Blutige Rose von Moonprincess ================================================================================ Kapitel 1: Ankunft ------------------ Die altmodische Wanduhr tickte laut, nicht mal der rote, dicke Teppich unter seinen Füßen konnte dieses Geräusch mildern.  Yugi verkniff sich ein Seufzen und riskierte einen Blick aus dem Augenwinkel zu seinen Eltern neben sich, die in genauso  überstopften Polsterstühlen wie er selbst saßen. Während Yugi die letzte Viertelstunde den Teppich und seine eigenen, dunklen  Schuhe angesehen hatte, hatten sie angeregt mit dem Schuldirektor geplaudert, dem sie alle drei gegenüber saßen. Die perfekt geschminkten Lippen seiner Mutter behielten dabei mühelos ihr Lächeln bei, sogar Yugis Vater machte ein freundliches Gesicht...  nur Yugi war überhaupt nicht nach Fröhlichkeit zumute. Mißmutig starrte er auf den breiten und bestimmt massiv hölzernen Schreibtisch vor sich, an dem jemand viel zu drechseln gehabt haben  mußte, so sehr waren die Beine verziert. Geschwungene Tischbeine, mal dick, mal dünn... „...gi. Yugi, bitte sei so nett und antworte.“  Yugi zuckte zusammen und hob schuldbewußt den Blick, um dem seiner Mutter zu begegnen. Sie lächelte noch immer, aber er konnte in  ihren Augen sehen, daß sie nicht glücklich über seine geistige Abwesenheit war. „Herr Suzumi will wissen, wie dein Stand in Mathematik ist.“ Yugi konnte es sich nur mit Mühe verkneifen, den Mund zu verziehen. Er haßte Mathe... leidenschaftlich! Dennoch kratzte er zusammen,  woran er sich für dieses Schuljahr noch erinnern konnte und trug es leise und höflich vor. „Oh, da bist du der Klasse aber ein ganzes Stück hinterher“, antwortete Herr Suzumi. Wenn das seine Eltern nur beeindrucken würde, Yugi hätte das nur zu gerne als Vorwand genommen, sich schnell wieder zu verabschieden.  Leider waren sie davon nicht zu beeindrucken. Besonders nicht, weil sein Vater früher auch ein Internat besucht hatte, eines der besten im  Lande, wie dieser immer betont hatte. Der Hinweis, daß besagte Schule inzwischen hatte schließen müssen, brachte ihn auch nicht davon ab, von damals zu schwärmen. Und jetzt war er absolut davon überzeugt, daß er Yugi auch etwas zum Schwärmen geben mußte, nach allem,  was dieses Jahr geschehen war. Yugi allerdings hatte eine andere Vorstellung davon gehabt, von welcher Schule er später erzählen wollte. Nur daß diese Pläne nun müßig  waren. „Dann wäre ja alles geklärt.“ Damit holte die sonore Stimme seines Vaters Yugi aus seinen Gedanken. Yugi blinzelte zweimal, während seine Eltern sich vor dem Rektor  leicht verbeugten. Gerade noch rechtzeitig stand er auf, um es ihnen gleich zu tun. „Yugi, ich weiß, du kommst mitten im Schuljahr und dir fällt der Schulwechsel nicht leicht, deshalb nochmal: Du kannst dich immer an mich  oder die Lehrer oder deinen Erzieher wenden, wenn du Fragen oder Sorgen hast. Herr Isshi ist der Erzieher für die Jungen deiner Klassenstufe  und Dr. Takano ist unser Schulpsychologe.“ Der Rektor lächelte Yugi milde an und dieser rang sich ein halbherziges Nicken als Antwort ab. Als sie das Büro der Schulleitung verlassen hatten, seufzte Yugi leise: „Endlich...“ „Sieh doch nicht ständig drein, als hätte dein letztes Stündlein geschlagen.“ Sein Vater war offenbar genauso genervt wie er selbst.  „Du weißt genau, daß es nicht anders geht. Außerdem wird das hier ein großer Spaß! In ein paar Wochen spätestens hast du dich hier  wunderbar eingelebt und neue Freunde gefunden. Du wirst in den Winterferien gar nicht nachhause wollen.