Crystal Riders von Rainblue (Reanimation) ================================================================================ Kapitel 4: Nuancen ------------------ Jade – Nuancen Vampire Knight – Shizuka Hio's Theme Ich schloss leise die Tür, die zwischen Wohnbereich und Büro lag, um Crystal nicht aufzuwecken und ging hinüber zur Fensterbank. Auf der Kerzenplatte zeichneten sich Wachsspuren ab, einige von ihnen hatten schon mehrere Jahrzehnte hinter sich. Achtsam entzündete ich die Dochte der verschiedenfarbigen Kerzen, von der jede ein Element repräsentierte. Waren alle vier im Ausgleich, ließ sich selbst für die unruhigsten Geister Frieden finden, hieß es. Und im Augenblick brauchte ich den dringender denn je. Wehmütig betrachtete ich die Schatten, die aus dem Tanz des neugeborenen Feuers mit der Dunkelheit erstanden und ließ den Duft des schmelzenden Wachses auf meine Sinne wirken. Wie sehr mich das alles an meine Heimat erinnerte und wie schrecklich verloren und hilflos ich mich bei dem Gedanken an sie fühlte, ließ ich in der Regel nicht zu. Nur jetzt, in diesem flüchtigen Moment, erlaubte ich mir einen zittrigen Atemzug, der die Tränen an die Oberfläche stieß. Jahre hatten an den Tagen und Nächten der Vergangenheit gezerrt und sie tiefer in die Bedeutungslosigkeit geschoben, aber auslöschen würde die Zeit sie niemals. Nicht die Winde, die die Blütenblätter von den Bäumen trugen und Teppiche aus rosafarbenen Schattierungen auf den Boden webten. Nicht den Dampf, der von heißen Quellen aufstieg und die Nacht in weiche Schleier hüllte, wo Glühwürmchen die letzten Reste des Sommers mit sich nahmen. Nicht die behutsamen Hände, die meine Taille umfangen hielten, während sich Schneeflocken in unseren Haaren verfingen, glitzernd wie taubehangene Spinnennetze im blauen Licht des Mondes. Und auch nicht das Lachen, das sich mit dem Geschmack von süßem Anko-Eis vermischte, in sonnengetränkten Nachmittagen, die außerhalb der immer gleichen weißen Laborwände wie das Paradies auf Erden schienen. Ich zählte bis zehn. Dann zog ich ein Stofftaschentuch hervor und tupfte meine Augenwinkel trocken, ehe ich mich von den Schatten und der Erinnerung abwandte und zum Aktenschrank trat. Final Fantasy Versus XIII Soundtrack – Noctis and Stella Eines musste man der bürokratischen Gesellschaft lassen; wenn es darum ging, einen weiteren Crystal Rider als solchen zu markieren, hatten sie die erforderlichen Dokumente in der Regel schon über Nacht fertig bearbeitet. Ging es um Angelegenheiten wie mein Ersuch auf die Genehmigung für Reisepässe, schien es auf einmal zehntausend Dinge zu geben, die auf-Leben-und-Tod-gleichen Vorrang hatten. Schnaubend zog ich das Zertifikat hervor und strich es auf dem Tisch glatt. Widerrufsvorbehalt, las ich mit aufeinander gepressten Lippen. Es war doch immer das gleiche. Ein falscher Schritt, ganz gleich wie klein und ungefährlich, würden die Ämter davon Wind bekommen, verfiel die Bewilligung ohne den Hauch einer Frist. Ich beschloss, mich nicht weiter darüber zu ärgern und ließ das schwere Stück Papier in eine Schublade fallen, die ich anschließend gut verschloss. Dann sank ich auf den Bürostuhl und beugte mich über den Ordner, den ich vor circa einer Stunde im Postkasten gefunden hatte. Crystal Adams war gebürtige Amerikanerin, lebte bei ihrer Mutter, Caren Adams, und hatte vor über zwei Jahren ihren Vater, Greg Adams, bei einem Unfall verloren. Ich überflog die Krankenakte, dann den Polizeibericht, fand jedoch nur eine spärliche Anzahl von Informationen zu dem Unglück. Gerade entfaltete ich einen Zeitungsartikel, als es gedämpft an der Tür klopfte. „Komm herein“, rief ich, schlug die Akte zu und schob sie unter die Formulare neben mir. Die Tür wurde zaghaft aufgedrückt, dann blinzelten mir rot geränderte, unstet opalisierende Augen entgegen. Ich musste wieder an das denken, was ich Jet gesagt hatte. Dass Crystal wie eine große Klangschale war, in der sich tausende von Tönen sammelten. Jetzt dachte ich dasselbe, nur in Bezug auf ihre Augen. Der weiße Kristall, in dem sich alles Licht brach, das ihm entgegenstrahlte. Sie räusperte sich einige Male, ehe sie näher kam. „Wie fühlst du dich?