Auf den zweiten Blick von Seira-sempai ================================================================================ Kapitel 39: Herbstferien ------------------------ Herbstferien. Jeder freute sich darüber, jeder außer Luca. Es war nicht so, dass er gern in die Schule ging, obwohl sich das in letzter Zeit auch geändert hatte. Inzwischen war er lieber in der Schule als zu Hause. Das lag aber daran, dass er dort seine Freunde sah und zu Hause Jochen auf ihn wartete. In wenigen Stunden würden Jochen und Sonja, er hatte vor einer Weile aufgehört, sie „Mutter“ zu nennen, wiederkommen. Luca war gerade damit beschäftigt, sein Zimmer mit Getränken nachzufüllen. Wenn diese Ferien ähnlich abliefen wie die letzten, würde er sein Zimmer nur selten verlassen können. Schließlich wollte er Jochen so wenig wie möglich begegnen. Beim Bäcker war er schon gewesen. Er hatte sich ein kleines Brot gekauft, was er vorhin an der Brotschneidemaschine in Scheiben geschnitten hatte. Gestern Abend hatte er noch ein paar Äpfel aus der Mülltonne des Supermarktes geklaut. Sie und das Brot würde er in der nächsten Zeit essen. Außerdem hatte er noch die Kekse der Nachbarin. Seine normale Trinkflasche hatte er bereits abgefüllt, aber nur mit ihr würde er nicht reichen. Er nahm sich einige Pfandflaschen aus dem Keller, ihr Fehlen würde schon keinen auffallen, wusch sie gründlich aus und füllte sie mit Leitungswasser. Aber selbst wenn er sparsam war, würde das wohl nicht reichen. Alle Pfandflaschen konnte er aber auch nicht nehmen, das würde auffallen. Er ging in die Abstellkammer. Vielleicht würde er dort etwas finden. Und tatsächlich. Auf dem Schrank stapelten sich einige Eimer. Er nahm zwei davon und füllte auch sie mit Wasser, ehe er sie in seinem Zimmer versteckte. Es war besser, wenn Jochen sie nicht fand. Da er nicht aus den Eimern trinken wollte, nahm er sich noch einen der Plastikbecher, die von Jochens letzter Grillparty im Sommer übrig geblieben waren. Dann ging er zurück in sein Zimmer. Das Armband, das er zu seinem Geburtstag vor wenigen Tagen geschenkt bekommen hatte, hatte er neben den anderen wichtigen Dingen in seiner Matratze versteckt. Dort würde es keiner finden. Wenig später hörte er, wie die Tür aufgeschlossen wurde. „Luca“, brüllte Jochen laut durch den Flur, „Beweg sofort deinen faulen Arsch hier runter und räum das Auto aus!“ Es wäre ja auch zu schön gewesen, wenn der Mann ihn einfach ignoriert hätte. Um die Situation nicht zu verschlimmern, verließ Luca sein Zimmer uns stapfte die Treppe hinunter. „Da bist du ja endlich“, bellte Jochen, als er ihn erblickte. Dann wurde sein Gesichtsausdruck wütend. Er schnellte auf den Siebzehnjährigen zu und packte dessen linkes Handgelenk, das um das sich der Gips befand. „Wo hast du das her?“ Scheiße, dachte Luca. Er hatte glatt vergessen, den Gips abzudecken. Jetzt hatte Jochen ihn natürlich gesehen. „Bin die Treppe runtergefallen“, antwortete er. Das war das Genauste, was er sagen konnte, ohne Jochen zu beschuldigen. „Und wo kommt der Gips her? Bist du beim Arzt gewesen? Du hast ja noch nicht einmal deine Karte!“, begann der Mann zu toben. „Sie lag neben dem Geld, das ihr mir dagelassen habt“, log Luca. Er wusste nicht, ob er damit durchkam, aber vielleicht hatte er Glück. Wenn Jochen ihm das abnahm und glaubte, ihm die Karte gegeben zu haben, beruhige er sich vielleicht wieder. Doch das Glück schien nicht auf seiner Seite zu stehen. „Du elender Lügner“, schrie der Mann und verpasste ihm eine Ohrfeige, „Ich weiß genau, dass die Karte nicht auf dem Tisch gelegen hat! Wo hast du sie her?“ Luca, der aufgrund des heftigen Schlages einige Schritte zurückstolperte, biss die Zähne zusammen. „Sie lag auf dem Tisch!“, behauptete er weiterhin. Er wusste, wenn er jetzt von seiner Lüge abwich, würde es nur noch schlimmer werden. Schlimmer, als es jetzt schon war. „Wo hast du die Karte her?“ Der Ohrfeige folgte ein weiterer Schlag. „Wage es nicht, zu lügen! Du warst an unseren Sachen, stimmt‘s?“ Der Siebzehnjährige schüttelte seinen Kopf, widersprach allerdings nicht mehr laut. Jochen packte ihn grob am Oberarm und zerrte ihn die Treppe hinauf in sein Zimmer. Dort angekommen, stieß er ihn grob gegen den Kleiderschrank. Luca stöhnte vor Schmerz auf, als sein Kopf gegen das harte Holz schlug, gab sonst aber keinen Laut von sich. „Na warte“, tobte Jochen, „Ich werde dir schon beibringen, was es heißt, mich anzulügen.