High Angle – B-Side von Atsusa ================================================================================ Kapitel 15: Das Trainingslager auf Sizilien ------------------------------------------- Zeph traute sich kaum vom Boden aus über den Bettrand zu schielen, denn der Zettel, der dort lag, war sein Albtraum schlechthin. Nein. Am besten er würde diesen so schnell wie möglich verschwinden lassen und so tun, als hätte er ihn nie bekommen, nur damit er für den Rest des Jahres im beheizten Hallenbad des Feriendomizils der Balotellis auf Sizilien auf einer Liege vor sich hin dösen und die Strapazen der letzten Zeit hinter sich lassen konnte. Aber nein. Da lag er. Dieser gemeine Zettel der Folter. Diese ausführliche Excel-Tabelle, die ihm minutiös vorschreiben wollte, wie er die Weihnachtsferien verbringen sollte. Die regelte, was er wann essen sollte, wie lange er am Strand Dauerlauf machen und wie viele Bahnen er im Pool schwimmen sollte, wie hoch die Gewichte eingestellt sein sollten, die er stemmen musste und wie oft er die Einheiten wiederholen sollte. Kurzum: dieser Plan war die Hölle pur. Und schon gar nichts für jemanden, dessen einzige sportliche Betätigung, neben dem Drachensteigen, das regelmäßige Klauen – nein, FINDEN – von Autoreifen, Zaunlatten und Gartenwerkzeugen war. Vielleicht... Vielleicht sollte er doch mal einen Blick darauf riskieren? Nein! Lieber nicht. Er würde sich jetzt gaaaaanz langsam umdrehen, den Rücken gegen das Bett lehnen und so tun, als hätte er nichts gesehen. Und einfach nur schlafen, bis das Festessen auf dem Tisch stand und er sich so richtig den Bauch vollschlagen konnte. Es klopfte an der Tür. „Tak?“ Träge richtete sich Zeph auf und öffnete. Es war Wendy, die nach ihm sah. Und ebenso wie er hatte auch sie den neuen Trainingsanzug des Drachenclubs an, der zwar ebenso schwarz war und neben „Balotelli Pizza“ als Sponsor einen Aufdruck des Clubwappens, des Nachnamens und der Rangnummer hatte, aber anstatt grünen Streifen und Bündchen pinke aufwies. Sie hob eine Augenbraue und musterte ihn kritisch. „Also langsam finde ich das echt diskriminierend! Der Chef hat Blau, Angelo hat Orange, du hast Grün und Hayate – wen wundert es – Violett! Aber nein, das einzige Mädchen des Clubs muss natürlich Pink tragen!“ Sie verzog das Gesicht. „Nicht, dass ich das nicht mögen würde... Aber... Allgemeine Männerlogik, ich könnte kotzen!“ Zeph lächelte schief. „Sieht aber gut aus. Passt du deinen Haaren!“ Er klopfte ihr auf die Schulter. „Was willst du? Willst du mich zu diesem Folterprogramm abholen? Nie, nie, mache ich nicht mit, bin hier für Urlaub!“ Wendy verneinte und reichte ihm einen Zettel, nicht unähnlich dem, der auf dem Bett lag. „Das hier ist für dich!“ Sie ging an ihm vorbei und schnappte sich das andere Papier. „Na also, da steht mein Name ja drauf! Scheinbar hat man unsere Zettel vertauscht. Hätte mich auch gewundert, wenn ich so viel hätte tun müssen!“ Zeph erbleichte. Seine Hände begannen zu zittern, als er den Trainingsplan überflog. „So viel... Und das auch noch... Nie, da hat sich der Chef sicher einen Scherz erlaubt. Ist viel zu viel!“ Wie auf Kommando stand Tornado an der Türschwelle, hob den Daumen und sah Zeph mit einem strahlenden Lächeln an. „Sportsfreund, wie ich sehe, bereitest du dich mental auf die effektivste Trainingswoche deines Lebens vor? Fantastico!