Auf den zweiten Blick von Seira-sempai ================================================================================ Kapitel 61: Lucas Geständnis * ------------------------------ „Ich habe es befürchtet.“ Der Arzt sah betreten zu Boden und auch Peter schien bedrückt zu sein. „Das ist noch nicht alles“, fuhr Nicholas fort, „Nach den Herbstferien lag Luca eine Woche im Krankenhaus. Er ist wegen Unterernährung zusammengebrochen. Dem Arzt hat er irgendetwas von einer Diät erzählt, aber ich glaube das nicht. Er hat es nicht nötig, eine Diät zu machen. Außerdem liebt er Süßes. Sie hätten ihn sehen sollen, als wir ihn zum Geburtstag mit einer Torte überrascht haben. Er konnte gar nicht genug bekommen. Ein andermal hat er mehr Sahne als Torte gegessen. Das passt nicht zusammen!“ Peter ließ sich auf den Stuhl fallen. Er stützte seine Ellenbogen auf den Oberschenkeln und den Kopf auf den Händen. „Ich glaube, ich habe einen riesigen Fehler gemacht“, murmelte er. In diesem Augenblick begannen Lucas Augenlider zu zucken. Sofort galt Nicholas‘ Aufmerksamkeit dem Blondhaarigen. Er zog eine Hand zurück und nahm etwas Abstand. „Egal, was passiert“, sagte er leise zu den beiden Männern, „Machen Sie keine ruckartigen Bewegungen, bleiben Sie in seinem Sichtfeld, schreien Sie nicht und fassen Sie ihn auf keinen Fall ohne sein Einverständnis an.“ Luca blinzelte ein paar Mal, dann begann sein Blick durch den Raum zu wandern. Als er Nicholas entdeckte, hielt er inne. Er hob seine Hand und streckte sie nach dem Schwarzhaarigen aus, wie als wolle er überprüfe, ob er wirklich da war. Als Nicholas nicht gleich reagierte, versuchte er, sich aufzusetzen. Sofort ging Nicholas auf ihn zu und ergriff die Hand. Erst jetzt bemerkte er, dass sie zitterte. Sein Blick fiel auf den Verband, der um Lucas Handgelenk gewickelt war. „Du Idiot“, schimpfte er, „Hast du auch nur den Hauch einer Ahnung, was du mir für einen Schrecken eingejagt hast? Tu sowas nie wieder! Hörst du?“ Er spürte, wie Luca sich in der Umarmung verspannte, doch er ließ ihn nicht los, sondern wartete, bis der Blondhaarige sich an die Nähe gewöhnt hatte. Es dauerte nicht lange, da spürte er, wie Luca sich an ihn schmiegte. „Es tut mir so leid“, schluchzte Nicholas, „Wenn ich mich Sonntag nicht so unmöglich benommen hätte… Wenn ich dir nur zugehört hätte… Es tut mir so leid.“ Er bemerkte erst, dass er weinte, als er spürte, dass Lucas Krankenhaushemd an der Schulter nass wurde. Beschämt löste er sich etwas von seinem Klassenkameraden und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht, aber sie wollten nicht stoppen. So ganz schien Luca seine Umwelt noch nicht wahrzunehmen, denn er blickte Nicholas sichtbar verwirrt an. „Was ist passiert?“, fragte er mit schwacher Stimme. Er hatte kaum zu Ende gesprochen, da schien es ihm wieder einzufallen, denn seine Augen weiteten sich und er schaute auf seine Handgelenke. Danach sah er wieder zu Nicholas, so als könne er sich nicht erklären, warum der Schwarzhaarige hier war. Nicholas zog ihn vorsichtig wieder in seine Arme, so dass er sich bequem an ihn lehnte und kletterte zu Luca ins Bett. Dann begann er, ihm beruhigend mit der Hand über den Rücken zu streichen. Er spürte, wie Luca sich regelrecht an ihn klammerte. „Geh nicht weg“, murmelte der Blondhaarige leise gegen sein Oberteil, „Lass mich nicht wieder allein. Bitte.“ So sehr wie in diesem Moment hatte Nicholas sich seit Jahren nicht mehr gehasst. Hätte er es gekonnt, hätte er seinen Kopf gegen die Wand geschlagen. Wie hatte er so blöd sein können? Was, wenn er Luca durch seine Blödheit verloren hätte. „Es tut mir so leid“, wiederholte er, „Ich lass dich nie wieder im Stich, versprochen.“ „Heißt das-“ Luca brach ab, so als sei er sich nicht sicher, ob er zu Ende sprechen sollte. „Heißt das, du willst mich noch? Ich bin dir nicht zu lästig geworden?“ Der Schwarzhaarige war entsetzt. „Natürlich will ich dich noch! Wie kommst du auf diesen Blödsinn?“ Erst danach fiel ihm auf, dass man seine Aussage auch anders auslegen konnte, als er es gemeint hatte, und dass sie nicht allein in dem Zimmer waren. Die beiden Männer starrten ihn mit einer Mischung aus Unglauben und Entsetzen an, doch er ging nicht weiter darauf ein. Sollten sie denken, was sie wollten. Nicholas wartete, bis Luca wieder völlig ruhig war, ehe er weitersprach: „Warum hast du das getan?