Auf den zweiten Blick von Seira-sempai ================================================================================ Kapitel 26: Belauscht --------------------- Am nächsten Tag, einem Donnerstag, wartete Luca wieder mit seinem vom Bäcker gekauften Brötchen eine halbe Stunde zu früh an der Haltestelle. Wie immer fuhr er die Dreiviertelstunde mit dem Bus zur Schule und betrat das Schulgelände. Eigentlich hatte er vorgehabt, gleich ins Klassenzimmer zu verschwinden, dann hörte er allerdings die aufgebrachte Stimme von einem seiner Klassenkameraden aus der hintersten Ecke des Geländes, nur wenige Meter vom geöffneten Hintereingang, an dem Luca gerade vorbeilief, entfernt. Luca hielt sich nicht gern hier auf, weil Thomas und dessen Gang begonnen hatten, sich hier zu treffen und er ihnen unter keinen Umständen begegnen wollte, auch wenn sie ihn für den Moment in Ruhe ließen. Wer weiß, wie lange das noch hielt… Normalerweise lauschte Luca nicht, doch er glaubte, Nicholas‘ Namen gehört zu haben, weswegen seine Neugier geweckt worden war. „Seid ihr Wahnsinnig?“, rief in diesem Moment Jan, „Er bringt uns um! Er bringt uns alle um!“ Noch bevor Luca sich darüber wundern konnte, wen Jan wohl meinte, hörte er, wie Leonie schnaubte: „Jetzt stell dich nicht so an, du Feigling. Wir wollen doch nur den beiden Schwuchteln eine Lektion verpassen! Meine Eltern zahlen mir seit dem bescheuerten Anruf vom Direktor keinen Cent Taschengeld! Außerdem ist er selbst schuld, was musste er auch die Kleine Schwuchtel in Schutz nehmen!“ „Du hast keine Ahnung, wovon du redest“, seufzte Jan. Luca hörte Schritte. Schnell presste er sich gegen die Wand, genau an der Stelle, an der die geöffnete Tür ihn hinter sich verbarg. Doch er hatte Glück, denn die Schritte stoppten und kehrten wieder um, also lauschte er weiter. „Natürlich weiß ich, was ich tue! Außerdem, was kann Nicholas schon tun? Wenn er sich noch einmal prügelt, fliegt er von der Schule. Also pass auf, wir machen das so: Als erstes brauchen wir ein paar peinliche Bilder von Nicholas, am besten welche, auf denen man gleich sieht, dass er eine Schwuchtel is-“ Sie wurde von Jans lautem Aufschrei unterbrochen. „Nenn ihn nicht so! Hörst du? Nenn Nicholas niemals Schwuchtel oder anderes Schimpfwort für Schwule!“ „Wow“, mischte sich jetzt auch Thomas in das Gespräch ein. Seinem spöttischen Unterton entnahm Luca, dass er nicht sonderlich viel von Jans verhalten hielt. „Ich wusste gar nicht, dass du ihn so sehr magst…“ „Ich mag ihn nicht!“, schrie Jan so laut, dass Luca erschrocken zusammenzuckte, „Ich bin nur nicht lebensmüde. „ Er wurde etwas leiser und seine Stimme begann zu zittern. „Ihr habt ja sowas von keine Ahnung. Wisst ihr, es gab schon mal welche, die Nicholas als Schwuchtel bezeichnet haben. Damals war er vierzehn, sie waren sechzehn und zu dritt. Er hat sie so schlimm verprügelt, dass sie das Krankenhaus für Monate nicht mehr verlassen konnten. Zwei haben die Schule gewechselt und der eine, der geblieben ist, hat sich nie wieder in Nicholas‘ Nähe gewagt.“ Luca schluckte. Er wusste von dem Gerücht und Nicholas hatte am ersten Schultag auch bestätigt, dass es stimmte. Aber es auch Jans Mund zu hören, war etwas anderes, denn er konnte die Angst, die sein Mitschüler vor dem Schwarzhaarigen hatte, förmlich spüren. „Ihr habt ihn nicht gesehen, wie er rasend vor Wut auf die drei eingeschlagen hat, selbst, als sie schon am Boden lagen. Ihr habt ihre unnatürlich geknickten Beine, Arme und Finger nicht gesehen. Ihr habt das Blut nicht gesehen und nicht gehört, wie sie um Gnade gefleht haben. Nicholas ist ein Monster. Er macht seit über elf Jahren Kampfsport, wir sind ihm in keinster Weise gewachsen!“ Draußen war es still geworden. Luca hatte noch gehört, wie die einzelnen Personen nach Luft geschnappt hatten, doch jetzt hörte er kein Geräusch mehr. Lange war es still, bis Jan plötzlich mit fester Stimme sprach: „Ich mach da nicht mehr mit! Sucht euch einen anderen Idioten.