“, fragte ich sanft. „Etwas… benommen“, murmelte sie und starrte auf die Tischplatte. „So als hätte ich das gestern nur geträumt.“ Ihr Blick glitt hinüber zu den Kerzen. Ich stand auf und fischte den Schlüsselbund aus der Jackentasche, während auf die Tür zum Lager zuging. „Ich verstehe. Tut mir leid, dass ich dich gestern so vorgeschoben habe, aufgrund des Jubiläums stand ich ein wenig unter Zeitdruck.“ „Das ist schon in Ordnung“, stieß sie hervor. Ich musterte sie prüfend. So klein und dünn, fast durchsichtig. Dass ihre Augen so auffallend schillerten, gab ihrer Erscheinung etwas Abstraktes. Ein Aufruhr von Farbe im winzigen Blütenkelch einer Kirschrose. „Ich nehme an, du hast viele Fragen.“ Sie nickte mehrfach. Ich drehte den Schlüssel im Schloss, knipste das Licht an und wies Crystal mit einer Handbewegung an, mir zu folgen. Ein erstaunter Laut verließ ihre Kehle, als sie hinter mir in den Lagerraum trat, wahrscheinlich war sie auf dessen Ausmaße nicht gefasst gewesen. Was nicht überraschend war, da die Größe meines Büros den Gedanken verdrängte, dass wir uns immer noch in einem schlossgleichen Gebäudekomplex befanden. FF7: Advent Children Soundtrack - For the Reunion „Welche Kleidergröße hast du?“, holte ich sie aus Betrachtung mit offenem Mund, welcher gleich darauf ertappt zuschlug. „Äh… vierunddreißig.“ Ich trat hinüber zu einer Wand aus Schubkästen, rückte die Leiter zur Seite und zog den untersten Kasten vorsichtig auf. Eine Palette von mitternachtsblauem Uniformstoff in Plastikhüllen kam mir raschelnd entgegengerollt. Crystals verwirrten Blick im Rücken spürend, angelte ich drei heraus und ließ sie hinter mir auf den Boden fallen. „Ist das die Uniform, von der Ihr gesprochen habt?“, fragte sie und ich hörte deutlich die dezente Unsicherheit heraus, auch wenn sie sich scheinbar alle Mühe gab, sie zurückzukämpfen. „Genau“, erwiderte ich, warf die Schublade wieder zu und senkte einen schiefen Blick auf die Tüten, die ich auf dem Boden verteilt hatte. „Es ist wichtig, dass du sie in allen Unterrichtsfächern trägst, da… es hin und wieder zu Unfällen kommen kann.“ Sie schluckte, aber die Absicht ihre Augen aufzufangen und mit einem Blick die aufflackernde Angst zu besänftigen, wurde davon pariert, dass sie es vermied mich anzusehen. Also sprach ich stattdessen mit gesenkter Stimme weiter. „Die Uniformen sind feuerfest und aufgrund einer sehr fein gearbeiteten Kettenstruktur undurchdringbar wie eine Stahlweste, nur ohne das Gewicht. Sie weisen Flüssigkeiten wie Säure von sich und speichern Körperwärme, sodass selbst schlimmsten Minusgraden getrotzt werden kann.“ Achtsam schälte ich einen der Overalls aus der Folie, ließ ihn sich im Fall entfalten und hielt ihn Crystal vor die Brust. „Das dürfte schon passen. Versprich mir nur eines; falls du irgendwann einmal Schwierigkeiten mit der Uniform hast, falls sie zu schwer oder irgendwo gerissen ist, dann gib mir umgehend Bescheid.“ Sie nickte ernst und nahm den Stoff mit zittrigen Fingern entgegen. „Jade…“, hörte ich sie plötzlich flüstern, als ich mich gerade umgedreht hatte, um die übrigen Päckchen einzusammeln. „Was genau… hat es mit diesen Namen auf sich? Was meintet Ihr, als ihr sagtet, ich würde ‚einen Edelstein darstellen‘?