“ „Ich weiß nicht, was an meinen bisherigen Freunden so schlecht war. Ich vermisse Miho und Honda jetzt schon.“ Yugis Mutter stieß ihren Mann vorsorglich leicht mit dem Ellbogen in die Seite, dann nahm sie Yugi in den Arm. „Gar nichts. Sie sind tolle  Freunde, aber du brauchst auch noch die Aufsicht von Erwachsenen. Deshalb haben wir uns entschieden, dich hierher zu schicken. Hier  bist du gut untergebracht und in den Ferien kommst du heim und dann kannst du die ganze Zeit mit Miho und Honda verbringen.“ Sie ließ  ihn wieder los, doch ihr warmes Lächeln blieb. „Schau, wir haben dir extra so ein Netbook mit Internetanschluß geschenkt. Damit kannst du  mit ihnen chatten, Mails schreiben, telefonieren...“ „Danke, Mama. Das ist aber trotzdem nicht dasselbe. Ich verstehe einfach nicht, warum ihr es mir nicht zutraut, mich mit 16 allein um mich zu  kümmern. Ihr wart doch schon früher immer viel unterwegs.“ Yugi wußte natürlich, was jetzt kam, aber es war ein letzter Versuch, um das  hier doch noch abzuwenden. Ein allerletzter... Seine Mutter seufzte und sah Yugi traurig an. „Weil früher Großvater immer für dich da war. Doch jetzt... jetzt ist er nicht mehr. Wir können  dich nicht ganz allein daheim lassen. Wenn es nur um Tage ginge... Aber es geht hier teilweise um Monate. Du bist noch nicht bereit, ganz  alleine zu leben und dich um alles zu kümmern. Außerdem sollst du dich doch auch auf deine Hobbies und natürlich die Schule konzentrieren  können.“  Yugi sah den feuchten Schimmer in den Augen seiner Mutter und bereute es sofort, das Thema aufgebracht zu haben. Sugoroku Muto war ja  nicht nur Yugis Großvater, sondern auch ihr Vater gewesen, der diesen Sommer gestorben war. „Entschuldige bitte, ich wollte nicht...“ Yugis Vater räusperte sich dezent und legte einen Arm um seine Frau. „Es ist gut, Yugi. Wir alle wissen, daß das hier schwer ist. Für uns alle.  Aber du wirst uns nicht umstimmen. Ich gebe dir aber den guten Rat, das hier als Chance zu sehen, nicht als Ungerechtigkeit.“ Yugis Mutter nickte. „Komm, wir holen deinen Koffer, Yugi. Sollen wir dich noch auf dein Zimmer begleiten?“ Er schüttelte stumm den Kopf und trottete voran Richtung Ausgang. Gerade konnte er es einfach nicht mehr ertragen, daß auf ihn eingeredet  wurde, daß ja alles nur zu seinem Besten sei. Aber er fühlte nun mal anders, doch auch wenn seine Eltern es immer wieder sagten, sie  begriffen es wohl doch nicht. Wie sonst könnten sie ihm noch zwei wichtige Menschen nehmen? Unbewegt sah er zu, wie sein Vater den Rollkoffer aus dem Kofferraum des Benz wuchtete und nahm sein Gepäck mit einem kurzen Nicken an  sich. „Ihr solltet jetzt fahren. Euer Flug...“ „Yugi, wir rufen dich so schnell es geht an, versprochen“, meinte seine Mutter. „Denk an die Zeitverschiebung, Mama.“ Trotz allem mußte Yugi schief lächeln, als er daran dachte, wie oft seine Eltern ihn und seinen  Großvater unbeabsichtigt nachts aus dem Schlaf gerissen hatten. „Natürlich.“ Sein Vater trat zu ihm und wuschelte ihm mit einem Grinsen, das so gar nicht zu seinem dunklen Anzug passen wollte, durchs  Haar. „Soll ich dir nicht noch mit dem Koffer helfen? Er ist schwer.“ Yugi winkte ab. „Das schaffe ich schon. Fahrt, sonst verpaßt ihr wirklich noch euren Flieger.