High Angle – B-Side von Atsusa ================================================================================ Kapitel 20: Weißer König, schwarzer König ----------------------------------------- Gespenstische Stille lag über der Ruine der mittelalterlichen Kirche. Die Sonne stand gerade so hoch, dass sie lange Schatten auf das Kampffeld warf. Da der Wind aus westlicher Richtung kam, stand Angelo, der soeben die Stoppuhr gestartet und die auf vierzig Sekunden erweiterte Startsequenz eingeläutet hatte, im Osten, die Sonne im Nacken und den Blick streng auf das Geschehen gerichtet. Auf der anderen Seite hatte Wendy auf einer noch nicht eingestürzten Arkade Platz genommen, die Arme mit den Drachenleinen Stings erhoben, damit die am Drachen befestigte Kamera jedes Detail des Duells zwischen Ethan und Tornado aufzeichnen konnte. Sie fröstelte. Weiße Wolken bildeten sich bei jedem Ausatmen vor ihrem Gesicht und legten einen feuchten Film auf ihre Haut. Dann plötzlich schwoll der Wind an und ließ die ohnehin schon kalte Winterluft noch schärfer und eisiger wirken. Das war der Startschuss für die beiden Kontrahenten. „Eins! Zwei! Drei! LIFT 'EM UP!“ Souverän wie eh und je und ohne auch nur das Gesicht zu verziehen, nahm Ethan Anlauf, schlug mehrere Haken zwischen den Steinblöcken und erzeugte einen Gegenwind, der Bat ohne größere Schwierigkeiten auf einen höheren Luftstrom legte. Schnell baute sich ein Druck auf, der die Drachenleinen spannte. Der Kampf konnte also beginnen. Tornado hingegen hatte es nicht so leicht. Sein Teil des Feldes war mit deutlich mehr Steinen übersät, so dass er kaum genug Gegenwind erzeugen konnte, da er ständig die Richtung ändern musste. „Ich erwähne es ja nur ungern, aber die vierzig Sekunden Lift-Phase sind bald abgelaufen. Noch Fünfzehn! Vierzehn! Dreizehn!“, zählte Angelo unbarmherzig die letzten Sekunden rückwärts. Tornado biss sich auf die Lippen. Konnte es möglich sein, dass er nicht einmal zum Zug kam und Ethan den Sieg somit schenken musste? Nein, so weit würde er es nie und nimmer kommen lassen! Irgendwas musste er doch tun können, um Icarus sicher in den Himmel schicken zu können, nur was? Er musterte angestrengt die Umgebung. Licht und Schatten wechselten sich ab, so dass es schwierig war jeden Bereich einsehen zu können. Zudem war das Terrain so uneben, dass manche Blöcke mehrere Meter emporragten, während andere kaum noch als Formation menschlichen Ursprungs zu erkennen waren. „Zwölf! Elf!“ Er brauchte Gegenwind. Und zwar schnell! Nur wie baute man einen Gegenwind auf, wenn einem der gerade Weg versperrt blieb? Seine Augenbrauen zuckten. Ja, genau das war es! Wenn man nicht auf der Horizontale Druck erzeugen konnte, dann musste man sich eben die Vertikale zunutze machen! Und das ging am Besten... „Zehn! Neun! Acht!“ ...indem man die Steine wie eine Treppe benutzte, um dann von einem hohen Punkt aus in die Tiefe zu springen und den Drachen wie einen Fallschirm zu benutzen! Ethan warf sein schwarzblaues Haar zurück. „War das schon alles? Wenn nicht bald mal etwas passiert, dann überlege ich mir in Zukunft, ob ich für solche Aktionen überhaupt den Weg auf mich nehme!“ Tornado schüttelte den Kopf und lächelte zuversichtlich mit strahlend weißen Zähnen. „Noch ist es nicht vorbei!“ „Sieben!