Sch[t]erben von Inzestprodukt ================================================================================ Kapitel 1: Alarm ---------------- Sand rieselte von der Decke herab und traf ihn auf den Kopf, rutschte dort zwischen die Haare und eine nicht unerhebliche Menge in den steifen Kragen des Hemdes an seinem Leib. Es war stickig und eng und sie wurden in die hinterste Ecke des Geschehens gepresst; scharfkantige Steine in den Rippen und ein fremder Ellenbogen traf ihn nun vermehrt das dritte Mal an der Stirn, doch es hatte auch einen positiven Aspekt; wenn sie getroffen wurden, saßen sie zu weit hinten um Schaden zu nehmen. Vorausgesetzt, sie würden in der dann aufkeimenden Panik nicht zerquetscht werden. Ein Blick nach oben, der ihm nichts verriet; in ihrer Not neigten die Menschen eben dazu, nach oben zu schauen. Warum, war ihm immer schleierhaft gewesen. Vielleicht, weil der Weg in die Lüfte viel Spielraum und Freiheiten bot, was am Boden aus rein pragmatischen Gründen verwehrt blieb; Hindernisse. Menschen, Gegenstände, Tiere. Dabei hatten sie doch nur wegen dem „Oben“ all jene Sorgen; von dort fiel doch der Tod auf sie herab. In seinen Armen regte sich der kleinere Körper und Sakuya sprach ihm stumm Anerkennung zu, dass er sich bis jetzt so ruhig verhalten hatte. Auf seinem Schoß saß er, die Beine je rechts und links an die Hüfte gedrückt und mit den Händen hielt er sich am Hemd des großen Bruders fest, welcher wiederum seine beiden Arme um ihn gelegt hatte. Das spärliche Licht erlaubte kaum, Konturen ausmachen zu können aber er spürte ihn ebenso wie die Angst der Umstehenden. Erschrocken holten sie hier und da Luft, immer wieder mal brach jemand in Tränen aus und versuchte, das unaufhaltsame Schluchzen zu dämmen. Hin und wieder sackte jemand zu Boden, manche sprachen sich selber Mut zu und beteten leise zu diversen Gottheiten. Sein kleiner Bruder schwieg, doch er legte den Kopf auf Sakuyas Schulter und atmete regelmäßig aus, sodass ein winziger Lufthauch seinen Hals strich. Behutsam zog er ihn wieder richtig zu sich auf den Schoß und legte seine Hand in das wirre Haar, strich dort kleine Sandkrümel hinfort. Als die nächste Bombe einschlug, kam eine neue Erschütterung, jedoch längst nicht so stark wie davor. Auch die Geräusche der Flugzeuge wurden leiser, ehe plötzlich Stille herrschte. Die Stimmen wurden leiser, Gebete stoppten und schließlich öffnete jemand die schwere Metallpforte; Tageslicht strömte herein und erste Körper machten sich daran, den Schutzbunker zu verlassen. Sakuya blieb vorerst am Boden, der Andrang war in seinen Augen unnötig und herauskommen konnten sie auch, ohne von A nach B geschoben zu werden. Der Raum leerte sich nach und nach und als um sie herum etwas Platz war, glitt auch Michael von seinem Schoß. Er wartete, ging dann langsam mit dem älteren Bruder hinaus und hielt sich die Hand vor die Augen, als das Sonnenlicht sie erreichte. „Komm, hier lang.“ Schnell fasste er ihn an der Schulter und schob ihn in den Schatten, klopfte dann endlich den ganzen Staub von ihnen beiden ab und ging in die Hocke. „Alles okay? Nichts passiert?“ Um ehrlich zu sein hatte Sakuya keine Ahnung, was er nun tun sollte; von Bombenangriff zu Bombenangriff versteckt in einem Bunker zu sitzen konnte nicht der Rest ihres Lebens sein, momentan sah es aber ganz danach aus. Wenn sie es wenigsten aus der Stadt raus schaffen würden, aber ohne Proviant brauchten sie die Reise gar nicht erst zu wagen; die Hoffnung, unterwegs Nahrung zu bekommen, war schwindend gering. Außerdem hatte er das Gefühl, dass Michael nicht mehr lange mitmachen würde; rein emotional gesehen. Er sprach zwar nicht viel, doch Sakuya war sich relativ sicher, einem Siebenjährigen nicht viel mehr zumuten zu können als der Krieg es ohnehin schon tat. „Weißt du, was wir jetzt machen? Wir… ehm wir gehen los und schauen mal, ob wir noch ein paar Sachen finden können, ja? Essen, etwas Kleidung… ganz egal. Etwas Seife vielleicht auch.