“ Seine Mutter umarmte ihn nochmal fest und sein Vater drückte kurz seine Schultern und wie immer saßen sie wenig später im Auto und fuhren  winkend davon. Auch Yugi winkte, bis das Auto aus der weiß gekiesten, tadellos geharkten Ausfahrt gefahren war. Sein Arm sank nach unten und Yugi seufzte. Zum ersten Mal stand bei der Abfahrt sein Großvater nicht neben ihm, einen Arm um seine  Schultern gelegt, eine Stütze stärker als Stahl. Yugi blickte sich nach einem Moment der Stille und Unbeweglichkeit um. Hinter ihm ragte das Wohnheim auf, vier Fensterreihen glänzten im  versiegenden Licht der untergehenden Sonne. Das Haus war in einem Pastellrosaton gestrichen, um die Fenster zogen sich verschnörkelte  Verzierungen in Weiß. Die Schule, die ein Stück weiter den Weg hinunterlag, war im selben Stil gestrichen, nur gab es statt Pastellrosa ein  kräftiges Rot. Spaliere waren an den Wänden befestigt und rote Rosen hatten diese erklommen. Alles wirkte westlich-romantisch und beruhigend altmodisch. Dahinter konnte Yugi gerade noch die Turnhalle erkennen, ein niedriges, langgezogenes Gebäude in  strahlendem Weiß, dessen flaches Dach und funktionales Design nicht zu dem seiner Geschwister passen wollte. Dahinter, so nahm Yugi an,  lagen die Außen-Sportanlagen, aber von hier aus konnte er nur die Wipfel mehrerer hoher Bäume erkennen. Tief einatmend drehte Yugi sich zum Eingang des Wohnheims und zog seinen Koffer hinter sich her. Dummerweise hatte sein Vater recht und  dieser war wirklich schwer. Yugi zog den zerknitterten Info-Zettel hervor und stellte fest, daß sein neues Zimmer im ersten Stock war und daß es keinen Fahrstuhl gab.  Immerhin mußte er nur eine Treppe hochsteigen, die mit einem dunkelroten Läufer ausgelegt war. Yugi seufzte, verfluchte seine Voreiligkeit in  Gedanken und fing an, den Koffer die Treppe hochzuziehen. Jedes Mal machte es „Pock“, wenn die Räder an die nächste Stufe stießen.  Yugi hatte es fast nach oben geschafft, als der Koffer sich plötzlich nicht mehr von der Stelle rührte.  Schnaufend beugte er sich hinunter und warf stirnrunzelnd einen Blick auf die Räder des Wagens. „Oh nein“, murmelte er, als er feststellte,  daß ein Rad in einer der Metallstangen hängen geblieben war, die den Teppich an die Form der Treppe anpassen sollten. Besagte Stange  hatte einen häßlich gezackten Bruch in der Mitte und hing auf der Seite noch fest in der Öse, die an die Stufe geschraubt war. Yugi rüttelte an  seinem Koffer, doch die Stange rührte sich nicht. Als er versuchte, die Stange an der Seite herauszuziehen, mußte er feststellen, daß sie sich  verkantet hatte dadurch, daß sie durch die Räder nach oben gedrückt wurde. Ächzend richtete Yugi sich auf und kratzte sich an der Wange, während er sich umsah. Niemand zu sehen hier... Links ging es zu den  Schülerzimmern, rechts zu Speisesaal und Küche, wie hilfreiche Schilder verrieten. Gerade überlegte Yugi, wo er Hilfe in Form eines Lehrers  oder Hausmeisters finden könnte (das war leider nicht ausgeschildert), als ein junger Mann in der schwarzen Uniform der obersten Klasse von  links kam und an der Treppe vorbei nach rechts wollte. Überrascht drehte er den Kopf, der von einer wilden Mähne weißen Haares umgeben war, die ihm fast bis zum Po hinabging. Während sein  Körper weiterging, schien sein Kopf nur schwer hinterherzukommen, während Yugi aus überraschten, braunen Augen gemustert wurde. „Ähm, Entschuldigung?“ meinte Yugi und zu seiner Erleichterung blieb der ältere Schüler stehen, wobei dieser ihn weiterhin ansah wie ein Insekt  unter dem Mikroskop. Es kostete ihm sichtlich Mühe, sich zusammenzureißen. „Was gibt’s denn?