Azurtropfen von Ur (Oneshot-Sammlung) ================================================================================ Kapitel 3: Angstbewältigung --------------------------- Nagisa mochte gruselige Dinge. Er brach nachts in verlassene Gebäude ein, erzählte mit Begeisterung Geistergeschichten, stellte sich verlassene Inseln vor, auf denen man Abenteuer erleben konnte, und er schaute mit großer Vorliebe Horrorfilme. Rei hätte niemals im Leben zugegeben, dass ihm diese Dinge Angst einjagten. Er mochte keine Geistergeschichten, er wollte sich keine verlassenen Inseln vorstellen und vor allem wollte er keine Horrorfilme schauen. Aber ebenso wie die Tatsache, dass er nicht schwimmen konnte, wollte er dies lieber für sich behalten. Seine Geheimniskrämerei hatte dazu geführt, dass Nagisa sie alle in sein Haus eingeladen hatte, um einen Filmabend zu machen. Mit Horrorfilmen. »Und Haru, versuch bitte nicht wieder, ins Aquarium meines Vaters zu steigen, ja?«, sagte Nagisa gut gelaunt, nachdem er ihnen die Haustür geöffnet hatte und sie ihre Schuhe im Flur gelassen hatten. »Hm«, machte Haru nur und spähte ins Wohnzimmer, wo ein großes Aquarium mit vielen bunten Fischen stand. Rei versuchte sich vorzustellen, wie Harukas letzter Besuch hier bei Nagisa verlaufen sein musste und schüttelte ungläubig den Kopf. Makoto zog Haruka weiter, um ihm keine Gelegenheit zu geben, es sich mit dem Aquarium anders zu überlegen. Nagisas Zimmer sah so aus, als wäre es eine perfekte Spiegelung von Nagisas Persönlichkeit. Ein großer Haufen Wäsche war unter den Schreibtisch geschoben worden – vermutlich in einem Versuch, es ein wenig ordentlicher aussehen zu lassen – und der Schreibtisch war wiederum unter einem Berg aus Büchern, Heften und Papieren kaum zu erkennen. Beinahe jedes Stück Wand war beklebt mit Postern von Bands, die Rei nicht kannte, und von berühmten Schwimmern. Über dem voll beladenen Schreibtisch hing eine Pinnwand, die komplett mit Fotos von Nagisa und seinen Freunden und Familienmitgliedern bepflastert war. Rei widerstand der Versuchung, sich die Bilder näher anzusehen und beobachtete stattdessen Nagisa dabei, wie er geschäftig Bücher, Magazine, CDs und noch mehr Wäsche von seinem Bett schaufelte, damit sie darauf sitzen konnten. Ein riesiger Stoff-Delphin landete neben dem Bett und Rei stellte sich vor, wie dieser Delphin nachts von Nagisa umarmt wurde. Unweigerlich spürte er einen eifersüchtigen Stich. »Ich hol uns was zu trinken, macht es euch gemütlich!«, rief Nagisa gut gelaunt und Rei unterdrückte das Bedürfnis, das Bettzeug ordentlich zu falten, bevor er sich darauf niederließ. Wenn Nagisa ihn irgendwann mal allein hierher einladen sollte, – und sein Magen kribbelte aufgeregt bei dem Gedanken daran – dann würde er vermutlich jede Sekunde den Drang unterdrücken müssen, alles aufzuräumen. Er sollte nicht allzu viel darüber nachgrübeln, wie es wäre, mit Nagisa allein zu sein. Seit mehreren Wochen war er stark bemüht, nicht seinen merkwürdigen Gefühlen für seinen Schwimmkameraden nachzuhängen und sie stattdessen zu verdrängen, aber es gelang ihm nicht wirklich gut. »Ich habe ein paar Kekse ergattert!