Auf den zweiten Blick von Seira-sempai ================================================================================ Kapitel 1: Lucas Welt --------------------- Es war Montag, der erste Schultag nach den Ferien. Der Unterricht hatte noch nicht begonnen und Luca bereute schon, sich dazu entschieden zu haben, nach dem Realschulabschluss noch das Abitur zu machen. Am Abitur an sich war eigentlich nichts auszusetzen, aber hatte er unbedingt auf diese Schule gegen müssen? Das Wirtschaftsgymnasium, dessen Schulhof er gerade betrat, war in der ganzen Stadt das Einzige und er fuhr mit dem Bus jedes Mal eine Dreiviertelstunde, um zur Schule und wieder nach Hause zu kommen. Zum Glück wurde die Schülerbeförderung noch staatlich gefördert und seine Eltern mussten nur einen geringen Anteil der Monatskarte bezahlen, sonst hätte er wohl nie auf das Gymnasium gedurft. Es war nicht so, dass sie arm waren, aber sein Vater, pardon Stiefvater, gab das Geld lieber für andere Dinge aus. Zum Beispiel Alkohol, mit dem er sich regelmäßig das Gehirn wegsoff. Aber dagegen sagen würde Luca nichts. Er hatte noch Schmerzen vom letzten Wutanfall seines Stiefvaters und der war zwei Tage her. Der Sechzehnjährige ließ seinen Blick über das Schulgelände schweifen. In der Mitte des Pausenhofes stand ein großer, eingezäunter Springbrunnen. Um ihn herum waren einige Bänke aufgestellt. Es sah gemütlich aus, fand er. Nur war er nicht sicher, ob er diese Gemütlichkeit auch genießen konnte. „Was stehst du hier so blöd herum, du Schwuchtel!", rief eine laute Stimme hinter ihm. Thomas Lange. Sie hatten die gleiche Realschule besucht. Und aus irgendeinem Grund schien Thomas sich das Ziel gesetzt zu haben, ihm das Leben so schwer wie möglich zu machen. Luca seufzte. Hätte er doch nur eine Ausbildung gemacht. Aber woher hätte er denn wissen sollen, dass Thomas, der bis jetzt immer nur schlechte Zensuren gehabt hatte, es noch irgendwie auf die erforderliche Durchschnittsnote schafft. „Hey!", rief Thomas und holte zu ihm auf, „Hörst du schwer?" Er packte Luca an der Schulter und drehte ihn um, damit er ihn ansehen musste. Wie schon vor den Ferien hielt Thomas seine dunkelbraunen Haare kurz und seine grau-grünen Augen blitzten Luca angriffslustig an. Er war breiter gebaut als Luca, aber das war auch keine Kunst, so schmächtig, wie Luca war. Neben Thomas stand Leonie Koch, auch sie kannte Luca von der Realschule. Wie immer trug sie einen extrem knappen Minirock, ein weit ausgeschnittenes Top und Schuhe mit zwölf Zentimetern Absatz in auffälligen Farben. Ihre wasserstoffblonden Haare hatte sie im Nacken zusammengebunden und ihre hellbraunen Augen blitzten schadenfroh. „Ich rede mit dir, du Schwuchtel!" Thomas stieß ihn gegen die Schulter, woraufhin Luca zurückstolperte, dabei zu allem Überfluss auch noch über seine eigenen Füße fiel und auf dem Hintern landete. „Man, wie blöd kann man eigentlich sein?", höhnte Leonie, ehe sie und Thomas sich von ihm abwandten und das Schulgebäude betraten. Mit etwas Abstand folgte Luca ihnen. Als sie das Zimmer betraten, achtete er darauf, sich nicht in ihre Nähe zu setzen. Es waren noch keine weiteren Schüler da, sie waren die Ersten. Ein Mädchen mit schulterlangen, schwarzen Haaren betrat das Zimmer. Sie stellte sich kurz als Rebecka oder Becky vor, bevor sie sich ebenfalls einen Platz suchte. Ihr folgten weitere Schüler, aber Luca beachtete sie nicht weiter. Schweigend starrte er auf seine Bank und hoffte, der Unterricht möge endlich beginnen, bevor Thomas und Leonie auf die Idee kamen, ihn weiter zu schikanieren. Ein Junge mit verwuschelten schwarzen Locken und rotbraunen Augen setzte sich auf die Bank vor ihm, aber Luca traute sich nicht, ihn anzusprechen. Nach einer gefühlten Ewigkeit klingelte es endlich und der Lehrer, ein Mann mittleren Alters mit hoher Stirn, betrat das Zimmer. Dem Stundenplan, den er zugesendet bekommen hatte, zufolge hieß er Herr Peters und war ihr Mathelehrer. Als erstes prüfte er die Anwesenheit. Dazu nahm er die Klassenliste und einen leeren Sitzplan. Er rief immer einen Schüler auf und notierte sich dann auf dem Sitzplan, wo dieser saß. „Luca Anders", rief Peters, wie könnte es auch anders sein, seinen Namen als erstes. „Hier!" Luca hob meine Hand und zwang sich, ihm laut und deutlich zu antworten, damit keiner bemerkte, wie viel Schiss er eigentlich hatte. „Fynn Barthel", fuhr der Lehrer mit dem nächsten Namen fort. Der Junge vor ihm meldete sich. „Rebecka Bauer!" Das Mädchen mit den schulterlangen Haaren, das nach Luca das Zimmer betreten hatte, meldete sich. „Jan Baumann!" Ein großer, schlanker Junge mit dichtem, schwarzen Haar und dunkelblauen Augen, der sich hinter Thomas und Leonie gesetzt hatte, hob seine Hand. „Hier!" Peters rief den nächsten Namen auf: „René Feldmann!" Niemand antwortete. Verwundert sah der Lehrer auf und ließ seinen Blick durch die Klasse gleiten, bevor er wiederholte: „René Feldmann?" Die Tür wurde aufgestoßen und ein Junge mit kurzem, schokoladenbraunem Haar und grau-blauen Augen betrat das Zimmer. „Hier!", rief er mit einem breiten Grinsen im Gesicht und winkte dem Lehrer zu. Er war muskulös gebaut, woraus Luca schloss, dass er regelmäßig Sport trieb. Peters schaute ihn mahnend an. „Wo kommen Sie so spät noch her?" Der Junge, Luca ging davon aus, dass er René hieß, lächelte den Lehrer entschuldigend an. „Wir haben den Bus verpasst." Er ging zu Rebecka und setzte sich auf den freien Platz zu ihrer Rechten. „Hallo Schatz", begrüßte sie ihn mit einem Kuss auf die Wange „Ich habe schon befürchtet, du kommst heute gar nicht mehr." Einen Augenblick war es ruhig, Peters notierte Renés Namen auf dem Sitzplan und wollte gerade den nächsten aufrufen, als er stockte. „Wir?", fragte er verwirrt. René deutete auf die immer noch geöffnete Tür, durch die gerade ein weiterer Schüler trat. Er war ähnlich muskulös wie René, hatte schulterlanges, schwarzes Haar, leuchtend grüne Augen und einen Gesichtsausdruck so grimmig, dass Luca am liebsten vor ihm zurückgewichen wäre. Er trug dunkle Klamotten und seine Ausstrahlung hatte etwas düsteres, raubtierartiges. Er wirkte fast schon gefährlich. Peters schien es ähnlich zu gehen. Seine Hände verkrampften sich um den Tisch und er schaute den Schüler erschrocken an. „Nicholas Lemke", antwortete der Junge ungefragt und ließ sich auf den Platz hinter René fallen. „Das ist ein schlechter Scherz", erklang Jans Stimme „Das können die uns nicht antun." Er schaute Nicholas erschrocken an. „Was ist denn los?", wollte sein Banknachbar, ein Junge mit mitternachtsblauen Augen und etwas kräftigerem Körperbau, wissen. „Der Typ ist gefährlich!", flüsterte Jan so leise, dass Luca ihn kaum verstand, „Ich bin mit ihm auf die Realschule gegangen. Er war in meiner Parallelklasse. Vor drei Jahren hat er drei Sechzehnjährige krankenhausreif geschlagen, weil sie ihm irgendwie dumm gekommen sind." „Stimmt das?", wollte Thomas wissen. Er hatte sich zu den Beiden umgedreht. Als diese ihm nicht antworteten, schaute er zu Nicholas. Dieser hob seine Schultern. „Stand sogar in der Zeitung", meinte er gelassen, bevor er seinen Stuhl zurückschob und seine Füße übereinanderschlug und auf dem Tisch platzierte. Peters starrte ihn erschrocken an, ermahnte ihn aber nicht, sondern vervollständigte seinen Sitzplan. Hinter Nicholas saßen Zwillinge, mit auffälligem, rotem Haar, das so rot war, dass es nur gefärbt sein konnte. Die Beiden lachten, als der Lehrer nichts gegen Nicholas' Respektlosigkeit unternahm. Luca hörte ihm nicht weiter zu, zu sehr war er von Nicholas fasziniert. Der Schwarzhaarige war gefährlich, das