“ Alle seine Muskeln spannten sich wie ein Bogen an. Dann schnellte er los wie ein Pfeil, erklomm mit großen Schritten eine Treppen ähnliche Formation, die an der höchsten Stelle über einen drei Meter breiten Abgrund führte und in eine erneute Treppe mündete. Wendy konnte nicht hinsehen. Dieser verrückte Stirnbandheini! Warum konnte er nicht einfach auf Ethans Seite des Kampffeldes sprinten und von dort aus Icarus in die Luft befördern? So stolz wie Ethan war, würde dieser bestimmt nicht dazwischen gehen und das Duell auf legale, aber unfaire Weise beenden, bevor es überhaupt in Fahrt kam. Mehrere kleine Steine kollerten hinab, als Tornado den Absprung wagte. Ja, das würde funktionieren. Bereits auf halbem Weg spürte er den Zug des Windes an seinem Drachen und als er souverän bei „Fünf!“ auf der anderen Seite landete, war Icarus schon auf halber Höhe. Trotzdem. Es reichte nicht. Ethan hob kritisch die Augenbraue und fragte mit sarkastischem Tonfall: „Was wird DAS denn?“, doch der blonde Italiener und selbst ernannter Meister des lachsfarbenen Ästhetizismus ignorierte ihn gekonnt. Nur noch ein kleines Stück, noch etwas höher... „Vier!“ Das wird funktionieren! „Drei!“ Die letzte Stufe. Nur nicht darüber nachdenken, dass er gerade schon fünf Meter über dem Boden war, sondern einfach nur... „und Absprung!“ Wendy kniff die Augen zu. War Balotelli jetzt völlig übergeschnappt? Er würde sich noch die Knochen brechen, wenn er Pech hatte und blöd aufkam! „Zwei! Eins!“ RUMMS! Als der Schnee seinen Sturz abbremste, hatte Icarus sich wie ein Fallschirm aufgebläht. Tornado biss die Zähne zusammen und presste ein leises „Ahi!“ heraus. Seine Knie zitterten, doch er war unversehrt. Icarus stand wie eine Eins auf dem Aufwind und war bereit für seinen Einsatz. Angelo seufzte erleichtert und stellte die Stoppuhr ab. Gerade noch einmal Glück gehabt! Und was das Beste daran war: Der unerwartete Sprung hatte Ethan für einen Augenblick so verwirrt, dass Tornados erste Rammattacke voll ins Schwarze traf. Er lachte. „Na, was sagst du nun? Du solltest mich nicht abschreiben, bevor ich dir nicht gezeigt habe, was ich alles kann!“ Ethan geriet leicht ins Trudeln, fing den Stoß aber gekonnt ab. „Das kam wirklich überraschend. Ich gestehe dir meinen Respekt für diese ungewöhnliche Technik ein, Balotelli!“ Er verzog den Mundwinkel zu einem Hauch von einem Lächeln. „Das wird dir aber nicht viel bringen, denn Bat und ich geben gleich Vollgas!“ Er umfasste die Drachenspulen so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Schwarze Energie pulsierte in seinen Händen und waberte ähnlich wie finsterer Rauch die Drachenleinen hinauf, um sich rund um den dunkelgrauen Fledermausdrachen zu sammeln. Sofort blitzten dessen Augen rot auf und der Kirit, der ebenfalls auf den Namen Bat hörte, materialisierte sich. „Ist ja niedlich! Eine kleine Fledermaus! Da kriege ich es ja direkt mit der Angst zu tun, angoscioso!“, spottete Tornado und riss die Arme für eine erneute Rammattacke nach vorne, doch Ethans Drachengeist wirkte wie eine unsichtbare Mauer, die den Angriff völlig verpuffen ließ. „Du wagst es Bat zu beleidigen?“, rief Ethan empört. „Das wird dir noch leidtun! Bat, zeig ihm deine Schallwelle, jetzt!“ Hastig flatterte die Fledermaus nach oben und vollzog eine Kreisbewegung um Ethans Gegner, um dabei immer und immer wieder für den Menschen unhörbare Schallwellen auszustoßen. Tornado spürte das Kribbeln in der Luft und reagierte augenblicklich. Schnell wich er der lautlosen Gefahr aus und versteckte sich hinter einen größeren Steinblock. Der Japaner legte den Kopf in die Seite. „Du denkst wohl, du könntest Bat entkommen, was? Aber das zieht nicht! Dein Drachen verrät mir ganz genau, wo du dich verbirgst!