“ In seinem neuen Trainingsanzug sah er noch mehr wie ein charismatischer Anführer aus, zumal auf seinem Rücken über dem großen Clubwappen die Nummer 1 prangte, während Zeph zu Wendys Verwundern nur die Nummer 3 hatte, da sie selbst den Platz als Clubvize eingenommen hatte. „Bin kein Sportsfreund! Bin ein Sportsfeind! Ein bisschen Wagenheben ist ja gut gut, aber nix mit Dauerlauf, Schwimmen und Gewichtheben. Bin ich dagegen!“ Er verschränkte die Arme, doch sein schlaffer Blick zeugte nicht gerade von Durchsetzungsfähigkeit. Tornado schüttelte den Kopf. „Zeph, Sfaticato, du wirst mir eines Tages noch dankbar für diese Züchtigung sein! Und jetzt los, wir haben viel zu tun!“ Er hängte sich bei ihm ein und zerrte ihn auf den Flur hinaus. Zeph blickte zurück und sah Wendy mit wehleidigem Gesichtsausdruck an. „Tu was, Nummer Zwei, ich will nicht.“ Doch Tornados Griff war unbarmherzig und fest. „NIEEEEEEEEET!!“ Wenig später hatten sich alle fünf Clubmitglieder im geräumigen Wohnzimmer versammelt und auf einer weißen Ledercouch Platz genommen. Der blonde Teamleiter hatte eine Flipchart mitgebracht und befestigte mit Magneten ein Poster daran. „Tutti quanti, attenzione!“ Er tippte mehrmals mit dem Finger auf das Poster. „DAS hier... ist unser Ziel!“ Ein Raunen ging durch die Bank. Ja, Tornado hatte schon einmal davon geredet, aber damals hatten sie es alle noch als ein Hirngespinst abgetan und ihm nicht weiter Beachtung geschenkt. Doch jetzt, wo er sie alle nach Sizilien geholt und einen Trainingsplan für sie erstellt hatte, schien es, als würde dieser Plan doch ein Körnchen Wahrheit beinhalten. „Ich als euer Teamchef habe beschlossen – und wenn ich als der Teamchef etwas festlege, dann gilt das auch so, basta! – dass wir an der Kite-Weltmeisterschaft teilnehmen werden!“ Zur Bestätigung tippte er noch einmal fest auf das Poster, welches ein offizielles Werbeplakat für eben dieses Event war. „Allerdings...“, er beugte sich nach vorne und holte einen weiteren Zettel und Magneten aus einer kleinen Pappkiste, die auf dem Couchtisch stand, „müssen wir unsere Teilnahme um ein Jahr verschieben, da unser werter Teamtechniker Angelo erst Ende Januar 2014 die erforderlichen sechzehn Jahre für die Teilnahme erreichen wird!“ Er befestigte die Jahreszahl „2014“ so neben dem Titel „Kite-WM“, das sie die 2013 verdeckte und nun „Herbst 2014“ auf dem Plakat stand. „Somit haben wir also über ein Jahr Zeit, uns ausgiebig auf den Wettbewerb vorzubereiten – und glaubt mir, diese Zeit werden wir auch brauchen, um unser Kampfniveau zu erhöhen!“ Zur Bestätigung schaltete er den Fernseher ein und begann eine DVD abzuspielen. Erst verfolgten Zeph, Wendy, Hayate und Angelo noch gespannt die Aufzeichnung der Drachenduelle, doch schon nach wenigen Minuten waren selbst die emotional so gefassten Hayate und Angelo kreidebleich geworden. Zephs Kinnlade kippte herunter. „Ist nicht dein Ernst, oder?“ Wendy pflichtete ihm bei. „Wir schaffen es doch niemals, auf so ein Niveau zu kommen! Gib es zu, Balotelli, das sind keine Menschen, sondern Außerirdische! So wie die kann sich doch kein normaler Mensch bewegen!“ Doch Tornado straffte nur die Schultern und nickte felsenfest entschlossen. „Si, das sind ganz normale Menschen wie du und ich! Und falls es euch interessiert: letztes Jahr hat sogar eine Oberschulmannschaft gewonnen. Unmöglich ist es also nicht!“ Siegessicher streckte er den Arm aus und deutete in den Himmel – oder eher an die Decke, an der ein geschmackloser protziger Kronleuchter angebracht war. „Gemeinsam werden wir in den Himmel aufsteigen, bis hin zu den Sternen! Avanti!