“ Er kam wieder aus der Hocke heraus und bot dem Kleineren seine Hand an, was dieser stumm annahm und dann langsam neben ihm herlief. Viele der Holzhäuser hatte es direkt erwischt, andere waren dem Feuer zum Opfer gefallen. Selten stand noch eines und wenn, schien es unbewohnbar. Auch waren kaum noch Menschen da, die wirklich hier lebten. Die meisten plünderten nach den Angriffen die Ruinen und entfernten möglichst schnell und effektiv so viele Dinge wie möglich. Dabei verzichtete man jedoch auf Wertsachen; Schmuck machte nicht satt. Das hatte Sakuya nun auch im Sinn, nur fehlte ihm eine Transportmöglichkeit. Wenn er wenigstens einen Beutel hätte oder eine Kiste; er könnte immer noch tauschen, nur in der Hand konnte er nicht allzu viel transportieren und eine musste ohnehin frei bleiben. Er würde ihn nicht loslassen. Für ihren kleinen Raubzug gingen sie tiefer in die Stadt hinein; dort, wo noch Chance auf Beute bestand. Natürlich wäre es ertragreicher, wenn sie sich nun aufteilen würden aber mit Dieben wurde hart verfahren und sie würden unweigerlich getrennt werden, so konnten sie noch weglaufen. „Schau mal dort vorne. Ich suche hier drüben, aber tu dir nicht weh.“ Langsam löste der Ältere seine Hand und schob dann einige Trümmerstücke auf die Seite, durchkramte allen Anschein nach ein ehemaliges Schlafzimmer. Es könnte auch ein Wohnraum sein, zumindest lag hier kein Futon. Aber Stoff konnte er finden; alte Hemden und einen Kimono, den er aber besten Falls zu einer Transportmöglichkeit umfunktionieren würde. Im Augenwinkel hatte er stets den stechend roten Haarschopf seines Bruders, welcher angestrengt an einem längeren Brett zog, ehe es frei kam und Michael sich über etwas drüber beugte. Sakuya ließ ihn, wickelte den Kimono auf seinen Arm und kramte etwas weiter hinter sich. Nahrung wäre ein Glückstreffer, immerhin fand er ein paar Becher, eine kleine Reisschale und wenige Löffel. Damit ließ schon etwas mehr anfangen, wohl fühlte er sich trotzdem nicht dabei. Die Gefahr, dass der Hausbesitzer um die Ecke lauerte, war groß und bestehlen lassen wollte sich auch im Krieg niemand. „Mager“, kommentierte er seine Ausbeute dann und stand wieder auf, hielt Ausschau nach dem Kleineren. Der hatte sich in eine etwas freiere Stelle gestohlen, welche mit mehr oder weniger schlechtem Gewissen als „Garten“ bezeichnet werden durfte. „Michael, wir gehen weiter.“ Keine Reaktion, er blickte zu Boden und summte allen Anschein nach vor sich hin, wippte dabei mit dem Körper vor und zurück. Eine furchtbare Vermutung schlich sich in den Geist des Dunkelhaarigen, welcher langsam näher trat und dann rasch die freie Hand ausstreckte, das Gesicht seines kleinen Bruders an sein Bein drückte und sich zwischen ihn und den Körper am Boden stellte. „Wir gehen“, wiederholte er möglichst ruhig und schob ihn weiter nach vorne; das Summen erstarb und schweigend fasste das Kind ihn wieder an die Hand, stieg umständlich über Trümmer hinweg und behielt die Augen auch frei auf der Straße. Das Schweigen machte Sakuya beinahe wahnsinnig, er musste sich irgendwie unterhalten. Und wenn es nur dazu war, sich dem Schrecken allen Anschein nach entziehen zu können. Beim nächsten Haus hatten sie mehr Glück; ein Rucksack und ein halber Beutel voll mit Reis. Dazu eingelegte Kirschen und etwas Trockenfleisch. Das war mehr wert als Gold, aber trotzdem steckte er auch das Bargeld ein. Der Rucksack erleichterte vieles ungemein, den Kimono hatte er zusammen gerollt und mit hineingelegt; als Decke konnten sie ihn alle Male verwenden. Etwas berührte ihn an der Hand und als er hinab sah, streckte Michael ihm eine Schachtel Zündhölzer entgegen, welche direkt mit in den Rucksack wanderten, ehe er ihm flüchtig das Haar streichelte. „Sehr gut. Hast du sonst noch was gefunden?