High Angle – B-Side von Atsusa ================================================================================ Kapitel 13: Der Drachenladen ---------------------------- Zwei Männer. Eine Leidenschaft. Mit einem Mal kam es Wendy so vor, als wäre sie mitten in den Wilden Westen katapultiert worden. Ethan hatte sich erhoben und blickte Tornado mit kühlem Lächeln an. Tornado konterte, straffte die Brust und setzte ein schiefes Siegerlächeln auf. „Ich sehe, wir verstehen uns?“ Ethan nickte. „Du weißt nicht, worauf du dich einlässt. Mit Sicherheit wirst du es noch bereuen mich herausgefordert zu haben.“ Er warf sein kinnlanges schwarzblaues Haar zurück und strich sich durch den schräg geschnittenen Pony. „Wenn hier jemand seinen Gegner unterschätzt, dann bist das wohl du! Icarus und ich, wir werden dich tief in den Schlund der Hölle stürzen – und dann wirst du nie wieder auf die Idee kommen Wendy aus meinem Team abwerben zu wollen.“ Hallo? Ethans Mundwinkel zuckten flüchtig. „Bat und ich sind die Gesandten der Hölle selbst. Und ich denke nicht, dass du ein Recht darauf hast etwas besitzen zu wollen, was ursprünglich zu uns gehört hat!“ Hallo-hoo? Hört ihr euch überhaupt selbst reden? Tornado schnaubte und verschränkte die Arme. „Du hast es nicht einmal geschafft ihren Kirit zu kultivieren! Du hast ihr ganzes Potenzial fehlgedeutet!“ Wendy räusperte sich. Keine Reaktion. „Man hat ja gesehen, wie gut du sie kultiviert hast. Hätte ich sie trainiert, dann wäre es nie so weit gekommen, dass sie fast ihre gesamte Energie aufgebraucht hätte!“ Das hatte gesessen! Oh Ethan. Fühlten wir uns heute mal wieder besonders cool und allwissend?! „Jungs...“, schaltete Wendy sich ein, doch keiner der beiden bemerkte sie. Zu groß war die Anspannung, in diesem Wortgefecht als der Sieger hervorgehen zu wollen. „Wendy ist eine wahre Heldin! Sie ist mir so loyal ergeben, dass sie nur für die Errettung meiner Schwester bereit war ihr Leben aufs Spiel zu setzen!“ Wendys Schläfe begann vor Wut zu pochen. Ethan sog scharf die Luft ein. „Du kennst sie doch nicht einmal. Wie lange ist sie jetzt schon auf deiner Schule? Drei Monate? Du weißt überhaupt nichts!“ Tornado stutzte. Volltreffer. Er holte tief Luft und machte sich bereit für eine weitere verbale Attacke. „Du hast sie aber im St...“ - „HÖRT ENDLICH AUF, ALLE BEIDE!“ Wendy keuchte. Der laute Ausbruch war doch zu viel für ihren kraftlosen und lädierten Körper. „Wenn jemand darüber entscheiden darf, was mit mir geschieht, dann bin das immer noch ich selbst, verstanden! Und jetzt hört auf mit diesem Machogehabe und vertragt euch!“ Sie schmollte und verschränkte die Arme. Tornado knackte mit den Fingern. „Das hier ist und bleibt ein Duell unter Männern.“ Ethan pflichtete ihm bei. „Du hältst dich also am besten aus der Sache heraus!“ Männer. MÄNNER! Wendy schüttelte resignierend den Kopf. Das war SO TYPISCH! „Wo waren wir stehen geblieben?“, fuhr Tornado fort und schob sein Stirnband zurück. Es wurde ernst. „Dabei, dass du mich herausfordern wolltest. Und nebenbei gesagt: Dieses rosafarbene Stirnband ist wirklich hässlich!“ Ethan ging aufs Ganze. „Ich schlage vor, dass wir uns in sechs Wochen auf dem Feld hinter meiner Schule treffen werden, um diese Fehde auszutragen. Immerhin will ich dir die Zeit lassen, dich angemessen auf deine Niederlage vorzubereiten, Batman!“ Er grinste siegessicher. „Und nebenbei gesagt: Dieses wunderschöne Stirnband ist lachsfar-ben!“ Er hielt Ethan die Hand hin. „Derjenige, der verlieren wird, bist du. Ich nehme die Herausforderung an!“ Ethan schlug ein. „Abgemacht?“ Tornado nickte ihm zu. „Abgemacht!