«, ertönte Nagisas Stimme an der Tür und Rei setzte sich hastig neben Makoto aufs Bett. Nagisa war ihm früher nie aufgefallen, obwohl sie in dieselbe Klasse gingen. Jetzt fragte er sich, wie er den blonden Wirbelwind jemals hatte übersehen können. Peinlich berührt schob er seine Brille zurecht. Er nahm das Glas mit Fanta, das Nagisa ihm reichte und stellte halb panisch, halb erleichtert fest, dass Nagisa sich zwischen ihn und Makoto quetschte und nun so dicht neben ihm saß, dass ihre Arme und Beine eng gegeneinander gepresst waren. Sein Herz stolperte aufgeregt. »Es ist sehr eng«, grummelte Haruka ungehalten und rutschte unruhig auf dem Bett herum. Dann schien er einen Entschluss zu fassen, stand auf, schnappte sich Nagisas Plüschdelphin und setzte sich unten vors Bett auf den Boden, das Stofftier in seinem Rücken. »Gute Idee, Haru«, sagte Makoto und folgte seinem besten Freund auf den Boden. Plötzlich fand sich Rei allein mit Nagisa auf dem Bett wieder und er war sich sicher, dass Nagisa jetzt von ihm weg rutschen würde, weil mehr Platz war. Aber Nagisa machte keine Anstalten in diese Richtung, angelte lediglich nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. »Makoto, kannst du das Licht ausmachen?«, fragte Nagisa mit einem Mund voller Kekse und Makoto stand auf, um den Schalter neben der Tür zu bedienen. Nur noch der Fernseher spendete Licht und Rei konnte angesichts der plötzlich so schummrigen Stimmung und der Körperwärme von Nagisa kaum darüber nachdenken, dass er gleich einen Horrorfilm anschauen musste. »Was hast du denn eigentlich ausgesucht?«, wollte Makoto wissen und knabberte an einem Keks. »Ich dachte, weil ihr Banausen ja keine Ahnung habt, fangen wir mit einem Klassiker an. The Ring!«, erklärte Nagisa gut gelaunt und wackelte ein wenig herum. Sein nackter Arm rieb sich dabei leicht an Reis, was ihn noch nervöser machte. Das alles war schrecklich unlogisch. Nagisa war überhaupt nicht sein Typ. Er mochte es ordentlich, berechenbar und ruhig. Nagisa war das genaue Gegenteil von alledem! Bereits der Anfang des Films ließ eine Gänsehaut über Reis Unterarme kriechen. Er sank ein Stück tiefer an der Wand und trank mit raschen Schlucken seine Fanta aus, während von einem mysteriösen Videoband erzählt wurde, das angeblich Leute tötete, die es sich ansahen. »Alles ok, Rei?«, wisperte Nagisa ihm zu. Rei nickte etwas zu hastig und stellte sein Glas auf den Nachtschrank. Nagisa reichte ihm wortlos ein Kissen und er dachte kaum darüber nach, als er es an sich drückte. Nagisa an sich zu drücken wäre selbstredend noch besser gewesen, doch man konnte nicht alles haben. Sobald die Tante des verstorbenen Mädchens ins Bild kam, wollte Rei ihr zurufen, dass sie bittesehr nicht das Videoband ansehen sollte, aber natürlich hätte sie ohnehin nicht auf ihn gehört und so blieb ihm nur das Kissen, das er sich bis zum Kinn zog. Er war versucht seine Brille abzunehmen, damit er nicht mehr gut sehen konnte, aber das würde garantiert auffallen. »Rei?«, flüsterte Nagisa neben ihm. Er schluckte und versuchte möglichst ruhig und gefasst zu wirken, aber Nagisa kicherte leise und plötzlich schob sich eine Hand auf seine Brust und blieb dort liegen, wo sein Herz aufgeregt pochte. Das war unfair! Nagisas Hände trugen nur dazu bei, dass es noch schneller hämmerte, es war eindeutig ein verfälschtes Ergebnis! »Ich hab keine Angst!«, zischte Rei aufgebracht und er sah aus dem Augenwinkel, wie Nagisa sich schmunzelnd auf die Unterlippe biss. »Ok«, kam die verschmitzte Antwort und Nagisas Hand wanderte von seinem Brustkorb zu seiner Seite und kroch unter das Kissen. Sein Herz würde jeden Augenblick explodieren, soviel war klar. Wenigstens musste er dann diesen schrecklichen Film nicht weiter anschauen. Er hätte es so machen sollen wie Kou. »Oh nein, Jungs, ohne mich! Horrorfilme sind nichts für mich!