Wortlos von Jaelaki ([Naruto & Sakura]) ================================================================================ Kapitel 1: W O R T L O S ------------------------ »Es ist absoluter Unsinn zu behaupten, Trauer oder Schmerz ließe sich an der Anzahl von Tränen messen oder an Schreien. Der größte Schmerz lässt sich manchmal nur stumm ertragen.« J. E. App Als sie am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie als erstes einen pochenden Schmerz in ihrem Kopf. Wie betäubt setzte sie sich langsam auf, das unnachgiebige Holz der rauen Parkbank drückte ihr unangenehm in den steifen Rücken, dann spürte sie die ersten schwachen Sonnenstrahlen ihre helle Haut entlangwandern und realisierte erst danach wie mit einem Schlag, was eigentlich geschehen war. Was geschehen sein musste. Sie erstarrte augenblicklich bei dem Gedanken. Er war weg. Schwer schluckend vergrub sie ihre dünnen Finger im ungekämmten Haar. Etwas brannte ihren Rachen hinab, nahm ihr die Luft zum Atmen. Sie wusste, er würde nicht wieder kommen. Nicht für Konoha, nicht für Naruto und erst recht nicht für sie. Und sie wusste, dass sie es nicht akzeptieren würde. Konnte. Es tat weh. Verdammt weh. Aber das wollte sie sich nicht eingestehen, denn es hätte alles nur unerträglicher gemacht. Seine Entscheidung realer, endgültiger. Der Schmerz ließ sich ohnehin nicht in Worte fassen, nicht verbalisieren, nicht erklären. Sie sah ihn immer wieder vor sich, seinen Blick, diese verdammt dunklen, desinteressierten Augen. Obsidiane, die sich so gleichgültig über sie hinweg bewegt hatten, als wäre sie zu unwichtig, um sie länger als sie es erzwang im Fokus seiner Aufmerksamkeit zu behalten. Stetig eine gut fühlbare Spur herablassend. Eine Brise Nichtachtung. Ein Hauch kalkulierte Distanz. Die Erinnerung an seine nüchternen Worte nahm ihr die Luft zum Atmen, ließ ihren Brustkorb zuschnüren, ihre Rippen schmerzvoll zusammenpressen. Die Bedeutung hatte wortlos zwischen ihnen beiden gestanden. Und sie hatte verstanden. Sie, die mit Tränen verschleierten, großen, grünen Augen vor ihm gestanden hatte, ihre Worte, ihre Gefühle. Nicht wichtig genug. Es war ihm egal. Das Gefühl, dass ihre Leben nicht zusammenpassten. Dass alles aus Bruchstücken bestand, die sich nicht ergänzten, sondern überschnitten. Die sich überlagerten, an den Kanten übereinander schoben, ineinander verkeilten, sich gegenseitig zerknüllten, Schub um Schub zerstörten. Dass alles zu diesem Punkt hatte führen müssen, lag schwer auf ihren Gliedern, die sich nach der kurzen Nacht taub anfühlten, ungelenk, schmerzhaft begannen sie zu prickeln. Jetzt war da ohnehin nur Schmerz. Unerträglich. Brennend. Überwältigend. Vernichtend. Sie wusste nicht, wohin. Atemlos sprang sie auf, wischte sich fahrig über die brennenden Augen, sah sich wie auf der Flucht um, rannte überstürzt los. Es war unerträglich still um sie herum, ihre Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. Der Kies knirschte unter ihren dünnen Schuhen, der frische Wind peitschte ihr unbarmherzig ins gerötete Gesicht. Doch sie spürte es nicht. Die Morgensonne raubte ihr einen Wimpernschlag lang die Sicht, blendete sie einen Bruchteil lang, doch sie rauschte unbeirrt weiter durch die schmerzlich vertrauten Straßen. Der unvergleichliche Duft eines jungen Morgens in der unbewegten Luft. Mit einem kraftvollen, eleganten Sprung landete sie schließlich auf einem der Dächer. Warum? Warum ausgerechnet zu ihm? Warum zu dem