Auf den zweiten Blick von Seira-sempai ================================================================================ Kapitel 55: Reue * ------------------ Nicholas starrte auf das Handy, das Luca am Sonntag liegen lassen hatte. Eigentlich hatte er vorgehabt, es dem Blondhaarigen am Montag zu geben, doch der war nicht in der Schule gewesen. Ob er krank war? Besonders gut hatte er am Sonntag nicht ausgesehen. Und heute hatte er ebenfalls gefehlt. Seinen Freunden hatte Nicholas noch nichts erzählt. Rebecka würde ihm nur wieder die Leviten lesen und auch die anderen schienen Luca inzwischen sehr gern gewonnen haben. Seufzend ließ der Schwarzhaarige sich auf sein Doppelbett fallen. Er hätte Luca nicht so anfahren dürfen. Der Blondhaarige konnte nichts für seine schlechte Laune und er hätte sie nicht an ihm auslassen dürfen. Sein Vater war es, auf den er wütend gewesen war, auf den er immer noch wütend war, weil er der Meinung gewesen war, am Todestag seiner ersten Frau in den Urlaub fahren zu müssen. Dann hatte er noch die Nerven gehabt, Nicholas zu fragen, ob er mitwolle. Natürlich war der Schwarzhaarige mehr als nur ein kleinwenig verärger darüber gewesen. Aber das gab ihm noch lange nicht das Recht, Luca so zu behandeln. Luca hatte nichts getan. Er hatte das nicht verdient. Es war ihm gegenüber nicht fair gewesen. Er musste sich entschuldigen! Doch wie, wenn Luca nicht in die Schule kam? Sollte er ihn vielleicht besuchen? Er wusste schließlich, wo sein Klassenkamerad wohnte. Aber wollte Luca ihn überhaupt sehen? Der Blondhaarige hatte schließlich jedes recht, wütend auf ihn zu sein. Jetzt, wo Nicholas das Geschehene objektiv betrachtete, bemerkte er, dass er sich Luca gegenüber völlig unmöglich verhalten hatte. Es war noch nicht lange her, da hatte Luca ihn ein taktloses Rindvieh und einen ignoranten Mistkerl genannt. Der Schwarzhaarige war ihm deswegen nicht böse, er wusste schließlich, dass er einen Fehler gemacht hatte. Die Ohrfeige hatte er verdient gehabt, auch wenn er so etwas Luca nicht zugetraut hatte. Er musste daran denken, wie er den Blondhaarigen später im Bad als Wiedergutmachung geküsst hatte. Es hatte ihm gefallen und er würde es jederzeit wieder tun, was ihn etwas beunruhigte. Es war nicht so, dass er Luca unattraktiv fand oder so. Aber ihn deswegen gleich küssen zu wollen? Er musste sich in Zukunft unbedingt zurückhalten. Er durfte keine Gefühle für den Blondhaarigen entwickeln. Nicht, wenn es keine freundschaftlichen waren. Wäre Luca jemand anderes mit einer anderen Vergangenheit und nicht so vielen Problemen, hätte Nicholas vielleicht versucht, mit ihm eine Beziehung zu führen. Aber Luca war ihm zu wichtig, als dass er ihn durch so etwas verlieren wollte. Außerdem hatte er den Verdacht, dass der Blondhaarige einer Beziehung zustimmen würde, selbst wenn er nur freundschaftliche Gefühle für ihn hatte, nur um ihn nicht zu verlieren. Und das wollte der Schwarzhaarige vermeiden. Wenn sich also etwas zwischen ihnen ändern sollte, dann musste Luca den ersten Schritt machen. „Das Essen ist fertig“, rief Sheila laut im Flur, wie sie es immer tat, wenn kein Besuch da war. Nicholas erhob sich, legte Lucas Handy auf seinen Schreibtisch und schlenderte in die Küche. Der Tisch war bereits gedeckt, also holte er nur noch die Getränke aus dem Keller. Sheila trank Wasser, er und sein Bruder bevorzugten Eistee. Samuel hatte Fisch mit Bratkartoffeln gemacht, eines von Nicholas‘ Lieblingsgerichten. Aber wenn der Schwarzhaarige ehrlich war, mochte er alles, was sein Bruder kochte. Er hätte Koch lernen sollen, fand Nicholas, und nicht in der Kanzlei ihres Vaters anfangen. Die Mahlzeit verlief schweigsam. Sheila blätterte durch eine Modezeitschrift, für die sie gemodelt hatte und betrachtete die Bilder. Samuel tippte auf seinem Handy herum. „Für dich hat auch etwas im Briefkaste gelegen“, meinte Sheila gut gelaunt, „Ich habe es auf die Treppe gelegt. Sei doch so gut und nimm es mit, wenn du in sein Zimmer gehst.