Auf den zweiten Blick von Seira-sempai ================================================================================ Kapitel 54: Der Bilderrahmen ---------------------------- Die Nacht und den darauf folgenden Morgen verbrachte Luca damit, durch die Stadt zu irren. Er wusste, er durfte nicht schlafen, sonst würde er wahrscheinlich nicht wieder aufwachen. Außerdem war ihm kalt. Sein Hände und Füße spürte er bereits seit Stunden nicht mehr. Deshalb war er froh, als am nächsten Tag die Läden öffneten und er sich in ihnen aufwärmen konnte. Um nicht unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, blieb er nie lange in einem Geschäft. Trotzdem schauten ihn einige Leute skeptisch an, wohl wegen seiner aufgeplatzten Lippe. Es konnte aber auch daran liegen, dass er ein Schüler war und Montagvormittag durch die Läden zog. Ob sie glaubten, dass er schwänzte? Recht hätten sie damit. Aber Luca glaubte nicht, dass er in der Lage gewesen wäre, Nicholas unter die Augen zu treten. Er wäre nur wieder im Tränen ausgebrochen oder weggelaufen. Es war besser, wenn er jetzt Abstand zu dem Schwarzhaarigen hielt. Er wollte nicht noch mehr verletzt werden. Lucas Blick fiel auf das Schaufenster eines Fotografen. Die Bilderrahmen, die hier ausgestellt wurden, sahen fast so aus, wie der, den er kaputt gemacht hatte. Ob Nicholas ihm verzieh, wenn er ihm einen neuen kaufte? Ohne zu realisieren, was er tat, betrat Luca den kleinen Laden und fand sich wenig später vor einem Regal gefüllt mit den verschiedensten Bilderrahmen wieder. Es dauerte nicht lange, dann fand er den gleichen Rahmen, wie ihn Nicholas besaß. Als er jedoch auf das Preisschild sah, musste er schlucken. So teuer hätte er den Bilderrahmen nicht geschätzt. Hatte er überhaupt so viel Geld? Er holte es aus dem Rucksack und zählte. Es war knapp, aber es reichte. Also nahm er den Rahmen und ging zur Kasse, wo er bezahlte. Zufrieden verließ er das Geschäft. Jetzt fühlte er sich nicht mehr ganz so schlecht, weil er Nicholas‘ Rahmen kaputt gemacht hatte. Lucas Magen knurrte, allerdings hatte er jetzt nicht mehr genug Geld, um sich etwas zu Essen zu kaufen. Die wenigen Cent, die er als Wechselgeld zurückbekommen hatte, reichten nicht einmal für ein Brötchen. Aber das störte ihn nicht weiter. Er war es schließlich gewohnt, ab und an zu hungern. Jetzt musste er den Bilderrahmen nur noch zu Nicholas bringen. Allerdings wäre es wohl besser, wenn der Schwarzhaarige ihn nicht sah. Also sollte er es besser tun, solange er noch in der Schule war. Vielleicht konnte er den Rahmen Samuel oder Sheila geben. Er würde dann schon bei Nicholas ankommen. Da es noch Vormittag war, musste er sich keine Sorgen machen, seinem Klassenkameraden zu begegnen. Dieser saß gerade in der Schule. Vielleicht wunderte er sich auch über Lucas Abwesenheit. Ob er sich Sorgen machte? Entschlossen schüttelte der Blondhaarige den Kopf. Sicher nicht. Er war Nicholas egal, das hatte er gestern bemerkt. Hätte der Schwarzhaarige sich auch nur ein kleinwenig für ihn interessiert, hätte er ihn nicht so behandelt. Trotzdem fühlte er sich, als schulde er seinem Klassenkameraden etwas, egal aus welchen Gründen. Als er bemerkte, dass er auf der Brücke stand, von der er sich zu Beginn des Schuljahres hatte stürzen wollen, hielt er an. Das Wasser floss friedlich und leise plätschernd unter ihr hindurch. Damals hatte er sich nicht getraut. Er hatte sich entschlossen, es noch einmal zu versuchen. Dann hatte Nicholas ihm geholfen und er war nicht mehr hierher zurückgekehrt. Er hatte wieder Freude an seinem Leben gefunden. Zum ersten Mal seit er denken konnte, war er wirklich glücklich gewesen und er wollte diese Erfahrung um nichts missen. Er hatte Freunde gefunden, auch wenn es nur die von Nicholas waren und nicht seine eigenen. Trotzdem waren sie nett zu ihm gewesen und hatten ihn in ihre Gruppe aufgenommen. Und er hatte sich verliebt, in Nicholas. Auch, wenn Luca verletzt worden war und jetzt wieder allein dastand, so bereute er es doch nicht, sich damals für das Leben entschieden zu haben. Die letzten Monate waren die schönsten seines Lebens gewesen. Mit einer Hand fuhr er über sein Handgelenk, an dem er immer das Armband trug, das er zu seinem