“ Er wandte den Blick zum Himmel. „Bat! Setze jetzt Blutsauger ein! Lass ihn nicht entkommen!“ Im Sturzflug schnellte die Fledermaus hinab, schoss wie ein zielgerichteter Pfeil direkt auf Tornado, der nicht halb so schnell in Deckung gehen konnte, wie der blutdurstige Kirit näherkam. Wieder startete er einen Rammangriff, doch wieder wurde Icarus von einer unsichtbaren Wand zurückgeschleudert. Während sein Pilot noch versuchte ihn zu stabilisieren, fand Ethans Drachengeist sein Ziel und verbiss sich tief in den Hals des Clubleiters der „Wright Kite Knights“. Tornado wurde für einen Moment schwarz vor Augen. Nicht vor Schmerzen oder Blutverlust – denn die Energiegestalt war nicht in der Lage, ihm wirklich Blut auszusaugen – doch der plötzliche Energieverlust machte ihn benommen. Er lächelte müde. „Dass mir mal jemand so am Hals hängt und saugt... Also ehrlich gesagt wäre mir ein Blowjob jetzt lieber...“ Er machte eine ruckartige Kopfbewegung, doch Bat ließ sich nicht abschütteln. All die Energie, die er ihm absaugte, floss in einem Strom aus schwarzer Energie direkt in Ethans Hände, der innerlich schon triumphierte. „Du enttäuschst mich wirklich! Ich dachte, dass du in den sechs Wochen wenigstens etwas trainiert hast, aber das heute reicht ja nicht einmal an deine müde Leistung im Duell gegen den Drachenmeister heran!“ Balotelli durfte sich weder provozieren lassen, noch einen Anflug von Größenwahnsinn bekommen. Er musste gelassen bleiben, so wie er es kurz vor Weihnachten gelernt und außerdem im Training verinnerlicht hatte. Er musste standhaft bleiben, auch wenn er sich schlapp und müde fühlte. Ja, müde. Er war so müde, dass seine Augenlider langsam zufielen. Ja, dann soll es eben so sein und ich verliere, ist ja nicht das Ende der Welt. „Stell dich nicht so an, Balotelli!“, knurrte Wendy gereizt. Sie war aufgestanden und stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf, das Gesicht ganz gerötet vor Aufregung. „Wenn du der Anführer von „Team Tornado“ sein willst, dann zeig uns gefälligst, dass du es verdient hast! Du kannst doch jetzt nicht schlapp machen!“ Träge hob der Blonde seinen Kopf und schmunzelte. „Team Tornado? Fantastico! Hört sich irgendwie cool an, das sollten wir so einführen, ma si!“ Er holte tief Luft und nahm all seine Kraft zusammen, um erneut auf eine Steinformation zu klettern, die in gleißendes Licht getaucht war. Kaum dort angekommen, fühlte er, wie seine Energie zurückkehrte. „Tornado Balotelli ist ein Kind des Lichts, scintillante!“ Sein Zahnpastalächeln blitzte auf. „Solange ich in der Sonne bin, wirst du mich nicht klein kriegen! Avanti!“ Er nahm beide Haltegriffe in die linke Hand und packte mit der Rechten nach dem kleinen Blutsauger, der noch immer an seinem Hals hing. Bat quiekte erschrocken, als ihn plötzlich eine Hand im Nacken packte und ihn brutal zu Boden warf. Und im gleichen Maße, wie Bat nieder geschleudert wurde, krachte auch Ethan mit einem Mal auf den Boden. Während dieser vor Schmerzen das Gesicht verzog, hatte Tornado die Spulen wieder fest im Griff und konzentrierte seine Energie. Und wie immer schwangen zuerst die Leinen wie die Saiten einer Gitarre, bevor