Auf den zweiten Blick von Seira-sempai ================================================================================ Kapitel 56: Ein schrecklicher Verdacht * ---------------------------------------- Der Mann wollte ihm die Tür vor der Nase wieder zuschlagen, doch Nicholas reagierte schnell. Er stemmte seinen Fuß dazwischen, ehe er sie wieder aufriss, den Mann unsanft nach hinten schubste und das Haus betrat. „Ich wiederhole mich nur ungern“, sagte er, den bedrohlichen Klang seiner stimme und die Reaktion seiner Mitmenschen darauf wissend, „Wo ist Luca?“ „Was weiß ich, wo dieser Nichtsnutz sich wieder herumtreibt“, brummte der Mann. Nicholas schnaubte. „Sie werden doch wohl wissen, wo Ihr Sohn ist!“ „Er ist nicht mein Sohn!“, bellte der Mann. „Oh, entschuldigen Sie. Ich meinte natürlich Stiefsohn“, sagte der schwarzhaarige in einem Ton, dem man anhörte, dass es ihm kein bisschen leid tat. Wieso auch? Inzwischen hatte sich auch Lucas Mutter dazugesellt. Sichtbar verwirrt sah sie zwischen den beiden hin und her. „Jochen? Ist etwas passiert?“, fragte sie leise. Der Mann schnaubte. Dann deutete er auf Nicholas uns Samuel. „Die wollen zu deinem Sohn.“ „Was hat er diesmal angestellt?“, fragte Lucas Mutter. Sie schien resigniert. Der Schwarzhaarige beäugte sie skeptisch. Er bekam das Gefühl, dass irgendetwas hier nicht stimmte. „Diesmal?“, hakte er nach. Die Frau nickte. „Macht nur Ärger, dieser Junge. Ständig bekommt Jochen Anrufe, in denen sich über ihn beschwert wird. Ich weiß nicht mehr, was ich mit ihm tun soll und Jochen hat auch schon alles versucht.“ Nicholas schluckte. Ein schrecklicher Verdacht kann in ihm auf. Eigentlich hatte er den Verdacht schon eine Weile gehabt, nur hatte es nie genügend Beweise gegeben. Dazu kamen einige Ungereimtheiten. Deswegen hatte er bis jetzt noch nichts unternommen. Aber die Aussage von Lucas Mutter verstärkte seinen Verdacht. Ihm kam die Idee, vielleicht ein Geständnis provozieren zu können. Jochen schien ziemlich betrunken zu sein, da war er bestimmt redefreudiger. „Ich möchte mit Luca sprechen“, sagte der Schwarzhaarige deshalb, in einem Ton der keinerlei Widerspruch duldete. „Der ist nicht da!“, bellte der Stiefvater des Blondhaarigen. Wenn Nicholas ihn genauer betrachtete, konnte er es sich durchaus vorstellen, dass er derjenige war, der seinen Freund schlug. „Und wo ist er dann?“, bohrte Nicholas im selben Tonfall nach. Jochen schnaubte. „Als ob ich wüsste, wo sich diese Missgeburt überall herumtreibt!“ Samuel schaute verwirrt zwischen den beiden hin und her, sagte aber nichts, wofür Nicholas seinem Bruder dankbar war. Er hätte seinen Versucht, mehr über Lucas Misshandlungen herauszufinden, sonst vielleicht zerstört. „Ich muss heute unbedingt noch bei Renés Onkel in der Firma anrufen“, versuchte er seinem Bruder deutlich zu machen, was dieser zu tun hatte, ohne den anderen dabei etwas zu verraten, „Eigentlich wollte ich das vorher mit Luca absprechen, aber wenn er nicht da ist…“ Die Eltern des Blondhaarigen schaute ihn leicht irritiert an, schienen sich aber nichts weiter daraus zu machen. Samuel dagegen hatte ihn verstanden. „Bist du sicher?“, wollte er wissen. Nicholas nickte. „Eine Viertelstunde. Mehr Zeit gebe ich ihm nicht. Die Leute haben schließlich auch irgendwann Feierabend.“ Dann wandte er sich an Lucas Mutter. „Wo ist sein Zimmer?“ Zu seiner Überraschung führte die Frau ihn durch das Haus, vor eine geschlossene Tür, die sie auch gleich öffnete. „Er hat vor ein paar Tagen ziemlich gewütet“, meinte sie. Doch der Schwarzhaarige glaubte ihr nicht. Es passte nicht zu seinem Klassenkameraden. Als er das Zimmer betrat, erschrak er. Sämtliche Möbel waren zertreten. Dem Schrank fehlten die Türen, das Fenster war eingeschlagen, die Matratze mit einem Messer zerstochen und der Lattenrost im Bett hatte keine Latten mehr. Diese lagen zerbrochen auf dem Boden, zwischen zerrissenen Kleidungsstücken, Büchern und Heften. Selbst der Schreibtisch war hinüber, obwohl er noch am besten aussah, ihm fehlten lediglich zwei Beine. Nicholas bückte sich und hob eines der zerflederten Hefte auf. Auf der Vorderseite stand Lucas Name. Er war also im richtigen Zimmer. Aber Luca hatte diese Verwüstung niemals angerichtet, das wusste er. Der Blondhaarige konnte keiner Fliege etwas zuleide tun, und erst recht keine solche Verwüstung anrichten. Es musste also jemand anderes gewesen sein und da Lucas Mutter körperlich wohl nicht zu einer solchen Zerstörung fähig war, blieb nur noch Jochen übrig. Der Schwarzhaarige warf das Heft wieder auf den Boden und lief zügig zu seinem Bruder zurück. „Ich habe genug gesehen“, sagte er, „Ruf an!