Auf den zweiten Blick von Seira-sempai ================================================================================ Kapitel 32: Briefe aus der Vergangenheit ---------------------------------------- Mitte der nächsten Woche waren Lucas Mutter und deren Ehemann für ein paar Tage in den Urlaub gefahren. Damit Jochen sich von seinem beruflichen Stress erholen konnte, hatte Sonja gemeint. Luca war das nur recht. Als er Freitagabend wiedergekommen war, war der Mann so zornig gewesen, dass ihm immer noch alles wehtat, vor allem sein linkes Handgelenk. Außerdem war es angeschwollen und seine Hand stand in einem seltsamen Winkel ab. Es wäre wohl besser, wenn er einen Arzt aufsuchen würde. Jochen hatte ihn, als er nach Hause gekommen war, die Kellertreppe hinuntergestoßen. Es war gut möglich, dass es gebrochen war, allerdings fuhren jetzt keine Busse mehr, weswegen er bis morgen warten musste. Außerdem hatte Sonja ihm zwei Fünfzigeuroscheine auf den Tisch gelegt, damit er sich etwas zu essen kaufen konnte. Das war mehr, als er sonst zur Verfügung hatte. Allerdings wusste er auch, dass Jochen bei ihrer Rückkehr die Ausgaben streng kontrollieren würde. Er würde sich also nur etwas mehr leisten können als sonst. Nachdem der Sechzehnjährige sicher gewesen war, dass sie auch wirklich weg waren, war er in ihr Schlafzimmer, wo der Safe stand. Er gehörte seiner Mutter, weswegen er davon ausging, dass sie auch das Passwort, oder wie man es bei einem Safe auch immer nannte, ausgesucht hatte. Luca kniete sich vor den großen grauen Kasten. Einige Sekunden zögerte, dann gab er Jochens Geburtsdatum ein. Bingo. Der Safe ließ sich öffnen. Manchmal war seine Mutter wirklich berechenbar. Als Luca hineinschaute, sah er Geld, viel Geld. Aber das interessierte ihn weniger. Außerdem war es sicher gezählt und er wollte nicht, dass herauskam, dass er im Safe gewesen war. Also schob er das Geld zur Seite. Dabei fiel ihm seine Krankenversicherungskarte in die Finger, die er sogleich einsteckte. Morgen Vormittag würde er gleich zum Arzt gehen können. Morgen war Mittwoch, da hatte er in den ersten beiden Stunden Sport, wo er eh nicht mitmachen konnte, also verpasste er auch nicht besonders viel. Der Arzt würde ihm sicher eine Freistellung schreiben. Luca durchwühlte den Safe weiter. Am Boden, unter den Geldscheinen und anderen wichtigen Dokumenten von Jochen und Sonja, wie den Unterlagen zu ihren Haus, fand er Briefe. Neugierig, warum seine Mutter diese dort aufbewahrte, nahm er den obersten heraus. Er steckte sauber zusammengefaltet im sorgfältig geöffneten Briefumschlag. Als Luca das Schriftstück herausnahm, fiel sein Blick auf den Absender: Boutique Mertens Peter Mertens Den Rest las Luca nicht. Stattdessen faltete er den Brief schnell auseinander und überflog ihn kurz. An einem Absatz in der Mitte des Schriftstücks blieb er hängen. Ich wiederhole mich nur ungern. Ich möchte nicht, dass du mich noch einmal kontaktierst. Ich will weder mit dir noch mit deinem Kind etwas zu tun haben! Das zwischen uns war ein Fehler, mehr nicht. Ich werde dir den Unterhalt für dein Kind zahlen, da es nachweislich von mir ist, aber mehr nicht. 3000€ im Monat sind mehr als genug, um es zu versorgen. Ich werde den Betrag bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres überweisen. Dafür verlange ich, nie wieder etwas von dir oder dem Kind zu hören. Erzähl ihm, was du willst. Aber lass mich aus dem Spiel. Seine Mutter hatte also die Wahrheit gesagt, als sie meinte, sein Vater wolle nichts mit ihm zu tun haben. Luca faltete den Brief wieder zusammen. Er fotografierte die Adresse, vielleicht brauchte er sie später noch einmal. Dann faltete er den Brief wieder, verstaute ihn im Umschlag und legte ihn zurück. Sein Blick fiel auf einen größeren Umschlag. Auch diesen nahm er heraus. Als er die Zettel, herausnahm, stellte er fest, dass es sich um einen Vaterschaftstest handelte. Und wenn er diesem Vaterschaftstest glauben konnte, war Peter Mertens wirklich sein Vater, und zwar nicht irgendein Peter Mertens, sondern der Eigentümer der vielen Boutiquen. Luca wusste endlich, wer sein Vater war. Aber es nutzte ihm nicht wirklich etwas. Peter wollte nichts von ihm wissen, also konnte er von ihm keine Hilfe erwarten. Bis jetzt hatte er noch eine kleine Hoffnung gehabt, wenn er seinen Vater fand, würde er vielleicht bei ihm wohnen können. Das konnte er jetzt