peinlichsten, lautesten, chaotischsten Möchtegern-Hokagen aller Zeiten? Ihr Klopfen gegen die verschlissene Tür war zu schnell, um kontrolliert zu wirken, ihre Handbewegung fahrig. Sie zwang sich, nicht plötzlich zusammen zu brechen, ruhig zu atmen, nicht zu hyperventilieren. Es gelang ihr nur unzureichend, aber sie hielt sich stur auf den bebenden Beinen. Langsam öffnete sich endlich die knarrende Tür. Verschlafen sah er sie an, seine ungewöhnlich dunkelblauen Augen weiteten sich unwillkürlich, als er sie schließlich bewusst wahrnahm. Doch ehe er auch nur ein Wort artikulieren konnte, schluchzte sie unkontrolliert auf, stolperte einen Schritt auf ihn zu und klammerte sich an ihn. Weil. Weil nur er es vielleicht annähernd verstehen konnte. Weil er noch immer da war. Die morgendlichen Straßen Konohas, das Dorf, das langsam erwachte, der Tau noch frisch auf den dunkelgrünen Blättern der Bäume. Ihr bebender Atem und ihre Tränen, die zitternd in seinem Schlafoberteil versickerten. Er war nicht peinlich oder laut oder chaotisch. Er war ganz still, legte unsicher eine Hand auf ihren zierlichen Rücken und versuchte sie mit ungelenkem Streicheln zu beruhigen. Erst Minuten später löste sie sich peinlich berührt von ihm, starrte ungewohnt verlegen auf ihre und seine Füße. Wortlos bedeutete er ihr einzutreten. Das Chaos, das sie drinnen empfing, war nichts im Vergleich zu dem, was in ihr wühlte. Er kratzte sich trotzdem verlegen am Kopf, doch sie schüttelte nur schweigend den Kopf, während er ein paar Klamotten und Tüten und Packungen vom Sofa schob und ihr schwach grinsend den Platz anbot. Sie ließ sich stumm in die weichen Kissen fallen. Er neben ihr. Sie versuchte, Worte zu finden, doch jedes Mal, wenn sie Luft geholt hatte, kamen nur diese verdammten Tränen, schnürten ihr wieder die Luft ab und sie vergrub ihr Gesicht in den zitternden Händen. Überfordert tätschelte er ihr den Rücken. Stumm suchte sie seinen ehrlichen, offenen Blick. Und sie sah, dass er es plötzlich wusste, dass sich eine Erkenntnis in ihm gebildet hatte, ein Sinn, der die Situation umgriff, wie ein festes, verschnürendes Band. Mit einer langsamen Bewegung, ließ sich Naruto wie erschlagen zurück in das Sofa sinken, stützte seinen Kopf mit den Armen ab, griff sich unsanft ins goldblonde Haar und starrte wie mechanisch den Boden an. Er weinte nicht in diesem Moment. Aber sie spürte trotzdem, wie etwas in ihm langsam auseinanderfiel. Es war das Band, das sie drei verbunden hatte, das Sasuke mit starrem Blick losgelassen, achtlos weggeworfen hatte und nun standen sie beide alleine da. In den Händen das Band, dessen anderes Ende nur in eine dunkle Leere führte. Unwillkürlich fragte sie sich, wie er das schaffte. Irgendwie die Fassung zu bewahren, sich nicht in diesen Gefühlen zu verlieren. Der beißenden Enttäuschung, der plötzlichen Einsamkeit, der ernüchternden Leere. Dem Schmerz. Die Gefühle in ihr schienen sie innerlich zu zerreißen. Das Gefühl der Einsamkeit drohte sie zu ertränken und sie suchte beinahe panisch nach seiner Hand. Er zuckte kurz zusammen, doch er zog sie nicht weg. Und so saßen sie eine Weile da. Viel zu früh am Tag, übermüdet, stumm vor sich her starrend, schweigend, Hand in Hand. Wortlos. Am Anfang dachte sie, dass dieses Gefühl verebben würde. Das Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein. Das Gefühl der Einsamkeit. Das Gefühl des Verlusts. Mit der Zeit eben, die nun mal unweigerlich verging. Die immer verging. Dieses