“ Es begann schon zu dämmern, als Wendy endlich ihr Tagespensum absolviert hatte. Jeder Muskel tat weh und ihre Knochen ächzten und knarzten bei jeder Bewegung. Erst waren sie mehrere Kilometer bei gerade einmal zehn Grad Außentemperatur barfuß am Strand joggen gewesen, waren anschließend – durchnässt bis auf die Unterwäsche, da der Chef es für das beste hielt von allen noch ein Erinnerungsfoto zu machen, auf dem natürlich eine besonders große Welle über sie alle hinweg schwappen musste – zum Schwimmen in das beheizte Hallenbad des Anwesens zurückgegangen, um nun, zum krönenden Abschluss des Tages noch das letzte bisschen Schlacke in der Sauna aus zu schwitzen. Und das sollte sich jetzt für die nächsten zehn Tage wiederholen? Am Besten Balotelli vergaß gleich seine über-ambitionierten Pläne und sie verwandelten den Drachenclub gleich in eine entspannende Kartenspiel AG um. Aber was würde das bringen? Am Ende beschworen sie dadurch noch die Kraft der Finsternis aus der grauen Vorzeit und mussten um das Schicksal der Welt kämpfen, wie es wirklich nur bei Kartenspielen passieren konnte. Drachensteigen, das war ungefährlich. Zumindest, wenn man davon absah, dass man immer irgendwo herunterfallen, sich einen tödlichen Stromschlag holen oder gar schwere Schnitt- und Brandverletzungen erleiden konnte. Wendy lächelte flüchtig und öffnete die Tür zur – wie nicht anders zu erwarten – schwedischen Sauna, die nach Holz und einem Aufguss von Tannenöl roch. Eine Wand aus Hitze schlug ihr entgegen. Fehlte bloß noch, dass man durch die Kraft eines Kirits Psychosen erleiden konnte und darauf selbst im Wahn von irgendwelchen Dächern und Ruinen in den Tod sprang! „Ah, Bellissima, genau richtig!“ Warum? Warum konnte Balotelli nicht EIN MAL auch erschöpft sein? „Wir sind auch gerade erst reingekommen. Da können wir direkt ein kleines Wettschwitzen machen, wer es von uns die meisten Aufgüsse hier drin aushält!“ Zeph stöhnte entnervt. „Ist viel zu warm! Essen wäre jetzt viel besser!“ – „Geduld, Geduld! Nimm Platz, Wendy!“ Der blonde Italiener machte eine einladende Geste, doch Wendy war mit einem Mal wie zu einer Salzsäule erstarrt. Ihre Augenbraue zuckte. Pimmel. Überall Pimmel! Groß, klein, haarig, glatt wie ein Babypopo, beschnitten, runzlig! Oh. Mein. Gott. Sie wurde rot. Feuerrot. Bis zum Haaransatz, wenn nicht sogar bis in die Spitzen ihres ohnehin schon kupferroten Haares. Tornado lachte schallend. „Mamma Mia, schockiert dich der Anblick von ein bisschen wilder Natur so sehr?“ Er stand auf und klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. „Nun hab dich mal nicht so, Bellissima! Wir sind ein Team! Eine große Familie! Eine symbiotische Einheit!“ Ihr Verstand setzte aus. Da waren Dinge, die wollte sie nicht sehen und auch nicht wissen. Danke, vielen Dank auch, dass du mir meinen unschuldigen und jungfräulichen Geist so verderben musst! Sie presste die Lippen zusammen. „Bellissima, willst du nicht auch dein Handtuch ablegen! In der Sauna schwitzt es sich am besten, wenn man komplett nackt ist!“ Er begann an dem schwarzen Totenkopfhandtuch zu zerren, bis es sich halb gelöst hatte. „He... hey! Sag mal, geht’s noch?“ Wendy fing sich keinen Augenblick zu spät. Reflexartig packte sie das Handtuch, zerrte es Tornado aus der Hand und wickelte sich so fest ein, wie es ging. „Oh, hast ja nicht nur im Gesicht Sommersprossen, nicht schlecht!“, stellte Zeph mit stierendem Blick fest. Noch immer pochte das Blut in ihren Ohren. Sie schmollte. „Ihr seid echt peinlich, wisst ihr das!