Auf den zweiten Blick von Seira-sempai ================================================================================ Kapitel 31: Nähe ---------------- Luca erstarrte. Er wusste, Andy wollte ihm nichts Böses. Er scherzte nur ein kleinwenig mit Nicholas. Trotzdem konnte der Blondhaarige seine Reflexe nicht unterdrücken. Er kauerte sich auf seinem Stuhl zusammen, das Gesicht hinter seinen Armen verbergend und am ganzen Körper zitternd. „Scheiße“, schimpfte Nicholas neben ihm. Das nächste, was Luca mitbekam, war, wie er an einen warmen Körper gezogen wurde und sich zwei starke Arme um ihn schlossen. „Shhh… ganz ruhig“, hörte er Nicholas leise flüstern. Erst jetzt bemerkte Luca, dass es sein schwarzhaariger Klassenkamerad war, der ihn gerade umarmte. Dann wurde er langsam von seinem Stuhl gezogen und nach hinten geschoben, bis sie an der Tür angekommen waren. „René, die Jacken“, wandte Nicholas sich an seinen besten Freund. Danach verließ er mit Luca die Pizzeria. Er zog den Blondhaarigen noch einige Meter weiter, in den hinteren Teil des Parkplatzes. Erst dort blieb er stehen. Mit einer Hand strich Nicholas Luca behutsam über den Rücken, während er ihn mit der anderen an sich drückte, damit er nicht zurückweichen konnte. „Ruhig“, sprach er leise, „Keiner tut dir was. Es ist alles gut.“ René, der ihnen gefolgt war, reichte Nicholas die Jacken. „Ist alles in Ordnung?“, fragte er hörbar besorgt. „Wir kommen gleich wieder“, versicherte Nicholas seinem besten Freund, „Bestell schon mal für uns mit. Ich möchte eine große Hawaii. Und bring die anderen zum Schweigen, egal wie.“ „Vielfraß“, lachte René, ehe er sich an Luca wandte: „Und was möchtest du?“ „Salami“, nuschelte der Blondhaarige. René schien es jedoch verstanden zu haben, denn er lief zurück zum Eingang, blieb auf halber Strecke stehen und meinte: „Geht klar.“ Nicholas reichte Luca die Jacke, ehe er sich seine anzog. Auch Luca schlüpfte schnell in seine Jacke. Inzwischen hatte er sich so weit beruhigt, dass er nicht mehr zitterte. Zögerns löste er sich von Nicholas und sah auf dem Boden. Auch wenn er es vielleicht nicht zeigte, er war seinem Klassenkameraden sehr dankbar. Dafür, dass er ihn schnell hier raus gebracht hatte und dafür, dass es dafür gesorgt hatte, dass drinnen keiner darüber sprach. „Hier.“ Nicholas reichte ihm ein Papiertaschentuch. Verwirrt blickte Luca zuerst zu Nicholas, dann zu dem Taschentuch, dann wieder zu Nicholas. Erst dann fuhr er sich mit dem Handrücken über seine linket Wange. Sie war nass. Er musste geweint haben. Sich leise bedankend nahm er das Taschentuch und befreite sein Gesicht von den Tränen. Als er fertig war, verstaute er es in seiner Hosentasche. Vielleicht brauchte er es noch. „Geht es wieder?“, fragte Nicholas. Luca nickte, dann schüttelte er den Kopf. Er hatte sich zwar wieder beruhigt, aber wenn er jetzt zurück zu den anderen gehen würde, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis wieder etwas passierte. Sein Gegenüber seufzte. „Gehen wir ein Stück“, schlug er vor, „Vielleicht fällt es dir so besser, dich zu beruhigen.“ Er führte Luca in einen schmalen Feldweg, der vom Parkplatz der Pizzeria abging, hinein. Eine Weile liefen sie schweigend nebeneinander her. Luca genoss die Ruhe. Und er genoss Nicholas‘ Nähe. In der Gegenwart des Schwarzhaarigen fühlte er sich seltsam wohl. „Willst du darüber sprechen?“, brach Nicholas die Stille. Luca schüttelte seinen Kopf. Selbst wenn er es wollte, wusste er nicht, was er sagen sollte. Außerdem wusste Nicholas schon mehr als genug. „So kann es mit dir nicht weitergehen“, sagte Nicholas, „Ich sehe doch, dass es dir nicht gut geht. Du kommst ständig mit neuen blauen Flecken in die Schule. Du fühlst dich nicht wohl, wenn dir jemand zu nahe kommt und weichst fast immer zurück. Bei ruckartigen oder unerwarteten Bewegungen zuckst du zusammen, genauso wenn jemand etwas lauter wird. Eben sah es so aus, als hättest du beinahe eine Panikattacke bekommen. So kann es nicht weitergehen.“ Luca schüttelte wieder den Kopf. „Bitte“, flüsterte er, „Ich kann nicht darüber sprechen.“ „Kannst du nicht darüber sprechen oder willst du nicht darüber sprechen?“, fragte Nicholas. „Bitte, zwing mich nicht“, antwortete Luca. Erneut wurde er von Nicholas gepackt und in eine Umarmung gezogen. Zuerst war Luca erschrocken, doch dann entspannte er sich und genoss die Wärme, die Geborgenheit, die ihm diese Geste spendete. „Versprich mir etwas“, verlangte Nicholas. Seine Stimme klang fest, selbstsicher. Er würde keinen Widerspruch dulden. „In Ordnung.