Geburtstag geschenkt bekommen hatte, und hielt erschrocken inne. Das Armband war weg. Er musste es verloren haben. Doch wo? Es konnte überall liegen und er konnte sich nicht mehr erinnern, wo er alles entlanggelaufen war. Hatte er es überhaupt noch dran gehabt, als er vor Jochen geflohen war? Leise schluchzte Luca. Das Armband war ihm wichtig gewesen. Es war das erste richtige Geburtstagsgeschenk, was er jemals bekommen hatte. Und jetzt war es weg. Genau wie sein Leben. Es war innerhalb weniger Stunden ineinander zusammengefallen. Nur noch ein Haufen Scherben war übrig. Machte es überhaupt noch einen Sinn, weiterzuleben? War es nicht egal, ob er jetzt starb? Es interessierte doch eh keinen. Nicht einmal Nicholas. Er musste sich bedanken, fiel ihm ein. Doch wie sollte er das tun, wenn er sich nicht traute, Nicholas noch einmal unter die Augen zu treten? Sein Blick fiel auf den Bilderrahmen. Das könnte gehen. Vorsichtig holte Luca den zerbrechlichen Gegenstand aus seiner Schachtel. Er war in Folie eingewickelt, die ihn wohl daran hindern sollte, zu schnell zu zerbrechen. Der Blondhaarige holte einen Zettel und einen Stift aus seinem Rucksack. Dann überlegte er, was er schreiben sollte. Würde Nicholas es überhaupt lesen? Eigentlich konnte es ihm egal sein. Nicholas war es schließlich auch egal. Er nahm den Stift und begann, zu schreiben: Danke. Für alles, was du für mich getan hast. Ich werde dich nicht länger belästigen. Er faltete den Zettel und steckte ihn gemeinsam mit dem Bilderrahmen zurück in dessen Verpackung. Um sicher zu gehen, dass der Rahmen auch wirklich bei seinem schwarzhaarigen Klassenkameraden ankam, schrieb er noch dessen Namen auf die Schachtel. Danach machte er sich auf den Weg zum Haus des Schwarzhaarigen. Es war gar nicht so weit von hier entfernt, hatte Luca festgestellt. Obwohl er sehr langsam lief, dauerte es nicht lange, dann stand er wieder vor der Tür. Zuerst wollte er klingeln. Doch dann fiel ihm ein, dass er dann erklären müsste, warum er nicht in der Schule war. außerdem hatte es bereits begonnen, zu dämmern, also war Nicholas vielleicht schon wieder zu Hause. Entschlossen drehte der Siebzehnjährige sich wieder um und steckte den Bilderrahmen samt Verpackung vorsichtig in den Briefkasten. Er ging, ohne einen Blick zurückzuwerfen, zurück zu der Brücke. Als er sie erreichte, war auch das letzte Tageslicht verschwunden. Es gab kein zurück mehr. Es gab nichts mehr, das ihn noch hier hielt. Er kletterte auf das Geländer und lehnte sich nach vorn. „Hey, du!“, schrie plötzlich eine Stimme. Erschrocken zuckte Luca zusammen und sah in die Richtung, aus der er sie gehört hatte. Ein Polizist, das erkannte Luca im Licht der Straßenlampe an der Uniform, kam mit schnellen Schritten auf ihn zugerannt. Konnte man ihn nicht einmal in Ruhe streben lassen, wenn man ihm schon das ganze Leben nahm? Der Blondhaarige sprang vom Geländer. Es jetzt zu tun, hatte keinen Sinn. Der Polizist hätte ihn schneller aus dem Wasser gefischt, wie er ertrinken oder erfrieren konnte. So würde das nicht funktionieren. Man durfte ihn erst finden, wenn er auch tot war. Nur so war sichergestellt, dass man ihn nicht zu Jochen zurückbrachte. Der Gedanke an seinen Stiefvater und was dieser mit ihm anstellen würde, wenn er ihn in die Finger bekam, verlieh Luca neue Kräfte. Er sprang vom Geländer und rannte den Weg entlang, in die Richtung, aus der er vorhin gekommen war. Der Polizist durfte ihn nicht erwischen. Er wollte nicht zurück! Luca bog auf die Hautstraße ein, ohne auf den Verkehr zu achten. Er sah zwar die Lichter der an ihm vorbeifahrenden Autos, doch schenkte er ihnen keine Beachtung. Seine Aufmerksamkeit gehörte einzig und allein dem Polizisten, der ihn immer noch verfolgte. Er hatte ihn beinahe eingeholt. Es war nicht einmal noch ein halber Meter zwischen ihnen. „Hiergeblieben!“, rief der Polizist und griff nach seinem Rucksack. Der Siebzehnjährige wich der Hand aus, indem er sich duckte und auf die Straße rannte. Zuerst hörte er ein Hupen, dann sah er Lichter, die auf ihn zurasten. Es folgten Schmerzen und ein seltsames Gefühl, fast so, als würde er fliegen. Danach wurde alles schwarz. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)