Liebe auf den zweiten Blick von Kalliope ================================================================================ Kapitel 5: Matthew und Kate II ------------------------------ Unbarmherzig klatschte der kalte, schottische Frühjahrsregen gegen die Fensterscheibe in dem Zimmer, das – seit sie denken konnte – immer ihr eigenes Reich gewesen war. Vor ihr stand die letzte Kiste, die noch nicht im Schlund des Möbelwagens gelandet war. Die letzten Habseligkeiten, die sie hinter Regalen gefunden und aus alten Schränken aussortiert hatte, lagen vollkommen durcheinander, nur ganz oben hatte sie ordentlich einen Bilderrahmen in ein altes T-Shirt gewickelt. Das Bild war erst einige Wochen alt, Matt hatte es ihr geschenkt, nachdem seine Geschwister sie beide tagelang mit ihrer neuen Kamera verfolgt hatte. Es war ein Bild aus glücklichen Zeiten, von denen Kate glaubte, dass sie sie niemals wieder erleben würde. Als es sanft an ihrer Zimmertür klopfte, musste sie sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer gekommen war. Sie schluchzte einmal auf und wischte sich die Tränen mit dem Ärmel ihres dünnen Pullovers ab, dann spürte sie auch schon Matt, der sie von hinten tröstlich in den Arm nahm. „Das Leben ist unfair“, sagte sie schniefend, drehte sich innerhalb seiner Arme um und drückte ihn fest an sich. „Ich will nicht weg von hier, ich will hier bleiben, bei dir.“ Bei diesen Worten schlang sie ihre Arme eng um Matts Hals und legte den Kopf an seine Schulter. Wie sollte sie nur jemals damit klarkommen, dass sie beide in Zukunft mehr als nur ein paar Minuten Fußweg trennen würden? London war so weit weg und wenn sie an die Metropole dachte, kamen ihr Drogendealer, Magermodels und die Queen in den Sinn – ausgerechnet die Königsfamilie hatte einen neuen Restaurator gesucht und ausgerechnet ihr Vater musste es sein! Sie liebte ihren Dad und gönnte ihm jeden beruflichen Erfolg, aber musste sie das aus Schottland wegführen? Kate konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten, klammerte sich an Matt und schluchzte herzzerreißend, bis sie zitternd zu Boden sank und ihn mit sich nach unten zog. „Alles wird gut, Kate.“ Beruhigend strich Matthew ihr immer wieder über den Rücken, doch es dauerte unendlich lange Minuten, bis sie sich wieder gefangen hatte und einen Blick auf die feuchten Flecken an seinem Oberteil warf, die ihre Tränen hinterlassen hatte. Mit geröteten Augen schaute sie ihn traurig an und ließ ihre Arme sinken. In seinen Augen spiegelte sich ihr eigener Schmerz, doch im Gegensatz zu ihr versuchte er es mit einem aufmunternden Lächeln. „Wir können uns doch in den Ferien immer gegenseitig besuchen kommen, telefonieren und schreiben. Nur weil du wegziehen musst, bedeutet das nicht, dass wir uns nie mehr sehen können.“ „Aber du bist nicht mehr in der Nähe und was soll ich denn machen, wenn du nicht mehr da bist?“ Seit sie alt genug war, um mit anderen Kindern zu spielen, waren Matt und sie immer unzertrennlich gewesen. Im Sandkasten hatten sie mit denselben Förmchen gespielt, im Kindergarten stets nebeneinander geschaukelt und in der Schule klebten sie erst recht aneinander wie siamesische Zwillinge. Immer hatten sie am selben Tisch gesessen, sich Buntstifte und Pausenbrote geteilt und die anderen Kinder, die sagten, dass Jungs oder Mädchen doof waren, eines Besseren belehrt. „Ich vermisse dich jetzt schon.“ „Oh Kate, ich werde dich auch fürchterlich vermissen.“ Matthews Lächeln begann zu bröckeln und kurz darauf saß er ebenso niedergeschlagen auf dem Holzboden und hielt ihre Hände in seinen. Obwohl sie sich so niedergeschlagen fühlte, vermochte seine Berührung ihr Herz schneller schlagen zu lassen. Eine angenehme Wärme breitete sich von seinen Fingern ihre Arme entlang durch ihren ganzen Körper aus. Das war etwas, was kurz vor dem letzten Weihnachtsfest begonnen hatte und seither immer öfter auftrat. Etwas, mit dem Kate sich bisher nicht tiefergehend auseinander gesetzt hatte, wenn sie nicht gerade nachts wach lag und hinaus in den Sternenhimmel guckte und darüber nachdachte, ob Matt wirklich mehr für sie war als nur ihr bester Freund und engster Vertrauter. „Ich glaube, ich kann ohne dich gar nicht leben.