einschneidende Gefühl, das ihr den Atem raubte und die Präzision und die Kraft und den Schlaf und die Konzentration. Irgendwann wurde ihr jedoch klar, dass Zeit keine Wunden heilte, sondern nur mit einer dünnen, hässlichen Kruste bedeckte. Und dass diese Verlustangst, diese Panik, die sich plötzlich in gewissen Momenten an die Oberfläche kämpfte, nicht dauerhaft geheilt werden, sondern immer mal wieder über sie einbrechen würden. Am Anfang dachte sie auch, dass sie ihn vergessen, dass er ihr egal werden würde oder dass sie ihn zumindest verachten könnte. Irgendwann. Irgendwie. Jedes Mal, wenn sie ihn traf während ihrer verzweifelten Suche nach jener Vergangenheit, die sie verband, nach jener Freundschaft, die nicht genügt hatte, in den folgenden Jahren, wenn sie seine tiefschwarzen Augen erblickte, die mit Verachtung, Ignoranz und Einsamkeit getränkt waren, brach es über sie zusammen. Diese Erkenntnis. Die Erkenntnis, dass es nie wieder so sein würde, wie es gewesen war. Jedes Mal, wenn diese Erkenntnis sie zu überwältigen drohte, sie versuchte mit sich zu reißen, das Gefühl der Einsamkeit nahe daran war, sie zu ertränken, stand sie vor seiner Tür, gegen die sie dann vehement klopfte, die er schließlich wie selbstverständlich öffnete, um sie wortlos einzulassen. Meistens mitten in der Nacht. Dann standen sie wie Schatten im nur vage vom Mond erhellten Zimmer, schemenhaft, in der Ferne einzelne Sterne. Ohne ein Wort. Beieinander. Stundenlang, mitten in der nächtlichen Dunkelheit. Wortlos hatte sie ihn beim ersten Mal angesehen, als er irgendwann eine vage Geste Richtung seines Bettes gemacht hatte, mit einem übertrieben fröhlichen, breiten Grinsen. Sie hatte ihm fauchend eine Kopfnuss verpasst, er hatte wehleidig mit den Schultern gezuckt und war gähnend ins Bett gestiegen. Sein dunkelblauer Blick aus dem Fenster gleitend, die Arme waren locker hinter seinem Nacken verkreuzt gewesen. Hin und her gerissen, zwischen ihrer zornigen Sturheit und der verletzlich ehrlichen Kraftlosigkeit, hatte er wortlos wahrgenommen, wie sie schweigend neben ihm unter die Bettdecke gehuscht war und eine gezischte Warnung hinterher geschoben, die er aber lediglich mit lebhaft funkelnden Augen und einem infantilen Grinsen beantwortet hatte. Am nächsten Morgen verloren sie kein Wort darüber, aber das Gefühl blieb und es raubte ihr in den guten Nächten den Atem und in den schlechten auch den kompletten Schlaf. Unter ihren lindgrünen Augen lag regelmäßig ein tiefer Schatten. Doch er ließ sie einfach wortlos ein, wenn sie wieder mitten in der Nacht vor seiner Tür stand. Nahe spürte sie dann den trainierten Körper neben ihrem eigenen, den warmen Atem, der ihr in ruhiger Regelmäßigkeit über die Wange strich, seinen Arm, der ihr locker über der Hüfte lag. Sie hatte ihre kühle Stirn an seine Brust gelegt und versuchte ruhig zu atmen, die rasenden Bilder stur zu verdrängen. Es gelang nur teilweise. Sie suchte nach seiner Hand. Seine Finger waren rau, aber ungewöhnlich weich für einen so rasant in den Rängen aufsteigenden Ninja. Seufzend schaute sie zu ihm hoch, er erwiderte ihren Blick ohne ein Wort. So vieles stand zwischen ihnen. Ungesagt. Immer wieder drängten sich dunkle, wissende Augen in ihre Gedanken, Augen, die sie mal vorwurfsvoll, mal eiskalt musterten. Seine Augen waren ganz klar, ein durchdringendes Blau, wie der Himmel an einem frischen, sonnendurchfluteten Herbsttag, aber ernster als noch vor ein paar Jahren. Seine