Auf den zweiten Blick von Seira-sempai ================================================================================ Kapitel 11: Lucas Entscheidung ------------------------------ Schweigend betrachtete Luca das Glas und die Tabletten auf dem abgenutzten Schreibtisch. Wenn er sie schluckte, war alles vorbei. Er müsste nicht länger leiden. Doch warum tat er es nicht? Immer wieder, wenn er die Augen schloss, sah er Nicholas' Gesicht. Die Worte, die der Schwarzhaarige gesagt hatte, hallten in seinen Ohren wieder. Luca wusste, wenn er sich jetzt das Leben nahm, gab er auf. Er würde in Nicholas' Augen noch erbärmlicher werden, als er ohnehin schon war. Warum störte ihn das? Sonst interessierte es ihn doch auch nicht so sehr, was Fremde über ihn dachten, denn das war Nicholas, ein Fremder. Der Sechzehnjährige ließ sich auf sein Bett fallen, welches laut quietschte, doch das störte ihn nicht weiter. Ihm tat alles weh. Jochen hatte ihn mal wieder verprügelt. Diesmal hatte er ihn sogar die Treppe hinuntergestoßen. Irgendwann brachte der Mann ihn noch um, wenn Luca es nicht selbst tat. Es wäre so einfach: Eine Handvoll Tabletten nehmen, schlucken und mit Wasser nachspülen. Dann musste er nur noch warten, bis sie begannen, zu wirken. Warum also zögerte er? Plötzlich verstand er. Er hatte Angst, Angst vor dem Tod und dem, was danach kam. Deshalb konnte er es nicht tun. Er würde wohl immer ein kleiner Feigling bleiben, der es zu nichts brachte. Nicht einmal umbringen konnte er sich. Draußen begann es zu Dämmern. Hatte er die ganze Zeit auf dem Bett gesessen und die Tabletten betrachtet? Anscheinend schon. Er hatte nicht bemerkt, wie viel Zeit vergangen war. Kurz ließ Luca den Blick durch sein Zimmer schweifen. Es war das am spärlichsten eingerichtete Zimmer im ganzen Haus, neben dem Dachboden und dem Keller. Die Möbel waren allesamt bunt zusammengewürfelt und hatten schon bessere Zeiten gesehen. Aber trotzdem war es noch wohnlich genug eingerichtet, dass das Jugendamt, sollte es entgegen allen Erwartungen noch hier auftauchen, nichts bemerken würde. Luca betrachtete seine Schultasche. Ob er nicht doch lieber hingehen sollte? Er hatte schon gestern geschwänzt und Montag war er aus der Schule gestürmt. Was die anderen jetzt wohl dachten? Eigentlich konnte es ihm egal sein, aber das war es nicht. Heute war Mittwoch. Das hieß, er würde wieder Sport haben. Neumann war zwar besser als die anderen Lehrer, aber würde er auch eingreifen, wenn Thomas' Gang ihn erneut schikanierte? Das hatte bis jetzt keiner getan. Alle, selbst die Lehrer, hatten es ignoriert. Hatten es nicht sehen wollen. War Neumann wie sie? Luca wusste es nicht. Schwerfällig erhob er sich vom Bett. Einmal würde er es noch versuchen, beschloss er. Nach dem Sportunterricht würde er zu Neumann gehen und mit ihm darüber sprechen. Entweder der Mann half ihm, was Luca hoffte, oder er würde heimgehen und die Tabletten schlucken. Wenn Neumann ihm nicht half, würde es keiner tun. Außerdem wusste Luca nicht, an wen er sich sonst wenden sollte. Vielleicht Rebecka? Immerhin hatte sie am Montag eingegriffen. Doch das hatte sie wahrscheinlich nur getan, weil Thomas und die anderen sie mit ihrem Verhalten genervt haben. Fynn würde ihm nicht helfen, das hatte er ihm am Montag klar gemacht. René? Luca schüttelte den Kopf. René war mit Nicholas befreundet und von diesem sollte er sich wohl besser fernhalten, auch wenn Nicholas ihm bis jetzt nichts getan und ihm sogar ein paar Mal geholfen hatte. Aber die Worte, die er ihn an den Kopf geworfen hatte, hatten weh getan. Nicholas stellte sich das alles so einfach vor. Das war es jedoch nicht. Luca hatte keinen, an den er sich wenden konnte, keinen, der ihm helfen würde. Der Sechzehnjährige beschloss, die Sportsachen gleich anzuziehen, dann musste er sich nur einmal vor seinen Mitschülern umziehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie die blauen Flecken sahen, war also halb so groß. Er stieg in seine lange Jogginghose und zog sich ein weites T-Shirt über den Kopf, das verbarg, wie viel er über die letzten Wochen hinweg abgenommen hatte. Dass er zu dünn war, wusste er, immerhin konnte er seine Rippen sehen. Aber wo sollte er genügend Essen herbekommen. Seine Realschule hatte eine Kantine gehabt, wo Luca, als Dankeschön dafür, dass er der Köchin jede Mittagspause geholfen hatte, umsonst etwas