sie hell leuchteten und sich die Lichtpunkte an der Spitze des Drachen konzentrierten. Ethan stand schmollend auf und rief Bat zu sich zurück. Wie ein Schmetterling, der aus seinem Kokon entstieg, erhob sich auch der Engelskrieger Icarus aus seinem Ei aus Licht, breitete die Flügel aus und zückte seinen Bogen. Tornado zwinkerte selbstbewusst. „Allora, denkst du nicht auch, dass DAS HIER ein richtiger Drachengeist ist? Guck doch mal, Ethan, ein geflügelter Held mit Pfeil und Bogen, DAS ist cool! Nicht so eine pop(e)lige kleine Fledermaus, die quiekt wie ein Ferkel, ha ha ha!“ Er lachte schallend. Ethans Blick verfinsterte sich zusehends. „Dein Kirit ist mindestens so ein Blender wie du selbst, Balotelli! So etwas habe ICH nicht nötig!“, sagte er und doch war sich Wendy, die wieder über dem Torbogen Platz genommen hatte, mehr als nur sicher, dass Ethan in Wirklichkeit ganz schön beeindruckt war und mit Sicherheit in Zukunft hart daran arbeiten würde, dass aus Bat irgendwann wirklich Batman wurde. Na ja... Oder zumindest ein Vampir mit Fledermausflügeln... „Oh, oh! Ihre Säuerlichkeit grummelt in der Gruft vor sich hin? Ridicolmente!“ Es war soweit. Eben noch ganz unten und kurz davor zu verlieren, war Tornado nun wieder oben auf und machte sich über seinen Gegner lustig. „Che peccato! Dann müssen Icarus und ich jetzt eben etwas Licht in die Dunkelheit bringen! Lichtpfeilregen, los!“ Der Drachengeist zog mehrere Pfeile auf einmal aus seinem Köcher und spannte den Bogen. Was danach folgte, ging so schnell, dass man es mit bloßem Auge kaum erfassen konnte. Icarus schoss gen Himmel, wo sich die Pfeile noch weiter aufspalteten und einem Regen aus Licht gleich hinabsausten. Doch Ethan war mit allen Wassern gewaschen. Einem Tanz gleich wich er galant jedem Pfeil aus, blieb aber stets auf dem Boden, anstatt sich wie Tornado die Höhenunterschiede des Kampffeldes zunutze zu machen. Der blonde Italiener beäugte ihn kritisch. „Jetzt sag' nicht, du hast Höhenangst?“, murmelte er leise vor sich hin. „Tremendamente interessante! Aber irgendwann kriege ich dich schon noch! Und dann nagele ich dich fest!“ Er sprang auf den nächsten Vorsprung und setzte die Attacke fort. Wieder sammelte Icarus seine Energie und schoss zum Himmel und wieder regneten die Pfeile hinab wie ein Schauer aus weißem Licht, der allen in den Augen stach, als hätten sie für einen Augenblick zu lange in die Sonne gesehen. Farbige Flecken bildeten sich vor Tornados Augen, so dass er sich auf seine anderen Sinne verlassen musste. Ein Fehler, denn die kalte Luft und der gefrorene Boden machten es nicht leicht, sich auf seinen Geruchssinn zu verlassen. Es kam, wie es kommen musste: beim nächsten Sprung rutschte er aus und stürzte zu Boden. Darauf hatte Ethan gewartet. Erneut konzentrierte er seine Energie auf die Handflächen und beschwor seinen Drachengeist, der diesmal aber nicht Tornado direkt, sondern Icarus angriff. Als beide Monster sich ineinander verkeilten, wurde das gesamte Duellfeld in schummeriges Zwielicht getaucht. Licht und Finsternis vermischten sich und lösten einander auf. Die Energie strömte in alle Richtungen auseinander und entzog sogar Angelo und Wendy einen Teil ihrer Kraft. Icarus schoss empor und schüttelte Bat ab, der darauf auf Tornado abzielte und sich wieder in dessen Hals verbiss. Doch Tornado war diesmal vorbereitet und nutzte diese Ablenkung, um besonders starke Pfeile auf Ethan herab schießen zu lassen, die ihm die Füße lähmten, so wie es auch bei Hayate an Halloween auf dem alten Deich geschehen war. „Oh Mann! Das gibt es doch nicht!