“ „Doch, das kannst du. London ist großartig, du hast dort ganz andere Möglichkeiten als hier.“ Kate hob den Blick und verzog das Gesicht kurzzeitig zu einer Grimasse. „Du klingst genau wie meine Eltern. Dad kriegt sich überhaupt nicht mehr ein wegen seines neuen Jobs und Mum … nun ja, du weißt ja, wie sie ist. Näher am Geschehen, näher am Puls der Zeit, näher am modernen Großstadtleben, London ist der beste Ort für uns.“ Eine Weile saßen sie einfach schweigend in dem leeren Zimmer, in dem sie unzählige Stunden ihrer Kindheit und Jugend verbracht hatten, über Hausaufgaben brüteten oder Matt sich wieder einer von ihren chaotischen Ideen geschlagen geben musste. Irgendwann kamen hastige Schritte von Stöckelschuhen die Treppe hinauf in den ersten Kopf und ihre Mutter streckte mit einem ungeduldigen Blick den Kopf durch die angelehnte Tür. „Katie, wir haben nun wirklich nicht ewig Zeit. Hallo, Matt, schön dich zu sehen, grüß deine Eltern von mir, ja? Kate, ihr müsst euch langsam verabschieden. Sobald die Küche komplett abgebaut und verladen ist, fahren wir los. Es dauert nicht mehr lange. Gott, immer diese Trödelei, wir sind schon gar nicht mehr im Zeitplan.“ Evaine McAllister warf ihre braunen Haare, die sie in einer modischen Kurzhaarfrisur trug, nach hinten und stöckelte wieder die Treppe hinunter, wobei man sie vermutlich durch das gesamte Haus brüllen hören konnte: „Charles, was zur Hölle treibst du so lange? Ich habe uns für heute Abend einen Tisch reserviert und ich werde mein erstes Fünf-Sterne-Dinner nicht verschieben, nur weil du mit der Elektronik vom Herd nicht zurechtkommst!“ „Wir sollten jetzt wohl besser nach unten gehen, deine Mutter klingt ziemlich gereizt.“ Sie nickte, verschloss die Kiste und warf noch einen letzten Blick in ihr altes Zimmer, ehe Matt hinter ihr die Tür zuzog und ihr nach unten folgte, wo sie draußen die Kiste in den Umzugswagen schob. Vor gerade einmal einem Monat hatte ihr Vater das neue Jobangebot erhalten und angenommen, danach war alles so schnell gegangen. Ihre Mutter hatte ihr Haus zum Verkauf angeboten und über eine Wohnungsmaklerin in London eine geräumige Wohnung in einem der besseren Viertel gefunden, die sie mit dem Erlös aus dem Hausverkauf kaufen würden. Schneller, als Kate sich an den Gedanken gewöhnen konnte, wurde sie an der Schule umgemeldet und der Umzugswagen stand vor der Tür. Die Zeit mit Matt, die ihr noch geblieben war, war viel zu kurz gewesen. Hinter ihnen kamen Kates Vater und der Nachbar mit dem Herd und verstauten ihn ebenfalls hinten im Möbelwagen, dann verabschiedeten die beiden Männer sich mit einem Handschlag voneinander. Dann scheuchte Kates Mutter ihren Ehemann auch schon hinter das Steuer des LKWs, den sie sich gemietet hatten, kehrte zur Haustür zurück und schloss sie zum letzten Mal ab. „Das wäre geschafft. Also mach’s gut, Matthew. Kate, beeil dich.“ Mit der Handtasche im Schlepptau ging sie zum Familienauto und winkte ihrem Mann zu, woraufhin dieser den Motor startete und schon einmal vorweg fuhr. Kate blickte ihrem besten Freund tief in die Augen, dann kamen ihr erneut die Tränen und dieses Mal ließ sie sich nicht mehr von ihm beruhigen. „Ich vermisse dich jetzt schon! Ich hab dich so lieb, Matt.“ In seinen Augen konnte sie ebenfalls das feuchte Glitzern sehen und während ihre Mutter ungeduldig hupte, drückte sie ihm einen Abschiedskuss auf die Wange und ließ ihn los. Matt schaute ihr hinterher, schwieg, aber es gab auch nichts mehr, was er hätte sagen können. Sie beide teilten den Schmerz, der ihre jungen Herzen in zwei Hälften riss und Kate winkte ihm vom Beifahrerfenster aus zu, bis sie ihn nicht mehr sehen konnte und ihr Heimatdorf immer kleiner wurde, hinter den Hügeln verschwand und den Menschen mit sich begrub, dem Kate ihr Herz geschenkt hatte, auch wenn er das nicht mehr erfahren würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)