wusste er, aber er konnte seine himmelblauen Augen trotzdem nicht von ihm abwenden. Ihm gefielen die tiefschwarzen Haare, die so ganz anders waren, als seine goldblonden Locken, die mal wieder geschnitten werden mussten. Wenn er doch auch so einen Körper hätte, wie dieser Nicholas, dann würden ihn die Anderen bestimmt in Ruhe lassen. Aber nein, er musste einen kleinen, schmächtigen Körper haben, in dem ihn sogar Mädchen überragten. Als es klingelte, wies sie Peters noch einmal darauf hin, dass am Freitag der Klassensprecher gewählt wurde, dann entließ er die Schüler. Einige der Schüler verließen das Zimmer, um in den Hof zu gehen, andere begannen, mit ihren Mitschülern zu quatschen. Nur Luca blieb auf seinem Stuhl sitzen. Gern wäre er zu den Anderen gegangen, aber er traute sich nicht. Zu oft war er abgewiesen worden. Thomas schlenderte zu ihm rüber und begann, seine Schultasche zu durchwühlen. Luca hinderte ihn nicht daran. Er hatte längst gelernt, dass er sich nicht gegen Thomas wehren konnte. Dieser grinste, als er Lucas in Frischhaltefolie eingewickelte Pausenbrote fand und sie mitnahm. Luca seufzte. Wieder ein Tag, an dem er nichts essen würde, aber das war er bereits gewohnt. Den musternden Blick, den Nicholas ihm zuwarf, bemerkte er nicht. Mit dem Gedanken, dass sein Stiefvater heute hoffentlich nicht zu Hause war, ließ er sich, mit den Armen seinen Kopf bettend, auf die Bank fallen. Kapitel 2: Das Wort "Schwuchtel" -------------------------------- Der Dienstag begann, wie der Montag endete: Mit dem Gespött seiner Mitschüler. Zwar hatte Luca gestern Glück gehabt und es war ihm gelungen, seinem Stiefvater aus dem Weg zu gehen, aber das besserte seine Lage nicht wirklich. „Verschwinde, du Schwuchtel", rief Thomas quer über den Schulhof, „Du verpestest unsere Luft!" Leonie, die neben ihm stand kicherte. „Ja, verpiss dich, bevor du noch jemand mit deiner Widerlichkeit ansteckst!" Aber die beiden waren nicht mehr allein. Jan und Martin, Jans Banknachbar, hatten sich ihnen angeschlossen. Jetzt gingen sie nicht mehr zu zweit, sondern zu viert auf Luca los. Der Sechzehnjährige versuchte, an ihnen vorbei in das Schulgebäude zu gehen, als ihm Thomas das Bein stellte. Luca, der damit nicht gerechnet hatte, fiel der Länge nach hin und schlug sich seine Knie auf. Er spürte, wie ihm die Tränen kamen und konnte diese nur mit Mühe zurückhalten. Wenn er weinte, würden sie sich nur noch schlimmer über ihn lustig machen, das wusste er. Deshalb stand er zügig wieder auf und lief an den vieren vorbei in sein Klassenzimmer, wo er sich auf seine Bank fallen ließ. Die Tränen, die er nicht länger zurückhalten konnte, begannen, ihm über das Gesicht zu laufen und er schluchzte leise. Hoffentlich betrat keiner das Zimmer, denn noch war er allein hier. Doch das Glück schien nicht auf seiner Seite zu sein, denn nur wenige Minuten nach ihm, wurde die Tür geöffnet. Luca sah nicht auf und wusste deshalb nicht, wer eintrat. Er vernahm nur die Schritte, die an ihm vorbei zur anderen Seite des Klassenzimmers gingen. Schnell wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht. Er wollte vor den Anderen nicht als Heulsuse dastehen. Dann sah er zu der Person, die das Zimmer betreten hatte. Es war Nicholas, der sich gerade auf seinen Platz setzte und ihn keines Blickes würdigte. Zum Glück. Luca wusste nicht, was er getan hätte, wenn der andere ihn darauf angesprochen hätte. Aber es wären wohl eh nur dumme Beleidigungen gewesen. Der Tag zog sich nur schleppend hin. Luca bemühte sich, Thomas und dessen neu gefundenen Freunden aus dem Weg zu gehen. Heute gelang es ihm, aber wer wusste, wie lange sein Glück noch hielt? Als er zu Hause ankam, stand das Auto seines Stiefvaters, er weigerte sich, den Mann als seinen Vater zu bezeichnen, nicht vor dem Haus. Er war also noch auf Arbeit, oder bei einem seiner Kollegen. Hoffentlich hatte er heute Abend gute Laune, wenn er nach Hause kam. Als Luca am Mittwoch aufwachte, wusste er, er würde diesen Tag hassen und das lag nicht am Wetter. Draußen schien die Sonne und er fühlte sich, als wolle sie ihn auslachen. Musste das Wetter ihm auch noch in den Rücken fallen? Konnte es an diesem bescheuerten Tag nicht regnen, und am besten an jedem folgenden Mittwoch auch, für den Rest des Schuljahres? Heute hatte er Sport. Er hasste Sport. Nicht, weil er besonders schlecht darin war, sondern weil das Mobbing seiner Mitschüler im Sportunterricht immer am schlimmsten war. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, einfach im Bett liegen zu bleiben und zu schwänzen. Aber dann müsste er den ganzen Tag zu Hause bleiben und das wollte er ebenfalls nicht. Also zwang er sich, das Bett zu verlassen und machte sich für die Schule fertig. Mit seiner Schultasche und seinen Sportsachen bepackt, schlich er leise durch das Haus, damit er seinen Stiefvater nicht weckte. Der Sechzehnjährige gähnte. Er hatte in der Nacht nicht besonders viel geschlafen. Sein Stiefvater war erst spät zurückgekehrt und hatte sich mit seiner Mutter lautstark gestritten. Anschließend hatte er in Lucas Zimmer gewollt, doch Luca hatte vorsorglich die Tür von innen verschlossen. Eine Weile hatte sein Stiefvater an der Tür gerüttelt und Luca hatte schon befürchtet, er würde die Tür eintreten. Doch dann hatte er es aufgegeben und war schlafen gegangen. An der Turnhalle angekommen, stellte sich ihm das nächste Problem. Die Jungs hatten die Tür versperrt und wollten ihn nicht hineinlassen. Er klopfte zwei Mal, bevor er es aufgab und sich gegen die Wand, der Tür gegenüber, lehnte. Irgendwann würde schon ein Mitschüler oder ihr Lehrer kommen und dann konnte er hinein. Das dachte er zumindest. Doch jedes Mal, wenn einer seiner Mitschüler an ihm vorbeikam, wurde zwar dieser hinein gelassen, die Tür danach aber so schnell wieder geschlossen, dass er keine Chance hatte, hineinzukommen. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als auf den Lehrer zu warten und das konnte dauern. Luca rutschte an der Wand herunter und blieb auf dem Boden sitzen. Schon wieder kamen ihm die Tränen hoch. Er hasste sich dafür, dass er so schwach war, dass er sich nicht wehren konnte, dass er schon wieder heulte. Warum war er nur so ein Schwächling? Die Außentür der Turnhalle ging auf und Schritte näherten sich ihm. Er sah nicht auf, wollte nicht, dass die Person, die die Turnhalle gerade betreten hatte, seine Tränen sah. Vor ihm stoppten die Schritte. „Was sitzt du hier so blöd rum?", vernahm er Nicholas' Stimme. Er klang genervt. Erschrocken sah Luca auf und bemerkte, dass Nicholas nicht allein war. Neben ihm stand René. Kamen die Beiden jeden Tag zusammen zur Schule? Nicholas musterte zuerst Luca, dann die Tür. Dann versuchte er, diese zu öffnen. Als sich nichts tat, klopfte er kräftig dagegen. Die Tür wurde einen Spalt breit geöffnet und Thomas' Kopf lugte heraus. Als er Nicholas und René erblickte, öffnete er sie ganz und ging einen Schritt zur Seite. René trat ein, aber Nicholas blieb in der geöffneten Tür stehen. „Was hat das zu bedeuten?" Er deutete auf Luca, der immer noch heulend auf dem Boden, vor der Tür, saß. Verwundert blickte Luca seinen schwarzhaarigen Mitschüler an. Half dieser ihm etwa? Thomas schnaubte. „Der bleibt schön da draußen! Am Ende bespannt die kleine Schwuchtel uns noch, während wir uns umziehen. Soll er doch zu den Mädchen gehen. Denen guckt er wenigstens nichts ab." Nicholas packte Thomas am Kragen und stieß ihn gegen die immer noch geöffnete Tür. „Würdest du das wiederholen?", fragte er leise mit bedrohlich klingender Stimme. „Hey ganz ruhig", antwortete Thomas ihm