“ erkundigte sich der andere und und in seinen Augen blitzte eine Schärfe auf, die Yugi einen kalten Schauer über den  Rücken laufen ließ. Nur der Bruchteil eines Moments und es war vorbei und Yugi glaubte fast, sich das nur eingebildet zu haben. Er räusperte sich und lächelte verlegen. „Mein Koffer hat sich in einer der Teppichstangen verhakt und ich bekomme ihn nicht mehr los.“  Er deutete auf das Problem neben ihm. „Sie wissen nicht zufällig, wo einer der Lehrer ist?“ Der weißhaarige Junge trat näher und besah sich die Bescherung, dann streckte er beide Hände nach dem Koffer aus und hob diesen hoch,  als würde der nichts wiegen. Yugi klappte der Kinnladen herunter. „Uh... wow!“ Die Stange polterte samt Öse zu Boden und Yugis Gegenüber setzte den Koffer sicher auf dem Treppenabsatz ab. „Keine große Sache“, erwiderte er achselzuckend. „Wie heißt du? Dich hab ich hier noch nie gesehen.“ Yugi verneigte sich. „Ich heiße Yugi Muto. Vielen Dank für die Hilfe.“ „Ah, Yugi... Seltsamer Name. Ich bin Bakura.“ Erneut winkte dieser ab. „Ich sag dem Hausmeister Bescheid und du solltest deinen Koffer  wegbringen, es gibt gleich Essen.“ „Danke sehr!“ meinte Yugi nochmal und nickte. Er nahm die restlichen Stufen und ergriff seinen Koffer, bevor er zu den Zimmern der Schüler  ging. Auf seinem Weg hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden, doch als er sich umsah, konnte er niemanden entdecken. Kopfschüttelnd blickte er auf seinen Zettel. Zimmer 108 war für ihn reserviert. Yugi hielt sich also an der linken Wand mit den geraden  Zimmernummern, bis er vor 108 ankam. Die Zimmertür war aus poliertem Holz und auf einem kleinen, weißen Schild an der Wand daneben  stand unter der Nummer in exakten Kanji sein Name. Yugi zog den Schlüssel hervor, sperrte auf und trat ein.  Auf dem dunklen Holzboden lag ein dunkelblauer Teppich in der Mitte des Raumes, links davon ein Schrank, rechts ein schmales, aber  gemütlich aussehendes Bett. An der Stirnwand stand unter einem weißgerahmten Fenster ein Schreibtisch mit Stuhl. „Immerhin sieht es hier ganz gut aus“, murmelte Yugi zu sich selbst. Er schob den Koffer vor den Schrank und ging dann ans Fenster, von  dem er auf die Einfahrt und einen Teil des im englischen Stil angelegten Gartens sehen konnte, der das Wohnheim umgab. Yugi seufzte leise und lehnte seine Stirn gegen das kalte Glas. „Großvater, meinst du, ich werde hier zurechtkommen?“ fragte er wispernd. Ein lauter Glockenschlag ließ ihn zusammenzucken und er blickte hastig auf seine Armbanduhr. Das Abendessen! Yugi erinnerte sich an  Bakuras Worte und drehte sich vom Fenster weg. Er sollte sich besser beeilen. Nachdem er die Zimmertür abgeschlossen hatte, ging er den Weg zur Treppe zurück, doch dieses Mal ging er den Weg, den er zuvor Bakura  hatte einschlagen sehen. Zuerst hörte er es nur wie ein Rauschen aus der Ferne, dann wurde es immer lauter und besser verständlich:  Das Geschnatter, Geplapper und Gelächter von mehreren hundert Jugendlichen, die froh waren, die Schule für heute hinter sich zu haben. Yugi drückte eine Glastür auf und fand sich in einem großen Speisesaal wieder. Der Duft von warmem, würzigen Essen ließ ihm das Wasser  im Munde zusammenlaufen. Links und rechts standen lange Tische, an denen die Schüler saßen. Dank der Schuluniformen konnte Yugi sofort sehen, daß jeder Tisch  von einer Gruppe Schüler derselben Klassenstufe eingenommen wurde.  Yugi, der in seiner Eile völlig vergessen hatte, seine eigene Uniform anzuziehen, zog schnell einige fragende Blicke auf sich, während er  langsam zu den Tischen mit den grauangezogenen Schülern ging.  „Hey! Hey, du!“  Yugi erschrak und drehte sich nach der Stimme um und sah, wie ihm einer der Schüler winkte. Unsicher, aber dennoch dankbar, ging er näher.  „Ähm, hallo. Ich suche meinen Platz...“ „Hab ich mir doch gedacht, daß du neu bist“, erwiderte der Rufer, ein Junge mit einer wilden, blonden Mähne und einem schurkischen Grinsen.  „Setz dich hierher, hier ist noch frei.“ Er deutete auf den Platz neben sich und Yugi nahm die Einladung erleichtert an. „Danke. Ich hoffe, ich störe nicht.“ Sowohl der Junge, der ihn eingeladen hatte, als auch die, die in ihrer Nähe saßen, schüttelten den Kopf.  „Der Platz ist frei, schon seit Anfang des Jahres. Ungefähr seit Jonouchi daneben sitzt“, erklärte ein Mädchen, das Yugi gegenübersaß, grinsend. „He!“ empörte sich der Blonde neben Yugi. „Nimm das zurück!“ „Stimmt aber!“ erwiderte das Mädchen und streckte Jonouchi die Zunge heraus. Yugi verkniff sich ein Lachen, stattdessen lenkte er seinen Nachbarn lieber ab. „Nochmal danke. Ich hätte sonst nicht gewußt, wohin.“ Jonouchi winkte ab. „Wie heißt du?“ „Yugi. Yugi Muto. Freut mich, dich kennenzulernen.“ „Yugi also. Ich heiße Jonouchi und das da drüben ist die nervige Emi, unsere Klassensprecherin. Du gehst doch auch in die B-Klasse, oder?“ „Äh... Ja, ja in die B“, stimmte Yugi zu, nachdem er mental den Staub der Langeweile von dem heutigen Treffen mit dem Rektor geblasen und  darunter doch tatsächlich Informationen gefunden hatte. „Klasse! Du kannst auch den Sitzplatz in der Klasse neben mir haben“, freute Jonouchi sich. Yugi konnte erstmal nur nicken, denn bevor das Essen begann, richtete der Rektor ein paar Worte an die Schülerschaft. Anscheinend hatte  irgendwer Medizinbälle aus der Sporthalle entwendet und sie dann auf Baumäste gespießt. Yugi fragte sich, wie sowas überhaupt zu machen  war, wog schon ein kleiner Medizinball gefühlt mehr als er selbst.  Nach einer Ermahnung, solchen Unfug in Zukunft sein zu lassen, begann das Abendessen, das aus Nudeln mit verschiedenen Gemüsesoßen  bestand. „Er ist in Ordnung, aber seine Reden sind öde“, meinte Jonouchi, während er seinen Teller vollschaufelte und die Schüssel voller Nudeln  danach zu Yugi schob. „Wirklich?“ erkundigte der sich, während er sich auftat. „Ja,“ erklärte Emi und schob ihre schwarze Brille ihre Nase hinauf. „Unser Direktor meint, jeder hätte eine Chance verdient. Manchmal  auch zwei.“ Yugi nickte verstehend. Den Blick, den Emi Jonouchi bei ihrer Erklärung zugeworfen hatte, war ihm nicht entgangen, doch er sagte nichts. Die ersten Minuten des Essens vergingen in angenehmen Schweigen, durchbrochen höchstens von der Bitte, ob man nicht dieses oder  jenes bekommen könnte. Nachdem Yugi satt war, lehnte er sich zurück. Jonouchi vernichtete gerade seine dritte Portion Nudeln. Ungebeten mußte Yugi daran denken, daß sein Großvater sich immer Sorgen gemacht hatte, Yugi würde zu wenig essen und wenn er mal aß,  dann zu ungesund. Leider gehörten Hamburger wirklich nicht zu den vitaminreichsten Nahrungsmitteln auf der Welt. Er lächelte traurig, bis  Jonouchi ihn anstupste. „He, alles ok? Du kuckst so komisch.“ „Jonouchi, du hast das Einfühlungsvermögen eines Walroßes!“ ermahnte Emi diesen. Sie sah lächelnd zu Yugi und meinte: „Du wirst dich  schnell hier einleben.“ „Ähm, ja... sicher“, erwiderte Yugi und zwang sich zu einem halbherzigen Lächeln. Sie dachte also, er hätte Heimweh... und irgendwo stimmte  das sogar. „Ich mach mir nur etwas Sorgen, ob ich mit dem Stoff her zurechtkomme“, suchte er ein unverfänglicheres Thema. „Dein Tutor bringt dich schon in Schuß“, antwortete Jonouchi und schob seinen Teller von sich. „Tutor?