wohl vergessen. Vielleicht könnte er Peter zu seinem achtzehnten Geburtstag kontaktieren, damit der Unterhalt, oder ein Teil davon) an ihm ging und nicht mehr seine Mutter. Dann könnte er ausziehen. Aber vorher ließ sich wohl nichts machen. Am Freitag hatte er Geburtstag, er wurde siebzehn. Also musste er noch ein Jahr und drei Tage warten. Wenn Peter ihm überhaupt helfen würde. Luca machte noch ein Foto von jeder Seite des Vaterschaftstest, ehe er auch ihn wieder zurücklegte. Er verteilte das Geld wieder so, wie es vorher gelegen hatte, und schloss den Save. Erschöpft lief Luca zurück in sein Zimmer, wo er sich aufs Bett fallen ließ. Trotz seiner Müdigkeit dauerte es, bis er einschlafen konnte. Sein Handgelenk hörte nicht auf, zu schmerzen. Am Ende stand er wieder auf und nahm sich zwei Aspirin aus der Hausapotheke. Erst als das Schmerzmittel anschlug, konnte er schlafen. Am nächsten Morgen wurde er durch sein schmerzendes Handgelenk geweckt. Es war noch finster draußen, aber weiterschlafen konnte er nicht, weswegen er aufstand und sich fertig machte. Es war etwas ungewohnt, alles mit einer Hand zu tun und dauerte länger, aber er schaffte es. Während er frühstückte, was noch im Schrank war, begann es zu dämmern. Danach lief er mit seinen Schulsachen zur Bushaltestelle und fuhr ins Zentrum, wo er umstieg und zum nächstbesten Krankenhaus fuhr. Dort in der Notaufnahme war er wohl am besten aufgehoben. Besonders lange warten musste er nicht, es war wohl noch zu früh, als dass das Wartezimmer überfüllt sein konnte. Nach einer knappen Stunde wurde er ins Behandlungszimmer gerufen. Der Arzt, ein freundlicher älterer Mann, musterte sein Handgelenk kritisch. „Wann ist das passiert?“, wollte er wissen. „Heute Nacht“, log Luca, „Meine Eltern sind nicht da und es konnte mich auch sonst keiner fahren. Also habe ich gewartet, bis der Linienverkehr wieder fuhr.“ „Du hättest einen Krankenwagen rufen können“, entgegnete der Arzt, kaufte ihm seine Ausrede aber anscheinend ab, denn er wechselte das Thema. „Wie ist es passiert?“ „Ich bin die Kellertreppe runtergefallen.“ Das war nicht einmal gelogen. Er ließ nur weg, dass Jochen bei dem Sturz nachgeholfen hatte. Der Arzt zog die Stirn kraus. „Zieh bitte den Pullover aus.“ Er deutete auf die weiten Ärmel des Kleidungsstückes, die gerade zum dritten Mal heruntergerutscht waren und die Verletzung bedeckten. Zögerns kam Luca der Aufforderung nach. Am liebsten hätte er sich geohrfeigt. Er hätte ein T-Shirt darunterziehen sollen, um die blauen Flecken zu verbergen. Aber das Handgelenk hatte so sehr geschmerzt, dass er sich nur den Pullover mit den weitesten Ärmeln angezogen hatte. Als der Arzt seinen Oberkörper sah, schnappte er erschrocken nach Luft. „Was ist mit dir passiert?“ Luca zwang sich zu einem Lächeln. Er wusste, wenn er jetzt nicht gut schauspielerte, war er aufgeschmissen. Der Arzt durfte keinen Verdacht schöpfen. „Ich habe mich geprügelt“, log er deshalb, „Ein paar meiner Mitschüler haben Probleme mit meiner Sexualität und letztens auf dem Nachhauseweg, hab ich einfach die Nerven verloren und zugeschlagen. „ „Und selbst einige Treffer eingesteckt“, beendete der Arzt. Er schien ihm zu glauben, auch wenn Luca manchmal den Verdacht hatte, der Mann tat nur so und wartete darauf, dass er sich von allein verriet. Trotzdem war Luca erleichtert. außerdem war seine Ausrede so abwegig gar nicht gewesen. Der Arzt wusste nicht, dass es nicht das erste Mal war, dass er so aussah, also könnte es so abgelaufen sein, wie er beschrieben hatte. Der Arzt widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Handgelenk. „Das ist gebrochen“, stellte er wenig später fest, „Ich werde es röntgen müssen. Vielleicht muss es auch operiert werden.“ Widerspruchslos folgte der Sechzehnjährige dem Mann ins Nebenzimmer, wo sein Handgelenk geröntgt wurde. Dann musste er warten, bis das Bild fertig war, bevor er wieder zum Arzt gerufen wurde. „Du hast Glück“, meinte der Mann, „Es ist ein sauberer Bruch und muss nicht operiert werden. Ich werde das Gelenk betäuben und dann die Knochen wieder richten. Danach werde ich einen Gips anlegen.“ Luca hatte schon eine Grimasse geschnitten, als der Arzt erzählte, was er vorhatte, weswegen er bei der eigentlichen Behandlung konsequent wegschaute. Erst als der Gips am Arm war, wagte er, ihn wieder anzusehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)