“ Es folgten Schritte. So schnell er konnte, rannte Luca den Flur entlang und um die Ecke, bevor er seinen Schritt wieder verlangsamte und so tat, als sei er gerade erst gekommen. Das eben Gehörte machte ihm Angst. Er zweifelte keine Sekunde daran, dass Jan die Wahrheit gesagt hatte. So ängstlich, ja fast schon panisch, konnte nur jemand klingen, der es live miterlebt hatte und die beiden waren auf der gleichen Realschule gewesen. Was ihm aber mehr Sorgen machte, war, dass Nicholas nicht aufgehört hatte, als seine Gegner am Boden lagen. Luca kannte das von Jochen. Hatte Nicholas sich so sehr in seine Wut, in seinen Hass hineingesteigert, dass er nichts mehr von seiner Umwelt mitbekam oder war es ihm einfach nur egal gewesen? Luca wusste es nicht, genauso wenig, wie er wusste, wie er mit diesen neuen Informationen umgehen sollte. War Nicholas wirklich, das Monster, das Jan in ihm sah? Der blondhaarige wollte es nicht glauben. Nicholas hatte ihm geholfen, als alle anderen ihn im Stich gelassen, sich von ihm abgewandt hatten. Nicholas hatte ihn umarmt, etwas, was noch nie jemand getan hatte. Er lächelte, wenn Luca ihn morgens begrüßte. Er konnte einfach kein Monster sein! Als Luca das Klassenzimmer betrat, waren nur Rebecka und die Zwillinge anwesend, die ihn gleich stürmisch begrüßten. „Du bist ziemlich spät dran“, meinte Florian, während er ihn musterte. Der Blondhaarige hatte keine Ahnung, wonach er suchte, doch Florian schien es nicht zu finden, weswegen er nur schief grinste. „Genau“, meinte Fabian. Auch er hatte Luca gemustert. „Sonst bist du immer viel früher da. „Euch auch einen guten Morgen“, grüßte Luca, ehe er sich auf seinen Platz setzte. Ein kleinwenig war er verwundert. Normalerweise kamen die Zwillinge erst kurz vor dem Klingelzeichen. Sie waren nur eher hier, wenn sie irgendwelche Streiche planten, die eine gewisse Vorbereitungszeit brauchten. Aber ihren Gesichtern zufolge hatten sie noch nichts angestellt. Ein kleinwenig war Luca auch erleichtert, dass Nicholas noch nicht da war. Er hätte nicht gewusst, wie er ihm gegenüber treten sollte. Er hatte etwas Angst, was wohl auch verständlich war. Aber er war auch neugierig. Gern hätte er Nicholas gefragt, was damals wirklich passiert war, aber das würde er sich wohl nicht trauen. Also konnte er nur abwarten und hoffen, dass er auch so noch einiges aufschnappen konnte. Es wurde später, das Zimmer füllte sich immer mehr, aber von Nicholas war nichts zu sehen. Inzwischen war sogar René da. Langsam glaubte Luca nicht, dass sein schwarzhaariger Banknachbar noch kommen würde, schließlich fuhren er und René immer zusammen zur Schule. Ob Nicholas krank war? Jan betrat das Zimmer. Allerdings ging er nicht zu seinem Sitzplatz neben Martin, sondern ließ sich auf den Platz hinter Fynn, wo Luca früher gesessen hatte, fallen. Nicholas‘ Freunde, inzwischen waren sie wohl auch Lucas Freunde, beobachteten das mit einem Stirnrunzeln, sagten aber nichts. Rebecka flüsterte nur leise: „Es scheint, als sei einer von ihnen zur Vernunft gekommen.“ Rene nickte, bevor er grinsend meinte: „Da waren’s nur noch drei.“ Ihre Deutschlehrerin, Frau Schiller, betrat den Raum. Nach der allmorgendlichen Anwesenheitskontrolle, die seit dem Vorfall auf dem Schulhof vor jeder einzelnen Unterrichtsstunde stattfand, begann sie ihren Unterricht. Sie wunderte sich nicht über Nicholas‘ Abwesenheit, also musste er entweder entschuldigt sein oder krank und schon die Schule benachrichtigt haben. Es folgte die übliche Wiederholung. Diesmal musste Rebecka an die Tafel. Sie war in Deutsch recht gut, weswegen sie wohl auch keine schlechte Note bekommen würde. Auch Geschichte, Englisch und Französisch schienen ihr zu liegen. Nur mit dem mathematischen oder technischen Fächern hatte sie ihre Probleme. Tatsächlich bekam sie für ihre Zusammenfassung eine Eins Minus. Als sie sich vor Freude strahlend wieder hinsetzte, küsste René sie schnell auf die Wange. „Gut gemacht, Schatz“, flüsterte er. Die Zwillinge hinter Luca pfiffen anerkennend. Nur irgendwie konnte Luca sich denken, dass sie damit nicht Rebeckas gute Note, sondern den Kuss zur Belohnung meinten. Rebecka schien auf das gleiche Ergebnis zu kommen, denn im gleichen Moment flogen zwei Deutschbücher, sie hatte sich wohl das von René ‚geliehen‘, knapp über Lucas Kopf hinweg und trafen jeweils einen der Zwillinge. Luca zuckte erschrocken zusammen und hielt für einen Augenblick die Luft an. Hätte er sich nicht geduckt, hätten die Bücher ihn sicher getroffen. Er versteckte seine zitternden Hände unter dem Tisch und zwang sich, normal zu scheuen. Er wollte nicht, dass die anderen die Panik sahen, die diese Sache in ihm ausgelöst hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)