bekommen hatte. Eigentlich war das illegal und die Köchin hatte sich strafbar damit gemacht, Luca hingegen war ihr unglaublich dankbar gewesen. Er zog sich eine Joggingjacke über, bevor er seine Schultasche packte. In die Sporttasche legte er sie Sachen, die er nach dem Unterricht anziehen würde und die Turnschuhe. Die Tabletten versteckte er in seiner Matratze. Diese hatte an der Unterseite einen kleinen Riss, durch den er sie Pappschachtel problemlos hineinschieben konnte. Dort würde sie keiner suchen. Die Aspirin hatte er an der gleichen Stelle versteckt. Dann schlick er leise die Treppe hinunter zur Haustür. In der Küche blieb er stehen. Jochen und seine Mutter schliefen noch, konnten aber jeden Augenblick aufstehe, weswegen er nur einen Apfel aus der Obstschale und ein Brötchen vom Vortag aus dem Brotschrank nahm. Zu mehr reichte die Zeit nicht, denn oben öffnete sich gerade die Schlafzimmertür und es waren Schritte zu hören. Schnell stopfte Luca beides in seine Schultasche und verschwand aus dem Haus. Er war zwar viel zu früh, aber noch war es Sommer und draußen relativ warm. Da konnte er ruhig eine halbe Stunde an der Haltestelle warten, bis der Bus eintrudelte. Im Winter würde es schwieriger werden. Aber vielleicht lebte er dann ja auch nicht mehr. Noch war es nicht zu spät, umzukehren. Er könnte, wie er es gestern getan hatte, den Tag durch die Stadt spazieren und am Nachmittag so tun, als sei er in der Schule gewesen. Unentschuldigte Fehltage hatte er eh schon genug. Da kam es auf den einen auch nicht mehr an. Der Bus hielt an der Haltestelle und Luca zwang sich, einzusteigen. Einmal, hatte er beschlossen, würde er es noch versuchen. Also konnte er jetzt nicht weglaufen. Wenn er jetzt weglief, würde sich nichts ändern. Aber wenn er zur Schule ging und mit Neumann sprach, bestand zumindest die Möglichkeit, dass der Mann ihm half, egal wie unwahrscheinlich es war. Es war besser, das Ganze hinter sich zu bringen, kurz und schmerzlos, als es ewig vor sich her zu schieben. So hatte er heute Abend wenigstens Gewissheit, ob sich etwas änderte oder er die Tabletten schluckte. Vor der Turnhalle traf er Nicholas, der mit René direkt neben dem Eingang am Gebäude lehnte und sich mit ihm unterhielt. Von Rebecka und den Zwillingen war nichts zu sehen, aber sie waren wahrscheinlich noch nicht da. Unsicher blieb Luca stehen. Sollte er jetzt hineingehen oder war es besser, zu warten, bis die beiden nicht mehr da waren. Innerlich schüttelte er den Kopf. Das war lächerlich. Weder René noch Nicholas hatten ihn bis jetzt angegriffen. Nicholas' Worte waren immer erst gefallen, nachdem Thomas ihn mit seiner Gang fertiggemacht hatte. Und das war heute noch nicht passiert. Luca zwang sich, seinen Kopf zu heben und aufrecht an den beiden vorbeizugehen, die ihn zwar warnahmen, aber nicht weiter beachteten. Er konnte die Turnhalle ungehindert betreten und auch in die Kabine ließ man ihn, ohne zu murren. Allerdings war außer ihm auch nur Fynn da und dieser ignorierte ihn, so gut er konnte. Nach und nach füllte sich die Umkleide, doch bis jetzt hatte Luca seine Ruhe. Thomas und dessen Gang waren zwar anwesend, schienen aber anderweitig beschäftigt zu sein, jedenfalls standen sie mit zusammengesteckten Köpfen in der Ecke und schienen über etwas zu diskutieren. Im Unterricht bemühte Luca sich, so gut er konnte mitzumachen, was nicht besonders leicht war. Jede Bewegung schmerzte. Auch Neumann schien das bemerkt zu haben, sprach ihn jedoch nicht darauf an. Überhaupt schien er den Mann heute nicht zu interessieren. Lucas Mut sank, je mehr Zeit verging und am Ende der Stunde überlegte er, ob es überhaupt noch sinnvoll wäre, Neumann anzusprechen. Immerhin schien es ihn nicht zu interessieren. Doch Luca hatte beschlossen, es zu tun, also würde er es auch durchziehen. Kaum war der Unterricht zu Ende und seine Mitschüler auf dem Weg in die Umkleiden, ging er unauffällig zu Neumanns Aufenthaltsraum. Umziehen würde er sich erst später, wenn die anderen weg waren. Vor der geschlossenen Tür blieb er stehen. Sollte er wirklich? Noch konnte er zu den anderen gehen und tun, als sei nichts gewesen. Aber dann würde sich nichts ändern. Entschlossen hob er seine Hand und wollte gerade anklopfen, als ihm von hinten etwas auf den Mund gehalten und er zurückgezerrt wurde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)