“ Wendy raufte sich die Haare, so gut es mit den Drachenspulen in den Händen ging. Ethan und Balotelli hatten es doch tatsächlich geschafft eine Pattsituation zu erzeugen! Beide standen sie da, unfähig auch nur einen Schritt zu tun, und entzogen sich gegenseitig die Energie. Licht floss in Finsternis, Finsternis floss ins Licht. Ein Strudel bildete sich, groß, immer größer und mächtiger, in dem selbst der Kampf der beiden Elemente tobte. Erst waberte und pulsierte er nur langsam, dann schließlich flackerte er immer schneller, wurde zu einem Blitzen wie das eines Fotoapparates, um letztendlich – KA-BUMM! – in die Luft zu fliegen. Ethan und Tornado wurden auseinander geschleudert. Der Japaner prallte mit der Schulter gegen einen spitzen Brocken, der Italiener landete unsanft auf dem Rücken und bekam einen Stein an die Schläfe geschleudert, der sie sofort aufplatzen ließ, so dass sie heftig zu bluten begann. Hätten die beiden Drachengeister nicht wie ein Anker auf die Lenkdrachen gewirkt, dann wäre dies das Ende gewesen, doch so geschah etwas, was es selbst in der Geschichte der Drachenritter selten gegeben hatte. Ein heller Blitz fuhr in die Seelen der beiden Kontrahenten, der eine zuvor undurchdringbare Tür für einen Augenblick einen Spalt weit öffnete, so weit, dass jeder in dem anderen lesen konnte wie in einem Buch – wenn auch nur für wenige Zeilen. Tornado fand sich plötzlich in einem geräumigen Arbeitszimmer wieder und blickte einem mittelalten Mann in die Augen, der aber offensichtlich kein Interesse daran hatte mit ihm zu kommunizieren. Und er spürte, was auch Ethan gespürt hatte, als er in dieser Situation steckte: Frustration und unbändige Sehnsucht nach Lob und Anerkennung, die ihm sein Vater nie geben wollte. Ethan hingegen war zurückgekehrt in jene Nacht, als man Okarina entführt hatte und spürte Tornados Hilflosigkeit und Angst, die innere Ohnmacht, die ihn lähmte. Und so war es, dass beide in jenem kurzen Moment verstanden, dass der andere niemals klein bei geben würde, selbst wenn die Schläfe oder die Schulter noch so sehr schmerzten und beide Drachen schon den einen oder anderen Riss hatten. Aufgeregt blickte Wendy von einem zum anderen hin und her. Ihr Herz schlug ihr bis in den Hals und ließ ihr Blut in den Ohren rauschen. Ja, auch sie hatte Angst. Angst, dass das Duell der beiden am Ende noch mehr Schaden anrichten würde als nur ein paar Schrammen und Prellungen. Und als sie Angelo erblickte, der sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, weil ihm der Strom aus Licht und Finsternis ebenso die Kraft raubte, musste sie schwer schlucken. Ihre Hände zitterten so nervös, dass die Drachenleinen zu schwingen begannen. Warum? Warum konnten die beiden das Duell nicht auf eine schöne und freundliche Art und Weise beenden? Warum waren beide nur so bockig, dass sie sich ihre Ebenbürtigkeit nicht einräumten und sich auf ein Unentschieden einigen konnten? Sie kniff die Augen zusammen, um nicht länger in die gequälten und blassen Gesichter von Ethan und Balotelli sehen zu müssen. Eigentlich wollte sie, dass beide sofort aufhörten. Doch was konnte sie schon tun? Wenn sie jetzt einfach dazwischen ging und somit dafür sorgte, dass Angelo das Duell wegen Intervention für ungültig erklärte, würden ihr die beiden das doch niemals verzeihen! Doch irgendwas musste sie doch tun, irgendwas! „Wenn du willst, dann kann ich dir helfen!