“ Ihre Stimme überschlug sich. „Habt ihr denn keinen Respekt davor, dass ich ein Mädchen bin?“ Oh nein. Jetzt fange ich auch noch an zu Heulen! „Ich meine, ist ja ganz schön, dass ich für euch nicht die allgemeine Clubmatratze bin, aber...“, sie schluckte, „das heißt nicht, dass ihr mich deshalb gleich für Euresgleichen halten sollt!“. Sie ballte die Faust. „Vielleicht benehme ich mich nicht sehr oft so, aber ich bin immer noch eine Frau und ich habe auch Gefühle! Ihr könntet mich...“, sie senkte den Blick und suchte nach den passenden Worten, „wenigstens ein kleines bisschen für weiblich und attraktiv halten!“. Die Tür knallte zu. Tornado atmete tief durch. „Mamma mia, das war aber ein Gewitter!“ Er griff nach seinem Handtuch und band es sich um die Hüfte. „Che peccato! Da ist jetzt wohl eine Entschuldigung fällig!“ Er öffnete die Tür und trat hinaus, doch bevor er sich auf die Suche nach Wendy machte, zwinkerte er den anderen drei Jungen noch einmal zu. „Nicht vergessen, alle fünf Minuten ein Aufguss und mindestens 30 Minuten drin bleiben! Denkt an die Weltmeisterschaft, avanti!“ Wendy konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal so heftig geweint hatte. Nicht einmal, als Ethan sie im Krankenhaus besucht hatte, kamen so viele unterdrückte Gefühle aus ihr heraus, die nun mit dem heißen Wasser der Dusche hinweg gespült wurden. War dies vielleicht der Grund gewesen, weswegen sie ihren Kirit nicht richtig beschwören konnte? Wegen all der kleinen Dinge, die sie über Jahre hinweg angesammelt hatte wie in einem Pulverfass, das nun endlich explodiert war? Sie wusch und schrubbte sich so gründlich wie seit Ewigkeiten nicht mehr, so lange, bis ihre Haut ganz rot war. Erst dann ebbte das ungute Gefühl langsam ab. Sie zog einen der bereit liegenden Bademäntel an, rubbelte sich die Haare mit einem Handtuch trocken und ging zurück in ihr Zimmer. Schweigend nickte Tornado ihr zu. Er hatte seine Trainingsklamotten wieder angezogen und saß wartend auf dem kleinen Sofa neben dem Fenster. Wendy verstand schon, was er ihr damit sagen wollte. Und sie war einverstanden. „Es tut mir leid, dass ich so aufbrausend war.“ Sie setzte sich in den der Couch gegenüber stehenden Sessel und legte sich das Handtuch über die Schultern. Na toll. Jetzt sah sie mit Sicherheit noch abgewrackter und unattraktiver als sonst aus, so mit rotgeweinten Augen und ganz ohne Schminke. Kein Wunder, dass in ihr alle immer nur den netten Kumpel sahen, der sich für keinen Spaß zu schade war! „Mir tut es leid, Bellissima!“ Sein Blick war aufrichtig und voller Reue. „Das war so unsensibel von uns allen!“ – „Ja, das war es! Jetzt werde ich mein ganzes Leben lang nicht mehr vergessen, wie eure Pimmel aussehen!“, keifte sie ihn an. „Das sind Dinge, die sollten zumindest aus Anstand zwischen Männern und Frauen immer geheim bleiben, außer man geht jetzt in einen FKK-Club und ist mental darauf vorbereitet, solche Dinge zu sehen!“ Wieder wurde sie rot. „Ich meine... Es ist ja nicht so, als würde ich von euch auf ein stupides Love Interest reduziert werden wollen, dessen einziger Zweck es ist kurze Röcke zu tragen und am Ende auch noch den coolsten Typen der ganzen Geschichte ab zu bekommen, aber so ein bisschen mehr Respekt gegenüber dem, was ich bin, erwarte ich schon von euch!“ Sie machte eine kurze Pause und rang nach Luft. Wenigstens jetzt hielt Balotelli mal die Klappe und ließ sie ausreden! „Und nein, ich bin kein giftiger Skorpion – zumindest nicht immer – sondern einfach nur Wendy. sechzehn Jahre alt, weiblich und noch voller naiver Träume und Wünsche!