte sich Tornado zu. „Es... tut mir leid!“ Olaf nickte. Tränen standen ihm in den Augen. Vor Scham. Vor Wut über sich selbst. „So etwas schlimmes werde ich nie wieder tun!“ Dann fiel er in Ohnmacht. Kippte vornüber, direkt in den Abgrund. Doch er fiel nicht. Fest packte Tornado seine Schulter und bugsierte ihn zurück auf die Hochfläche. Noch immer war er von oben bis unten mit Paniermehl eingestaubt, doch kehrte langsam die gewohnte Coolness zurück. Lässig setzte er sich neben den bewusstlosen Bäcker und ließ die Füße baumeln. Sie hatten überlebt. Sie alle hatten Glück gehabt. Und das beste... Wendy war es endlich gelungen, ihren Kirit zu erwecken. Auch wenn er eher damit gerechnet hätte, dass dieser eine Raubkatze und kein giftiger Skorpion war. Ja, Wendy war schon eine Bereicherung für seinen Club. So sehr, dass er sich sicher war, dass sie, wenn er in anderthalb Jahren... KA-BUMM! Für eine Sekunde setzte sein Herz aus. Ein greller Blitz erhellte die Nacht. Wendy schrie. Schrie vor Schmerz, als sich die angestaute Energie plötzlich nicht mehr halten konnte und Cleaver in Stücke aus heißer Glut zerriss, die sich tief in ihre Handflächen fraßen. Starr vor Schreck sahen die Clubmitglieder, wie Wendys Arme Feuer fingen und die Plastikspulen in ihren Händen zu glühender Lava wurden. Beißende Hitze, die sich ihren Weg durch ihre Kleidung bahnte, gierig ein Stück Fleisch zu zerfetzen. „Wendy!“ Tornado hastete augenblicklich zu der steilen Treppe, die auch an der rechten Stahlsäule des Krans in die Tiefe führte. Doch er würde zu spät kommen. Egal wie sehr er sich beeilte. Zeph reagierte keine Sekunde zu spät. Mit ganzer Körperkraft stürzte er sich auf Wendy, die immer lauter schrie und weinte, ihre Arme wild hin- und herschüttelte, doch nicht Herrin über das Feuer werden konnte. Er machte es gleich einer Horde Footballspieler: er warf sich auf sie und erstickte die Flammen, indem er sie mit seinem Körper in den matschigen Boden drückte. Rauch stieg auf, der den Geruch verbrannten Fleisches mit sich trug. Vom Himmel regneten die zu Asche gewordenen Überreste von Wendys Drachen Cleaver herab, fast wie grauer Schnee, nur dass dieser Schnee an einem Ort fiel, an dem die Luft noch immer heiß und stickig war. Die letzten zwei Meter sprang Tornado herab. Seine lachsfarbenen Socken platschten in die nasse Erde und verspritzten Matsch, der seine feuchte und staubbedeckte Kleidung noch mehr verdreckte. Doch es spielte keine Rolle. „Okarina! Wendy!“ Die Luft brannte in seinen Lungen, als er auf die Gruppe zuraste. „Toto!“ Das blonde Mädchen wischte sich ein paar Tränen aus dem Gesicht und schluckte. „Mir geht es gut, bene! Aber Wendy ist...“ Der Teamleiter ging neben seinem jüngsten Clubmitglied auf die Knie und nahm ihren zerzausten und rußgeschwärzten Rotschopf auf den Schoß. Müde öffnete Wendy die Augen. „Ist alles vorbei?“ Sie spürte die Schmerzen schon gar nicht mehr, so tief war sie schon in sich hinein gesunken. Tornado nickte zögerlich. Es fiel ihm schwer, doch er rang sich dazu durch sein Siegerlächeln aufzusetzen, seine Haare lässig zurückzuwerfen und den Daumen zu heben. „Si! Wir haben es geschafft! Und dein Kirit ist wirklich eine Wucht!