Auf den zweiten Blick von Seira-sempai ================================================================================ Kapitel 1: Lucas Welt --------------------- Es war Montag, der erste Schultag nach den Ferien. Der Unterricht hatte noch nicht begonnen und Luca bereute schon, sich dazu entschieden zu haben, nach dem Realschulabschluss noch das Abitur zu machen. Am Abitur an sich war eigentlich nichts auszusetzen, aber hatte er unbedingt auf diese Schule gegen müssen? Das Wirtschaftsgymnasium, dessen Schulhof er gerade betrat, war in der ganzen Stadt das Einzige und er fuhr mit dem Bus jedes Mal eine Dreiviertelstunde, um zur Schule und wieder nach Hause zu kommen. Zum Glück wurde die Schülerbeförderung noch staatlich gefördert und seine Eltern mussten nur einen geringen Anteil der Monatskarte bezahlen, sonst hätte er wohl nie auf das Gymnasium gedurft. Es war nicht so, dass sie arm waren, aber sein Vater, pardon Stiefvater, gab das Geld lieber für andere Dinge aus. Zum Beispiel Alkohol, mit dem er sich regelmäßig das Gehirn wegsoff. Aber dagegen sagen würde Luca nichts. Er hatte noch Schmerzen vom letzten Wutanfall seines Stiefvaters und der war zwei Tage her. Der Sechzehnjährige ließ seinen Blick über das Schulgelände schweifen. In der Mitte des Pausenhofes stand ein großer, eingezäunter Springbrunnen. Um ihn herum waren einige Bänke aufgestellt. Es sah gemütlich aus, fand er. Nur war er nicht sicher, ob er diese Gemütlichkeit auch genießen konnte. „Was stehst du hier so blöd herum, du Schwuchtel!", rief eine laute Stimme hinter ihm. Thomas Lange. Sie hatten die gleiche Realschule besucht. Und aus irgendeinem Grund schien Thomas sich das Ziel gesetzt zu haben, ihm das Leben so schwer wie möglich zu machen. Luca seufzte. Hätte er doch nur eine Ausbildung gemacht. Aber woher hätte er denn wissen sollen, dass Thomas, der bis jetzt immer nur schlechte Zensuren gehabt hatte, es noch irgendwie auf die erforderliche Durchschnittsnote schafft. „Hey!", rief Thomas und holte zu ihm auf, „Hörst du schwer?" Er packte Luca an der Schulter und drehte ihn um, damit er ihn ansehen musste. Wie schon vor den Ferien hielt Thomas seine dunkelbraunen Haare kurz und seine grau-grünen Augen blitzten Luca angriffslustig an. Er war breiter gebaut als Luca, aber das war auch keine Kunst, so schmächtig, wie Luca war. Neben Thomas stand Leonie Koch, auch sie kannte Luca von der Realschule. Wie immer trug sie einen extrem knappen Minirock, ein weit ausgeschnittenes Top und Schuhe mit zwölf Zentimetern Absatz in auffälligen Farben. Ihre wasserstoffblonden Haare hatte sie im Nacken zusammengebunden und ihre hellbraunen Augen blitzten schadenfroh. „Ich rede mit dir, du Schwuchtel!" Thomas stieß ihn gegen die Schulter, woraufhin Luca zurückstolperte, dabei zu allem Überfluss auch noch über seine eigenen Füße fiel und auf dem Hintern landete. „Man, wie blöd kann man eigentlich sein?", höhnte Leonie, ehe sie und Thomas sich von ihm abwandten und das Schulgebäude betraten. Mit etwas Abstand folgte Luca ihnen. Als sie das Zimmer betraten, achtete er darauf, sich nicht in ihre Nähe zu setzen. Es waren noch keine weiteren Schüler da, sie waren die Ersten. Ein Mädchen mit schulterlangen, schwarzen Haaren betrat das Zimmer. Sie stellte sich kurz als Rebecka oder Becky vor, bevor sie sich ebenfalls einen Platz suchte. Ihr folgten weitere Schüler, aber Luca beachtete sie nicht weiter. Schweigend starrte er auf seine Bank und hoffte, der Unterricht möge endlich beginnen, bevor Thomas und Leonie auf die Idee kamen, ihn weiter zu schikanieren. Ein Junge mit verwuschelten schwarzen Locken und rotbraunen Augen setzte sich auf die Bank vor ihm, aber Luca traute sich nicht, ihn anzusprechen. Nach einer gefühlten Ewigkeit klingelte es endlich und der Lehrer, ein Mann mittleren Alters mit hoher Stirn, betrat das Zimmer. Dem Stundenplan, den er zugesendet bekommen hatte, zufolge hieß er Herr Peters und war ihr Mathelehrer. Als erstes prüfte er die Anwesenheit. Dazu nahm er die Klassenliste und einen leeren Sitzplan. Er rief immer einen Schüler auf und notierte sich dann auf dem Sitzplan, wo dieser saß. „Luca Anders", rief Peters, wie könnte es auch anders sein, seinen Namen als erstes. „Hier!" Luca hob meine Hand und zwang sich, ihm laut und deutlich zu antworten, damit keiner bemerkte, wie viel Schiss er eigentlich hatte. „Fynn Barthel", fuhr der Lehrer mit dem nächsten Namen fort. Der Junge vor ihm meldete sich. „Rebecka Bauer!" Das Mädchen mit den schulterlangen Haaren, das nach Luca das