“ Fragend blickte Yugi zwischen seinem Sitznachbarn und Emi hin und her. „Ja. Schüler aus den höheren Klassen, die gute schulische Leistungen erbringen, kümmern sich um Schüler aus unserer Klassenstufe.  Jeder von uns hat einen Tutor.“ Emi lächelte über ihr Wasserglas Yugi an. „Du bekommst auch einen, also keine Sorge. In wenigen Wochen  hast du alles aufgeholt, was dir fehlt.“  „Das klingt ja gut! Muß ich mich dazu irgendwo melden?“ erkundigte Yugi sich. Die Aussicht, seine Mathe-Rückstände aufzuholen, um nicht ganz so kläglich dazustehen, erleichterte ihn etwas. „Nein, er meldet sich bei dir“, erklärte Jonouchi und kippelte leicht. „Mann, wo bleibt der Nachtisch?“  Emi rollte mit den Augen und Yugi fragte sich, wo Jonouchi das alles ließ.  Eine Portion süßer Reiskuchen später war er dieser Frage noch immer nicht näher gekommen, aber dafür war er angenehm satt und freute sich  auf einen ruhigen, schläfrigen Abend. Vielleicht konnte er sogar noch kurze Emails an Miho und Honda schicken. Unwillkürlich lächelte er,  während er aufstand und Jonouchi zur Tür folgte. Yugi war nur wenige Schritte gegangen, da legte sich eine Hand auf seine Schulter und hielt ihn zurück. „He, Kleiner! Nicht so schnell!“ Yugi verspannte sich automatisch und drehte sich blitzschnell um, wobei er die Hand abschüttelte. „Uh, unentspannt!“  Verbissen blickte Yugi nach oben und blickte in das Gesicht einer jungen Chinesin. Sie hatte ihr schwarzes Haar in zwei Knoten hochgesteckt  und betrachtete ihn mit einem herablassenden Blick als sei er etwas, das sie im Begriff war zu kaufen. Ihre perfekt mit rosa Lippenstift  nachgezogenen Lippen kräuselten sich leicht. „Wirklich sehr ähnlich. Nur viel kleiner und putziger! Das ist doch perfekt, oder?“ Kalter Schweiß lief Yugi über den Rücken, als er die Gruppe von Mädchen bemerkte, die hinter der Chinesin standen. Sie waren alle verdammt  groß... und sie stimmten ihrer Anführerin zu. Langsam wich er nach hinten zurück und versuchte, unbemerkt nach hinten zu sehen. Wie weit  war es zu der verflixten Tür? „Stehengeblieben!“ Die Chinesin sprang beinahe neben Yugi und packte ihn am Arm. „Wo willst du hin? Wir sind hier noch nicht fertig.  Du wirst ab heute unser neues Club-Maskottchen sein. Das ist eine Ehre, klar?“ Yugi schluckte und spürte, wie ihm das Herz im Kopf trommelte. Er hatte keine Ahnung, was das werden sollte, aber er hatte das dringende  Bedürfnis, seine schrecklich kurzen Beine in die Hand zu nehmen und zu laufen, daß es nur so staubte. „Laß ihn los, Vivian! Er ist nicht mal einen Tag hier und du stürzt dich schon auf ihn wie der Wolf aufs Lamm.“  Yugi blickte erleichtert in die Richtung, aus der die entschiedene Mädchenstimme gekommen war. Seine Retterin hatte schulterlanges, braunes  Haar und blaue Augen, die gerade nur so blitzten, während sie Yugis Angreiferin, diese Vivian, vernichtend anblickte. Schnell streifte Yugi die Hand eben dieser ab und wich zurück, bis er außerhalb der Reichweite Vivians war. „Misch dich nicht ein, Mazaki“, raunzte Vivian und verzog das Gesicht. „Oder willst du ihn auch für dich?“ Yugi blickte zwischen den beiden hin und her und konnte die Blitze zwischen ihnen direkt fühlen. Das Mädchen neben ihm, Mazaki, stöhnte  schließlich leise und schloß die Augen, während sie kurz den Kopf schüttelte. „Dein Fanclub ist mir gleich. Aber du kannst doch nicht einfach Leute anspringen und festhalten, damit sie darin mitspielen sollen.