“ Wendy lächelte schwach. Dann verlor sie das Bewusstsein. Weiße Schneeflocken vor grauem Himmel. Lautlos fallend, wie Federn im Wind. Weiter, immer weiter, hinunter auf die im trüben Zwielicht liegende Welt. Eine Woche war vergangen, seit der verrückt gewordene Brezelkönig Tornados Schwester entführt und ihnen allen eine Falle gestellt hatte, aus der sie nur mit Mühe und Not entkommen waren. Eine Woche, in der sie schon hier lag. Mehr schlafend als wach, träge und ohne die Kraft, auch nur einen Finger zu rühren. Doch sie lebte. Sie alle lebten. Hatten den Kampf für sich entschieden, auch wenn der Preis dafür viel zu hoch war. Wendy hatte die Augen geschlossen und versuchte nicht an die Schmerzen zu denken. Wann immer sie wach war spürte sie es. Spürte den dumpfen Schmerz, betäubt durch das Betäubungsmittel, das Stunde um Stunde, Minute um Minute in ihre Venen tropfte. War das der Preis dafür, dass sie zu gierig gewesen war? Dass sie unbedingt auch einen Kirit haben wollte und dafür all ihre Energie geopfert hatte? Sie erinnerte sich nur bruchstückhaft. Plötzlich war er da und rief zu ihr tief aus ihrem Inneren. „Wendy... Wendy...“ Ein überschäumendes Glücksgefühl überkam sie. „Endlich kannst du mich hören! Ich habe so lange auf dich gewartet!“ Sie war tief in sich hinein gekehrt, versunken in einer anderen Sphäre. Dort stand er ihr gegenüber. Ein rosarot schimmernder Skorpion mit kindlichem Gemüt. „Sting...“, erwiderte sie wie in Trance. „Ja, so lautet mein Name. Und wenn du mich lässt, dann werde ich dir helfen!“ An alles weitere konnte sie sich nur noch bruchstückhaft erinnern. Sie wusste noch, dass der Skorpion zugestochen hatte und ihr Gegner mit einem Mal große Reue empfand. Doch dann stand alles um sie herum in Flammen. Flammen, die Cleaver komplett verzehrten und sich tief in ihre Handflächen fraßen. Zeph, der das Feuer ausdrückte, Balotelli, der sie aufmunterte. Dann Schwärze. Und als sie dann wieder aufwachte, lag sie hier. Im Krankenhaus. Und sie empfand Leere. Nichts als Leere. Weder Trauer, noch Wut, noch Verzweiflung. Keine Befriedigung und keine Freude. War es die Strafe, die jeden Helden erwartete? Jeden rastlosen Wanderer, der einen Gipfel erklommen hatte und feststellen musste, dass all das, was er erreicht hatte, eigentlich nur so viel wert war wie die dünne Luft und der leere Himmel über ihm? Es spielte keine Rolle. Denn was geschehen war, war geschehen und war nicht rückgängig zu machen. War die Folge einer Verkettung von Ereignissen, die aufgereihten Dominosteinen gleich gefallen waren und ein Bild der Zerstörung erschaffen hatten. Eigentlich hatte sie Glück gehabt. Eigentlich hatten sie alle Glück gehabt. Davongekommen zu sein. Etwas gutes getan zu haben. Sie wandte die Augen vom Fenster ab, wagte es aber nicht sie zu schließen. Immer und immer wieder holte sie die Feuersbrunst ein, brannte sich erneut in ihre Hände und entfachte ein Inferno in ihrer Lunge, das den Geschmack von Eisen und verkohltem Fleisch mit sich zog. Finsternis. Egal, wie oft man ihr erzählt hatte, was danach geschehen war, die Erinnerung wollte nicht zurückkehren, war nichts mehr als ein stummes Echo in ihrem Herzen. „Ich werde dir helfen! Gemeinsam schaffen wir es!“ Lügner! ...LÜGNER! Fast umgebracht hatte er sie! Hatte ihr fast alle Energie entzogen und Cleaver einfach pulverisiert. Den armen Cleaver, der doch gar nichts dafür konnte, außer dass er für sie als eine Art Blitzableiter fungiert hatte. Schwerfällig richtete sie sich auf. Nie wieder. Nie wieder würde sie auch nur Hand an einen Drachen anlegen. NIE WIEDER! Es klopfte verhalten. Stille. Wendy seufzte. Lasst mich doch einfach alle in Ruhe! „Herein?