“ Wieder schossen ihr die Tränen in die Augen, doch diesmal war sie nicht allein. Diesmal war jemand da, der ihr zuhörte. Jemand, der ihr ein Taschentuch und eine Schulter zum Ausweinen reichte. Und jemand, der zum richtigen Zeitpunkt einfach die richtigen Worte fand. „Wendy, Bellissima! Erinnerst du dich noch an Halloween?“ Sie schniefte und blickte ihren blonden Teamchef kritisch an. „Ja, da bist du in den Fluss gefallen und klatschnass nach Hause gelaufen. Und wer hatte am Ende die Erkältung? ICH!“ Tornado lachte. „No, no, das meine ich nicht! Ich rede von deiner Strafe!“ – „Meine... Strafe?“ Erst wusste sie nicht, wovon er redete, doch dann traf es sie wie einen Schlag. „Die Strafe der Peinlichkeit? Ernsthaft?“ Er bejahte. „Si, Bellissima! Du meintest wohl, dass du davonkommen würdest, bloß weil du dich jeden Tag schminkst, aber ich habe es nicht vergessen!“ Er sprang auf und begann wild zu gestikulieren. „Weißt du was? Ich habe mir von meiner Cousine ein paar Sachen ausgeborgt. An Silvester mache ich aus dir einen wunderschönen Schwan, promessa!“ Was für ein Enthusiasmus! Da konnte man einfach nicht nein sagen. Ein zartes Lächeln stahl sich auf Wendys Gesicht. Dass er daran noch gedacht hatte! „Wettschulden sind Ehrenschulden!“ Ihre Mundwinkel zuckten. „Aber wehe, du verunstaltest mich, dann schicke ich dich in Einzelteilen zurück nach Hause!“ Er wandte sich zur Tür und setzte sein strahlendstes Zahnpastalächeln auf. „Bellissima! DAS wird nicht passieren! Und wenn doch überlasse ich dir gerne ab dem ersten Januar die Leitung des Clubs!“ Der 31. Dezember kam schneller heran, als es der ganze Drachenclub erwartet hatte. Vier Tage lang hatten sie sehnsüchtig auf diesen Tag gewartet, nur damit er am Ende wie im Flug verging. Schon war es draußen dunkel geworden. Hayate hatte den Grill angeworfen und briet frisch gefangene Makrelen. Angelo versuchte sich an Risotto nach einem auf ein Milligramm genau berechneten Rezept von Tornados Vater und Zeph... der hing mal wieder nur schlapp auf dem Sofa herum und erholte sich von den Strapazen. Der Muskelkater machte ihm fast noch mehr zu schaffen, als die ausgekugelte Schulter von neulich. Immer wieder nickte er kurz weg, nur um dann in Gedanken an das kommende mediterrane Festmahl wieder hochzuschrecken. Vier Tage schon hatte er fast nur eiweißreiche Kost und frisch gepresste Obst- und Gemüsesäfte bekommen, so dass er froh war, endlich einmal wieder Kohlenhydrate und etwas Alkohol abzukriegen. Vier Tage! Eigentlich ein guter Grund die Fliege zu machen und sich ein anderes Hobby zu suchen, doch wann immer er in Gedanken auf der Flucht war, war es Balotelli, der ihm mit einem Siegerlächeln den Riegel vorschob. Wo war der Chef überhaupt? Es war schon eine Stunde her, seit er sich das letzte Mal hatte blicken lassen. Und Wendy? Die war auch weg. Zeph grinste versaut. Nicht dass beide gerade einander besser kennenlernten und eine Runde Bettgymnastik miteinander machten! Hö-hö, schon allein die Vorstellung! Vielleicht wurden davon ja Wendys Brüste endlich mal größer, denn wie lautete der Spruch so schön: „Männerfinger sind Busendünger!