Auf den zweiten Blick von Seira-sempai ================================================================================ Kapitel 59: Verzweiflungstat ---------------------------- Eine Weile war es still. Peter starrte Luca sichtbar geschockt an. Er schien mit vielem gerechnet zu haben, aber nicht damit. „Du bist verletzt. Ich kann dich doch nicht einfach-“ Er brach ab. Jetzt war Luca derjenige, der verwirrt war. Hatte er gerade richtig gehört? Dachte Peter etwa, er wolle aus dem Krankenhaus raus? Wie kam er denn darauf? Der Siebzehnjährige überlegte. Hatte der Mann seine Aussage eben falsch verstanden? Scheinbar. Hatte Luca sich so missverständlich ausgedrückt oder wollte der Mann ihn nicht verstehen? „Es ist sicher möglich, dich mit Einverständnis deiner Eltern ein paar Tage früher auf eigene Gefahr zu entlassen, aber solltest du das nicht mit ihnen besprechen?“ Der Siebzehnjährige seufzte: „Nicht aus dem Krankenhaus. Weg von Jochen und Sonja!“ Peter seufzte. Diesmal schien er verstanden zu haben, was Luca wollte. „Weißt du, was du da verlangst?“, fragte er. Der Siebzehnjährige senkte seinen Blick. Das hatte er befürchtet. Peter fuhr sich mit der Hand durch das Haar. „Ich kann dich doch nicht einfach deiner Mutter wegnehmen“, empörte er sich, „Außerdem: Wie sieht es aus, wenn ich nach siebzehn Jahren auf einmal das Sorgerecht für dich verlange. Es weiß ja noch nicht einmal jemand, dass ich überhaupt einen Sohn habe. Außerdem glaube ich nicht, dass deine Mutter einfach so zustimmt.“ „Dann stell die Zahlungen ein!“, verlangte Luca, „Wenn sie die Dreitausend Euro im Monat nicht mehr bekommen, stimmen sie eher zu, als dir lieb ist.“ „Trotzdem kann ich nicht einfach-“ Peter brach ab, als sich die Tür erneut öffnete und der Arzt von vorhin das Zimmer betrat. „Ich möchte Sie bitten, zu gehen“, verlangte er, an Lucas Vater gewandt, „Sie könne Ihren Sohn gern morgen wieder besuchen.“ Wortlos erhob sich Peter und verließ das Zimmer. Am liebsten hätte Luca ihn aufgehalten oder ihm hinterhergerufen, aber er konnte sich nicht rühren. Er konnte nur zusehen, wie sein Vater ihm wieder den Rücken zukehrte. Ob er wohl wiederkam? Sonderlich begeistert schien er von Lucas Forderung ja nicht zu sein. Der Siebzehnjährige konnte verstehen, wenn er sich nicht mehr blicken ließe. „Wir hatten vorhin nicht die Gelegenheit, miteinander zu sprechen“, sagte der Arzt während er Peters Platz einnahm. Luca beachtete ihn nicht weiter. Er war wütend, dass er Peter einfach so rausgeworfen hatte. Was, wenn sein Vater nicht mehr wiederkam? „Wie fühlst du dich? Hast du Kopfschmerzen oder Schwindelgefühl?“, wollte der Mediziner wissen. „Etwas“, antwortete Luca ihm leise. Der Arzt nickte. „Ich habe schon mit deinen Eltern gesprochen. Du hast wirklich Glück gehabt. Deine Verletzungen sind nicht weiter schlimm“, begann der Arzt, „Du hast ein gebrochenes Bein, den Gips hast du sicher schon bemerkt.“ Der Blondhaarige sah an sich herunter. Tatsächlich! Sein linkes Bein war eingegipst. Das war ihm bis jetzt noch gar nicht aufgefallen. „Dazu kommen einige Prellungen. Dein Hinterkopf hat bei dem Unfall einen ganz schönen Treffer abbekommen, aber bis jetzt sind keine Komplikationen aufgetreten. Zur Sicherheit möchten wir dich trotzdem gern noch eine Weile hierbehalten. Wenn alles gut heilt, sehe ich allerdings keinen Grund, dich über Weihnachten hier zu behalten. Das Bein kannst du auch zu Hause auskurieren.“ Luca schaute aus dem Fenster. Er wollte, dass der Arzt ging. Doch der Mann schien das nicht zu wollen. „Kommen wir jetzt zu einer anderen Sache: Als ich dich untersucht habe, sind mir einige Verletzungen aufgefallen, die nicht von dem Unfall stammen, darunter eine aufgeplatzte Lippe und Würgemale am Hals. Wo hast du die her.“ Der Blondhaarige zwang sich zu einem leichten Lächeln. Er wusste, er musste gut lügen, wenn er nicht auffallen wollte. Er könnte zwar auch die Wahrheit sagen, aber das würde nichts bringen. Jochen und Sonja würden es beide abstreiten und wenn er am Ende trotzdem zurückmusste, würde Jochen sich sicher rächen. Besser, er sagte nichts. „Ich bin Sontag Abend in jemanden reingelaufen, der das nicht so toll fand und irgendwie ist das Ganze dann eskaliert“, behauptete er. Der Arzt betrachtete ihn skeptisch, er schien ihm nicht wirklich zu glauben. „Kannst du die Person beschreiben?