“ Ein zaghaftes Nicken, dann stieg er mit seinen viel zu kurzen Beinen über die Trümmer hinweg und wühlte in einer Ecke herum, zog ein paar Kerzen hervor. Wortlos hielt Sakuya den Rucksack auf und wartete, bis Michael wieder bei ihm war, dann selber die Kerzen verstaute. „Wollen wir weiter?“ Er versuchte sich an einem Lächeln, scheiterte jedoch auf halber Strecke und ließ es dann ganz bleiben. „Wohnt hier nicht Yue?“ Es war überraschend, dass er ausgerechnet deswegen den Mund öffnete aber es stimmte; hier wohnte eigentlich Yue, der sich aber lieber bei seinem Nachnamen nannte. „Kato, ja.“ „Wo ist er?“ Wieder schlich sich die kleine Hand Michaels in die des Bruders, während sich der Rothaarige n den Trümmern umsah und ganz offensichtlich erwartete, den lebhaften Jugendlichen auch am Boden zu finden. Hoffentlich war dem nicht so. „Ich weiß nicht, vielleicht treffen wir ihn noch. Komm, lass uns weiter jetzt.“ Dass er erst so spät erkannt hatte, um wessen Haus es sich handelte… Schlechtes Gewissen und Überlebenswille rangen miteinander aber im Moment fühlte er sich einfach nur dazu verpflichtet, sie zu ihrem Ziel zu bringen; Tokyo. Und das war von ihrem Standpunkt aus eine weite Reise. Zu Fuß würden sie es nie aus Osaka schaffen, nicht mit den kargen Verpflegungen. Aber Tokyo war eine weite Anlaufstätte, sicherlich würde das ein oder andere Gefährt dort hinfinden wollen und sie konnten auf engstem Raum gut einige Kilometer einsparen. - „Wir hatten Glück mit dem Brot“, begann der Ältere den verzweifelten Versuch eines Gesprächs und brach ein kleines Stück von dem schon recht harten Laib ab; es war besser, als den ungekochten Reis hungernd anzustarren. Es tat ihm ja in der Seele weh, dass er seinem kleinen Bruder nur wenig bieten konnte, doch dieser übte sich allmählich in Bescheidenheit. Als er das dunkle Brot entgegen nahm, fragten die Augen dennoch nach mehr, was er aber schnell wieder unterband und den Blick senkte. Sakuya vermied es, sich auf die Unterlippe zu beißen und nahm sich das harte Endstück, reichte Michael noch ein abgerissenes Stück Trockenfleisch. Einige Momente betrachtete er ihn, drehte dann selber sein Abendbrot in den Händen und zählte die Lücken, in denen vermutlich einmal Sonnenblumenkerne gesteckt hatten, nun aber von den Vögeln herausgepickt worden waren. Ja, sie hatten Glück gehabt. Auch, wenn ein Großteil schon fehlte, hatten sie immerhin ein wenig zu Essen für den Abend. „Wir bleiben noch zwei Tage, dann ziehen wir weiter. Morgen suchen wir nur nach Essen und Flaschen, okay?“ Natürlich bekam er keine Antwort, wie eine hungernde Kirchenmaus nagte der Rothaarige an seiner Brotscheibe, legte sie jedoch recht bald auf die Seite. Das Gras an den nackten Beinen piekte ihn, er hatte es aus einem unerklärlichen Grund schon immer gehasst, trotzdem krabbelte Michael auf allen Vieren die wenigen Zentimeter zu dem Dunkelhaarigen, setzte sich dann neben ihn und lehnte den Kopf an dessen Arm. Wie schon zuvor fuhr er ihm durch das auffällige Haar, legte nun selber seine Brotkruste zur Seite und ließ die Augen schweifen. Es war fast dunkel, vollkommene Finsternis würden sie n Tokyo ohnehin nicht erreichen – auch, wenn Licht in den Fenstern der letzten Häuser riskant und wie ein Lockruf für den nächsten Bombenangriff schien. Familien klaubten ihre