Auf den zweiten Blick von Seira-sempai ================================================================================ Kapitel 4: Die verschwundenen Hausaufgaben ------------------------------------------ Am Donnerstag war Luca tatsächlich zu Hause geblieben. Jedoch nicht wegen der Sache mit der Toilette. Sein Stiefvater hatte ihn so sehr verprügelt, dass er den ganzen Tag im Bett verbrachte und sich kaum rühren konnte. Ihm tat alles weh. Und was hatte seine Mutter getan? Sie hatte einfach zugesehen, wie ihr Mann ihren Sohn verprügelte. Nicht mal ein „Jochen", wie sie ihn früher immer leise ermahnt hatte, wenn er zu weit ging, war über ihre Lippen gekommen. Er war seiner Mutter egal, das wusste er, war es schon die ganzen letzten Jahre gewesen. Für sie gab es nur Jochen, ihren Mann, den sie fast schon krankhaft anhimmelte. Seit er sie vor über zehn Jahren geheiratet hatte, war er fast schon ein Heiliger für sie. Und natürlich machte er keine Fehler. Deshalb hatte Luca auch immer etwas verbrochen. Schließlich würde ihr Jochen ja keinen Unschuldigen schlagen. Unter Schmerzen quälte er sich aus dem Bett. Langsam zog er sich an, darauf achtend, dass er die schmerzenden Stellen nicht zu oft berührte. Obwohl es warm draußen war, entschied er sich für eine lange Jeans. Zusätzlich zog er noch eine dünne Trainingsjacke über sein T-Shirt, die er aber offen ließ. Er wollte nicht, dass die anderen seine Verletzungen sahen. Sie würden ihn für noch schwächer halten, als er ohnehin schon war. Als er das Haus verließ, lief er in der Küche an seiner Mutter vorbei. Sie deckte gerade fröhlich vor sich hin summend den Tisch. Für zwei Personen. Sich und Jochen. Luca beachtete sie nicht. Er gehörte nicht in ihre heile Welt. Es war, als existiere er nicht einmal mehr. Luca hasste seine Mutter. Er wusste nicht, wann er damit angefangen hatte. Vielleicht hatte er sie auch schon immer gehasst. Auf dem Weg zur Bushaltestelle ging er an einem Bäcker vorbei und kaufte sich ein Brötchen. Gern hätte er sich ein Stück Kuchen oder eine Tüte Kekse geholt, aber dafür reichte sein Geld nicht. Er sollte sich dringend einen Job suchen. Von dem mickrigen Taschengeld, dass Jochen ihm gab, konnte er unmöglich leben. Vielleicht könnte er ja Zeitungen austragen oder so. Im Bus setzte er sich in die letzte Reihe. Er packte seine Schulsachen aus und überprüfte noch einmal seine Hausaufgaben. Als er sicher war, alles richtig gelöst zu haben, packte er sie wieder ein. Der Bus hielt, Luca stieg zügig aus und ging gleich ins Schulgebäude. Thomas und dessen Freunde hielten sich früh immer auf dem Pausenhof auf. Sie würden erst kurz vor der ersten Stunde das Klassenzimmer betreten und dann waren die anderen Schüler bereits da. Luca ließ sich auf seinen Platz fallen und wartete auf den Lehrer. Ihr Klassenleiter, Herr Peters, sie hatten wieder Mathe, betrat das Zimmer eine Minute nach dem Klingeln. Er hatte kleine Zettel dabei, die er auch gleich austeilte. „Schreibt bitte den Namen desjenigen oder derjenigen darauf, den oder die ihr euch als Klassensprecher wünscht", meinte er, ehe er sich an die Anwesenheitskontrolle machte. „Luca Anderson, wo waren Sie gestern?", fragte er, als er fertig war. „Krank", antwortete Luca. „Dann reichen Sie bitte ein ärztliches Attest ein. Die können es bei mir persönlich oder im Sekretariat abgeben", erklärte Peters, „Ansonsten muss ich Sie für den Tag als unentschuldigt fehlend eintragen." Luca nickte. Daran hatte er gar nicht mehr gedacht. Wo bekam er jetzt dieses Attest her? Zum Arzt konnte er jedenfalls nicht gehen. Er hatte ja noch nicht einmal seine Krankenkarte. Die bewahrte Jochen zu Hause im Safe auf. Sein Blick fiel auf den Zettel, der immer noch vor ihm lag. Wen sollte er als Klassensprecher vorschlagen? Als er aufsah, bemerkte er, dass die anderen alle schon einen Namen hingeschrieben hatten. Ihre Zettel lagen zusammengefaltet am Rand der Bank und warteten darauf, von Peters eingesammelt zu werden. Angestrengt dachte Luca nach, wen er vorschlagen könnte. Thomas und dessen Gang fielen aus. Nicholas ebenso. Er erweckte nicht den Eindruck, als ob er besonders viel Lust auf den Klassensprecherjob hätte. René vielleicht? Er schien ganz ok zu sein. Peters stand auf und begann, die Zetteln einzusammeln. Schnell schrieb Luca Renés Namen auf seinen, ehe er ihn faltete und auf