“ Es war allen klar, worüber er sprach, also konnte Luca sich nicht herausreden. Aber eine Antwort bekam er trotzdem nicht, weswegen er sich vorsichtig von Luca löste und so weit entfernte, dass er ihm in die Augen sehen konnte. Mit den Fingern fuhr er über die Würgemale und die inzwischen wieder halb verheilte aufgeplatzte Lippe. „Ist es deswegen?“ Zuerst wollte Luca den Kopf abwenden. Nicholas legte vorsichtig ihm die Hand an das Kinn und zwang ihn, Blickkontakt zu halten. Gleichzeitig hinderte er ihn daran, zu nicken oder den Kopf zu schütteln. „Antworte“, forderte der Schwarzhaarige ruhig, aber mit Nachdruck. „Ich“, stotterte der Blondhaarige, „Ich dachte, du- Und-“ Nicholas seufzte. So würde er keine vernünftige Antwort bekommen, weswegen er mit der nächsten Frage fortfuhr: „Wer misshandelt dich?“ Er spürte, wie Luca erstarrte und sich gleich drauf versuchte, aus seinem Griff zu befreien, aber Nicholas ließ nicht locker. „Bitte“, flehte der Blondhaarige, „Zwing mich nicht.“ Bis jetzt hatte Nicholas immer an diesem Punkt abgebrochen, aber so konnte es nicht weitergehen. Er brauchte Antworten, bevor es zu spät war. „Es ist dein Stiefvater, dieser Jochen, oder?“, sprach er seine Vermutung aus. Tränen standen in Lucas Augen und er kämpfte noch stärker gegen Nicholas‘ Griff an, so stark, dass Nicholas gezwungen war, seinen Oberkörper zurück auf das Bett zu drücken. Der Schwarzhaarige kniete sich über Luca, packte mit einer Hand dessen Handgelenke, darauf achtend, die verbundenen Stellen nicht zu berühren, und drückte sie über Lucas Kopf auf das Kissen. Mit der anderen fixierte er das Kinn des Blondhaarigen. „Beantworte meine Frage. Ich will entweder ein ‚Ja‘ oder ein ‚Nein‘ von dir hören, eher lasse ich dich nicht los. Und wage es nicht, mich anzulügen“, forderte er, „Ist Jochen derjenige, der dich misshandelt?“ „Ja“, schluchzte Luca, ehe er begann, hemmungslos zu weinen. Nicholas ließ sich neben ihn auf das Bett fallen und zog ihn in seine Arme. Wie schon vorhin streichelte er ihm über Kopf und Rücken, während er ihm beruhigende Worte zuflüsterte. „Shhh“, tröstete er den Blondhaarigen, „Es ist alles gut.“ Den beiden Männern machte er mit einer Geste deutlich, dass sie still sein sollten. Der Schreck über Lucas Aussage stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Der Arzt hielt sich eine Hand vor den Mund, flüsterte Peter kurz etwas zu und verließ leise das Zimmer. Peter hatte seine Hände zu Fäusten geballt und seine Gesichtszüge zeigten eine Mischung aus Wut und Fassungslosigkeit. Es schien ihm schwer zu fallen, still zu sein. „Bitte“, flüsterte Luca leise, so leise, dass Nicholas es beinahe nicht gehört hätte. Er musste sich anstrengen, um die folgenden Worte zu verstehen. „Ich tu alles, aber lass mich nicht wieder allein. Bitte. Ich will nicht wieder allein sein.“ Der Schwarzhaarige zog seinen Klassenkameraden noch ein Stück näher an sich heran. „Ich geh nicht weg, ich bin für dich da, versprochen.“ Es dauerte lange, bis Luca sich soweit beruhigt hatte, dass er wieder einschlief. Die ganze Zeit über hatte er sich an Nicholas geklammert, wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring. Durch Lucas Verhalten war ihm etwas klar geworden, was er schon viel früher hätte bemerken müssen. Dann wäre es nicht so weit gekommen. Wäre er nicht so blind gewesen, hätte der Blondhaarige nicht so sehr leiden müssen. Im Nachhinein fragte Nicholas sich, wie er es so lange übersehen konnte. Luca hatte es ihm gesagt. Er hatte ihm gesagt, dass er der erste war, der die Hand nach ihm ausgestreckt und ihm wirklich geholfen hatte. Er war zu einer Art Rettungsanker für den Blondhaarigen geworden. Luca musste sich, bewusst oder unbewusst, an ihn geklammert haben. Doch so gern, wie Nicholas seinen Freund hatte, beunruhigte ihn diese Tatsache, denn sie stellte Lucas gesamtes Verhalten infrage. Konnte Luca zwischen der Dankbarkeit, die er zweifellos für ihn empfand, und eventuellen anderen Gefühlen unterscheiden? Oder mochte er ihn nur, weil er ihm geholfen hatte? Dieser Gedanke versetzte Nicholas einen Stich ins Herz. Er wollte, dass Luca ihn als Person mochte, und nicht, weil er ihm geholfen hatte. Doch konnte er das überhaupt verlangen? Hatte er nach seinem Verhalten am Sonntag überhaupt noch das Recht dazu?  Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)