“ „Leider nicht“, antwortete Luca, „Es war dunkel und die Person hat eine Kapuze getragen. Ich kann Ihnen nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob es ein Mann oder eine Frau gewesen ist.“ Er schnitt eine Grimasse, dann wechselte er das Thema: „Wann komm ich von den Maschinen weg?“ „Den Tropf macht gleich eine Schwester ab. Das Monitoring würde ich gern noch ein paar Tage laufen lassen, nur zur Sicherheit“, meinte der Arzt. Fürs Erste schien er sich mit seiner Aussage zufrieden zu geben. Fragte sich nur für wie lange. Luca erwiderte nichts. Er hätte auch nicht gewusst, was er sagen sollte. Es war, wie der Arzt gesagt hatte. Der Tropf kam noch am selben Tag ab, dafür musste er jetzt aber essen. Die anderen Maschinen wurden erst am nächsten Tag entfernt, wobei eine auch nur durch eine andere ersetzt wurde. Sein Puls wurde nach wie vor überwacht. Allerdings geschah das jetzt über eine Art Fingerhut, den man über seinen Mittelfinger gestülpt hatte. Das Kabel war sehr lang, weswegen er sich frei bewegen konnte, auch wenn er das Bett nicht verlassen durfte. Die Besuchszeit war seit einer Stunde vorbei. Luca lag in seinem Bett. Peter war nicht wiedergekommen. Das hieß wohl, er würde ihm nicht helfen. Von Jochen und Sonja hatte er auch nichts gehört, glücklicherweise. Jede freie Minute verbrachte er damit, nachzudenken, wie er von den beiden weg kam und immer wieder endeten seine Gedanken bei seinem Vater oder Nicholas. Als eine Krankenschwester ihm sein Tablett brachte, musste er sich zwingen, zumindest die Hälfte zu essen, damit man ihn nicht wieder an den Tropf hängte. Er war es weder gewohnt, in regelmäßigen Abständen noch so viel zu Essen. Doch er wollte nicht weiter auffallen, weshalb er sich zum Essen zwang. Er nahm eine der beiden Scheiben Brot und belegte sie großzügig mit Wurst und Käse, ehe er sie hinunter zwang. Danach trank er seinen Tee. Im Nebenzimmer wurde die Tür zugeschlagen. Es folgten schnelle Schritte. Durch den Schlag hatte Luca sich so sehr erschrocken, dass ihm die leere Teetasse aus der Hand glitt. Sie fiel auf den Boden, wo sie zersprang. Luca bückte sich, um die Scherben aufzuheben und zurück auf das Tablett zu legen. Aber er schien nicht richtig aufgepasst zu haben, denn er schnitt sich in den Finger. Er ließ die Scherben auf das Tablett fallen und nahm seinen Finger in den Mund, um nicht seine Kleidung oder das Bett voll zu bluten. Dann stellte er es auf den Nachttisch. Aus irgendeinem Grund konnte er seinen Blick nicht von den Scherben lösen. Er nahm eine besonders große in die Hand, drehte sie und betrachtete sie von allen Seiten. Wie in Trance zog er sich das Messgerät vom Finger. So schnell würde das nicht auffallen. Als er es heute Morgen versehentlich abgestreift hatte, hatten die Ärzte es erst Stunden später bemerkt. Langsam kletterte er aus dem Bett. Ihm war etwas schwindelig, aber er schaffte es problemlos ins Bad. Dort ließ er sich neben der Dusche auf den Boden sinken. Der kurze Weg hatte ihn mehr angestrengt, als er geglaubt hatte, vor allem mit dem eingegipsten Bein. Er schaute nicht in den Spiegel, wollte sein Gesicht nicht sehen. Wie gerne würde er sich jetzt an Nicholas kuscheln, sich von dem Schwarzhaarigen umarmen lassen, und die Welt um sich herum vergessen. Aber das ging nicht mehr. Nicholas hatte sich von ihm abgewandt, wie es bis jetzt jeder getan hatte. Was stimmte nur mit ihm nicht? Keiner wollte ihn, auch nicht sein Vater. Warum? Warum konnte er nicht glücklich werden. Er ballte seine Hand zur Faust. Erst als er einen kurzen Schmerz spürte, bemerkte er, dass er noch immer die Scherbe in ihr hielt. Vorsichtig nahm er sie und zog sie über seinen Unterarm, an der Stelle, wo sich die Pulsadern befanden, und hinterließ eine dünne, rote Linie.. Es hatte doch eh keinen Sinn. Nicholas wollte ihn nicht mehr, keiner wollte ihn. Er drückte stärker zu, zuerst am linken Arm, dann am rechten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)