letzten Habseligkeiten zusammen und richteten sich darauf ein, bald wieder versteckt warten zu müssen. „Wir gehen jetzt schlafen“, flüsterte er ihm zu und stand dann langsam auf, sammelte ihre verschmähten Lebensmittel ein. Der Stoff des Kimonos eignete sich immerhin als ausladende Unterlage und eine muffige, zerschlissene Decke hatten sie ebenso gefunden. Das war das Glück des Sommers, auch wenn die Nächte zuverlässig nachkühlten. Er musste nichts sagen, schweigend legte Sakuya sich auf den Stoff und hatte prompt seinen kleinen Bruder bei sich liegen, deckte ihn dann akribisch zu und zog sich selber die Decke über die Schulter. Mit den Gesichtern einander zugewandt konnte er in Michaels Augen sehen und meinte, den Anflug eines Lächelns erkennen zu können. Er erwiderte es, legte einen Arm um die winzige Gestalt und zog ihn zu sich, schloss dann die Augen. - Der Schrei weckte ihn. Augenblicklich alarmiert schnellte er mit dem Oberkörper in die Höhe und registrierte zu aller Erst, dass er alleine auf dem Stoff lag. Dann erst fiel ihm auf, dass die Morgendämmerung sie bereits überholt hatte, es musste also früher Morgen sein, vermutlich zwischen sieben und neun Uhr. Hektisch ließ er die Augen wieder schweifen, als er dann den Bruder sah, wie dieser einige Meter entfernt im noch tauen Gras lag und sich dort wandte, mit den Füßen strampelte und sich die Fingernägel in das Fleisch der Wange grub, dabei diesen furchtbar gequälten Laut von sich gab. Hastig kam der Siebzehnjährige auf die Beine, nur um nach wenigen Metern wieder auf die Knie zu fallen und Michael an den Armen zu packen, damit dieser sich nicht noch die Augen herauskratzte. Das Schreien wurde lauter, das Gesicht nass vom Morgentau. „Michael! Beruhige dich, was ist denn los?“ Er schüttelte den Kopf, schlug diesen auch nach Ermessen hart auf den Untergrund und verfiel dann in ein lautstarkes, für seine Verhältnisse vollkommen ungewohntes Weinen, während die Beine noch immer gegen eine unsichtbare Kraft traten. Mit einem Ruck zog Sakuya ihn hoch, legte die Hand an seinen Hinterkopf und drückte ihn sich an die Brust, redete nach Möglichkeit beruhigend auf ihn ein, doch sein Weinen ebbte nicht ab. Überfordert mit der Situation sah er sich dank einer Angewohnheit nach Hilfe um, doch sein Vater würde nicht einfach um die Ecke spazieren und ihm das weinende Kind abnehmen. Da musste er durch, er war der Verantwortungsbewusste. „Sag doch… bitte, was ist denn? Hast… hast du schlecht geträumt?“ Wie schon am Tag zuvor gruben sich die Finger des Kleineren in Sakuyas Oberteil, doch dieses Mal sog sich der Stoff mit dicken Tränen voll. Den Kopf drehte Michael ein paar Mal krampfhaft auf die Seite, presste sein Ohr an die Schulter und schüttelte sich dann, als würde ihn Ekel überfallen, dann stieg das Wimmern wieder an. Sakuyas Segen war, dass er nie schwer von Begriff schien und so setzte er sich in einen Schneidersitz, zog Michael quer in seinen Schoß und drehte dessen Kopf zur Seite weg, versuchte, einen Blick in sein Ohr zu erhaschen. Kurz verhielt er sich vollkommen ruhig, versteifte sich allerdings und war angespannt genug, jeden Moment wieder zu schreien. „Ich seh nichts, wirklich“, rutschte es dann aus seinem Mund und die Tränen rollten wieder. Mit beiden Händen griff er sich an die Ohren und riss so stark am Linken, dass Sakuya kurzweilig dachte er wolle es sich abreißen. Schnell griff er wieder nach den Händen, drückte ihn verzweifelt an sich heran. Es gab natürlich Ärzte, die waren in der momentanen Zeit unentbehrlich. Allerdings gab es eine Art Hierarchie bei der aktuellen Patientenlage: Je schlimmer die Verletzung desto wahrscheinlicher eine Behandlung. Ein hysterisches