Auf den zweiten Blick von Seira-sempai ================================================================================ Kapitel 64: Neuanfang --------------------- Luca unterhielt sich noch eine Weile mit Ute und Hans, wobei er die ältere Frau wirklich nett fand. Sie kam ihm ein bisschen wie eine Großmutter vor. Was er von Hans halten sollte, wusste er nicht. Es war nicht so, dass der Mann unfreundlich war oder so, aber sein Verhalten machte Luca irgendwie Angst. Dazu kam seine Laute stimme und sein wildes Gestikulieren. Mit beidem konnte Luca nicht wirklich umgehen. Ihm war bewusst, dass es dem Mann gegenüber ungerecht war, immerhin hatte er nichts getan, doch der Siebzehnjährige konnte nicht anders. Als Ute verkündete, in die Küche zu gehen und das Abendessen zuzubereiten, gab er vor, erschöpft zu sein und sich noch etwas ausruhen zu wollen, damit Hans ebenfalls ging. Trotzdem hoffte, dass diese Angst, die er in der Gegenwart des Mannes verspürte, bald verschwand. Nun, wo er allein in diesem fremden Zimmer war, kam es ihm plötzlich riesengroß und kalt vor. Er kuschelte sich in die Bettdecke, so gut er es mit seinem gebrochenen Bein konnte. Aber das half auch nicht wirklich. Letztendlich kletterte er samt Decke aus dem Bett und humpelte zum Heizkörper. Diesen drehte er auf, ehe er sich gegen ihn sinken ließ und sich in die Decke einwickelte. Es half nicht ganz gegen die Kälte, die das Zimmer ausstrahlte, aber er fühlte sich schon etwas besser. Es war nicht so angenehm, wie die Wärme, die Nicholas ausstrahlte, wenn er sich an ihn kuschelte, aber es war besser als nichts. Er schloss die Augen und versuchte, sich etwas zu entspannen. So fand ihn auch sein Vater, als er, nachdem er leise geklopft hatte, das Zimmer betrat. Als er sah, dass Luca nicht im Bett lag, schaltete er das Licht ein. Kurz musste Luca blinzeln, um sich an die plötzliche Helligkeit zu gewöhnen, trotzdem sah er den überraschten Blick, mit dem Peter ihn musterte. „Geht es dir nicht gut?“, fragte der Mann besorgt und kniete sich neben ihm auf den Boden. Er streckte die Hand aus und fühlte seine Stirn. Luca zuckte erschrocken zurück und kniff seine Augen zusammen. Doch dann erinnerte er sich, dass das vor ihm nicht Jochen war und er keine Schmerzen zu befürchten hatte. Zaghaft öffnete er die Augen wieder und schaute seinen Vater an. Peter seufzte gequält. „Was hat dieses Monster nur mit dir gemacht?“, flüsterte er. Es schien ihm wirklich nahe zu gehen. „Es tut mir leid“, murmelte Luca. Das tat es wirklich. Peter hatte ihm nichts getan. Im Gegenteil: Er kümmerte sich jetzt sogar um ihn. Es war nicht fair, dass er vor ihm zurückschreckte. Trotzdem konnte er seine Reflexe nicht kontrollieren. „Was entschuldigst du dich?“, fragte der Mann, „Du kannst nichts dafür. Wenn sich jemand entschuldigen muss, dann bin ich das. Ich hätte meinen Hass auf Sonja nicht an dir auslassen dürfen. Ich hätte nach dir sehen müssen. Dann hätte ich bemerkt, dass etwas nicht stimmt und dich schon früher da wegholen können. Wegen meiner Sturheit musstest du Jahre bei diesen Leuten leben.“ Der Siebzehnjährige schüttelte leicht seinen Kopf. „Du konntest es nicht wissen“, versuchte er, seinen Vater zu beruhigen. Es war keinem aufgefallen, nicht den Nachbarn, nicht den Lehrers, nicht seinen Mitschülern. „Ich wollte dich eigentlich zum Essen holen“, lenkte Peter von dem unangenehmen Thema ab, „Es ist bestimmt gleich fertig.