“ „Es geht dich nichts an!“ Vivians Augen waren nur noch schmale Schlitze. „Solange ich noch Schülersprecherin bin tut es das sehr wohl. Das heißt also, du wirst dich bis zum Ende unserer Zeit hier damit abfinden  müssen, daß ich dich nicht alles tun lasse, was dir gerade in den Sinn kommt.“ Mazaki verschränkte die Arme vor der Brust und sah die  Gruppe vor sich streng an. „Du wirst hier niemanden überfallen oder zwingen, irgendetwas zu tun. Das nächste Mal frag lieber nach, ob jemand überhaupt mitmachen will.“ Yugi merkte, wie die Mädchen hinter Vivian sich langsam zurückzogen, schließlich folgte ihnen auch Vivian, wobei sie ihren Blick nicht von  Mazaki nahm und etwas murmelte, was Yugi nicht verstand, aber er spürte, daß es eine Beleidigung gewesen war. „Puh! Tut mir leid, daß sie dich so überrumpelt hat.“ Mazaki setzte sich auf einen der Stühle und schüttelte den Kopf, als könnte sie das eben  Geschehene genauso wenig fassen wie Yugi selbst. „Ich hätte sie noch vorher abfangen sollen, aber sie ist so...“ „Schnell?“ Dieser Einwurf kam von Jonouchi, der plötzlich neben Yugi stand. Er blickte verächtlich zur Tür. „Was hat Wong jetzt wieder angestellt,  Anzu?“ „Sie wollte deinen neuen Freund zum Club-Maskottchen machen.“ „Ehehe! Ich verstehe, wieso, aber...“ Jonouchi schüttelte den Kopf. Yugi hatte sich in der Zwischenzeit wieder gefangen. „Also ich verstehe es nicht. Könntet ihr mir das bitte erklären? Club? Maskottchen? Hä?“  Seine Augenbrauen stießen fast an seinen Haaransatz. „Vivian ist die Gründerin und Vorsitzende des offiziellen Atem-Fanclubs an der Schule“, erklärte Mazaki seufzend. „Das Teil ist ein massiver Störfaktor“, fügte Jonouchi hinzu. „Die haben echt nichts anderes im Kopf als Atem hier und Atem da.“ „Und wer ist Atem? Und wieso soll ich ihr Maskottchen sein?“ Yugi blickte fragend zwischen Mazaki und Jonouchi hin und her. „Atem ist ein Klassenkamerad von mir und ebenfalls Schülersprecher. Er sieht auch noch gut aus und ist deshalb bei den Mädchen sehr beliebt“,  antwortete Mazaki. „Oh.“ Yugi fiel dabei auf, daß Mazaki die schwarze Schuluniform der letzten Klasse trug, genauso wie Vivian, wie er sich nun erinnerte.  „So einen Mädchenschwarm gab es bei uns auch.“ Jonouchi lachte. „Jetzt fehlt er ihnen wohl, was?“ Er zwinkerte und Yugi lief hochrot an. „Ich meinte nicht mich!“ Mazaki lachte verhalten. „Jungs“, mahnte sie sanft, dann fuhr sie fort: „Du siehst Atem ähnlich, deshalb kamen sie wohl auf diese abstruse  Idee.“ Dann fiel ihr noch etwas ein und diesmal errötete sie. „Tut mir leid, ich heiße Anzu Mazaki. Und du?“ „Yugi Muto. Ich... sehe dem Schulschwarm hier ähnlich?“ Das war so schwer vorstellbar wie Schneemänner im Hochsommer auf dem Marktplatz.  „Ja, nur kleiner und netter“, erklärte Jonouchi grinsend. „Irgendwie kommt mir das bekannt vor...“ Yugi seufzte. „Ich werde ihnen so gut es geht aus dem Weg gehen.“ Anzu nickte zustimmend, dann stand sie auf. „Es war sicher ein langer Tag für dich, Yugi. Du willst dich jetzt sicher ausruhen.“ „Ja. Ich muß auch noch auspacken“, stimmte Yugi zu. „Komm mit, ich bringe dich zu deinem Zimmer und beschütze dich vor den gruseligen Atem-Fetischisten.“ Jonouchi gab Yugi einen Klaps auf die Schulter und schob ihn dann aus dem Speisesaal. Anzus Lachen verklang bald hinter ihnen.  Yugi mußte lächeln. Vielleicht würde es ja doch nicht so schlecht hier werden... 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