erschrocken, „Ich meine doch nur die kleine Schwulette da unten!" Nicholas' Griff verfestigte sich und er hob Thomas einige Zentimeter vom Boden. „Das weiß ich. Aber trotzdem fühl ich mich angesprochen. Woran mag das nur liegen?" Die Schüler in der Umkleide schnappten erschrocken nach Luft, alle bis auf René. Es schien fast, als hätte dieser Nicholas' Reaktion bereits erwartet. Auch Luca war erschrocken. „Was ist los?", fuhr Nicholas fort, „Willst du dich nicht entschuldigen? Ich mag es nicht, wenn man so über mich spricht. Da werde leicht zornig und dann tu ich Dinge, die ich vielleicht später bereue. Willst du das?" Luca hielt den Atem an. Hatte er gerade richtig gehört? Aber das bedeutete ja, Nicholas war ebenfalls schwul, genau wie er. Thomas schluckte. „Nein", japste er, „ich-" Nicholas unterbrach ihn: „Nein, du willst dich nicht entschuldigen oder nein, es tut dir leid?" „Es tut mir leid", keuchte Thomas. Nicholas lockerte seinen Griff, bevor er den Jungen in die Umkleide stieß. „Pass in Zukunft besser auf, was du sagst. Noch einmal kommst du nicht so einfach davon! Haben wir uns verstanden?" Thomas landete auf seinem Hintern. Er griff an seinen Hals, der wohl schmerzte. „Ja", murmelte er kleinlaut. „Wie bitte?", Nicholas hielt sich eine Hand ans Ohr, „Kannst du das wiederholen? Ich habe dich nicht gehört." „Ja", antwortete Thomas, diesmal etwas lauter. Nicholas drehte sich zu Luca, der wie versteinert am Boden saß. Er packte den Blonden und schubste ihn in die Umkleide. Dann warf er ihm seine Sporttasche vor die Füße. In der Umkleide war es ruhig. Keiner sagte etwas und als Nicholas die Umkleide ebenfalls betrat, wichen sie vor ihm zurück. Einige verließen sogar ihre Plätze, um nicht neben ihm sitzen zu müssen. Nur René blieb. Und die Zwillinge. Luca nutzte die Ruhe, um sich schnell umzuziehen. Seine Trainingsjacke brauchte er ausnahmsweise nicht. Er musste heute nichts verdecken. Kapitel 3: Die Sache mit der Toilette ------------------------------------- Der Rest des Sportunterrichtes verlief ruhig. Keine dummen Sprüche. Kein Geschubse. Auch auf dem Weg zur Schule wurde Luca in Ruhe gelassen. Den ganzen Morgen dachte Luca über Nicholas' Handeln nach. Warum hatte sein Klassenkamerad das getan? Wollte er ihm helfen? Oder hatte er sich von Thomas' Äußerungen nur ebenfalls getroffen gefühlt? Luca wusste es nicht. Als er im Schulgebäude angekommen war, ließ er sich auf seinen Platz fallen. Thomas, Leonie und ihre beiden neuen Freunde gingen ihm immer noch aus dem Weg, worüber er froh war. So konnte er sich wenigstens auf den Unterricht konzentrieren. Nein, er war kein Streber. Aber trotzdem waren gute Zensuren wichtig, fand er. Nur wenn er ein gutes Abitur machte, würde er später einen guten Job bekommen. Er wollte auf keinen Fall so enden wie sein Stiefvater, dem alle paar Monate gekündigt wurde und der sich dann jedes Mal eine neue Arbeitsstelle suchen musste. Da war er immer besonders reizbar gewesen. Auch in der folgenden Unterrichtsstunde ließen seine Peiniger ihn in Ruhe, doch als sie in der darauf folgenden Pause mit zusammengesteckten Köpfen in einer Ecke standen, ahnte Luca nichts Gutes. Sicher planten sie wieder etwas. Er beschloss, sich von ihnen möglichst fern zu halten und nirgends allein hinzugehen. Dann konnten sie nicht mehr tun, als ihn etwas zu beschimpfen und zu schubsen. Doch das war leichter gesagt als getan. Er musste dringend auf die Toilette, weshalb er wartete, bis keiner mehr zu ihm herübersah und sich dann schnell aus dem Zimmer schlich. Hätte er doch nur weniger getrunken. Auf dem Weg zur Toilette rannte er fast schon. Dort angekommen schloss er sich schnell in eine Kabine ein. Jetzt war er sicher. Aber irgendwann musste er wieder herauskommen und inzwischen hatten sie sein Fehlen sicher schon bemerkt. Hierbleiben konnte er allerdings auch nicht. Seine Sachen waren noch im Zimmer und er ließ sie nur ungern unbeaufsichtigt. Außerdem würde der Unterricht gleich beginnen und er wollte nicht zu spät kommen. Also öffnete er leise die Tür und lugte hinaus. Keiner da. Schnell lief er zu den Waschbecken, um sich die Hände zu waschen, und erstarrte. Hinter ihm, er sah es durch den Spiegel, standen Thomas, Jan und Martin und grinsten ihn an. Schnell drehte Luca sich um. Er wollte zur Tür rennen, doch sie versperrten ihm den Weg. „Wen haben wir denn da?", spottete Thomas, „Unsere kleine Schwulette!" Luca wollte zurückweichen, doch das Waschbecken in seinem Rücken hinderte ihn daran. Jan und Martin packten ihn jeweils an den Armen, während Thomas sich vor ihm aufbaute. „Du hast doch nicht gedacht, dass du mit der Sache heute Morgen durchkommst, oder? Du elende kleine Schwuchtel", fragte er spöttisch. Luca schluckte. Diesmal war Thomas echt wütend. Er gab seinen beiden Freunden ein Zeichen, woraufhin die ihn in Richtung der Kabinen zerrten. Luca, der inzwischen begriffen hatte, was sie vorhatten, begann, nach ihnen zu treten. Doch es half nichts. Gegen die drei hatte er keine Chance. Thomas packte ihn im Nacken, während die anderen Beiden nach seinen Armen und Beinen griffen und ihn so bewegungsunfähig machten. Danach wurde sein Kopf in die Kloschüssel gesteckt und die Spülung betätigt. Luca zappelte und trat, während die Spülung immer wieder betätigt wurde. Er bekam nicht mehr genügend Luft und musste husten, als er etwas Wasser einatmete, was seine Lage nur noch verschlimmerte. Seine Lunge brannte und ihm wurde schwindlig, während seine Bewegungen immer schwächer wurden. Das Rauschen der Spülung wurde immer leiser. Sein Körper erschlaffte. Mit dem Gedanken, dass sie ihn jetzt wohl endgültig umbringen würden, gab er sich der Schwärze hin, die ihn umfing. Als Luca wieder zu sich kam, wusste er zuerst nicht, wo er sich befand. Hatte sein Stiefvater ihn wieder verprügelt. Ihm war übel. Er schaffte es gerade noch bis zur Toilettenschüssel, ehe sich sein Magen leerte. Würgend blieb er hängen. Es dauerte, bis er sich wieder bewegen und spülen konnte. Langsam kehrten auch seine Erinnerungen zurück. Wie es schien, hatten die drei dann doch Schiss bekommen, als er sich nicht mehr gerührt hatte, und das Weite gesucht. Wie lange war er bewusstlos gewesen? Es gab in der Toilette nichts, woraus er die Uhrzeit schließen konnte. Hier waren noch nicht einmal Fenster. Als er versuchte, die Tür zu öffnen, stellte er fest, dass sie von außen zugesperrt war. Er würde also warten müssen, bis ihn jemand hier herausließ. Hoffentlich war es noch nicht so spät, denn wenn der Unterricht bereits beendet war, müsste er bis morgen warten und das wollte er nicht. Er wollte hier weg! In seinen Augen sammelten sich Tränen, die ihm wenig später über die Wangen liefen. Zuerst unterdrückte er sein Schluchzen, doch dann weinte er ungehemmt los. Es würde keiner hören. Er war allein hier und musste vielleicht die gesamte Nacht hier verbringen. Luca klappte den Klodeckel herunter und setzte sich darauf. Er zog die Beine an und schlang seine Arme um die Knie, während er wartete, ob ihn nicht vielleicht doch noch jemand herausließ. Sie mussten sein Fehlen doch inzwischen bemerkt haben, immerhin waren seine Schulsachen noch im Klassenzimmer. Warum suchte keiner nach ihm? Von seinen Mitschülern hatte er nichts anderes erwartet, aber hatten die Lehrer nicht die Pflicht, einen Schüler zu suchen, wenn dieser spurlos verschwand? Oder war es ihnen ebenfalls egal. Er betrachtete das Muster der Fließen. Wäre er doch nur nie hier hergekommen! Immer noch liefen ihm Tränen über das Gesicht. Er versuchte nicht, sie zu unterdrücken. Es sah doch eh keiner. Leise schluchzte er. Plötzlich hörte er ein polterndes Geräusch. Die Tür wurde aufgerissen. Erschrocken fuhr Luca zusammen und sah auf. Ihm gegenüber stand Nicholas. Auch er wirkte überrascht. Er musterte Luca. Sein Blick blieb auf dem Nassen Haar und dem verheulten Gesicht hängen. Es bedurfte keiner Erklärung. Nicholas wusste, was passiert war. Luca senkte seinen Blick. Er brachte es nicht fertig, Nicholas noch länger ins Gesicht zu sehen. Er murmelte ein leises „Danke", bevor er aufstand und an seinem Mitschüler vorbei ging. „Warum lässt du dir das gefallen?", rief ihm Nicholas hinterher, „Fang endlich an, dich gegen sie zu wehren!" Wie denn, hätte Luca am liebsten geschrien. Thomas und dessen Freunde waren doch so viel stärker als er. Doch er sagte nichts. Schweigend lief er zurück ins Klassenzimmer. Er war überrascht, es leer vorzufinden. Schnell rannte er zu seinem Platz und holte sein Handy, es war zum Glück noch da, aus der Schultasche. 