“ Bestimmt wieder nur einer dieser so genannten „Bekannten“, die sich an ihrem Leid ergötzten, nur um sich durch den kleinen Akt der Nächstenliebe in ihrer eigenen Existenz besser zu fühlen. Einfach nur ertragen. Genau wie die Schmerzen, die ihr trotz Betäubungsmittel in regelmäßigen Abständen wie Meereswogen durch den Körper jagten. „Darf ich eintreten?“ Immer diese Japaner mit ihrer „Maxime der Höflichkeit“! „Nur zu.“ Selbst die einfache Geste auf den Stuhl neben ihrem Krankenbett zu deuten, bereitete Wendy Schwierigkeiten. Der Besucher nickte schweigend und nahm Platz, nachdem er seinen Mantel über die Stuhllehne gehängt hatte. „Ich dachte ein Krankenbesuch wäre angesichts deiner Lage angebracht.“ Er musterte sie wortlos mit seinen grauen Augen. Wendy wandte den Blick ab. „Sieh mich nicht an! Ich sehe furchtbar aus!“ Immer dieser Analytiker. Aber wenigstens verkniff er sich den Klassiker aller Fragen, die jeder Patient seinen Besuchern beantworten musste: „Tut es weh?“. Natürlich tat es das. Das sah man doch. Immerhin explodierte einem nicht jeden Tag ein Lenkdrachen in den Händen und fraß sich so tief ins Fleisch, dass man echt Glück haben konnte danach noch alle Finger zu haben! „In der Tat“, konstatierte er. „Furchtbar trifft es ziemlich gut.“ Nein, wie charmant! Ihre Augenbrauen zuckten. Der Besucher öffnete seine Tasche und reichte ihr einen kleinen Handspiegel, in dem mit japanischen Schriftzeichen sein Familienname eingraviert war. „Du hast da... etwas... im Gesicht.“ Etwas. Etwas. Was denn? Es fiel ihr schwer mit den bandagierten Händen den Spiegel zu greifen, so dass sie ihrem Gast dankbar war, dass er ihn so hielt, dass sie hineinblicken konnte. „Hääää~?!“ Augenblicklich entgleiste ihr Gesicht und nahm eine tiefrote Farbe an. Das konnte doch nicht wahr sein! Da hatte ihr doch jemand mit schwarzem Filzstift im Gesicht herum geschmiert, während sie geschlafen hatte. „Das gibt es doch nicht!“ Nervös fuhr sie sich über die rechte Wange, doch die Farbe wollte nicht abgehen. Peinlich! SO PEINLICH! „Ich hab' nen Pimmel im Gesicht!“ „Das ist nicht das einzige...“, ergänzte der japanische Besucher und deutete auf ihre linke Wange. „Dir wurde auch eine Botschaft hinterlassen.“ Wendy drehte das Gesicht, um das Gesamtkunstwerk besser im Spiegel betrachten zu können. Sie biss sich auf die Lippe. „¡Lo siento!“ Wut stieg in ihr auf. Diese Sauklaue war eindeutig zuzuordnen. „Ich gebe dir gleich ¡Lo siento!!!“ Typisch. So typisch! Kaum dass sie einmal außer Gefecht gesetzt war, nutzte dieser Volltrottel Vald die Gelegenheit ihr einen Streich zu spielen! Ihre Zähne mahlten. „Was bildet der sich eigentlich ein? Einfach wehrlosen Kranken während sie schlafen Schweinereien ins Gesicht zu kritzeln!“ Sie sprang auf und hastete zum Waschbecken, doch als ihre bandagierten Arme kurz über dem Wasserhahn waren, resignierte sie und wandte sich mit hilflosem Blick dem Besucher zu. „Ethan... Es tut mir leid, aber... kannst du mir helfen?“ Er nickte und strich ein paar dunkelblaue Strähnen aus der Stirn. Als er aufstand und zum Waschbecken ging, schwebte er fast dahin, so viel Ruhe strahlte sein Gang aus. Er befeuchtete den Lappen und deutete auf das Krankenbett. „Setz dich.“ Wendy nickte und kroch zurück unter die Bettdecke. Als sie die Augen schloss, spürte sie wie ihr Ethan vorsichtig das Gesicht abtupfte. Sie seufzte. „Warum macht der nur so etwas?“ – „Das ist Vald, was erwartest du?