“ Der Schwarzhaarige nickte, wenn auch etwas verwirrt. Er hatte nichts bestellt und einen Brief erwartete er auch nicht. Was es wohl war? Er beeilte sich, aufzuessen und zog sich in sein Zimmer zurück. Auf der Treppe stand ein kleines Päckchen. Sein Vorname war handschriftlich in einer ihm bekannt vorkommenden Schrift darauf geschrieben worden, nichts weiter. Keine Adresse, kein Aufkleber von der Post. Von wem auch immer das Päckchen kam, er hatte er persönlich in den Briefkasten gesteckt. Aber warum hatte er es ihm nicht gleich gegeben? Hatte das irgendwelche tieferen Gründe oder war er einfach nur nicht zu Hause gewesen? Nicholas nahm das Päckchen mit in sein Zimmer, wo er es auf den Schreibtisch neben Lucas Handy legte. Dann öffnete er vorsichtig den Karton. Zum Vorschein kam ein in Folie eingewickelter Bilderrahmen und als Nicholas ihn auspackte, erkannte er, dass es der gleiche war, wie der, der am Sonntag kaputt gegangen war. Von Luca, schoss es ihm durch den Kopf. Luca musste ihm einen neuen Rahmen gekauft haben. Er sollte sich wirklich bei seinem Klassenkameraden entschuldigen. Wenn er morgen wieder nicht in die Schule kam, würde er bei ihm zu Hause nachsehen, beschloss Nicholas, hoffend, dass Luca oder dessen Familie ihn nicht gleich wieder rauswarf. Er wollte den Bilderrahmen gerade zurück in den Karton stecken, als ihm auffiel, dass dieser nicht leer war. Ein zusammengefalteter Zettel befand sich noch darin. Zuerst wollte er den Rahmen einfach wieder zurückstecken, da er den Zettel für Werbung hielt, bis ihm auffiel, dass das Papier liniert war. Keiner druckte Werbung auf einen linierten Zettel. Also legte er den Rahmen zur Seite, nahm er ihn heraus und entfaltete ihn. Als er den Inhalt erblickte, blieb sein Herz beinahe stehen. Dort stand in Lucas feiner, sauberer Schrift: Danke. Für alles, was du für mich getan hast. Ich werde dich nicht länger belästigen. Plötzlich hatte Nicholas Schwierigkeiten, zu atmen. Sein Herz begann, zu rasen und ihm brach der kalte Angstschweiß aus. Das klang sehr nach einem Abschiedsbrief, zu sehr. Der Blondhaarige hatte doch nicht etwa vor- Er wagte nicht, den Gedanken zu beenden. Seine Hände begannen, zu zittern. Der Zettel entglitt seinen Fingern. Seine Knie gaben nach und er sackte zusammen, fiel auf die Knie. „Das ist ein schlechter Scherz“, flüsterte er, hoffend, sich davon überzeugen zu können. Aber es brachte nichts, „Bitte, Luca!“ Das konnte er ihm nicht antun! Der Schwarzhaarige sprang auf. So schnell er konnte, stürmte er die Treppe hinunter ind Wohnzimmer, wissend, dass sein Bruder zu dieser Zeit immer fernsah. „Du musst mich wo hinfahren!“, rief er. Samuel schaute ihn verwirrt an. „Jetzt?“, fragte er. Doch sein Bruder war bereits weitergestürmt. Er riss Samuels Jacke und Schuhe von der Garderobe, warf sie ihm zu, ehe er sich selbst anzog. „Beeil dich!“, schimpfte er. Samuel grummelte etwas, was sich verdächtig nach „Ich mach ja schon“ anhörte. Dann stockte er. Erschrocken blickte er seinen jüngeren Bruder an. „Weinst du?“ Nicholas führte eine Hand zu seiner Wange. Tatsächlich! Sie war nass. Er weinte. Wie lange war es her, dass er das letzte Mal geweint hatte? Es musste kurz nach dem Tod seiner Mutter gewesen sein. „Was ist passiert?“ Besorgt musterte Samuel seinen Bruder. „Fahr mich zu Luca, bitte“, verlangte Nicholas. Samuel nickte. Er stellte keine weiteren Fragen, sondern stieg schweigend in sein Auto. Nicholas nahm auf dem Beifahrersitz platz. Vor Lucas haus hielt Samuel dann. Nicholas wartete nicht, bis er eingeparkt hatte. Sobald das Auto nur noch Schrittgeschwindigkeit fuhr, riss er die Tür auf und sprang aus dem Wagen. Samuels wütende Rufe ignorierte er. So schnell er konnte, rannte der Schwarzhaarige zur Haustür und drückte auf den Klingelknopf. Durch ein geöffnetes Fenster in ersten Stock hörte er es draußen klingeln. Als sich nichts tat, klingelte er erneut, diesmal länger. Samuel, der sein Auto inzwischen geparkt hatte, beobachtete ihn mit skeptischem Blick, sagte aber nichts. Im Haus blieb es immer noch still. Nicholas verlor die Nerven. Er hielt die Klingel dedrückt, so dass ein extrem nerviger Dauerton durch das Haus hallte. Dann, endlich, hörte er, wie sich schnelle Schritte der Tür näherten. Sie wurde aufgerissen und ein Mann mitte Vierzig starrte die Brüder wütend an. Er stank nach Zigarettenrauch und Alkohol. „Wo ist Luca?“, fragte Nicholas den Mann. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)