“ „Auf dem Internat erhält jeder den Namen eines Edelsteins, beziehungsweise eines Minerals, damit niemand auf seine familiären Umstände, seinen gesellschaftlichen Status oder seine Herkunft hin reduziert werden kann. Hier sind alle gleich“, erklärte ich, während ich tiefer in den Lagerraum hineinging, Crystal folgte mir. „Allerdings… auch wenn das noch nicht ausgiebig erforscht ist und daher keine empirischen Beweise vorliegen, ist es möglich, dass jeder Crystal Rider auf dieser Welt tatsächlich einen Stein repräsentiert.“ „Wie meint Ihr das?“ Ich blieb vor einer weiteren Bastion aus übergroßen Setzkästen stehen und ließ meine Augen über die Codierungen schweifen, um aus dem Winkel einen Blick auf Crystals Kleidung erhaschen zu können. Das Mädchen schien etwas für Lilatöne übrig zu haben. „Es ist schwierig zu erklären. Vielleicht ein andermal, in Ordnung?“ „Ja, natürlich!“, beeilte sie sich zu sagen und errötete, woraufhin ich ein kleines Schmunzeln nicht am Ausbrechen hindern konnte. Fast wunderte es mich, dass Jet noch nicht wie ein Schatten hinter ihr stand. Tom Day - Who We Want To Be „Ich fürchte, du wirst dich von deiner alten Garderobe verabschieden müssen“, fuhr ich fort und schwang zwei nebeneinander liegende Schubladen auf, in einer stapelten sich Jeanshosen, in der anderen schlichte Oberteile. Mit flinken Fingern griff ich hinein und schleuste alles, was an Flieder über Pflaumen bis hin zu Auberginen erinnerte, heraus. „Ich mache mir sowieso nicht viel daraus“, meinte sie und rieb unauffällig über ihre Oberarme, als würde sie frieren. Ihre Augen flammten wieder auf und für einen Moment bildete ich mir sogar ein, sie würden Licht ausstrahlen, das sich in den Metallstreben zwischen den Regalreihen brach. „Aber es gäbe da etwas… etwas, das ich gerne von zuhause mitgenommen hätte.“ Bei den letzten Worten wurde ihre Stimme leiser und das Wort „zuhause“ klang wie ein zum ersten Mal gehörtes Fremdwort. „Darf ich fragen, was das ist?“ Sie schloss die Augen und stieß einen tiefen Seufzer aus, der ihre verkrampften Schultern absinken ließ. „Eine kleine Holzfigur, eine Eule. Mein Vater hat sie mir geschenkt.“ Dieses Mal war es das Wort „Vater“, das unter all den anderen Worten wie ein Glassplitter steckte und ihre Stimmbänder einzuschneiden schien, aber sie presste die Lippen aufeinander, um sich nicht in die aufkommenden Emotionen zu verrennen. „Ich verstehe“, entgegnete ich milde. „Ich werde dafür sorgen, dass du sie bekommst.“ Damit tastete ich nach einer der Lacktüten, die locker an die Leiter gehängt worden waren, und stopfte alles, was ich an Bekleidung gesammelt hatte, hinein, derweil ich die andere Seite des Raumes ansteuerte, wo sich Kolonien von etwas kleineren Schubkästen auftürmten. Crystal blieb wie vom Donner gerührt stehen. „Das… das wäre möglich?“, brauchte sie fassungslos hervor und dieses Mal konnte auch keine blutleere Unterlippe die Tränen daran hindern, ihren Weg über ihre geröteten Wangen anzutreten. „Selbstverständlich. Ich schicke gleich heute noch jemanden los. Gibt es sonst noch etwas, das du benötigst? Einen Laptop oder ein Handy?“ Gesetz dem Fall, ihre Mutter ist dazu bereit, die Gegenstände herauszurücken, fügte ich in Gedanken hinzu. Ich hatte schon oft erlebt, dass Elternteile meiner Schüler das Hab und Gut ihrer Kinder wie Löwen verteidigten, obwohl sie den dazu gehörigen Spross noch kurz zuvor Höchstselbst ihren vier Wänden verwiesen hatten. Es klingt paradox, aber in gewisser Hinsicht konnte ich diese diffusen Kurzschlussreaktionen nachempfinden. Mir war in all den Jahren aber auch nichts anderes übrig geblieben, als mich damit auseinanderzusetzen und anzufangen, Dinge zu verstehen, die sich nach außen hin jeglichem Verständnis entzogen. Und das ist die Grundlage der Kunst des Vergebens. „Ich… nein, nur die Eule“, sagte sie nach kurzem Zaudern. „Das ist alles, was ich brauche.