“ Stimmte auch wieder. Seit Ethan und sie den impulsiven Chilenen vor über vier Jahren kennengelernt hatten, war es des Öfteren zu unberechenbaren Situationen gekommen. Und das schlimmste daran? Eigentlich machte es Wendy nicht einmal etwas aus! Eigentlich war es sogar ganz lustig. Nur nicht, wenn man gerade mit schweren Brandverletzungen im Krankenhaus lag und nicht mal selbstständig essen, geschweige denn sich den Hintern abwischen konnte! „Ist ja nett von ihm, dass er mir eine Entschuldigung ins Gesicht schreibt, aber durch diese Pimmelzeichnung wurde diese sofort wieder vergolten!“ Sie drehte den Kopf, damit Ethan auch die andere Gesichtshälfte mit dem Waschlappen reinigen konnte. „Ich sehe, bist du immer noch nicht gut auf ihn zu sprechen?“, drückte er mit gemäßigter Stimme den Sachverhalt aus. Wendy schmollte. „Niemals! Nach seiner Hopp-und-Weg-Umzieh-Aktion braucht es mehr als eine kurze Entschuldigung, um es wieder gut zu machen! Und dann hat dieser Vollhorst es nicht mal geschafft mir an meinem Geburtstag eine Nachricht zu hinterlassen. Ich habe keine Lust mehr auf den, soll der doch in seiner Siffbude verrecken!“ Ihre Stimme überschlug sich. Vald war für sie wie ein rotes Tuch. Jemand, der es nach jahrelang gehegter Freundschaft geschafft hatte alles einzureißen, fast wie ein wild gewordener Hai, der seine Beute zerfetzte. „Die ganze Geschichte ist wirklich unglücklich verlaufen. Dass ihr nicht mal mehr miteinander reden könnt...“ Oh Ethan. Du hast ja auch nicht jahrelang Tür an Tür mit ihm gewohnt! Und dir hat er mit Sicherheit mitgeteilt, dass er in den Sommerferien endlich von seiner Pflegefamilie weggehen und in eine eigene Wohnung ziehen würde! Wendy knirschte mit den Zähnen. „Dass der es überhaupt wagt hier aufzukreuzen! Wenn ich könnte, dann würde ich ihn auf der Stelle windelweich prügeln, bis ihm sein blödes Backsteingrinsen vergeht!“ Sie wollte die Fäuste ballen, doch der Schmerz und die Bandagen hielten sie zurück. „Autsch...“ Ethan brachte den Waschlappen zum Waschbecken zurück, spülte ihn aus und befeuchtete ihn erneut, um die letzten Reste der hartnäckigen Farbe zu bezeichnen. „Vald ist mit Sicherheit nicht einmal bewusst, dass er dir damit weh getan hat.“ Er setzte sich erneut und wischte ein weiteres Mal vorsichtig über ihre Wangen. Sehr gut. Langsam verblassten auch die restlichen Spuren des Textmarkers. „Das er emotional noch auf dem Stand eines Kindes ist, entschuldigt sein Verhalten trotzdem nicht!“ Nein, am besten sie dachte gar nicht erst darüber nach. Sonst kam ihr noch die Galle hoch. „Dennoch war er bereit, heute Vormittag eine Stunde seiner Zeit zu opfern, um nach dir zu sehen. Ziemlich schade, dass du seine Anwesenheit komplett verschlafen hast.“ Eine Stunde? EINE STUNDE?! Ethan, jetzt übertreibst du aber! Sie senkte den Kopf. „Und warum hat er mich dann nicht geweckt?“ Super. Sich an ihrem komatösen Zustand ergötzen und Sauereien in ihr Gesicht schmieren, aber nicht offen mit ihr reden. So ein Idiot! „Du warst so weggetreten, dass du nicht einmal aufgewacht bist, als man deine Verbände gewechselt hat, hat er erzählt.“ Ethan fasste sich grübelnd ans Kinn. „Ich hätte nicht erwartet, dass du genau dasselbe Verhalten wie Julius an den Tag legst, wenn du deine Kirit-Energie aufgebraucht hast.“ Er nickte verhalten. „Das ist wirklich... interessant...“ Na toll. Mit diesem kiffenden Lahmarsch von Julius wollte Wendy eigentlich auch nicht verglichen werden, denn wenn es etwas gab, das sie nicht war, dann war es ein fauler Drachensteiger, der jede Herausforderung mit „Ist mir zu anstrengend!