“ Samuel nickte und holte sein Handy aus der Hosentasche. Er tippte kurz darauf herum, dann hielt er es sich as Ohr. Was genau er sagte, hörte Nicholas nicht. Er war mit etwas Anderem beschäftigt. Er hatte endlich seine Antwort gefunden. Er wusste jetzt, wer es war, der Luca das alles angetan hatte. Doch war er nicht erleichtert über diese Erkenntnis. Im Gegenteil: Ein schrecklicher Klos hatte sich in seinem Hals gebildet. Luca war am Sonntagabend zu ihm gekommen. Was, wenn etwas vorgefallen war? Wenn er sich richtig erinnerte, dann hatte der Blondhaarige schrecklich ausgesehen. Ob er vorher wieder von Jochen verprügelt worden war? Nicholas fühlte sich gleich fiel mieser, als er es in den letzten Tagen getan hatte. Luca hatte Zuflucht bei ihm gesucht! Und was hatte er getan? Ihn einfach wieder rausgeworfen! Was, wenn Luca sich etwas angetan hatte? Nicholas wusste, dass er sich das nie verzeihen würde. Er wollte nicht noch eine Person verlieren, die er liebte. Der Tod seiner Mutter hatte ihn in ein tiefes Loch gerissen, in das er nicht mehr fallen wollte. „Was ist eigentlich los?“, riss ihn sein Bruder aus den Gedanken. „Luca ist verschwunden!“, schrie Nicholas, lauter als beabsichtigt. Er wusste, Samuel konnte nichts dafür, trotzdem fuhr er ihn so an. „Er hat mir einen Abschiedsbrief geschrieben und jetzt ist er verschwunden! Das ist los!“ Als die Polizei eintraf, unterhielt sich Samuel kurz mit ihnen, erklärte ihnen kurz die Lage. Nicholas versuchte inzwischen, seine Emotionen wieder unter Kontrolle zu bringen. Er war kein kleines Kind mehr, er musste sich zusammenreißen. „Wann haben Sieh Ihren Sohn das letzte Mal gesehen?“, hörte er einen der beiden Polizisten Jochen fragen. Er bekam nicht mit, was der Mann antwortete, denn Renés Onkel stellte ihm gerade die gleiche Frage. „Lass dir Lucas Zimmer zeigen“, verlangte er leise. Erst danach beantwortete er die eigentliche Frage. „Luca ist Sonntagabend zu mir gekommen. Wir haben uns gestritten und ich habe ihn rausgeworfen. Er war weder gestern noch heute in der Schule. Vorhin hat ein Abschiedsbrief im Briefkasten gesteckt.“ „Was willst du damit sagen?“, fragte Renés Onkel. Nicholas wusste, er meinte die Aussage mit dem Zimmer. Also begann er, zu erzählen, was er wusste. „Er kam fast jeden Tag mit neuen blauen Flecken in die Schule. Egal, wie warm es war, er hat immer lange Kleidung getragen. Bei ruckartigen Bewegungen oder wenn jemand lauter geworden ist, ist er jedes Mal zusammengezuckt. Er ist zurückgewichen, wenn ihm jemand zu nahe kam und er hat sich nur widerwillig anfassen lassen. Ich habe mehrfach darauf angesprochen, aber er hat nie darüber gesprochen. Ich hab seine Verletzungen manchmal behandelt, wenn er mich ran gelassen hat.“ Sein Gegenüber schaute ihn ungläubig an. „Willst du damit sagen, dass-“ „Genau das will ich damit sagen“, antwortete Nicholas, „Aber da ist noch mehr. Nach den Herbstferien lag Luca kurz im Krankenhaus, weil er wegen Unterernährung zusammengebrochen ist. Er war schon immer sehr dünn, fast zu dünn. Trotzdem ist er total in Süßigkeiten vernarrt. Das passt nicht zusammen.“ „Du hast nicht zufällig ein Foto von ihm?“, wollte der Mann plötzlich wissen. Verwundert nahm Nicholas sein Handy und blätterte durch seine aufgenommenen Fotos. Es dauerte nicht lange, dann hatte er ein Foto gefunden. Es war von Lucas Geburtstagsfeier, kurz nachdem er sein Geschenk geöffnet hatte. Er zeigte es seinem Gegenüber. „Für was brauchst du es?“ Renés Onkel zog ihn zur Seite und legte ihm die Hand auf die Schulter, ehe er leise begann, zu erzählen. „Gestern Abend wurde ein Jugendlicher, der in einen Verkehrsunfall verwickelt war, ins Krankenhaus eingeliefert. Sie konnten ihn noch nicht identifizieren, weil er keine Papiere oder so bei sich hatte. Er ist bewusstlos und bis jetzt hat ihn auch noch keiner als vermisst gemeldet. Einer der Ärzte hat Spuren von Misshandlungen gefunden, weswegen bis jetzt noch nichts bekannt gegeben wurde. Wenn du nichts dagegen hast, würde ich gern das Foto mitnehmen und es mit dem Jungen im Krankenhaus vergleichen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)