Kind, äußerlich unversehrt, war da sicherlich wenig reizend. Die Notfallstationen in den verschiedenen Schulen und Gemeindehäusern kümmerten sich beinahe ausschließlich um die Opfer der Bombenanschläge und es würde sie sehr viel Zeit kosten, wirklich bei einem Arzt vorsprechen zu dürfen; wenn er denn nötig war. Sie brauchten diese Stunden einfach, um noch einmal Lebensmittel zu horten. Nach einem Angriff wurde noch einmal alles zusammen gekratzt das war ihre größte Chance, bald endlich nach Tokyo aufzubrechen. Jedoch… Es gab eigentlich nichts zu überlegen, wenn er das aufgelöste Kind zwischen seinen Beinen betrachtete, wie es fast an seinem eigenen Schluchzen erstickte. „Komm.“ Umständlich stand er auf und nahm ihn wieder an die Hand, räumte dann ihr spärliches Hab und Gut schnell zusammen. Der Rucksack war falsch gepackt, ein kantiger Gegenstand drückte ihm schmerzhaft in den Rücken, doch das konnte auch später sortiert werden. Nach nur wenigen hundert Metern war auch klar, dass er Michael als Zusatzlast auf den Arm nehmen würde, dann dieser war kaum noch fähig, einen richtigen Schritt zu gehen. So hob er ihn hoch und legte eine Hand auf das scheinbar schmerzende Ohr, trug ihn durch die zerbombten Straßen und ertrug das kontinuierliche Wimmern mit blutendem Herzen. „Wir suchen jetzt einen Arzt. Du weißt, es kann etwas dauern aber der wird dir helfen. Das hört bald auf, versprochen.“ Eigentlich machte er das nicht; Versprechen geben. Die Angst, sie nicht halten zu können, war viel zu groß. Eine kleine Praxis fanden sie schnell, wie zu erwarten würden sie allerdings lange warten müssen. Es half ja nichts, Kinder waren in dieser Zeit wenig nützlich und Mitleid bekamen die Wenigsten. Mediziner waren ohnehin nicht dazu geschaffen, Empathie zu zeigen, was in einem Beruf umgeben vom Tod auch nicht schwer zu verstehen war. Sie setzten sich in den Wartebereich, ein zusammengewürfelter Teil des kleinen Hauses, in dem sich die Menschen beinahe stapelten. Wie so oft hatte er ihn auf den Schoß genommen und hantierte dann etwas umständlich herum, um den Rucksack neu sortieren zu können. Einige neidvolle Blicke trafen auf den kargen Inhalt und Sakuya wusste, dass sie trotz ihrer Armut mehr besaßen als viele andere. Dann begann das Schreien wieder mit einem Mal und er drückte Michael erschrocken die Hand auf den Mund, während der Junge auf seinen Beinen strampelte und sich loszureißen versuchte. „Sei still, bitte! Sie werfen uns raus, Michael… sei einfach still!“ Nicht, dass irgendjemand Wert auf Anstand legte aber Kranke wollten in der Regel nicht gestört werden und ein schreiendes Kind war nie beliebt. Vor allem dann nicht, wenn für Außenstehende kein ersichtlicher Grund vorlag. „Stopf ihm das Maul, verdammt noch mal!“ Da kam auch direkt die erste Beschwerde von einem jungen Mann, auf die Sakuya jedoch nicht reagierte und nur wieder die einzige Möglichkeit darin sah, den Rothaarigen an seine Brust zu drücken und ihm sanft durch das Haar zu kraulen; meist half es, dieses Mal leider nicht. Wieder schüttelte er den Kopf, atmete dann schwer und panisch durch den Mund ein und aus. Der Fremde schaute missbilligend zu ihnen herüber, doch das Mädchen neben ihm sandte einen warnenden Blick an ihn, rutschte dann vor und legte ihrem Lebensgefährten wie es schien eine Hand aufs Bein. Der atmete genervt aus, schaute dann zu ihr herüber und lehnte sich wieder nach hinten. Langsam schien die Müdigkeit auf den Jungen überzugreifen, denn alle Gegenwehr fiel nach und nach in sich zusammen und er wimmerte nur leise, ließ den Kopf abermals am Körper des Bruders ruhen. Der atmete vor Anstrengung aus, lehnte dann mit der Stirn an Michaels Kopf und schloss