Gesichtszüge wurden markanter, der Körperbau muskulöser. Ihre Ausbildung unter Tsunade war kräfteraubend, unbarmherzig und ihr Anker. Sie schuftete täglich im Krankenhaus, überstand die härtesten Lektionen mit knirschenden Zähnen, aber ohne einen Ton des Klagens, gab nicht nach, schlug selbst nur noch kraftvoller zu, wenn das Leben seine Schläge austeilte. Sie konzentrierte sich auf die Gegenwart und noch intensiver auf die Zukunft, versuchte nicht zurückzuschauen. Sie war verdammt erfolgreich. Meistens. Doch es gab sie. Die Vergangenheit und diese ätzend schwachen Momente, wenn sie über ihr zusammenbrach. Naruto war chaotisch und laut. Aber er war ihr Anker, wenn der erste nicht stark genug war, um sie davor zu bewahren in Erinnerungen zu ertrinken. Wie in dieser kühlen Nacht, nachdem sie ihn einmal wieder nach jahrelanger hartnäckiger Suche gefunden, ihn nahezu angefleht hatten, mit nach Hause zu gehen, mit Tränen in den Augen. Ihre glänzenden, sehnsüchtigen, hoffnungsvollen Augen. Ihre Verzweiflung. Und ein Gefühl, das zwischen ihnen beiden hing. Sie verband. Und sie trennte. Es war so ein entscheidender Moment. Sie ahnte, wie es hätte sein können, wie es verlaufen wäre, wenn er mitgekommen wäre – und dann sah sie wieder mit einem Schlag, wie es war, die Gegenwart. Nicht ihre Erinnerungen. Es stand so vieles zwischen ihnen. Sie wollte ihn verachten, doch irgendetwas hielt sie mit beängstigender Kraft davon ab. Mental sah sie seine feinen Gesichtszüge immer wieder vor sich, den blassen Teint und den ungewöhnlichen Kontrast zu seinem dunklen Haar, dunkler als Ebenholz. Die langen, schwarzen Wimpern, die die faszinierend dunklen Augen, wie Obsidiane wirkten sie, umrahmten. Der zwölfjährige Junge mit dem abweisend kühlen Blick schob sich unter die Maske des zweiundzwanzigjährigen Nukenins. Ihre Erinnerung wieder untrennbar mit der jetzigen Realität verwoben. Doch sie waren keine Kinder mehr. Er war kein einsamer Junge mehr, der sich mehr schlecht als recht in der grausamen Welt hatte seinen Platz erringen müssen. Er war ein einsamer junger Mann. Die Leere, die ihn umfing und einnahm, raubte ihr aufs Neue fast den Atem. Die Leere, die aus seinen faszinierenden Augen gesprochen hatte, als er langsam seinen dunklen Blick gehoben und ausdruckslos auf sie gelenkt hatte. Wortlos. Und er ihnen einmal mehr wortlos den Rücken gekehrt hatte. Er hatte sich entschieden. Gegen sie. Gegen sie beide. Sie wollte Naruto endlich direkt sagen, dass es sinnlos war, einem Phantom hinterherzujagen. Dass die Vergangenheit vergangen war und ihrer dreier Freundschaft nur noch eine schmerzhaft-wundervolle Erinnerung. Dass nur noch sie beide übrig waren. In den Händen das Band, dessen anderes Ende nur in eine dunkle Leere führte. Sasuke hatte es losgelassen, sich davon losgerissen mit aller Gewalt, und er würde es nie wieder mit den ihrigen losen Enden verknüpfen. Sie wollte schreien und heulen, ihren ganzen schwelenden Frust, diese brennende Wut, die sie innerlich aufzufressen drohte, wenn sie dieses schwache Flackern in den azurblauen Augen wahrnahm, etwas, das ihr eiskalte Schauer über die Haut jagte, etwas, das ihr Herz schmerzvoll hämmern ließ, sie wollte alles hinaus brüllen, diese erdrückenden Gefühle mit einigen konzentriert explosiven Schlägen hinauskatapultieren und sie wollte ihm die Wahrheit, die zwischen ihnen stand wie eine unerschütterliche Mauer, ins Gesicht schreien. Aber sie konnte nicht. Nach der erfolglosen