“. Zumindest mit einer der beiden Sachen hatte er recht – und das war Wendy ziemlich peinlich. Ausgeliefert war sie ihm, wie damals in der Besenkammer, nur dass es ihr jetzt nichts mehr ausmachte, dass er ihr so nahe kam. Das er sie berührte, während er mit fachmännischer Präzision Make- Up in ihrem Gesicht verteilte, ihr Kajalstift und Lidschatten auftrug, als hätte er nie etwas anderes gemacht und ihr schließlich auch noch die Haare frisierte, sofern es bei ihren Borsten überhaupt möglich war. Eigentlich wollte Wendy schlafen, denn die ganze Sache dauerte schon viel zu lange. Aber wenn sie jetzt einnickte und Balotelli die Schminke versaute, dann musste sie für den Rest ihrer Schullaufbahn den Club leiten, genau so wie er es angekündigt hatte. Nicht, dass sie ungern in einem Thron gesessen hätte, aber Lust darauf alle herumzukommandieren und jeden Furz entscheiden zu müssen war so gar nicht ihr Bestreben. Sie seufzte laut. „Sind wir bald mal fertig? Das nächste Mal trinke ich freiwillig ranzige Milch, das dauert wenigstens nicht so lange!“ Tornado legte die Schminkpinsel beiseite, schob sein Stirnband zurück in die Stirn und musterte sie kritisch. Dann hellte sich sein Gesichtsausdruck auf und er klatschte in die Hände. „Wendy, Principessa! Du siehst wunderschön aus!“ Skeptisch blickte sie ihn an. „Und du lügst mich auch nicht an?“ Er reichte ihr einen Spiegel. „No, no, du bist jetzt wirklich ein Schwan!“ Während sie sich verdattert betrachtete – es war wirklich schockierend, wie viel so ein bisschen Make-Up ausmachte – holte der Blonde ihr Mobiltelefon und strahlte sie an. „Du musst mir nicht danke sagen! Los, lass uns raus auf die Terrasse gehen, das Alibifoto für deine Jungs fehlt noch!“ Ihr schoss das Blut in die Ohren. Oh Mann, warum hatte sie nur so eine empfindliche Haut, bei der man ihr sofort ansah, was in ihr vorging! Strafe der Peinlichkeit. Oh ja! Wer hätte gedacht, dass sie sich so schämen würde! Warum eigentlich? Weil die Wendy, die sie dort aus dem Spiegel anblickte, fast wie eine andere Person wirkte. Tornado bugsierte sie an das weiße Marmorgeländer, wenige Meter von einer Laterne entfernt, damit sie nicht im Dunkeln stand, das Licht aber auch nicht zu stark auf dem Foto strahlen würde. „Ecco! Und jetzt einmal eine sexy Pose, Bellissima! No, no, nicht so verkrampft, etwas mehr die Schultern zurück, den Kopf nach oben und die Brust raus! Si, so ist es gut, fantastico!“ Der Auslöser klickte mehrmals. Dann war Wendy auch schon erlöst und betrachtete nervös die Bilder. „Was mache ich denn hier für ein Gesicht? Das geht ja gar nicht. Und das hier ist unscharf. Aber das... Das ist gut!“ Sie nickte zuversichtlich. „Und jetzt noch an alle männlichen Kontakte verschicken. Oh, das wird aber teuer! Die Handyrechnung werde ich dir schicken, Balotelli!“ Er winkte ab. „Bene!“ Mit einem Grinsen fügte er hinzu. „Ich bin schon gespannt, wer sich in dieses schöne Mädchen verlieben wird! HUAAA~H!“ Er rang nach Luft, denn Wendys Ellenbogen landete wie im Reflex in seinen Rippen. Sie knurrte aggressiv. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht vorhabe, mich auf ein dummes Love Interest reduzieren zu lassen! Ich bin mir selbst die nächste und alles andere ist absolut nicht von Bedeutung!“ Tornado rieb sich den Bauch. „Wirklich nicht?“, ächzte er. „Ich dachte da zum Beispiel an ETHANDY!“ „Negativ.“ „ZENDY?“ „Gott bewahre! Nein!“ „ANGENDY?“ „Stehe ich auf Kinder, oder was?“ „VALDY?“ „NIEMALS! Bin ich Kindergärtnerin?“ „Wie heißt dieser Kleinwüchsige nochmal, dessen ganze Wohnung nach exotischen Kräutermischungen der Marke Eigenanbau riecht?“ „Julius?“ „JULIENDY?“ „Sag mal, reicht das nicht langsam?