“ Sechs Wochen. In sechs Wochen sollte ein Duell entscheiden, welcher Teamleiter der bessere sein würde. Und bis dahin gab es reichlich zu tun. Inzwischen waren die Temperaturen empfindlich unter Null gesunken. Raureif überzog die Grashalme mit einer Schicht ähnlich wie Glas und auf den Dächern lag der erste Schnee wie Puderzucker auf einem Kuchen. Und nicht nur das: überall lag der Geruch von Lebkuchen und Glühwein in der Luft. Egal wo man hineinging: es war wohlig warm und duftete nach Tannengrün und Orangenschalen. So auch im „Café Balotelli“, eine in der Fußgängerzone liegende Eisdiele, die den Winter über hauptsächlich italienisches Weihnachtsgebäck und heißen Tee verkaufte. Dort hatte sich der Drachenclub verabredet. Denn heute, so kurz vor Weihnachten, wollte man sich ein letztes Mal treffen, um Besorgungen für das kommende Jahr zu erledigen und um Weihnachtsgeschenke auszutauschen. Italienische Weihnachtsmusik der Marke „Eros Ramazotti“ klang aus den Boxen, als die kleinen Messingglocken über der Tür klingelten und ein dick eingemummter Balotelli mit vor kalter Luft geröteten Wangen eintrat. „Ciao!“ Er hob die Hand zum Gruß und näherte sich einem großen Tisch in der Ecke, an welchem der gesamte Club Platz gefunden hatte. „Wartet ihr schon lange?“ Er legte seine Jacke und den weißen Schal ab und setzte sich. Zeph schüttelte den Kopf. „Geht so. Sind alle ganz beschäftigt im Moment.“ Sein linker Arm steckte in einer Schlinge, da er sich bei der kürzlichen Rettungsaktion – er hatte Wendy mittels vollem Körpereinsatz davor bewahrt, dass sie sich nicht mehr verbrannte als die Arme – die Schulter ausgekugelt hatte. Müde wie immer verfolgte er stumm das Gespräch von Angelo und Wendy, die sich über den Bauplan eines neuen Drachen vertieft hatten. Wendy hatte beschlossen, dass es nach dem Verlust Cleavers an der Zeit war, etwas an ihrem Image zu verändern. Jetzt, da sie wusste, dass ihr Kirit die Gestalt eines Skorpions hatte, sollte sich auch der neue Lenkdrachen an dieser Form orientieren. „Und du denkst wirklich, dass wir eine elastische Windfahne mit einem Skorpionstachel ansetzen können, ohne dass die Tragfähigkeit darunter leidet?“ Wendys Hände waren zwar noch immer nicht vollständig abgeheilt, doch da das Risiko einer Entzündung gebannt und sich eine dünne Hautschicht gebildet hatte, hatte man sie unter regelmäßiger Kontrolle aus dem Krankenhaus entlassen. Dennoch galt es vorsichtig zu sein. Und da kamen die schwarzen Handschuhe, die sogar über den ringförmigen Verband an den Handflächen passten, genau recht. „Selbstverständlich wird das funktionieren. Meinen Berechnungen zufolge müssen wir nur die Spannweite etwas erhöhen, um den Luftwiderstand zu verstärken.“ Er schrieb ein paar unlesbare mathematische Formeln auf und ergänzte weitere Linien auf seiner Zeichnung. Tornado linste kopfüber auf das Papier. „Fantastico! Du scheinst endlich erkannt zu haben, was lachsfarben für eine wundervolle Farbe ist!“ Wendy nippte an ihrem mit Lebkuchen und Karamell aromatisiertem Milchkaffee und warf ihm einen finsteren Blick zu. „Das ist nicht lachsfarben, das ist pink!“ Sie seufzte und stellte die Tasse ab. Noch immer waren ihre Hände leicht zittrig und taten sich schwer Dinge zu greifen. „Ich dachte mir, dass so ein schwarzer Skorpion schon fies genug aussieht. Und ich mag Pink!“ Er grinste und klopfte ihr auf die Schulter. „Bellissima! Du überraschst mich jedes Mal von neuem! In dir steckt ja doch eine richtige Dame!“ Wendy errötete. Blödmann! So wie er das formulierte, klang das ja, als wäre sie bisher immer der fünfte Junge in seinem Team gewesen. Aber damit war jetzt Schluss! Es hieß zwar nicht, dass sie jetzt das unschuldige Blödchen mimen würde, das aus jeder Gefahr gerettet werden musste – einmal und nie wieder! – aber für nächstes Jahr hatte sie sich definitiv vorgenommen mehr für ihren weiblichen Charme zu tun, so peinlich das auch war! „Fertig!