die Bank legte. Als Peters alle Zettel eingesammelt hatte, legte er sie auf den Lehrertisch, mischte sie noch einmal gut durch und öffnete den ersten. „Fynn Barthel", las er den ersten Namen vor. Er ging zur Tafel und schrieb Fynns Namen auf. Dahinter setzte er einen Strick. Peters nahm den zweiten Zettel. „Wieder Fynn Barthel" Er setzte den zweiten Strich hinter Fynns Namen. Am Ende lag Fynn vorn, dicht gefolgt von René, den wohl auch einige gewählt hatten, weshalb Peters verkündete: „Der Klassensprecher ist Fynn Barthel und sein Stellvertreter René Feldmann." Die Klasse applaudierte und Rebecka küsste René auf die Wange. „Ich bin stolz auf dich, Schatz", sagte sie leise. Es klingelte und Peters hatte kaum das Zimmer verlassen, da stand Thomas schon auf und lief auf Luca zu. Vor dem Blonden baute er sich auf. „Wo warst du wirklich gestern?", höhnte er. Luca versuchte, ihn zu ignorieren, was ihm nur gelang, bis Thomas ihn an den Haaren packte und zwang, ihn anzusehen. „Du bist dir wohl zu fein zum antworten, was?" Er zerrte kräftig an Lucas Haaren. „Aber keine Angst, wir bringen dir schon noch bei, wie du dich zu benehmen hast." Luca wagte nicht, zu atmen. Er kniff seine Augen zusammen und wartete auf das, was Thomas als nächstes tat. Einige Sekunden passierte nichts, dann verschwand die Hand aus seinem Haar. Luca wollte gerade erleichtert aufatmen, als er hörte, wie Thomas lachte. Thomas packte ihn grob an der Schulter und stieß ihn vom Stuhl. Luca stöhnte vor Schmerz auf. Doch Thomas lachte nur wieder. „Geschieht dir recht", spottete er, dann wandte er sich ab und lief zurück zu seinen Freunden. „Tu mir einen Gefallen und verrecke endlich!" Im Klassenraum wurde es still. Einige sahen geschockt zu Thomas, doch niemand griff ein. Niemand half Luca. Der Sechzehnjährige blieb noch eine Weile am Boden liegen, ehe er sich zwang, aufzustehen. Es kostete ihn einiges an Mühe, aber es gelang ihm, zu verbergen, dass er Schmerzen hatte. Er ließ sich zurück auf seinen Stuhl fallen. Das Schlimme waren nicht die körperlichen Schmerzen. Damit konnte er umgehen. Es waren die seelischen Schmerzen, die Tatsache, dass er allein war. Das Klingeln riss ihn aus seinen Gedanken. Peters betrat den Klassenraum zur zweiten Unterrichtsstunde. „Legen Sie bitte Ihre Hausaufgaben heraus", verlangte er. Luca griff in seine Schultasche und erstarrte. Sie waren weg. Er begann, die gesamte Tasche auszuräumen, in der Hoffnung, sie nur wo anderes hin gepackt zu haben, fand aber nichts. Inzwischen war Peters bei ihm angekommen. „Keine Hausaufgaben?", fragte der Lehrer. Luca schwieg. Ihm würde eh keiner glauben, wenn er sagte, dass sie verschwunden waren. „Dann bleiben Sie heute nach der letzten Stunde hier und holen nach, was Ihren in Ihrer Vergesslichkeit entfallen ist", bestimmte Peters. Der Sechzehnjährige nickte nur. Widersprechen brachte nichts. Erwachsene mochten es nicht, wenn man ihnen sagte, dass sie Unrecht hatten. Das hatte er schnell gelernt. Ohne zu wollen, musste er an seinen Stiefvater denken. Wie würde Jochen wohl reagieren, wenn er heute wieder zu spät nach Hause kam? Er wollte es sich gar nicht vorstellen. Etwas Hartes traf ihn am Kopf. Erschrocken zuckte er zusammen und sah sich um, in der Hoffnung, herauszufinden, was das gewesen war. Doch er sah nichts. Er hatte sich gerade wieder dem Unterricht gewidmet, als er erneut getroffen wurde. Eine kleine Papierkugel fiel auf seine Bank. Er sah zu Thomas, der ihn unschuldig angrinste. Der einen Papierkugel folgten weitere. Hatte er jetzt nicht einmal im Unterricht seine Ruhe? Luca versuchte, sie so gut er konnte, zu ignorieren. Peters schaute in seine Richtung, schien ihn zu mustern. Dann drehte der Mann sich zurück zur Tafel und setzte seinen Unterricht fort. Hatte er denn gar nichts bemerkt? Wieder standen Luca die Tränen in den Augen. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schloss die Augen, um seinen Körper wieder unter Kontrolle zu bringen. Jetzt nur nicht losheulen, sagte er sich. Als er die Augen öffnete, stand Peters vor ihm. „Erst machen Sie keine Hausaufgaben und jetzt verschmutzen Sie das Zimmer", schimpfte er erzürnt, „Ich glaube, ich muss mich mal mit Ihren Eltern unterhalten!" Entsetzt starrte Luca den Mann an. War das sein Ernst? Hosted by Animexx e.V. 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