“ zurückwies. „Jedenfalls...“ Ethan beugte sich zur Seite und öffnete seine Tasche, um eine kleine Geschenktüte hervorzuholen, „...soll ich dir das hier von ihm geben. Vald meint, dass du das brauchen wirst, so übel wie deine Hände zugerichtet sind.“ Er reichte ihr die Papiertüte, die zum Glück geöffnet war, so dass Wendy sie problemlos umdrehen und deren Inhalt empfangen konnte. Ein Paar Handschuhe fiel hinaus. Es waren schwarze, fingerlose Handschuhe, auf deren Handrücken man Totenköpfe gestickt hatte. Wendy rang nach Luft. Dieser... Dieser Bastard! Warum nur... Warum wusste er ganz genau, was sie mochte und was sie brauchen würde, wenn sie erst einmal diese quälenden Verbände los war? Sie senkte den Kopf und atmete tief durch. Ganz ruhig. Tief durchatmen! Tropf. Tropf. Zwei Tränen fielen auf die Bettdecke. Sie wollte doch stark sein. Sie wollte es sich nicht anmerken lassen, wie sehr sie durch den plötzlichen Verlust ihres Drachen und den ungeahnten Energieausbruch ihres Kirits geschockt war. Und doch... wurden plötzlich, nur durch diese eine Geste, die sicher nicht mal so besonders und ernst gemeint war, sämtliche Türen und Tore geöffnet, die der Schock verschlossen hatte. „Ich habe Angst!“, brachte sie unter Tränen heraus. „Ethan, ich habe furchtbare Angst!“ Er musterte sie stumm. Offene Gefühlsregungen waren noch nie seine Stärke gewesen. „Warum? Warum musste mir das passieren? Ich wollte doch nur...“, sie schluckte. „Ich wollte doch nur wie alle anderen auch endlich einen Kirit haben. Wollte stärker werden und mich weiterentwickeln, doch dann...“ Wieder diese Explosion vor ihren Augen. Dieser brennende Schmerz, der sich in sie hineinfraß, als sich die Haltegriffe in Feuer verwandelten. Sie blickte auf. Ihre Pupillen waren schreckgeweitet. Ihr ganzer Körper zitterte. „In mir drin steckt ein Monster, Ethan! Und es wollte mich umbringen!“ Sie lachte hysterisch. Erst nur ganz leise, dann immer lauter, bis ihr ganzer Körper nur noch bebte. Dann brach das Lachen ab. Der Damm, der die Tränen zurückhielt, war endgültig gebrochen. Sie stürzte nach vorne und umklammerte den blauhaarigen Japaner, der erst überrascht und irritiert war und sie am liebsten zurückgewiesen hätte, dann aber doch der Freundschaft wegen seine Arme vorsichtig um ihren Rücken legte und es stumm ertrug, dass sie sich an seiner Schulter ausweinte. „Ich wollte doch nur stark sein!“ Ihre Stimme klang dumpf neben seinem Ohr. „Jetzt habe ich nur noch Angst. Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder einen Drachen steigen lassen kann. Nicht, wenn in mir drin so ein Monster schläft...“ Tornado tat das, was er am Besten konnte: Pizza ausliefern. Auch er hatte von der Entführung seiner Schwester leichte Blessuren davongetragen. Ein paar Schürfwunden und blaue Flecken, nichts schlimmes. Nach einer kurzen Routineuntersuchung im Krankenhaus hatte man ihn gehen lassen. Nicht so wie Wendy, der die Erweckung ihres Kirits – es war ein Skorpion, daran erinnerte sich Tornado genau – sämtliche Energie entzogen hatte und der man nach dem Ausbruch des Feuerinfernos die verbrannte Haut von den Handflächen schälen musste. Er wusste nicht, was er hätte tun können. Er war immer ein optimistischer Mensch gewesen. Nie hatte es Probleme gegeben. Und wenn doch, dann war er stets der lächelnde Gewinner, der alles mit Links wieder ins Lot