“, klackten Stings Beißzangen in ihren Gedanken. „Und was willst du? Wenn ich dich jetzt loslasse, dann verbrennst du wieder alles und damit ist keinem der beiden geholfen...“ Der rosafarbene Skorpion kicherte. „Erinnerst du dich noch daran, was mit dem Brezelkönig passiert ist?“ Oh ja! Und wie sie sich daran erinnerte! Plötzlich fing er an zu jammern und zu bedauern, während sie selbst versuchte das Feuer abzuschütteln, das sich mit schmelzenden Haltegriffen in ihre Hände fraß. „Wenn du mich lässt, dann steche ich beide. Und wenn ich das tue, dann werden sie vielleicht verstehen, warum du ihr Duell beenden musst.“ Wendy nickte und stand auf. „Du warst die letzten Wochen so gut zu mir, Sting...“ Sie lächelte erleichtert. „Ich denke... Nein, ich weiß, ich kann dir vertrauen. Und es tut mir leid, dass ich dich ganz am Anfang für ein Monster gehalten habe!“ Pinke Flammen schossen aus ihren Händen hinauf zu dem rosa-schwarzen Drachen mit dem Skorpionmotiv. Ein kleiner Feuerball bildete sich, der sich anschließend aufrollte und die Gestalt eines Skorpions annahm. Ihr Blick wurde fest. „Also dann... Sting, setze deinen Stich der Wahrheit ein!“ – „Auf geht’s!“ Gefolgt von einem brennenden Schweif schnellte der Skorpion auf Ethan und Tornado zu, die erneut begonnen hatten sich mit Rammangriffen zurückzudrängen und beide so fixiert auf ihren Gegner waren, dass keiner von beiden die drohende Gefahr bemerkte. Erst im letzten Moment schreckten sie hoch – und dann war es auch schon zu spät um sich zu wehren. Sting stach jedem der beiden blitzschnell in den Hals, so dass sie wie in einem plötzlich einsetzenden Schlummer in sich zusammensackten. Icarus und Bat verblassten und auch die Drachen segelten zu Boden, wo sie mit lautem Krachen zum Liegen kamen. „Das Duell ist beendet! Es endet mit einem Unentschieden durch äußere Intervention!“ Angelo ließ die Fahne herab sausen und sackte dann selbst zusammen. Zum Glück hatte er Thermounterwäsche an, denn seine Mutter hätte es ihm nie verziehen, wenn er sich beim Liegen auf diesem kalten Boden eine Erkältung zugezogen hätte. Wendy sprang von der Arkade herab und eilte zu den beiden Jungen. Ethan hatte sich gegen einen Stein gelehnt und starrte apathisch ins Leere, die Hand verwirrt an die linke Brust gelegt, ganz perplex vor der Menge an Gefühlen, die ihm Wendys Kirit mittels Giftstich eingetrichtert hatte. „Es... tut mir leid! Scusi!“, schluchzte hingegen Tornado. Heiße Tränen tropften auf den Boden und vermischten sich mit dem Blut, das noch immer aus seiner Schläfe austrat. „Ich verstehe nicht, was in mich gefahren ist! Das war so leichtsinnig von mir!“ Er hob den Kopf. „Wendy, Bellissima! Ich hatte ja keine Ahnung, dass du dir solche Sorgen gemacht hast.“ Plötzlich sprang er auf und umarmte sie stürmisch. „Für dich muss das ganze Duell ja noch schlimmer gewesen sein als für uns! Scusi, Bellissima, scusi!“ Wendy verdrehte für einen Moment(,) ob der plötzlichen Annäherung(,) die Augen, klopfte dann aber trotzdem auf Tornados Schulter und drückte ihn an sich. Oh nein! Jetzt kamen ihr auch noch die Tränen! „Mir tut es leid! Ich hätte das nicht tun dürfen, aber...