“ Angelo reichte die Skizze herum. „So wird der neue Drachen aller Wahrscheinlichkeit nach aussehen. Und ich finde, du solltest unbedingt einen feuerfesten Stoff verwenden. Nur für den Fall der Fälle...“ Er senkte den Kopf. „Ehrlich gesagt... Ich hatte ganz schön Angst, als wir dort draußen im Industrieviertel waren und Cleaver explodiert ist.“ Er kratzte sich die Wange. So offenherzig war er sonst nie. Wendy legte den Kopf schief und lächelte. „Vielen Dank! Und dieses Mal möchte ich meinen Drachen gerne selbst bauen. Du hast dir so viel Mühe gegeben Cleaver zu verbessern und ich nutze die erstbeste Gelegenheit und mache ihn kaputt...“ Sie trank ihre Tasse aus. „Ah, das war jetzt genau das richtige bei diesem Wetter!“ Ihr Blick glitt zum Fenster. Es hatte schon wieder angefangen dicke Flocken zu schneien. Dieses Jahr würde es definitiv weiße Weihnachten geben! Tornado erhob sich. „Balotelli ist eben immer am Besten! Viel besser als diese amerikanischen Kaffeeketten, ma si!“ Er zwinkerte. „Sind alle fertig? Dann würde ich vorschlagen, dass wir in den Drachenshop gehen. Ich denke nach dem aufregenden Jahr können alle unsere Drachen eine Generalüberholung gebrauchen! Avanti!“ Er zog die Jacke wieder an. „Sag mal, Wendy... Hast du dir schon einen Namen für deinen neuen Drachen überlegt? Ich würde ihn „Principessa“ oder „Lucia“ nennen, wie sich das für einen lachsfarbenen – entschuldige, pinken – Drachen gehört.“ Wendy verzog das Gesicht und verneinte. „Was hast du denn für einen seltsamen Geschmack? Ist ja kaum auszuhalten, da kommt mir noch rosa glitzernde Galle hoch!“ Sie setzte sich ein paar Ohrenschützer mit – wie nicht anders zu erwarten – Totenköpfen auf den Schalen auf und zog den Reißverschluss ihrer schwarzen Lederjacke zu. „Dieser Drachen wird genau so heißen, wie sich mein Kirit mir vorgestellt hat: Sting!“ „So, da wären wir! Herzlich Willkommen im Herzstück der Drachenwelt, Bienvenudo!“ Tornado öffnete allen die Tür zu einem kleinen Geschäft in einer Seitenstraße, dessen Auslage vollgestopft mit allerhand Drachenzubehör war. Erstaunt blickte sich Wendy um. Was für ein unglaublicher Laden! Früher hatte sie immer das Bastelmaterial verwendet, das Ethan ihnen allen mitgebracht hatte. Dieses war zwar gut, doch entsprach es nicht im Geringsten der Auswahl, die sich ihr nun feilbot. Sie klopften sich den Schnee von den Sachen und traten ein. „Du warst noch nie hier?“ Tornado lächelte strahlend wie immer. „Das muss jetzt ja das reinste Paradies für dich sein!“ Wendy nickte stumm. Sie wusste gar nicht, wo sie zuerst hinsehen sollte. So viele verschiedene Stoffe in allen Strukturen und Farben, mindestens zwanzig verschiedene Arten von Gestänge, verschieden geformte Drachenspulen und allerhand Schnickschnack, um seinen Drachen noch stärker zu individualisieren. Kurzum: es war der Himmel auf Erden! „Wenn ich dir jemanden vorstellen dürfte...“ Er schubste sie sanft in Richtung der Theke. „Das hier ist der Inhaber des Ladens. Jeder nennt ihn nur den Drachenmeister!“ Ein bärtiger mittelalter Mann erhob sich und hob die linke Hand zum Gruß. „Ah, ein neues Gesicht! Guten Flug wünsche ich!“ Guten Flug? Was war denn das für eine dämliche Begrüßung? Und noch dämlicher – oder auch schockierend – war, dass der Typ sich „Drachenmeister“ nannte, aber nur einen Arm hatte. Sie erwiderte die Begrüßung, indem sie die seltsamen Worte auf der Zunge auskostete. „Guten... Flug...“ Er stützte sich auf die Theke und blickte sie durchdringend an. „Und, was darf es sein, junge Dame? Wir haben alles, was das Pilotenherz begehrt, also zögere nicht zu fragen, wenn du etwas wissen willst!“ Das ging aber schnell! Angelo schaltete sich ein und reichte den zuvor angefertigten Zettel über die Theke. „Ich habe eine detaillierte Liste mit allen Materialien erstellt, die benötigt werden.“ Der Drachenmeister legte grübelnd die Hand an sein Kinn und kraulte seinen Bart. „Interessant. Ein feuerfestes Geschwindigkeitsmodell?