“ Jetzt hatte er es geschafft! Der Geduldsfaden war gerissen. „Am besten ich mache das gleich bei dir, damit du mal merkst, wie sich das anfühlt!“ Tornado schmunzelte. „Versuch' es doch mal!“ Wendy blickte ihn ernst an. „Okay... HAYATELLI!“ Schweigen. „Was denn, keine... Ups?“ Sie wollte gerade mit einem sarkastischen Kommentar fortfahren, da bemerkte sie die kirschrote Farbe, die das Gesicht des blonden Teamleiters angenommen hatte. VOLLTREFFER! Mit einem Mal war der ach so selbstbewusste Balotelli total schweigsam und schüchtern. Wendy legte den Kopf schief. „HAYATELLI? Wow, das glaube ich nicht!“ Sie kniff die Augen zusammen und versuchte seinen Blick zu kreuzen, doch er sah nur auf den Boden und nickte stumm. „Und du bist dir sicher, dass es nicht BALOTATE ist?“ Er verneinte. Wendy lachte hinterlistig. „Balotelli, Balotelli, wer hätte gedacht, dass du die Matratze der Clubhausfrau bist!“ – „STOP!“, platzte es aus ihm heraus. Ihre Augen begegneten sich für einen Augenblick, dann sah er wieder nervös auf die Steine unter seinen Füßen. „Du könntest das doch ein bisschen romantischer ausdrücken, Bellissima...“ Seine Stimme war kaum hörbar. Wendy atmete laut ein. „Es ist nur, so... Ich meine... Hayate... Der ist nun nicht gerade das, was man sich unter einem waschechten Kerl vorstellt!“ Diesmal war es sie, die ihm aufmunternd auf die Schulter klopfte. „Seit wann geht das schon so?“ Er druckste herum. „Eigentlich, schon länger... So richtig aber erst seit der Nacht, in der mia bella Sorella entführt worden war.“ A-ha! So war das also. Beruhigungssex, während sie, die arme, arme Wendy, total entkräftet und voller Brandwunden im Krankenhaus lag und nicht mal mehr wusste, wo oben und unten war! Ihre Mundwinkel verformten sich zu einem unheimlichen Grinsen. Er hob den Zeigefinger. „Aber behalte das bloß für dich, sonst bin ich meinen Ruf als Mädchenschwarm los! Das ist schlecht für das Geschäft als Lieferjunge!“ Das unheimliche Grinsen wurde noch breiter. Tornados Augenbrauen zuckten. „Würdest du dir bitte diesen perversen Ausdruck aus dem Gesicht wischen?“ Seine Stimme nahm wieder einen aggressiven und lauten Tonfall an. „Prego! Bellissima! Ich verrate dir dafür auch ein kleines Geheimnis!“, flehte er und sah sie wie ein nasser Welpe an. „Und das wäre?“ Er deutete auf seine Nase. „Ich habe vorhin ganz genau gerochen, für wen du etwas übrig hast! Deine Pheromone haben dich verraten!“ – „Tse!“ Wendy verschränkte die Arme. „Da weißt du ja mehr als ich!“ Das Zahnpastalächeln kehrte zurück. „Ich kenne also dein schmutziges kleines Geheimnis und werde es allen verraten, wenn du über Hayate und mich tratschst, ist das klar?!“ Er legte die Hand in ihren Nacken und zog sie ganz nah an sich heran, bis seine Lippen fast ihr Ohr berührten. „Die Person, in die du verliebt bist, ist...“ Er sprach so leise, dass das Meeresrauschen die letzten Silben verschluckte, nicht aber den Aufschrei der Überraschung, der sich in Wendys mit einem Mal zartrosa und so gar nicht mehr pervers grinsendes Gesicht schlich. Hatte er etwa Recht? Konnte das etwa der Grund sein, warum ihr Kirit bisher nicht richtig beschworen werden konnte? Nur wegen dieser einen Tatsache, die ihr bis dato noch nie – wirklich NIE – in den Sinn gekommen war? Sie wusste es nicht. Als sie um Mitternacht alle gemeinsam am Strand waren und kleine Himmelslaternen zu den Sternen schickten, nahm sie sich ganz fest vor, es herauszufinden. Schon bald. Im neuen Jahr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)