“ Etwas anderes konnte Luca nicht erwidern. Nicholas hätte es nicht zugelassen. Die Umarmung wurde kräftiger. „Versprich, dass du zu mir kommst, solltest du deine Meinung ändern oder Hilfe brauchen. Egal wie spät es ist, komm sofort zu mir. Ich bin für dich da. Du bist nicht mehr allein. Du hast jetzt Freunde. Also versuch nicht, allein mit der Sache klar zu kommen! Obwohl Luca sein Gesicht nicht sehen konnte, wusste er, dass er ihn wohl eindringlich anschaute. Er konnte nicht anders, als zu nicken. „Ich verspreche es.“ Sie gingen noch ein Stück, bevor sie umkehrten und zurück zur Pizzeria liefen, wo sie schon erwartet wurden. „Perfektes Timing“, rief René und deutete auf den Kellner, der gerade damit begonnen hatte, ihnen ihr Essen zu bringen. Schnell setzten die beiden sich zurück auf ihre Plätze. Luca lächelte den anderen entschuldigen zu. Es war ihm peinlich, dass sie ihn so gesehen hatten. Auch wenn sie nichts sagten und ihn normal ansahen, wusste er, dass sie Antworten wollten. Antworten, warum er so reagiert hatte. Antworten, die er ihnen nicht geben würde. Er fühlte sich unwohl in seiner Haut und als er einen Schluck von seiner Cola nahm, hätte er sich um ein Haar verschluckt. Auch beim Essen seiner Pizza hatte er Schwierigkeiten. Er schnitt sich extra kleine Stückchen ab und kaute sehr gründlich, um sicher zu gehen, dass er sich nicht noch mehr vor den anderen blamierte. Trotzdem schmeckte ihm das Essen sehr gut. Es war Jahre her, dass er seine letzte Pizza gegessen hatte. Seit seinem Realschulabschluss ernährte er sich fast ausschließlich noch von den Brötchen, die er vom Bäcker holte. Besonders gesund war das nicht, das wusste er. Aber es war besser, als zu verhungern. Ein paar Mal hatte er auch etwas Wurst oder Käse oder Sogar Obst und Gemüse aus dem Kühlschrank nehmen können. Allerdings musste er aufpassen, dass es nur so viel nahm, dass es Jochen nicht auffiel. In einer Woche hatte er Geburtstag. Ob seine Mutter sich daran erinnerte. Wahrscheinlich nicht, er war schließlich nicht Jochen, also existierte er nicht für sie. Er schaute in die Runde. Die anderen unterhielten sich gerade fröhlich. Über das Karateturnier, das kommende Wochenende oder was sie für die nächste Woche geplant hatten. Luca schwieg. Er wusste nicht, was er zum Gespräch beitragen konnte. Schweigend aß er seine Pizza. Danach trank er den Rest seiner Cola, ehe er sich in seinem Stuhl zurücklehnte. So satt wie jetzt war er schon lange nicht mehr gewesen. Nicholas, dessen Pizza ein gutes Stück größer gewesen war als seine, bestellte sich gerade einen Nachtisch. „Das zahlst du aber selber“, schimpfte Andy sofort, woraufhin Nicholas ruhig seine Geldbörse aus der Jackentasche zog und ihm das Geld für das Dessert gab. „Wie kann man nur so viel essen?“, meinte Julian und deutete auf Nicholas‘ leeren Teller. „Ich muss so viel essen“, verteidigte der Schwarzhaarige sich, „sonst nehme ich ab.“ René nickte zustimmend. „Ich weiß. Man muss sich alle Kalorien, die man durch sein Training verbraucht hat, wieder anessen. Allerdings muss man, wenn man regelmäßig Sport betreibt, auch darauf achten, was man isst. Nur Fastfood ist keine Lösung.“ Nicholas schnaubte. „Als ob es auf diese eine Pizza ankommt.“ Der Kellner brachte Nicholas‘ Nachtisch, einen großen Eisbecher mit zwei Waffeln und Schokosoße. Noch bevor er das Dessert auf den Tisch gestellt hatte, war Julian schon aufgesprungen und hatte sich eine der Waffeln geschnappt. „Die isst du doch eh nicht“, rechtfertigte er sein Verhalten. Nicholas seufzte. „Du bist unverbesserlich.“ Luca betrachtete den Eisbecher. Am liebsten hätte er sich auch einen bestellt, obwohl er eigentlich satt war, doch er musste auf sein Geld achten und konnte sich solchen Luxus nicht leisten. Zumindest nicht, ohne mehrere Wochen dafür hungern zu müssen, denn so ein Eisbecher kostete das Vielfache von dem, was er jeden Morgen für sein Brötchen bezahlte. Er hatte zwar noch das Geld, das Nicholas Thomas und dessen Freunden abgenommen hatte, aber er wollte es nicht verschwenden. Trotzdem schaute er das Eis geradezu sehnsüchtig an. Sein Klassenkamerad schien seinen Blick bemerkt zu haben, denn er nahm die zweite Waffel, lud ordentlich Eis und Soße darauf und reichte sie Luca. „Nun nimm schon“, grinste er, „Ich sehe doch, dass du auch was willst.“ Zuerst war Luca verwundert, doch dann nahm er die Waffel freudig lächelnd entgegen. „Danke.“ Er biss in die Waffel und konnte nicht anders, als zu lächeln, als ihm das süße Eis auf der Zunge zerlief. Es war fast noch süßer, als er es in Erinnerung gehabt hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)