“ Luca nickte. Er kämpfte sich wieder auf sie Beine. Zwar hatte er sich langsam daran gewöhnt, das gebrochene Bein nicht zu sehr zu belasten, aber es fiel ihm immer noch sehr schwer. Sein Vater reichte ihm leicht lächelnd seine Krücken und hielt ihm die Tür auf, als er aus dem Zimmer humpelte. Er führte ihn die Treppe hinunter in die Küche. Dort deckten Nina und Ute gerade fröhlich miteinander scherzend den Tisch. Peter half ihm, sich auf einen der Stühle zu setzen und nahm ihm die Krücken ab, damit sie ihn beim Essen nicht störten. Er lehnte sie neben Luca an den Schrank, damit der Siebzehnjährige noch an sie herankam. Als Ute da Essen auftrug, war Luca vollends verblüfft. Es bestand aus einer Vorsuppe, einem Hauptgang und einem Dessert. Wie sollte er das alles nur essen? Zum Glück musste er sich keine Sorgen um das Besteck machen. Er hatte in der Realschule in einem Projekt gelernt, dass man von außen nach innen aß, außerdem war die Auswahl noch recht anschaulich. Ute begann, die Suppe auszuteilen. Dann nahm sie gemeinsam mit Hand ebenfalls am Tisch platz. Trotz seines Krankenhausaufenthalt schaffte Luca es nicht, größere Mengen auf einmal zu verspeisen. Es war zwar besser geworden, aber dennoch weit von der Normalität entfernt. Schon nach der Vorsuppe merkte er, dass er unmöglich alles schaffen konnte. Eigentlich war er schon jetzt satt. Doch er hatte noch zwei Gänge vor sich. Zu allem Überfluss lud Ute ihm auch noch seinen ganzen Teller voll. „Du musst mehr essen, Junge“, begründete sie ihr Handeln, „Du bist viel zu dünn.“ Luca versuchte es, aber schon nach wenigen Bissen musste er es sich hinunterzwingen. „Schmeckt es dir nicht?“, fragte Peter. Ihm schien sein Kampf mit dem Essen aufgefallen zu sein. Schnell schüttelte Luca den Kopf. „Es ist wirklich lecker“, lobte er Utes Kochkünste, er wollte es sich schließlich nicht mit der Frau verscherzen, „Ich bin es nur nicht gewohnt, so viel zu essen. Ich hatte schon im Krankenhaus so viel und jetzt das-“ „Schon gut“, unterbrach Peter ihn leise, „Du musst es dir nicht reinzwingen. Vielleicht lässt du dir lieber noch etwas Platz für das Dessert. Ute hat Sahnetorte gebacken.“ Der Siebzehnjährige schaute ihn dankbar an. „Willst du damit sagen, dass deine Mutter dich nicht vernünftig versorgt hat? Dass sie dir nichts zu essen gegeben hat?“, wollte Ute geschockt wissen. Luca fuhr zusammen und schaute seinen Vater Hilfe suchend an. Peter seufzte. „Die Tatsache, dass ihr das Sorgerecht entzogen wurde, sollte für sich sprechen“, beendete er das Thema. Doch Ute ließ nicht locker. Mit einem bösen Blick brachte sie den Mann zum Schweigen, dann wandte sie sich wieder an seinen Sohn. „Sie hat dir doch zu essen gegeben, oder?“ „Jetzt lass ihn sich doch erstmal einleben“, versuchte Nina, die Sache irgendwie zu beruhigen, „Der Arme Junge ist gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen worden.“ Am liebsten wäre Luca weggerannt und hätte er es gekonnt, hätte er es vermutlich auch getan. Er mochte es nicht, so bedrängt zu werden. Seine Hände begannen, zu zittern. Die Gabel, die er eben noch gehalten hatte, fiel mit einem klirrenden Geräusch auf den Boden. Sofort beugte Luca sich, um sie wieder aufzuheben. Dabei verrutschte sein Ärmel und gab die Sicht auf sein verbundenes Handgelenk frei. Er hatte sich noch nicht wieder richtig hingesetzt, da war Ute schon aufgestanden, zu ihm geeilt und hatte auch das andere freigelegt. Es brauchte nicht viel, um sich zusammenreimen zu können, was sich unter den Verbänden befand. Der Siebzehnjährige konnte an ihrem Blick ablesen, dass sie verstanden hatte. Alles in ihm drängte ihn zur Flucht. Die Gabel rutschte ein zweites Mal aus seinen zitternden Händen. Er schob seinen Stuhl zurück und wollte aufstehen, vergaß aber sein gebrochenes Bein und stürzte, kaum dass er es auf dem Boden aufgesetzt hatte. „Luca!“, rief Peter erschrocken, was ihn erneut zusammenzucken ließ. Der Mann sprang auf und kniete sich neben ihn. „Was hast du?“ Luca versuchte, ihn wegzustoßen, als er ihn anfasste, doch er hatte seinen immer stärker zitternden Körper nicht mehr unter Kontrolle. Er kannte dieses Gefühl und es machte ihm Angst. Es fühlte sich schrecklich an, anderen so ausgeliefert zu sein. „Sag doch etwas“, drang Peters Stimme zu ihm durch. Er klang verzweifelt. „Hol-“ Es war anstrengend, zu sprechen. Jedes Wort musste er mit einer Genauigkeit formen, die er nicht gewohnt war. „Hol Nicholas.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)