“ Weitere Schläge folgten. Luca rollte sich auf dem Boden zusammen und verbarg das Gesicht hinter seinen Armen. „Du elender Schmarotzer, was bildest du dir eigentlich ein, wer du bist?“, schrie der Mann, rasend vor Wut, „Da fütter ich dich jahrelang durch, geb dir ein Dach über dem Kopf und Klamotten, und was bekomm ich als Dank?“ Inzwischen wusste Luca, dass diese Worte nicht der Wahrheit entsprachen. Das, was sein leiblicher Vater als Unterhalt zahlte, obwohl Sonja einen anderen geheiratet hatte, war fast doppelt so viel wie Jochens monatlicher Lohn. Aber er würde sich hüten, das zu sagen, er war schließlich nicht lebensmüde. Aus den Schlägen wurden Tritte, von denen jeder neue mehr schmerzte, als der vorhergehende. Verzweifelt presste er die Arme auf sein Gesicht, um wenigstens dort nichts abzubekommen. Dann traf Jochen seine Schläfe. Luca spürte, wie ein Schwindelbefühl sich in ihm ausbreitete. Er begann, die Orientierung zu verlieren und seine Wahrnehmung wurde ungenau. Jochens wütende Schreie klangen immer verzerrter. Es schien fast, als würden sie sich von ihm entfernen. Auch die Schmerzen schienen nachzulassen. Dann wurde alles schwarz. Als Luca wieder zu sich kam, fühlte er sich, als sei er von einem Auto überfahren wurden. Alles tat ihm weh. Aber er schien allein zu sein. Zumindest konnte er Jochen weder sehen noch hören. Unter Schmerzen kämpfte er sich zu seinem Bett. Dabei fiel sein Blick auf die am Boden herumliegenden Klamotten. Er wusste, er hatte sein Zimmer aufgeräumt. Jochen hatte seine Sachen durchwühlt, schlussfolgerte er. Ein ungutes Gefühl breitete sich in dem Blondhaarigen aus. Was genau hatte Jochen gesucht? Hatte er es gefunden? Was, wenn er seine Vorräte entdeckt hatte. Luca zwang sich aus dem Bett und begann, die Verstecke zu überprüfen. Die beiden Wassereimer waren noch da, der Plastikbecher auch. Er schaute unter sein Bett. Das Brot und die Äpfel waren verschwunden. Die dort versteckten Flaschen ebenfalls. Glücklicherweise war die Packung Kekse, die er unter dem Kleiderschrank versteckt hatte, noch da. Die Flaschen hinter dem Schreibtisch waren ebenfalls noch da. Als letztes überprüfte er das Geheimfach in seiner Matratze. Erleichtert stellte er fest, dass Jochen es wohl nicht gefunden hatte. Sowohl die Schlaftabletten als auch das Geld und das Armband waren noch da. Zum Glück, dachte er, als er den Schmuckgegenstand vorsichtig in die Hand nahm. Er wusste nicht, was er gemacht hätte, wen es verschwunden wäre. Das Armband war das erste echte Geburtstagsgeschenk, was er jemals erhalten hatte. Davor hatte er nur manchmal Süßigkeiten von der Nachbarin erhalten. Deshalb war es ihm auch so wichtig. Es zeigte ihm, dass es Menschen gab, denen er nicht gleichgültig war. Menschen, denen er etwas bedeutete. Sie mussten sich Gedanken gemacht haben, was ihm gefallen würde, denn das Armband war nichts, was man einfach so kaufen konnte. Gut, vielleicht das Kettchen. Aber die Plättchen waren Unikate, das wusste er. Es musste ein Vermögen gekostet haben, auch wenn sie alle zusammengelegt hatten. Trotzdem hatte er es nicht fertiggebracht, das Geschenk abzulehnen. Erstens wäre das unhöflich gewesen und zweitens war er zu gerührt gewesen, um überhaupt daran denken zu können. Er stopfte das Armband wieder in die Matratze und legte sie wieder in sein Bett, ehe er sich erschöpft in es fallen ließ. Das würden die längsten Herbstferien werden, die er jemals gehabt hatte. Natürlich wusste er, dass sie nur zwei Wochen lang waren. Aber gefühlt würden es bestimmt Monate sein. Er wünschte sich schon jetzt, wieder in die Schule gehen zu können. Dort hatte er Nicholas, der ihn beschützte und dessen Freund er war. Auch wenn er sich inzwischen ziemlich sicher war, dass er mehr als nur freundschaftliche Gefühle für den Schwarzhaarigen hatte. Mit dem Gedanken, wie gern er sich jetzt an Nicholas‘ Brust gekuschelt und von ihm umarmt werden würde, schlief der Siebzehnjährige an diesem Abend ein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)