« Aber dann hätte er zugeben müssen, dass er sich fürchtete, und das kam nicht in die Tüte. Schmale Finger schlossen sich fest um seine Hand und Rei brauchte einen peinlich langen Moment, um zu begreifen, dass Nagisa seine Hand hielt. Nagisa wusste ganz genau, dass Rei Angst hatte. Es war zum Verzweifeln. Andererseits fühlte sich Nagisas Hand angenehm warm an und Rei ertappte sich dabei, wie er die schlanken Finger etwas fester drückte. Sicher würde Nagisa das auch tun, wenn Makoto Angst hätte. Nagisa fasste dauernd alle Leute an. Es war nichts Besonderes... Bildete er sich das nur ein, oder war Nagisa noch näher gerutscht? Er hatte seit mehreren Minuten nicht mehr auf den Film geachtet und erschreckte sich beim Anblick des aus dem Fernseher kriechenden Ekelmädchens beinahe zu Tode. Gerade so schaffte er es ein erniedrigendes Geräusch zu unterdrücken, ließ alle Farce fallen und drückte sich das Kissen ins Gesicht. »Rei?«, flüsterte Nagisas Stimme viel zu nah an seinem Ohr. »Hmpf«, gab er undeutlich zurück. Es war unlogisch, dass er Angst vor einem Film hatte. Es war unlogisch, dass er Nagisas Hand nicht mehr loslassen wollte. Sein Leben hatte eindeutig an Struktur verloren, seit er diesem verdammten Schwimmclub beigetreten war. Nagisas andere Hand kroch in seinen Nacken und strich über die feinen Härchen dort, streichelte über seinen Kopf, seine Schulter und kitzelte ihn am Hals. Reis Kopf schaltete sich ab und er schloss hinter dem Kissen die Augen. Es roch nach Nagisa. »Du hättest sagen können, dass du keine Horrorfilme magst«, flüsterte Nagisa und sein Atem streifte Reis Ohr. Dieser kleine Teufelsbraten machte das doch garantiert mit Absicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass Nagisa ganz genau wusste, was für einen Effekt er auf Rei hatte, lag bei über 97 Prozent, soviel stand fest. »Ich wollte aber gern dabei sein«, grummelte Rei ins Kissen und er wusste nicht, ob Nagisa ihn überhaupt verstand. »Du wolltest nicht zugeben, dass du Angst hast«, meinte Nagisa und Rei hörte deutlich an seiner Stimme, dass er grinste. Er hätte Nagisa gern erwürgt. »Hmpf.« Finger legten sich um sein Kinn, drehten seinen Kopf zur Seite und er wollte einen Augenblick lang fragen, was nun los war, aber er kam nicht dazu. Nagisas Kopf verschwand ebenfalls hinter dem Kissen und weiche Lippen drückten sich plötzlich auf seine. Es kam nicht oft vor, dass Rei nicht mehr denken konnte, aber in diesem Moment war sein Kopf so leer wie ein abgelassener Swimming Pool. Es war so schnell vorbei, wie es begonnen hatte und alles, was Rei von dem Kuss blieb, war ein heißes Kribbeln auf seinen Lippen und ein heftiges Pochen in seinem Brustkorb. »Keine Sorge, Rei. Ich beschütz dich vor Sadako«, versicherte Nagisa ihm flüsternd. Rei hatte noch nie jemanden geküsst. Er hatte noch nie mit jemandem Händchen gehalten. Mit hochroten Wangen warf er einen Blick hinüber zu Nagisa, der zufrieden vor sich hinlächelte. Langsam ließ er das Kissen sinken und zwang sich dazu, weiter den Film anzustarren. Vielleicht waren sie ja doch nicht ganz so übel, diese Horrorfilme. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)