15:53 Uhr. So spät schon? „Warst du so sehr mit heulen beschäftigt, dass du gar nicht mitbekommen hast, wie spät es ist?", fragte Nicholas. Er war ihm wohl gefolgt. „Ich war bewusstlos", antwortete Luca ihm leise, ehe er begann, seine Schulsachen einzupacken. Er wusste nicht warum, aber aus irgendeinem Grund hatte er das Gefühl, sich vor Nicholas rechtfertigen zu müssen. Als dieser nichts erwiderte, schaute Luca ihn an. Dieser lehnte nur wenige Schritte von ihm entfernt an der Wand und hatte seine Hände in den Hosentaschen vergraben. Sein Gesicht hatte einen nachdenklichen Ausdruck. Er unternahm nichts, als Luca mit geschulterter Schultasche und Sportbeutel an ihm vorbeiging und hinderte ihn nicht daran, das Zimmer zu verlassen. Nicholas folgte ihm nicht. Er stellte auch keine Fragen. Langsam lief Luca zur Bushaltestelle. Er brauchte sich nicht zu beeilen. Sein Bus war seit einer Viertelstunde fort. Er musste also auf den nächsten warten und das dauerte eine Weile. Hoffentlich bekam er keinen zu großen Ärger zu Hause, wenn er später heimkam. Darauf hoffen, dass sein Stiefvater wieder nicht zu Hause war, konnte er nicht. Das Glück stand eindeutig nicht auf seiner Seite. Während er sich also an der Bushaltestelle die Beine in den Bauch trat, dachte er nach. Vielleicht sollte er morgen schwänzen. Er wollte auf keinen Fall zurück an diese Schule. Am liebsten hätte er alles hingeschmissen, aber das traute er sich nicht. Sein Stiefvater würde ausrasten. Als der Bus endlich eintrudelte, stieg Luca ein, ließ sich auf den nächstbesten Sitz fallen und fuhr nach Hause, obwohl er viel lieber weggerannt wäre. Aber wo sollte er hin? Er hatte niemanden, der ihn bei sich aufnehmen würde, nicht einmal für ein paar Tage. Als er am Haus ankam, stand sein Stiefvater bereits mit verschränkten Armen vor der Tür. „Wo bist du gewesen?", donnerte er, ehe er Luca am Kragen packte und in das Haus zerrte. Heute war einfach nicht sein Tag. Kapitel 4: Die verschwundenen Hausaufgaben ------------------------------------------ Am Donnerstag war Luca tatsächlich zu Hause geblieben. Jedoch nicht wegen der Sache mit der Toilette. Sein Stiefvater hatte ihn so sehr verprügelt, dass er den ganzen Tag im Bett verbrachte und sich kaum rühren konnte. Ihm tat alles weh. Und was hatte seine Mutter getan? Sie hatte einfach zugesehen, wie ihr Mann ihren Sohn verprügelte. Nicht mal ein „Jochen", wie sie ihn früher immer leise ermahnt hatte, wenn er zu weit ging, war über ihre Lippen gekommen. Er war seiner Mutter egal, das wusste er, war es schon die ganzen letzten Jahre gewesen. Für sie gab es nur Jochen, ihren Mann, den sie fast schon krankhaft anhimmelte. Seit er sie vor über zehn Jahren geheiratet hatte, war er fast schon ein Heiliger für sie. Und natürlich machte er keine Fehler. Deshalb hatte Luca auch immer etwas verbrochen. Schließlich würde ihr Jochen ja keinen Unschuldigen schlagen. Unter Schmerzen quälte er sich aus dem Bett. Langsam zog er sich an, darauf achtend, dass er die schmerzenden Stellen nicht zu oft berührte. Obwohl es warm draußen war, entschied er sich für eine lange Jeans. Zusätzlich zog er noch eine dünne Trainingsjacke über sein T-Shirt, die er aber offen ließ. Er wollte nicht, dass die anderen seine Verletzungen sahen. Sie würden ihn für noch schwächer halten, als er ohnehin schon war. Als er das Haus verließ, lief er in der Küche an seiner Mutter vorbei. Sie deckte gerade fröhlich vor sich hin summend den Tisch. Für zwei Personen. Sich und Jochen. Luca beachtete sie nicht. Er gehörte nicht in ihre heile Welt. Es war, als existiere er nicht einmal mehr. Luca hasste seine Mutter. Er wusste nicht, wann er damit angefangen hatte. Vielleicht hatte er sie auch schon immer gehasst. Auf dem Weg zur Bushaltestelle ging er an einem Bäcker vorbei und kaufte sich ein Brötchen. Gern hätte er sich ein Stück Kuchen oder eine Tüte Kekse geholt, aber dafür reichte sein Geld nicht. Er sollte sich dringend einen Job suchen. Von dem mickrigen Taschengeld, dass Jochen ihm gab, konnte er unmöglich leben. Vielleicht könnte er ja Zeitungen austragen oder so. Im Bus setzte er sich in die letzte Reihe. Er packte seine Schulsachen aus und überprüfte noch einmal seine Hausaufgaben. Als er sicher war, alles richtig gelöst zu haben, packte er sie wieder ein. Der Bus hielt, Luca stieg zügig aus und ging gleich ins Schulgebäude. Thomas und dessen Freunde hielten sich früh immer auf dem Pausenhof auf. Sie würden erst kurz vor der ersten Stunde das Klassenzimmer betreten und dann waren die anderen Schüler bereits da. Luca ließ sich auf seinen Platz fallen und wartete auf den Lehrer. Ihr Klassenleiter, Herr Peters, sie hatten wieder Mathe, betrat das Zimmer eine Minute nach dem Klingeln. Er hatte kleine Zettel dabei, die er auch gleich austeilte. „Schreibt bitte den Namen desjenigen oder derjenigen darauf, den oder die ihr euch als Klassensprecher wünscht", meinte er, ehe er sich an die Anwesenheitskontrolle machte. „Luca Anderson, wo waren Sie gestern?", fragte er, als er fertig war. „Krank", antwortete Luca. „Dann reichen Sie bitte ein ärztliches Attest ein. Die können es bei mir persönlich oder im Sekretariat abgeben", erklärte Peters, „Ansonsten muss ich Sie für den Tag als unentschuldigt fehlend eintragen." Luca nickte. Daran hatte er gar nicht mehr gedacht. Wo bekam er jetzt dieses Attest her? Zum Arzt konnte er jedenfalls nicht gehen. Er hatte ja noch nicht einmal seine Krankenkarte. Die bewahrte Jochen zu Hause im Safe auf. Sein Blick fiel auf den Zettel, der immer noch vor ihm lag. Wen sollte er als Klassensprecher vorschlagen? Als er aufsah, bemerkte er, dass die anderen alle schon einen Namen hingeschrieben hatten. Ihre Zettel lagen zusammengefaltet am Rand der Bank und warteten darauf, von Peters eingesammelt zu werden. Angestrengt dachte Luca nach, wen er vorschlagen könnte. Thomas und dessen Gang fielen aus. Nicholas ebenso. Er erweckte nicht den Eindruck, als ob er besonders viel Lust auf den Klassensprecherjob hätte. René vielleicht? Er schien ganz ok zu sein. Peters stand auf und begann, die Zetteln einzusammeln. Schnell schrieb Luca Renés Namen auf seinen, ehe er ihn faltete und auf die Bank legte. Als Peters alle Zettel eingesammelt hatte, legte er sie auf den Lehrertisch, mischte sie noch einmal gut durch und öffnete den ersten. „Fynn Barthel", las er den ersten Namen vor. Er ging zur Tafel und schrieb Fynns Namen auf. Dahinter setzte er einen Strick. Peters nahm den zweiten Zettel. „Wieder Fynn Barthel" Er setzte den zweiten Strich hinter Fynns Namen. Am Ende lag Fynn vorn, dicht gefolgt von René, den wohl auch einige gewählt hatten, weshalb Peters verkündete: „Der Klassensprecher ist Fynn Barthel und sein Stellvertreter René Feldmann." Die Klasse applaudierte und Rebecka küsste René auf die Wange. „Ich bin stolz auf dich, Schatz", sagte sie leise. Es klingelte und Peters hatte kaum das Zimmer verlassen, da stand Thomas schon auf und lief auf Luca zu. Vor dem Blonden baute er sich auf. „Wo warst du wirklich gestern?", höhnte er. Luca versuchte, ihn zu ignorieren, was ihm nur gelang, bis Thomas ihn an den Haaren packte und zwang, ihn anzusehen. „Du bist dir wohl zu fein zum antworten, was?" Er zerrte kräftig an Lucas Haaren. „Aber keine Angst, wir bringen dir schon noch bei, wie du dich zu benehmen hast." Luca wagte nicht, zu atmen. Er kniff seine Augen zusammen und wartete auf das, was Thomas als nächstes tat. Einige Sekunden passierte nichts, dann verschwand die Hand aus seinem Haar. Luca wollte gerade erleichtert aufatmen, als er hörte, wie Thomas lachte. Thomas packte ihn grob an der Schulter und stieß ihn vom Stuhl. Luca stöhnte vor Schmerz auf. Doch Thomas lachte nur wieder. „Geschieht dir recht", spottete er, dann wandte er sich ab und lief zurück zu seinen Freunden. „Tu mir einen Gefallen und verrecke endlich!" Im Klassenraum wurde es still. Einige sahen geschockt zu Thomas, doch niemand griff ein. Niemand half Luca. Der Sechzehnjährige blieb noch eine Weile am Boden liegen, ehe er sich zwang, aufzustehen. Es kostete ihn einiges an Mühe, aber es gelang ihm, zu verbergen, dass er Schmerzen hatte. Er ließ sich zurück auf seinen Stuhl fallen. Das Schlimme waren nicht die körperlichen Schmerzen. Damit konnte er umgehen. Es waren die seelischen Schmerzen, die Tatsache, dass er allein war. Das Klingeln riss ihn aus seinen Gedanken. Peters betrat den Klassenraum zur zweiten Unterrichtsstunde. „Legen Sie bitte Ihre Hausaufgaben heraus", verlangte er. Luca griff in seine Schultasche und erstarrte. Sie waren weg. Er begann, die gesamte Tasche auszuräumen, in der Hoffnung, sie nur wo anderes hin gepackt zu haben, fand aber nichts. Inzwischen war Peters bei ihm angekommen. „Keine Hausaufgaben?", fragte der Lehrer. Luca schwieg. Ihm würde eh keiner glauben, wenn er sagte, dass sie verschwunden waren. „Dann bleiben Sie heute nach der letzten Stunde hier und holen nach, was Ihren in Ihrer Vergesslichkeit entfallen ist", bestimmte Peters. Der Sechzehnjährige nickte nur. Widersprechen brachte nichts. Erwachsene mochten es nicht, wenn man ihnen sagte, dass sie Unrecht hatten. Das hatte er schnell gelernt. Ohne zu wollen, musste er an seinen Stiefvater denken. Wie würde Jochen wohl reagieren, wenn er heute wieder zu spät nach Hause kam? Er wollte es sich gar nicht vorstellen. Etwas Hartes traf ihn am Kopf. Erschrocken zuckte er zusammen und sah sich um, in der Hoffnung, herauszufinden, was das gewesen war. Doch er sah nichts. Er hatte sich gerade wieder dem Unterricht gewidmet, als er erneut getroffen wurde. Eine kleine Papierkugel fiel auf seine Bank. Er sah zu Thomas, der ihn unschuldig angrinste. Der einen Papierkugel folgten weitere. Hatte er jetzt nicht einmal im Unterricht seine Ruhe? Luca versuchte, sie so gut er konnte, zu ignorieren. Peters schaute in seine Richtung, schien ihn zu mustern. Dann drehte der Mann sich zurück zur Tafel und setzte seinen Unterricht fort. Hatte er denn gar nichts bemerkt? Wieder standen Luca die Tränen in den Augen. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schloss die Augen, um seinen Körper wieder unter Kontrolle zu bringen. Jetzt nur nicht losheulen, sagte er sich. Als er die Augen öffnete, stand Peters vor ihm. „Erst machen Sie keine Hausaufgaben und jetzt verschmutzen Sie das Zimmer", schimpfte er erzürnt, „Ich glaube, ich muss mich mal mit Ihren Eltern unterhalten!" Entsetzt starrte Luca den Mann an. War das sein Ernst? Kapitel 5: Nachts allein auf der Straße --------------------------------------- Zusätzlich zu den Hausaufgaben, die Luca ein zweites Mal hatte erledigen müssen, musste er auch noch das Zimmer putzen. Dabei hätte Peters doch wissen müssen, dass nicht er es gewesen war, der die Papierkugeln geschossen hatte. Während er beobachtet hatte, wie Luca das Zimmer fegte, hatte er bei ihm zu Hause angerufen. Viel hatte Luca von dem Gespräch nicht mitbekommen. Peters hatte sofort die Tür geschlossen, nachdem er den Grund seines Anrufes genannt hatte. Luca wusste, wenn er heute nach Hause kam, gab es Ärger, großen Ärger. Dabei hatte er nichts getan. Hatte sich denn die gesamte Welt gegen ihn verschworen? Wäre er heute doch nur zu Hause geblieben. Er hätte sich eine Menge Ärger erspart. Wie erwartete, stand Jochen bereits vor der Tür, als Luca zu Hause ankam. Sein Stiefvater packte ihn unsanft am Oberarm und zerrte ihn in die Wohnung. „Ich glaube, wir müssen mal ein ernstes Wörtchen reden, Freundchen", bellte er. Lucas Schultasche wurde vom Rücken gerissen und auf den Boden geworfen, ehe Jochen ihn am Kragen packte und gegen die Wand im Flur stieß. „Ich habe vorhin einen Anruf von deinem Klassenlehrer bekommen. Dreimal darfst du raten, was er mir erzählt hat!" Luca antwortete nicht. Wenn er es jetzt abstritt, würde er die Sache nur schlimmer machen. Seine Mutter trat in den Flur und blickte Luca enttäuscht an. „Ich dachte, ich habe dich besser erzogen!", brauste Jochen auf und ein Faustschlag traf Luca in die Seite. Er stöhnte vor Schmerz auf. „Hast du gedacht, ich bekomme das nicht mit?" Weitere Schläge folgten. „Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Zehn Jahre", tobte sein Stiefvater, „Zehn Jahre habe ich dich durchgefüttert, dir Klamotten und ein Dach über den Kopf gegeben. Ich habe dir sogar erlaubt, das Abitur zu machen! Und so dankst du es mir?" Er ließ Luca los. Der Sechzehnjährige rutschte an der Wand herunter und blieb regungslos am Boden liegen. Das einzige Geräusch, das er von sich gab, war ein leises Stöhnen, als Jochen nach ihm trat. „Antworte mir", schrie dieser, „Was hast du dir dabei Gedacht?!" Luca warf einen Hilfe suchenden Blick zu seiner Mutter. Sie schaute ihn nur tadelnd an. „Wann lernst du endlich, dich zu benehmen? Jochen meint es doch nur gut mit dir! Warum musst du es ihm so unnötig schwer machen?", sagte sie leise. Erneut trat Jochen nach ihm und Luca schloss seine Augen. Er konnte es nicht länger ertragen, das Gesicht seiner Mutter zu sehen, wie sie in ihm die Schuld suchte und nicht mal auf den Gedanken kam, dass vielleicht ihr Mann der Schuldige war. „Nimm es nicht so schwer, Sonja", sagte Jochen zu ihr, „Dein Sohn wird schon noch lernen, wie er sich zu benehmen hat. Und wenn ich es eigenhändig in ihn rein prügeln muss!" Er wandte sich zu Luca, packte den Sechzehnjährigen am Kragen und stieß ihn rückwärts durch den Flur, in Richtung der Tür. „Und du, mein Freundchen, siehst zu, dass du hier raus kommst. Du bleibst heute Nacht draußen. Vielleicht lernst du dann zu schätzen, was ich für dich getan habe." Die Tür wurde vor Lucas Nase zugeknallt. Eine Weile blieb er vor der verschlossenen Tür stehen, dann wandte er sich ab und lief die Straße entlang. Jochen hatte ihn noch nie rausgeworfen. Klar, er hatte ihn geschlagen, verprügelt und auch schon für ein oder zwei Tage irgendwo mit nur einer Flasche Wasser eingesperrt. Aber rausgeworfen hatte er ihn noch nie. Zum Glück war es noch Sommer und dementsprechend warm, also musste er sich keine Gedanken machen, dass er in der Nacht erfrieren könnte. Im schlimmsten Fall holte er sich eine leichte Erkältung. Auch war er froh, dass er die Trainingsjacke trug, nicht, weil sie die Taten seines Stiefvaters verbarg, sondern weil sie ihn in der Nacht wärmen würde. Er schlenderte durch einige Nebenstraßen, sah sich den einen oder anderen Garten an und landete schließlich an einem Spielplatz. Auf dem Klettergerüst turnten zwei Jungen. Auf den Schaukeln daneben saß ein Mädchen mit blonden Zöpfen. Es war vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Der Vater stand hinter ihm und schob es lachend an. Eine Weile beobachtete Luca, wie der Vater mit seiner Tochter spielte. Gern hätte er auch so eine Kindheit gehabt. Seine Mutter war nie mit ihm auf einem Spielplatz gewesen, nicht einmal, bevor sie Jochen kennengelernt hatte. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass sie auch nur einmal etwas mit ihm unternommen hatte. Sie liebte ihn nicht, das wusste er. Doch warum hatte sie ihn dann behalten, wenn sie ihn nie gewollt hatte? Sie hätte ja nicht abtreiben müssen, eine Adoption hätte es auch getan und durch die vielen Babyklappen ging das sogar anonym. Dann hätte er nicht in dieser Hölle, die sich sein Zuhause schimpfte, aufwachsen müssen. Er hätte jetzt eine Familie, die ihn liebte und sich um ihn kümmerte. Er wäre nicht allein. Luca fuhr sich mit den Fingerspitzen über die Wange, als er etwas Nasses auf ihr spürte. Wann hatte er angefangen zu weinen? Die Kinder gingen nach Hause und es wurde langsam dunkel. Luca war noch lange am Spielplatz geblieben. Erst als er anfing, zu frieren, hatte er sich abgewandt und war zurück gelaufen. An der Bushaltestelle blieb er stehen. Die Busse waren geheizt. Und durch seine Monatskarte konnte er kostenlos fahren. Er zog die Karte aus seinem Turnschuh, wo er sie versteckte, damit Thomas und dessen Freunde sie ihm nicht wegnehmen konnten. Wenigstens die hatte er noch. Als ein Bus an der Haltestelle hielt, stieg er ein und zeigte dem Fahrer seine Monatskarte, als dieser ihn argwöhnisch musterte. Er ließ sich auf einen freien Platz fallen und lehnte seinen Kopf gegen das Fenster. An der Endhaltestelle, dem Busbahnhof, warf der Fahrer ihn raus. Inzwischen war es dunkel draußen. Luca schaute kurz auf den Fahrplan, um festzustellen, dass der Bus, mit dem er zurück musste, erst morgen früh fuhr. Erschöpft ließ er sich auf eine der für die Fahrgäste aufgestellten Bänke nieder und schloss die Augen. Die Monatskarte hatte er wieder in seinem Turnschuh versteckt. Ihm knurrte der Magen, aber er hatte kein Geld, um sich etwas kaufen zu können, also musste er bis morgen warten. Vielleicht konnte er sich eine Kleinigkeit aus dem Kühlschrank nehmen, während Jochen arbeitete. Oder er wartete, bis er und seine Mutter schliefen und schlich dann in die Küche. Allerdings war da die Chance größer, dass er erwischt wurde und als Strafe das ganze Wochenende nichts zu essen mehr bekam. „Na, was haben wir denn da?", wurde Luca aus seinen Gedanken gerissen. Als er seine Augen öffnete, sah er zwei Jugendliche, die sich vor ihm aufgebaut hatten. Beide waren kräftig gebaut und mindestens zwei Jahre älter als er. In den Händen trugen sie jeweils eine Flasche Bier und ganz nüchtern schienen sie auch nicht mehr zu sein. „Hast du dich verlaufen, Kleiner?", fragte der erste der Beiden. Luca wich zurück. Scheiße! Wo war er denn jetzt wieder hineingeraten? „Hey, keine Panik, wir tun so 'nem Süßen wie dir schon nichts", meinte der Zweite und strich sich durch sein kurzes, hellbraunes Haar, „Ich bin Julian und das ist Benjamin. Aber nenn ihn lieber Benni. Er kann seinen Namen nämlich nicht ausstehen." Julians braune Augen blitzten ihn fröhlich an. Luca nickte, nicht wissend, was er sonst tun sollte. Benni brummte etwas unverständliches, was sich nach einem „Nenn mich nicht Benjamin", anhörte. „Du bist nicht besonders Redefreudig, oder?", fragte Julian munter weiter und setzte sich neben Luca auf die Bank. Dabei kam er dem Sechzehnjährigen so nah, dass ihre Oberschenkel sich berührten. Luca schaute ihn erschrocken an und rutschte ein Stück von ihm weg. Doch Julian folgte ihm nur. „Du bist wohl etwas schüchtern, was?" Am liebsten wäre Luca aufgesprungen und weggelaufen, doch er konnte sich nicht rühren. Es war, als sei er plötzlich an der Bank festgeklebt. „Sag mal, musst du eigentlich alles abschleppen, was nicht bei drei auf dem Baum ist?", erklang eine genervte Stimme hinter ihm. Er kannte diese Stimmt. Überrascht, was der Andere hier tat, drehte Luca sich um und blickte in die leuchtend grünen Augen von Nicholas. „Jetzt sei nicht immer so ein Spielverderber", meinte Julian und zog einen Schmollmund, „Was, wenn du mich gerade um die Nacht meines Lebens gebracht hast?" Luca beachtete ihn nicht weiter. Immer noch starrte er seinen schwarzhaarigen Klassenkamerad an, als sei dieser eine Erscheinung. „Ni- Nicholas?", stotterte er. „Ihr kennt euch?", fragte Julian unnötigerweise. Kapitel 6: DVD-Abend a la Benni und Julian ------------------------------------------ „Gleiche Klasse", antwortete Nicholas, eher er um die Bank herumlief und sich vor Luca aufbaute, „Sag mal geht es dir noch ganz gut? Du kannst doch nicht einfach nachts alleine durch die Gegend spazieren! Ist dir eigentlich klar, was alles hätte passieren können? Sei froh, dass du den Beiden über den Weg gelaufen bist. Julian mag zwar ein Aufreißer sein und er hatte sicher vor, dich abzuschleppen, aber er hätte dich niemals zum Sex gezwungen. Im Gegensatz zu den meisten Anderen, die hier rumlaufen, hätte er dich nicht vergewaltigt." Erschrocken und mit geweiteten Augen starrte Luca ihn an. Daran hatte er nicht gedacht. Nicholas hatte recht, es war dumm von ihm gewesen, hierher zu kommen. „Es tut mir leid", flüsterte er leise. Schon wieder standen ihm die Tränen in den Augen. Er biss sich auf die Unterlippe und versuchte, sie zu verdrängen. „Jetzt sei doch nicht so streng mit dem Kleinen", schimpfte Julian, „Siehst du nicht, dass er kurz davor ist, loszuheulen? Wegen dir!" Er strich Luca tröstend mit der Hand über den Rücken. Nicholas schnaubte. „Seit wann bist du so fürsorglich?" Julian ignorierte ihn, während er ruhig auf Luca einredete. „Hör nicht auf den großen, bösen Jungen da. Der will dich nur ärgern. Weißt du, eigentlich ist er- Aua, was soll das?" Nicholas hatte ihm eine Kopfnuss verpasst. Benni, der bis jetzt nur schweigend daneben gestanden hatte, lachte. „Dass ihr zwei euch auch jedes Mal in die Haare bekommen müsst, wenn ihr euch seht... Ihr benehmt euch fast schon, wie ein altes Ehepaar." „Ich bin nicht schwul!", meckerte Julian. Nicholas grinste. „Ich weiß, du nimmst alles, was bei deinem Anblick nicht die Flucht ergreift." „Was machen wir jetzt mit dem Kleinen?", unterbrach Benni die Streitenden, „Ich möchte ihn nur ungern hier sitzen lassen." Die beiden Streithähne sahen zuerst zu ihm, dann zu Luca. Nicholas seufzte. „Wann fährt dein nächster Bus?" „Morgen früh, halb Fünf", antwortete Luca ihm kleinlaut. Erst jetzt bemerkte er, dass die drei wohl eigentlich noch etwas vor hatten, ihn aber aus Höflichkeit nicht allein zurücklassen wollten. Er bekam ein schlechtes Gewissen. „Ihr könnt ruhig gehen. Ich komme schon klar." „Nix da!" Julian schüttelte energisch seinen Kopf. „Du kommst mit! Wir wollten eh nur zu mir, einen Film angucken!" Luca schaute die anderen Beiden an, um sicher zu gehen, was sie zu dem Vorschlag sagten. Benni nickte zustimmend und Nicholas schien ebenfalls nichts dagegen zu haben. Oder er ließ es sich nicht anmerken. Julian stand auf und packte seine Hand. Widerstandslos ließ Luca sich hinterherziehen. Er hätte sich eh nicht wehren können. Und irgendwie hatte er den Eindruck, dass die drei vielleicht gar keine schlechten Menschen waren, auch wenn sie ihm immer noch etwas unheimlich waren. Plötzlich blieb Julian stehen und Luca