Mission, standen sie an der alten Brüstung, Narutos Wohnung zu ihren Rücken. Eine frische Brise brachte den Geschmack des nahenden Winters mit sich. Die kräftigen Baumkronen rauschten dunkel im stetigen Wind. Gelbe, orangerote Blätter segelten hinab und bedeckten den kargen Boden. Die sinkende Herbstsonne funkelte am Horizont, berührte ihre kühle Haut. Schweigend standen sie beieinander, so vertraut nahe, distanziert genug, um sich gerade so eben nicht zu berühren. Sie wollte ihn fragen, wann er endlich dieses lächerliche, kindische Versprechen vergessen würde, wann er endlich loslassen könnte. Und sie wollte ihm mit geschickt gezielten Schlägen Verstand einbläuen. Es lag ihr mit einer gepfefferten Ladung Ironie auf der Zunge, schmeckte fast bittersüß, sie ballte bereits ihre Hände zu Fäusten. Zu frisch und detailliert drängte immer wieder Sasukes Bild vor ihrem inneren Auge hervor. Die Begegnung krallte sich in ihrem Bauch fest, in ihrem Herzen. Wut, Enttäuschung, Leere fraßen sich ätzend durch ihren Körper. Wie eine zerstörerische Flut. Seine Entscheidung, immer wieder, seine Entscheidung. Gegen sie beide. Immer, immer wieder. Ihre Blicke trafen sich in diesem seltsamen Moment, als hätten sie sich gemeinsam an etwas erinnert, sahen sich lange an. Wortlos. Mit einem Ruck überwand er plötzlich die instinktiv behütete Distanz, wagte es jedoch kaum sie zu berühren und grinste sie nur so vertraut breit an. Melancholie zeichnete seine Gesichtszügen. Unwillkürlich hielt sie den Atem an, als er so vor ihr stand, so nah. Sie musste zu ihm hochsehen, um ihm in die Augen schauen zu können, sah diese königsblauen Sprenkel auf dem herbsthimmelblauen Hintergrund, der mit einem mitternachtsblauen exakten Kreis die Iris begrenzte. Es war ihr vorher noch nie aufgefallen. Ein ungestümes Funkeln lag darin, das zu brennen schien. Blau war keine kalte Farbe. Sie spürte seinen Atem im Gesicht, lehnte sich plötzlich instinktiv vor. Seine Augen waren ganz verhangen, ein dunkles, einnehmendes Blau, wie der Himmel an einem stürmischen Herbsttag. Sie zog ihn zu sich. Warm und rau lagen mit einem Male seine Lippen auf den ihrigen, pressend, fordernd. Ihre Zunge schmeckte Einsamkeit, Verlustangst, Enttäuschung, Zorn, Sturheit und Lust. Es raubte ihr den Atem. Atemlos schauten sie sich einen vagen Moment an, stolperten bebend in seine Wohnung ohne die stetigen Berührungen zu unterbrechen, die zwischen Erschütterung und Lust pendelten. Haltlos riss sie ihren Pullover über den Kopf, seinen pfefferte er irgendwo in die Ecke. Keuchend spürte sie seine warmen Finger auf ihrer erhitzten Haut, seine Lippen an ihrem Nacken. Er zog sie langsam ins Bett, sie kniete über ihm, beide Hände je rechts und links knapp über seinen Schultern. Sein Blick fuhr über ihre zierliche Figur, die sich Jahr um Jahr gestählt hatte, feine Muskeln zeichneten sich auf ihrem Bauch ab, blieb an ihren hellgrünen Augen hängen. Auf ihren Wangen spürte sie den prickelnden Hauch von Röte. Als er in sie eindrang, sah sie seine schwarzen, unergründlichen Augen vor sich. Sie keuchte. Sie versuchte die rasenden Bilder stur zu verdrängen, krallte sich in seine Schultern, spürte ihn in sich, seine kraftvollen Stöße, das Beben ihrer Körper, heiße Wellen durchdrangen ihren Körper, flossen ihn hinab und sammelten sich. Der Rhythmus hallte in ihr wider. Sie hörte ihrer beider schweren Atemzüge, spürte den dünnen, frischen Schweißfilm auf der Haut. Spürte jede seiner Regungen, den