Zimmer betreten hatte, meldete sich. „Jan Baumann!" Ein großer, schlanker Junge mit dichtem, schwarzen Haar und dunkelblauen Augen, der sich hinter Thomas und Leonie gesetzt hatte, hob seine Hand. „Hier!" Peters rief den nächsten Namen auf: „René Feldmann!" Niemand antwortete. Verwundert sah der Lehrer auf und ließ seinen Blick durch die Klasse gleiten, bevor er wiederholte: „René Feldmann?" Die Tür wurde aufgestoßen und ein Junge mit kurzem, schokoladenbraunem Haar und grau-blauen Augen betrat das Zimmer. „Hier!", rief er mit einem breiten Grinsen im Gesicht und winkte dem Lehrer zu. Er war muskulös gebaut, woraus Luca schloss, dass er regelmäßig Sport trieb. Peters schaute ihn mahnend an. „Wo kommen Sie so spät noch her?" Der Junge, Luca ging davon aus, dass er René hieß, lächelte den Lehrer entschuldigend an. „Wir haben den Bus verpasst." Er ging zu Rebecka und setzte sich auf den freien Platz zu ihrer Rechten. „Hallo Schatz", begrüßte sie ihn mit einem Kuss auf die Wange „Ich habe schon befürchtet, du kommst heute gar nicht mehr." Einen Augenblick war es ruhig, Peters notierte Renés Namen auf dem Sitzplan und wollte gerade den nächsten aufrufen, als er stockte. „Wir?", fragte er verwirrt. René deutete auf die immer noch geöffnete Tür, durch die gerade ein weiterer Schüler trat. Er war ähnlich muskulös wie René, hatte schulterlanges, schwarzes Haar, leuchtend grüne Augen und einen Gesichtsausdruck so grimmig, dass Luca am liebsten vor ihm zurückgewichen wäre. Er trug dunkle Klamotten und seine Ausstrahlung hatte etwas düsteres, raubtierartiges. Er wirkte fast schon gefährlich. Peters schien es ähnlich zu gehen. Seine Hände verkrampften sich um den Tisch und er schaute den Schüler erschrocken an. „Nicholas Lemke", antwortete der Junge ungefragt und ließ sich auf den Platz hinter René fallen. „Das ist ein schlechter Scherz", erklang Jans Stimme „Das können die uns nicht antun." Er schaute Nicholas erschrocken an. „Was ist denn los?", wollte sein Banknachbar, ein Junge mit mitternachtsblauen Augen und etwas kräftigerem Körperbau, wissen. „Der Typ ist gefährlich!", flüsterte Jan so leise, dass Luca ihn kaum verstand, „Ich bin mit ihm auf die Realschule gegangen. Er war in meiner Parallelklasse. Vor drei Jahren hat er drei Sechzehnjährige krankenhausreif geschlagen, weil sie ihm irgendwie dumm gekommen sind." „Stimmt das?", wollte Thomas wissen. Er hatte sich zu den Beiden umgedreht. Als diese ihm nicht antworteten, schaute er zu Nicholas. Dieser hob seine Schultern. „Stand sogar in der Zeitung", meinte er gelassen, bevor er seinen Stuhl zurückschob und seine Füße übereinanderschlug und auf dem Tisch platzierte. Peters starrte ihn erschrocken an, ermahnte ihn aber nicht, sondern vervollständigte seinen Sitzplan. Hinter Nicholas saßen Zwillinge, mit auffälligem, rotem Haar, das so rot war, dass es nur gefärbt sein konnte. Die Beiden lachten, als der Lehrer nichts gegen Nicholas' Respektlosigkeit unternahm. Luca hörte ihm nicht weiter zu, zu sehr war er von Nicholas fasziniert. Der Schwarzhaarige war gefährlich, das wusste er, aber er konnte seine himmelblauen Augen trotzdem nicht von ihm abwenden. Ihm gefielen die tiefschwarzen Haare, die so ganz anders waren, als seine goldblonden Locken, die mal wieder geschnitten werden mussten. Wenn er doch auch so einen Körper hätte, wie dieser Nicholas, dann würden ihn die Anderen bestimmt in Ruhe lassen. Aber nein, er musste einen kleinen, schmächtigen Körper haben, in dem ihn sogar Mädchen überragten. Als es klingelte, wies sie Peters noch einmal darauf hin, dass am Freitag der Klassensprecher gewählt wurde, dann entließ er die Schüler. Einige der Schüler verließen das Zimmer, um in den Hof zu gehen, andere begannen, mit ihren Mitschülern zu quatschen. Nur Luca blieb auf seinem Stuhl sitzen. Gern wäre er zu den Anderen gegangen, aber er traute sich nicht. Zu oft war er abgewiesen worden. Thomas schlenderte zu ihm rüber und begann, seine Schultasche zu durchwühlen. Luca hinderte ihn nicht daran. Er hatte längst gelernt, dass er sich nicht gegen Thomas wehren konnte. Dieser grinste, als er Lucas in Frischhaltefolie eingewickelte Pausenbrote fand und sie mitnahm. Luca seufzte. Wieder ein Tag, an dem er nichts essen würde, aber das war er bereits gewohnt. Den musternden Blick, den Nicholas ihm zuwarf, bemerkte er nicht. Mit dem Gedanken, dass sein Stiefvater heute hoffentlich nicht zu Hause war, ließ er sich, mit den Armen seinen Kopf bettend, auf die Bank fallen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)