“ Wendy sah sich derweil die unterschiedlichen Spulen an und ignorierte derweil gekonnt, dass Zeph sich wieder einmal heimlich alles in die Taschen stopfte, das ihm zwischen die Finger kam. Ringförmig waren die letzten Haltegriffe gewesen, die sich letztendlich verflüssigt und in ihre Handflächen gebrannt hatten, so dass ihr ganz mulmig bei der Betrachtung solcher wurde. Lieber etwas anderes nehmen! Das hier zum Beispiel! Sie griff nach ein Paar rechteckigen schwarzen Spulen, bei denen die Drachenleine im Unterschied zu den alten Griffen nicht um einen Plastikring geführt wurde, sondern sich flach über dem Griff wand. War vielleicht auch besser solche zu nehmen, da sich der Zug des Drachen so auf die Finger verteilte und nicht in den Handflächen ruhte. Ungewohnt zu steuern, aber mit Sicherheit machbar. „Eine gute Wahl. Solche benutze ich für Bat auch.“ Vor Schreck ließ Wendy die Spulen fallen. „Oh Mann, Ethan, erschreck' mich doch nicht so!“ Sie wandte sich um. War das die Möglichkeit, dass ihr Freund aus der Mittelschule sich wie ein Ninja an sie herangeschlichen hatte?! Er hob die Spulen auf und reichte sie ihr. Ihre Hände zitterten. „Wie ich sehe sind die Wunden soweit verheilt? Aber deine Motorik ist noch nicht voll wiederhergestellt...“ Sie nickte. „Die Verbrennungen gingen doch tiefer als erwartet, aber in ein paar Wochen soll es wieder vollständig verheilt sein – zumindest bis auf die Narben.“ Ethan zog eine abgezählte Menge an Fiberglasstäben aus dem Regal. Auch er war dabei die Vorräte seines Clubs aufzustocken. Das Lachen von Tornado und dem Drachenmeister schallte durch den ganzen Laden. Ethan verzog das Gesicht. „Wie ich höre, bist du nicht allein hier?“ Wendy verneinte. „Unser ganzes Team ist heute gemeinsam unterwegs. Immerhin ist gleich Weihnachten und die Ferien fangen an. Und du? Ist Mopsi heute nicht mitgekommen?“ Er hob eine Augenbraue. „Wenn „Mopsi“ eine Anspielung auf die großen Brüste meiner Schwester Harriet ist... Nein, sie hatte heute schon etwas anderes vor.“ Es war kein großes Geheimnis, dass Harriet und Wendy nicht gut miteinander auskamen. Die eine war eine vollbusige Lady, die sich mit allen legalen und illegalen Mitteln nahm, was sie wollte, die andere eine burschikose Emanze, die Lügen und Intrigen auf den Tod nicht ausstehen konnte. „Wendy, Bellissima!“, rief der blonde Teamleiter und trat zu den beiden hinzu. „Wen haben wir denn hier? Dass wir uns hier und nicht erst auf dem Duellfeld begegnen!“ Sein charmantes Siegerlächeln und das neckische Augenzwinkern ließen imaginäre Sterne in Ethans Richtung fliegen. „Das muss Schicksal sein! Ich finde, du solltest mal mit mir ausgehen, Bellissimo!“ Ethans Augenbraue zuckte bedrohlich. Machte der ihn etwa gerade an? Die Stäbe in seiner Hand knirschten aneinander, als er ein künstliches Lächeln aufsetzte. „Dieses Angebot werde ich mit Freuden ablehnen! Was willst du, Balotelli?“ Der Blonde warf sein Haar zurück und ignorierte die Abfuhr gekonnt. „Der Drachenmeister hat vorgeschlagen, dass ich mit einem Leihdrachen gegen ihn antreten soll, um das neue Material auszutesten, bevor es bestellt wird. Ich nehme an, dass du aktuell kein Interesse hegst, es selbst zu tun, Wendy?“ Wendy schreckte aus ihren Gedanken hoch. Diese bizarre Vorstellung, dass Ethan und Balotelli ein... ein schw... EGAL! Sie schüttelte den Kopf und hob abwehrend ihre Hände. „Ich möchte nicht riskieren, dass die Narben wieder aufplatzen. Aber zuschauen würde ich schon gerne. Was denkst du, Ethan?“ Ethan begann unheimlich zu lächeln und strich sich den schwarzblauen Pony zur Seite. „Mit Sicherheit! Ich lasse mir doch nicht entgehen, wie Balotelli in einem Duell fertig gemacht wird!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)