“ „In Ordnung.“ Ich lächelte ihr aufmunternd zu und tatsächlich konnte auch sie sich ein kleines Mundwinkelzucken abringen, während sie den Ärmel über die Handfläche zog, um die Tränen abzutupfen. „Wenn es dir nicht zu viel wird, würde ich jetzt schon einmal damit anfangen, dir die allgemeine Organisation auf diesem Internat zu erläutern. Aber keine Sorge, du wirst genügend Zeit bekommen, dich an alles zu gewöhnen und es zu verstehen.“ Beim Sprechen machte ich mich daran, weitere Schubkästen zu durchforsten, bis ich ausreichend Unterwäsche und Socken gefunden hatte, ehe ich mich nach Jacken, Schals, Handschuhen und Mützen, sowie Schuhen umsah. „Okay“, nickte sie. „Zunächst einmal“, begann ich und warf ein Paar schwarzer Trainingsstiefel in eine neue Tüte, „das Naheliegendste; im Augenblick sind offiziell Schulferien. Das gilt auch für dieses Internat. Es steht den Schülern frei, ihre Familien zu besuchen, allerdings…“ Es dauerte keine halbe Sekunde, da erkannte ich an der Art, wie das Gewicht verlagerte, dass sie bereits wusste, wie mein Satz enden würde. „…gibt es nur wenige, die das an Anspruch nehmen. Daher läuft der Unterricht während der Ferienzeiten halbregulär weiter. Nichtsdestotrotz kannst du dich auch innerhalb dieser Tage jederzeit von den Kursen freistellen lassen, um zum Beispiel in die Stadt zu gehen.“ „In die Stadt?“, echote Crystal unverständlich. Wie durch Zufall erreichte ich genau in dem Augenblick die Regalreihe mit den kleinsten Kästen im ganzen Lagerraum. Ich öffnete den obersten und brachte ein schmales, silbernes Päckchen zutage. „Wie soll das funktionieren? Erkennen uns die Leute nicht als Crystal Rider?“ „Doch, zweifellos“, antwortete ich und reichte ihr die Packung. „Und darum ist es äußerst wichtig, dass du jedes Mal, wenn du das Internat verlässt, die hier vorher einsetzt.“ „Was ist das?“ Sie drehte den Pappkasten fragend in den Händen, als könnte sie etwas anspringen, sobald sie ihn öffnete. „Kontaktlinsen. Sie wurden mit einem speziell konstruierten magnetischen Feld verstärkt, das die immanente Energie des Kristallgens unterdrückt. Im Klartext bedeutet das, dass es das Strahlen unserer Augen dimmt.“ Normalerweise lächelten mich neue Schüler an dieser Stelle an, als hätte ich ihnen verkündet, nie wieder in ihrem Leben mit Matheaufgaben konfrontiert zu werden, aber Crystal erwies sich als Ausnahme der Regel, denn ihre Wimpern senkten sich lediglich ein Stück ab. Zuerst wollte ich etwas sagen, doch dann entschied ich mich dagegen, da sie nicht den Eindruck erweckte, ihre Gedanken mitteilen zu wollen, und fuhr einfach fort. „Was den Unterricht angeht… Aufgrund der Ferien und der Jubiläumsfeier haben viele Neulinge ihre ersten Fächer ebenfalls noch nicht kennen gelernt. Daher findet heute Nachmittag eine Probestunde für alle Anfänger statt.“ Als ich sah, wie sie sich kleiner machte, legte ich ihr eine Hand auf die Schulter. „Keine Angst. Das ist weder ein Test noch eine Musterung. Es geht nur darum, euch die Grundlagen unseres Lehrplans vor Augen zu führen.“ Ich fühlte, wie sie sich ein wenig entspannte. „Deinen Stundenplan werde ich dir im Laufe des Tages zukommen lassen, ebenso wie Materialen für die elementaren Fächer. Und im Übrigen… du möchtest sicher ein Bad nehmen, oder?“ Dieses Mal hellte sich ihre Miene doch auf und ich musste unweigerlich ebenfalls grinsen, weil ich Crystal trotz ihrer vielen Schichten, hinter denen sie sich versteckt hielt, richtig eingeschätzt hatte. Dieses Mädchen konnte ebenso leicht zum Weinen gebracht wie wunschlos glücklich gemacht werden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)