rücken konnte. Doch jetzt? Was waren die angebrachten Worte? Wie verhielt man sich richtig? Egal was es war, er hatte Pizza dabei. Und Pizza heilte bekanntlich alle Arten von Verletzungen! Er wollte gerade klopfen, dann hielt er inne. Stimmen drangen aus dem Krankenzimmer. Eine war eindeutig Wendys, aber die andere? Eindeutig männlich! Skeptisch legte er sein Ohr an die Tür und lauschte. Was ging da nur vor? Fast lautlos öffnete er die Tür. Unbemerkt, nur einen kleinen Spalt, gerade groß genug, um mit einem Auge hinein zu schielen und um genau zu hören, was dort geredet wurde. Ethan nickte. „Das war schon immer dein Stil gewesen. Nur keine halben Sachen machen, entweder ganz oder gar nicht.“ Er tupfte mit einem Taschentuch die letzten Tränen aus Wendys Gesicht weg. „Es ist wirklich bedauerlich, dass dich deine Eltern auf eine anderen Schule geschickt haben. Nachdem Julius mit dem Drachensteigen aufgehört hat, hätten wir dich gut in unserem neuen Team gebrauchen können.“ Wendy presste die Lippen zusammen. „Ich werde nie wieder kämpfen.“ Sie schluckte. „Das was mir passiert ist, ist doch ein Zeichen genug, dass ich mit der ganzen Sache aufhören sollte!“ Wieder wollte sie die Fäuste ballen, doch die dicken Verbände bewegten sich kein Stück. „Das ist wirklich schlecht. Ich hatte mich eigentlich schon mental darauf vorbereitet, dass dein Team gegen meines antreten wird, sobald unsere Gruppenstärken ebenbürtig sind.“ Das war Ethan. Immer auf der Suche nach höheren Idealen. Wendy nickte und seufzte. „Ja, vielleicht hast du Recht, mit dem, was du sagst. Nur ist es so... Damals in der Mittelschule war alles einfacher. Aber jetzt gehen wir getrennte Wege und ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob sie sich jemals wieder auf dem Drachenfeld kreuzen werden.“ Stille. Für ein paar Augenblicke war jeder seinen eigenen Gedanken überlassen. „Wendy, was denkst du...“, begann Ethan schließlich eine Frage. „Hm?“ – „Besteht die Möglichkeit dich für meinen Drachenclub zu gewinnen, sobald wir auf die Universität gehen?“ – „Als würde ich jemals wieder...“ Er ließ sie nicht ausreden. „Ich vertraue darauf, dass du dich erholst und noch stärker und besser werden wirst. Gilt diese Vereinbarung also als abgemacht?“ Sie zögerte. Sollte sie wirklich..? Was, wenn alles noch schlimmer werden würde und die aktuellen Verletzungen nur die Spitze des Eisbergs waren? Sie blickte ihn stillschweigend an. Eine Sekunde. Zwei. Drei. Dann musste sie lächeln. Mit solchen Freunden konnten selbst die größten Krisen überwunden werden. Dem war sie sich sicher! „Abge-“ – „HALT!“ Die Tür knallte gegen die Wand. Bevor Ethan und Wendy ihre Vereinbarung mit einem obligatorischen Handschlag beschließen konnten, stand Tornado in der Tür und trat mit festem Schritt in das Zimmer hinein. „Du...“, er zeigte drohend auf Ethan. Sein Arm zitterte vor Anspannung. „Ich?“ Ethan deutete fragend auf sein Gesicht und hob kritisch eine Augenbraue. „Wenn hier jemand das Recht hat Wendy für ein Team zu rekrutieren, dann bin das wohl ICH!“ Seine Stimme wurde von Wort zu Wort immer lauter. Ethan legte den Kopf schief. Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Und wer bist du, dass du derartige Schlüsse ziehen kannst?“ „Ich bin... Tornado Balotelli! Teamleiter der ehrenhaften Drachenritter der Gebrüder Wright Oberschule. Und hiermit... fordere ich dich zu einem Duell heraus!“   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)