wäre beinahe in ihn hineingelaufen. „Da fällt mir ein: Wie heißt du überhaupt? Ich kann dich ja schlecht den ganzen Abend Kleiner nennen, oder?" „Luca", antwortete der Sechzehnjährige. „Also dann, Luca, auf geht's!" Julians Zwei-Zimmer-Wohnung war gemütlich eingerichtet. In seinem Wohnzimmer stand ein großer Plasmafernseher, über dem eine große Wanduhr hing, und an der Wand gegenüber ein Sofa, das von der einen Ecke des Raumes bis zur anderen reichte. Vor dem Sofa stand ein kleiner Couchtisch, auf dem ein Stapel Sofakissen lag. Julian ging in die Küche und holte ein paar Flaschen Bier aus dem Kühlschrank. Diese stellte er auf den Couchtisch, nachdem er ihn von den Kissen befreit hatte. „Willst du auch Bier?", fragte er Luca, der unschlüssig vor dem Sofa stehen geblieben war. Benni und Nicholas hatten es sich bereits mit einigen DVDs auf dem Sofa gemütlich gemacht. „Ich habe auch noch Cola und O-Saft da", fuhr Julian fort. „Cola bitte", sagte Luca leise. Julian nickte. Dann packte er den Sechzehnjährigen an den Schultern und schob ihn zum Sofa, wo er ihn neben Nicholas platzierte. „Was schauen wir?", fragte er Nicholas und Benni. „Wie wäre es damit?" Benni reichte ihm eine der DVDs, welche Julian, ohne einen Blick darauf zu werfen, in seinen DVD-Player legte. Julian verschwand noch einmal kurz in die Küche und kam mit einem leeren Glas, einer Flasche Cola und einer Schüssel Flips wieder. Die Schüssel stellte er auf den Tisch, den Rest reichte er Luca. „Bitteschön." „Danke." Zögernd nahm Luca das Glas und die Flasche entgegen. Er war es nicht gewohnt, dass Leute so nett zu ihm waren. Er goss sich etwas von der Cola ein und nahm einen Schluck. Lecker! Wie lange hatte er keine Cola mehr gehabt? Zu Hause trank er fast immer Leitungswasser. Das konnte er sich auch aus dem Bad holen und dann lief er Jochen nicht über den Weg. „Wieso ist René eigentlich nicht mitgekommen?", erkundigte sich Benni, während im Fernseher der Vorspann lief. „Er hat ein Date mit Becky", antwortete Nicholas. Der Film begann und Luca stellte erleichtert fest, dass Benni und Nicholas sich für einen Actionfilm entschieden hatten. Er schien sogar recht gut zu sein, auch wenn Luca ihn noch nie gesehen hatte. Aber er schaute normalerweise auch keine Filme an. Er hatte noch nicht einmal einen Fernseher zu Hause. Jochen sah es nicht ein, mehr Geld für ihn auszugeben, als unbedingt nötig war. Während des Filmes wurde ihm mehrmals die Schüssel mit den Flips unter die Nase gehalten. Er langte zu, froh endlich etwas in den Magen zu bekommen. Auch an der Cola nippte er öfters. Als der Film zu Ende war, legte Julian einen weiteren ein. Dieses Mal eine Actionkomödie. Doch viel bekam Luca von dem Film nicht mit. Immer wieder fielen ihm die Augen zu, bis er schließlich einschlief. Ein Rütteln an seiner Schulter weckte ihn. Verschlafen öffnete er die Augen. „Na, gut geschlafen?", fragte ein grinsender Julian. Zuerst schaute Luca ihn verwirrt an, doch dann erinnerte er sich an die Ereignisse der letzten Stunde. Julian deutete auf die Uhr. „In einer halben Stunde fährt dein Bus." Erschrocken sprang Luca auf. Sie waren vorhin eine Weile zu Julians Wohnung gelaufen! „Wir bringen dich noch hin", schaltete sich Benni ein, „Schließlich wäre unsere ganze Arbeit umsonst, wenn du jetzt auf dem Weg von irgendwelchen Raudies überfallen wirst." Dankbar lächelte Luca sie an. Er war sich nicht sicher, ob er den Weg gefunden hatte. Zu Viert verließen sie die Wohnung. Julian und Benni liefen voraus und alberten herum, während Luca und Nicholas ihnen schweigend folgten. Am Busbahnhof warteten die drei sogar mit Luca auf dessen Bus. Erst als er in den Bus eingestiegen und dieser losgefahren war, gingen sie wieder. Es begann, zu dämmern, und als Luca an seiner Haltestelle den Bus verließ, war die Sonne bereits am Horizont zu sehen. Er ging nach Hause und setzte sich vor die Tür, darauf wartend, dass Jochen ihn wieder hereinließ. Plötzlich fiel ihm auf, dass er sich gar nicht bei den Dreien für ihre Hilfe bedankt hatte. Und dabei waren sie so nett zu ihm gewesen. Das musste er unbedingt nachholen! Drei Stunden später öffnete seine Mutter ihm die Tür. „Hast du daraus gelernt?", fragte sie ihn leise. Sie wollte wohl ihren Ehemann nicht wecken. Luca antwortete ihr nicht. „Du weißt, dass Jochen dir nur helfen will. Er macht sich Sorgen um dich. Was ist dein Problem? Wieso machst du es ihm so schwer?" Seine Mutter sah ihn enttäuscht an. „Was hat er dir getan? Wieso hasst du ihn so sehr? Er versucht doch nur, dir ein guter Vater zu sein." Luca ignorierte sie, wie seine Mutter ihn sonst immer ignorierte, wenn sie ihm nicht gerade ins Gewissen redete, und trat an ihr vorbei ins Haus. In der Küche brodelte die Kaffeemaschine vor sich hin. Der Frühstückstisch war gedeckt, es standen ein Korb frische Brötchen, Marmelade, Nutella, Wurst, Käse und sogar gekochte Einer darauf. Aber nur zwei Teller. Einer für seine Mutter und einer für Jochen. Leise schlich Luca die Treppe zu seinem Zimmer hinauf, am Schlafzimmer seiner Eltern vorbei und ließ sich erschöpft auf sein Bett fallen. Warum konnte er nicht, wie alle anderen, auch eine Familie haben, die ihn liebte? Warum konnte er nicht auch Freunde haben, wie alle Menschen um ihn herum? Was hatte er getan, dass er dieses Leben verdiente? Welches Verbrechen hatte er begangen, dass man ihn so strafte? Kapitel 7: Herr Peters' Fehler ------------------------------ Am Montagmorgen gelang es Luca, Thomas und dessen Gang aus dem Weg zu gehen. Er hatte sich auf dem Weg von der Bushaltestelle zur Schule noch ein Brötchen vom Bäcker geholt und gesehen, wie die vier vorbeigelaufen waren. Unauffällig war er ihnen gefolgt und als sie einen kurzen Abstecher zu einem Zigarettenautomat machten, war er so schnell er konnte in sein Klassenzimmer gerannt. Er staunte allerdings nicht schlecht, als er nicht, wie sonst immer, der erste war. Die Zwillinge Florian und Fabian, René, Rebecka und sogar Nicholas waren bereits anwesend. Sie standen neben den Lehrertisch und betrachteten den Lehrerstuhl. Fabian, der ruhigere der Zwillinge, zog ein Taschenmesser aus der Hosentasche, und begann, den Lehrertisch zu bearbeiten, während Florian zum Waschbecken lief und das Wasser aufdrehte. „Du musst warmes Wasser nehmen", wies Rebecka ihn an, „Sonst merkt Peters das sofort." „Das weiß ich selbst", brummte Florian, „Ich hab Jahre Erfahrung im Streiche spielen." René lachte. Dann fiel sein Blick auf Luca, der unschlüssig in der geöffneten Tür stand. „Du verpetzt uns doch nicht, oder?", fragte er. Luca schüttelte den Kopf, ehe er die Tür leise schloss und seine Schultasche auf seinen Platz warf. Er schluckte, sich an seinen Vorsatz von Samstag erinnernd, ehe er nach vorn ging und vor ihm stehen blieb. „Was willst du?", brummte Nicholas. „Ich- eh", stotterte Luca, „Danke. Wegen Freitag." René hob überrascht die Augenbraue. „Will ich wissen, was vorgefallen ist?" Nicholas hob die Schultern. „Haben ihn Freitagabend am Busbahnhof aufgegabelt. Julian und Benni wollten ihn nicht allein zurücklassen und es fuhr kein Bus mehr, also haben wir ihn mitgenommen und am nächsten Morgen zurückgebracht." „Wie nett von euch", meinte René, während Luca sich auf seinen Platz setzte. Irgendwie war ihm Nicholas am Freitag netter vorgekommen. Obwohl, wohl eher nicht. Sie hatten nach der Aktion auf dem Busbahnhof den ganzen Abend lang kein Wort miteinander gewechselt. Es war fast, als hätte Nicholas ihn ignoriert, seine Anwesenheit nur geduldet, weil etwas anderes Julian und Benni gegenüber unhöflich gewesen wäre. Als die anderen Schüler das