“, sie wischte sich über die Augen, „ich konnte doch nicht mit ansehen, wie ihr euch zu Tode prügelt! Ich meine... irgendwo muss doch auch mal Schluss sein! Irgendwo hört der Spaß auf.“ – „Ich finde, Wendy-san hat vollkommen Recht!“ Wieder einmal hatte sich Hayate unbemerkt an die Gruppe herangeschlichen. Auch Zeph war inzwischen frisch geduscht und umgezogen und hielt ihnen Verbandszeug entgegen. „Muss ich jetzt auch noch mit weinen, nie?“ Wendy verneinte und nahm ihm den Erste-Hilfe-Kasten ab, um Tornados Platzwunde zu versorgen. Während sie ihm das Blut abwischte und Desinfektionsmittel auf die Stelle sprühte, versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen. „Erinnert ihr euch eigentlich noch daran, wann ihr das erste Mal einen Drachen habt steigen lassen?“ Ethan blickte sie mit leeren Augen an. Ja, er erinnerte sich noch ganz genau daran, wie sie einen Familienausflug gemacht hatten. Harriet, er selbst, Mutter, Vater – und sogar der Großvater! Er erinnerte sich, wie sie gemeinsam unter blauem Himmel gespielt und gelacht haben und nicht genug von dem Gefühl eines an den Leinen zerrenden Drachen bekamen. Jenes Gefühl... „...frei wie der Wind. Einfach nur den Moment genießen und glücklich sein. Und was macht ihr jetzt?“ Sie schüttelte den Kopf. „Schlagt euch gegenseitig die Köpfe ein und werft leichtsinnig euer Leben weg.“ Sie schlug mit der Faust auf den Boden. Die Tränen wurden immer mehr. „Ihr hättet euch gegenseitig umgebracht, wenn ihr nur ein bisschen mehr Energie eingesetzt hättet!“ Ruckartig zog sie ihre fingerlosen Handschuhe aus und streckte beiden ihre Hände entgegen, damit sie die dicken Narben sehen konnten, die sich wie ein Ring um beide Handflächen zogen. „Niemandem, versteht ihr, niemandem soll je wieder so etwas passieren wie mir! Es gibt viel mehr im Leben als nur zu gewinnen oder zu verlieren! Wir alle werden allein geboren und gehen allein von dieser Welt, doch...“, sie faltete die Hände, „wenigstens für die paar Jahre, die dazwischen liegen, sollten wir nicht vergessen, dass wir alle zusammen unter diesem großen blauen Himmel leben und uns nicht gegenseitig das Leben zur Hölle machen!“ – „Das sind ja direkt einmal ein paar schlaue Worte von dir!“ Harriet, die nicht länger im Auto warten wollte, war zu der Gruppe getreten und sich prompt nicht zu verlegen dazu einen schnippischen Kommentar von sich zu geben. „Mopsi...“ Wendy verzog das Gesicht, doch Ethan erhob sich und hielt sich die schmerzende Schulter. „Ich stimme dir zu, dass wir es heute etwas zu heftig getrieben haben...“, er wandte sich Tornado zu, „aber dieses Duell muss noch entschieden werden. Wenn nicht heute, dann ein anderes Mal!“. Tornado nickte und zwinkerte. Er hatte zwar ebenfalls Schmerzen, doch lächelte er wieder so strahlend wie immer. „Ich freue mich schon darauf, Ethan! Und beim nächsten Mal werde ich es dir sogar noch schwerer machen!“ Als er Wendys kritischen Blick wahrnahm, fügte er noch hinzu: „Auf eine Art und Weise, die uns sportlich herausfordert, aber nicht ganz so körperlich verzehrend ist, wie das Duell heute! Dafür werde ich noch härter trainieren!“ Er hielt ihm ein letztes Mal die Hand für einen kameradschaftlichen Handschlag hin. Ethan zögerte einen Moment, dann schlug er ein. „Ich ebenso. Spätestens bei der Kite-Weltmeisterschaft werden wir uns alle wiedersehen!“ – „Das werden wir... Spätestens dann!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)