heißen Atem, hörte das rhythmische Rascheln des Bettes, spürte ihn grenzenlos, hemmungslos. Die Grenze zwischen Realität und Erinnerungen verschwamm. Sie spürte ihn und hauchte einen Namen. Den falschen. Am nächsten Morgen verloren sie kein Wort darüber. Sie redete sich ein, dass er es nicht wahrgenommen hatte, aber das Gefühl blieb. Sie schaute zu ihm hoch, er erwiderte ihren Blick ohne ein Wort. Es war falsch. Unerträglich. Brennend. Überwältigend. Vernichtend. Sie wusste nicht, wohin. Sie wussten beide nicht, wohin. Und vielleicht folgten sie deswegen immer wieder, immer weiter dem, der sie ohne Abschied zurückgelassen hatte. Ohne eine Entschuldigung. Ohne eine Erklärung. Dem, der sie zusammengeführt und unwissend eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen errichtet hatte. Am Anfang dachte sie, dass dieses Gefühl wieder verebben würde. Dieses einschneidende Gefühl, das ihr den Atem raubte und die Präzision und die Kraft und den Schlaf und die Konzentration. Am Anfang dachte sie auch, dass es – er ihr egal werden würde. Irgendwann musste sie erkennen, dass sie sich selbst belog. Sie sich beide. Sie wusste, er würde nicht wieder kommen. Nicht für Konoha, nicht für Naruto und erst recht nicht für sie. Und sie wussten, dass sie es nicht akzeptieren würden. Konnten. Sasuke würde nicht wieder zurückkehren. Und sie würde trotzdem nicht aufhören, auf ihn zu warten, zu hoffen, ihm immer wieder den Weg nach Hause zu zeigen. Weil sie nicht anders konnte. Doch das war nicht das, was so weh tat. Nicht mehr. Das, was eigentlich so schmerzte war, dass Naruto es wusste. Sie sah es in seinen sommerhimmelblauen Augen, wenn er in die Ferne schaute und sich unbeobachtet fühlte. Melancholisch, mit diesem Hauch Verlust in den Augen, einer Brise Ernüchterung und einem lauernden Schmerz. Dass er es wusste und sie dann trotzdem langsam zu sich zog, sie immer wieder unerwartet zärtlich küsste. Trotz allem. Sie wollte Sasuke einfach verzeihen und endlich loslassen. Aber. Es tat weh. Es tat verdammt weh. Sie sah es in seinen ehrlichen, himmelblauen Augen. Naruto wusste es und war trotzdem da. Selbst ein Gefangener seiner Erinnerungen, seiner Wünsche und Ängste und Träume. Es stand so Vieles zwischen ihnen. So viele ungesagten Worte. Und nur eines hatte sie zu viel gesagt. In einem unbedachten Moment. In einem verletzlich ehrlichen Moment. Doch sie standen einfach da. Seine Unterarme waren locker auf die Brüstung gestützt. Sie lehnte mit dem Rücken daran. Der frische Herbstwind spielte mit ihrem seidigem Haar, mit den chaotischen, blonden Haarsträhnen von ihm. Es war falsch. Sie sahen sich an, wussten es, doch keiner rührte sich. Diese Erkenntnis. Sie hatten mehr verloren als einen Teamkameraden, einen Verbündeten, einen Freund. Sie hatten eine gemeinsame Gegenwart, eine gemeinsame Zukunft verloren, stattdessen jagten sie einer Vergangenheit hinterher, die keinen Platz ließ für Zweisamkeit. Die Erkenntnis, dass es nie wieder so sein würde, wie es gewesen war. Und dass sie nie wissen würden, wie es gewesen wäre. Was hätte sein können. Einsamkeit, Wut, Enttäuschung, Verzweiflung. Alles war irgendwie erträglich. In den schlimmsten Momenten weinten sie nicht, sie schrien nicht. Sie warteten. Gemeinsam. Einsam. Wortlos. Weil sich der größte Schmerz manchmal nur stumm ertragen ließ. »Freundschaft ist weit tragischer als Liebe. Sie dauert länger.« Oscar Wilde Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)