die Augen. Es dauerte ewig, die Mittagssonne zog vorüber und stetig neue Patienten verließen vor ihnen den Wartebereich. Noch zwei Mal bekam Michael einen Anfall, doch nun saß er kraftlos und matt neben Sakuya, hatte trübe, rote Augen und trockene Lippen, knobelte an der Hand des großen Bruders. Er bot ein bemitleidenswertes Bild und hatte mit seinen Anfällen mehr Energie verbraucht, als der Tag ihm eigentlich geben konnte; dazu kam das verschmähte Abendbrot, das Fehlende Frühstück oder wenigstens Mittagessen. Apathisch starrte er vor sich hin, unkontrolliert liefen von Zeit zu Zeit Tränen über die blassen Wangen. Und die ganze Zeit streichelte er kraftlos die langen Finger des Bruders. Er drückte die kleinere Hand kurz ermutigend, stand dann selber auf und ging zum wiederholten Male um die Ecke, wo die Behandlungen stattfanden. „Wenn du nochmal fragst, schmeiß ich euch endgültig raus“, unterbrach der behandelnde Arzt den Versuch zu fragen schon im Vorfeld und legte Hand an einer verschobenen Schulter an. „Es ist doch nur was am Ohr! Er hat Schmerzen, hier sind Leute rein und raus, die weniger mit sich rumgeschleppt haben!“ Es kam keine Antwort und Sakuya gab einen genervten Laut von sich, ehe er einen trotzigen Ausbruch unterdrückte und zu Michael zurück kehrte, sich neben ihn auf den freien Platz setzte und sofort wieder seine Hand hergab, damit er beschäftigt war. Und dann war der Alarm wieder da und die Praxis leerte sich im Eiltempo. „Nein, nein, nein!“ Fassungslos starrte der Dunkelhaarige wieder nach oben, dann huschte sein Blick zu seinem kleinen Bruder, der wie ein Häufchen Elend die letzte Kraft verlor und ganz genau wusste, dass ihm nun doch nicht geholfen wurde. „Es tut mir so leid“, murmelte Sakuya, schulterte den Rucksack und schob dann beide Hände unter die Armbeugen Michaels hindurch, hob ihn auf den Arm und stand dann einen Augenblick lang ratlos inmitten des leeren Raumes. Schnell schüttelte er den Kopf, konnte dem Drang dann aber doch nicht widerstehen und rannte in den Behandlungsraum. Natürlich war der Arzt schon weg, die Menschen liefen schnell beim Geräusch des Alarms. Hastig durchwühlte er die Schubladen und Schränke, presste dabei das kraftlose Kind fest an sich heran und ließ den Rucksack zur Seite gleiten, dass er mehrere Utensilien hineinstopfen konnte. Watte, ein scharfes Skalpell, Glasfläschchen. Ein kleines, rundes Bon-Bon fand er in einem kleinen Fach, schob dieses rasch zwischen die Lippen seines kleinen Bruders und rannte dann so schnell es eben ging aus dem Haus heraus. Die ersten Bomben fielen und noch einen offenen Schutzbunker zu finden war absurd, dennoch mussten sie es versuchen. Er war nicht schnell mit Michael auf dem Arm, aber immer noch schneller als wenn er ihn hätte selber rennen lassen. In mehreren Häusern standen zubereitete Mittagessen, doch sein Leben für eine warme Mahlzeit riskieren? „Wir sind gleich da!“ Nein, das würden sie nicht sein aber es machte ihm ja selber etwas Mut. Außerdem war es im Prinzip nicht gelogen; wer wusste schon, was „Da“ war? „Hey!“ Bevor sie die schweren Tore des Schutzbunkers schließen würde, schrie er den Männern zu. Einer schaute gar nicht erst auf und zog weiter am Stahl, während er andere ihn barsch an der Schulter stieß und mit der Hand in ihre Richtung gestikulierte, seinem Nebenstehenden dann mit dem Finger andeutete, dass er den Verstand verloren zu haben schien. Dann winkte er ihnen zu und trat zur Seite. Schwer atmend kam Sakuya hinter der Stahltür zum Stehen und konnte einen letzten Blick auf die Menschen hier erhaschen, ehe es dunkel wurde. Und einer war ihm direkt aufgefallen. „Kato!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)