Zimmer betraten, hatten sich die Zwillinge Florian und Fabian, René, Rebecka und Nicholas längst wieder auf ihre Plätze gesetzt und verrieten mit keiner Geste, dass sie etwas getan hatten. Lediglich die Zwillinge grinsten sich an, aber das taten sie immer. Pünktlich mit dem Klingelzeichen betrat Peters das Zimmer. Er lief zum Lehrertisch, stellte seine Tasche daneben ab, zog den Stuhl zurück und setzte sich. Einige Sekunden passierte nichts, dann weiteten sich seine Augen und er sprang auf. Er drehte sich, wohl unbewusst, mit dem Rücken zur Klasse und griff nach seinem Sitzkissen. Als die Schüler den nassen Fleck auf seiner Hose sahen, begannen sie, zu lachen. „Ruhe!", schrie Peters und wandte sich wieder der Klasse zu. Keiner gehorchte. Die Schüler lachten munter weiter. Peters' Gesicht wurde rot. Zornig ballte er die Hände zu Fäusten. Mit dem Fuß trat er gegen den Lehrertisch. Der Tisch fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen. „Anders", brüllte Peters Lucas Nachnamen durch das Zimmer, woraufhin Luca erschrocken zusammenzuckte, „Das wirst du büßen! Du elende kleine Schwuchtel! Ich mach dich fertig, du Arschficker!" Geräuschvoll stand Nicholas auf. Er griff in seine Schultasche und zog einen 0,5-Liter-Becher Müllermilch heraus, die wohl für sein Frühstück gedacht war. Langsam ging er auf Peters zu. Vor dem Mann blieb er stehen, riss die Müllermilch auf und schüttete sie dem Lehrer über den Kopf. Auf einen Schlag war es in der Klasse ruhig. Fassungslos schauten die Schüler Nicholas an. „Darüber werde ich Ihre Eltern informieren", brauste Peters auf. „Und was werden Sie ihnen erzählen?" Nicholas schnaubte. „Dass ihr Sohn Ihnen eine Packung Milch über den Kopf gekippt hat, nachdem sie mit Worten wie „Schwuchtel" und „Arschficker" um sich geworfen haben? Machen Sie sich nicht lächerlich!" Er packte Peters am Kragen und stieß ihn gegen die Tafel. „Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Bewegen Sie Ihren homophoben Arsch aus diesem Zimmer und beten sie, dass Sie mir nie wieder über den Weg laufen, denn sonst kann ich für nichts mehr garantieren!" Als Nicholas ihn losließ und locker zu seinem Platz zurückschlenderte, griff Peters seine Tasche und flüchtete aus dem Zimmer. Er kam nicht wieder, auch nicht zur zweiten Stunde. Der Dienstag lief alles andere als gut. Thomas, Leonie, Jan und Martin warteten bereits an der Bushaltestelle auf ihn. Luca hatte kaum den Bus verlassen, da wurde ihm schon etwas ins Gesicht gespritzt. Erschrocken zuckte er zusammen. „Treffer!", feierte Thomas, der eine Wasserpistole in der Hand hielt. Luca wischte sich die Flüssigkeit aus dem Gesicht und roch daran. Es war nur Wasser. Zum Glück. Er versuchte, zwischen den anderen Schülern unterzutauchen, um die vier abzuschütteln, was ihm aber nicht gelang. „Hey, du Schwuchtel, bleib gefälligst hier!", rief Leonie. Luca ignorierte sie. Wie jeden Morgen flüchtete er ins Klassenzimmer. Rebecka und die Zwillinge waren bereits da, Nicholas und René noch nicht. Er atmete erleichtert aus, als er feststellte, dass er nicht weiter verfolgt wurde und wischte sich erneut das Wasser aus dem Gesicht. Inzwischen waren seine Haare und Klamotten so ziemlich durchnässt, da Thomas mehr als diese eine Wasserpistole gehabt hatte, und Luca wurde langsam kalt. Wechselklamotten hatte er keine mit, da er heute keinen Sportunterricht hatte. An einer Heizung saß er ebenfalls nicht. Und dummgenug, um auf die Toiletten zu den Handtrocknern zu gehen, war er nicht. Sicher wurde er dort bereits erwartet. Kurz vor dem Klingelzeichen kam Thomas mit seiner Gang ins Zimmer spaziert. Vor Luca blieben sie stehen. „Was ist denn mit dir passiert?", fragte Leonie gespielt besorgt, „Bist du in den Regen geraten?" „Welcher Regen?" Martin grinste hämisch. Die Gruppe lachte. Luca sah sich nicht an, versuchte sein bestes, sie zu ignorieren. Doch das schien ihnen nicht besonders zu gefallen. Thomas packte ihn am Haar und zwang Luca somit, ihn anzublicken. „Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!", zischte er. Hätte in diesem Augenblick nicht der Lehrer das Zimmer betreten, wären sie sicher noch weiter gegangen. Aber so flüchteten sie schnell auf ihre Plätze. Herr Wagner, der Geschichtslehrer war, duldete es nämlich nicht, wenn sich jemand im Unterricht anderweitig beschäftigte und sie wollten kein Nachsitzen aufgebrummt bekommen. Die ganze Stunde über fror Luca und er befürchtete, schon blaue Lippen zu haben. Wagner schien das nicht zu bemerken, aber er war wohl nur ein Lehrer. Wenigstens hatte Luca in seinen Stunden seine Ruhe. Doch die Ruhe hielt nur bis Wagner nach dem nächsten Klingeln den Raum verlassen hatte. Er war kaum außer Sicht, da stand Thomas schon wieder vor ihm. In seiner Hand hielt er einen Plastikbehälter mit Papierschnipseln, die er Luca über den Kopf schüttete. „Mal schauen, ob du wieder das Zimmer kehren musst", flötete er fröhlich, bevor er mit seinen Freunden das Zimmer verließ. Fynn, der Klassensprecher, warf ihm einen mitleidigen Blick zu, sagte aber nichts und der Rest der Klasse schien Luca zu ignorieren. Alle bis auf Nicholas, dieser blickte ihn direkt an. Luca wusste nicht, was Schlimmer war, die Ignoranz der anderen, oder Nicholas' Blick. Schon oft hatte er sich gewünscht, dass endlich jemand eingreift. Aber es war nie passiert, weshalb er es schließlich aufgegeben hatte. Wozu auf Hilfe hoffen, wenn man eh keine bekam? So konnte er wenigstens nicht wieder enttäuscht werden. Als Wagner das Zimmer betrat, passierte genau das, was Thomas geplant hatte. Der Lehrer sah die Papierschnipsel um Luca herum und verdonnerte ihn gleich zum Nachsitzen, ohne zu fragen, was passiert sei. Menschen sahen nur, was sie sehen wollte, das hatte Luca gelernt. Wenn ihnen etwas nicht gefiel, blendeten sie es aus oder redete es schön. Luca fragte sich, wie weit Thomas' Gang wohl gehen konnte, bis irgendwer etwas unternahm. Würde überhaupt jemand eingreifen oder konnten sie ihn auf dem Schulhof verprügeln und alle würden nur zusehen? Inzwischen hatte Luca Schüttelfrost, von den nassen Klamotten. Aber Wagner sah das nicht. So fror Luca weiter, bis die Klamotten nach der achten Unterrichtsstunde von allein getrocknet waren. Jetzt musste er nur noch das Zimmer kehren, dann durfte er gehen. Vielleicht erwischte er noch seinen Bus, dann würde er rechtzeitig heimkommen und Jochen ließ ihn vielleicht in Ruhe. Kapitel 8: Die Brücke --------------------- Am nächsten Morgen wachte Luca mit Kopfschmerzen und verstopfter Nase auf. Er warf schnell einen Blick auf die Uhr, um festzustellen, dass Jochen und seine Mutter wohl noch schliefen. Wenn er leise war, konnte er sich vielleicht ein oder zwei Aspirin aus der Hausapotheke stehlen. Die brauchte er dringend. Zum Glück hatte er den Bus gestern noch erwischt, auch wenn er die ganze Stecke rennen musste und der Bus schon an der Haltestelle stand, als er diese erreichte. Der nette Busfahrer hatte extra für ihn die Tür noch einmal geöffnet, und ihn hineingelassen. Luca zog sich an. Diesmal genügte die dünne Trainingsjacke wohl nicht, weswegen er noch eine Strickjacke drüber zog. Außerdem packte er sich Wechselsachen ein, sicher war sicher. Die Küche war leer, wie erwartet. Leise schlich er zum Eckschrank, in welchem seine Mutter die Medikamente aufbewahrte, öffnete ihn und nahm sich eine Packung Aspirin, als er seine Mutter im Flur fröhlich summen hörte. Sofort schloss er den Schrank wieder und ließ die Tabletten in seiner Hosentasche verschwinden. Hoffentlich vermisste sie keiner, bevor er sie wieder zurücklegen konnte. Dann nahm er seine Trinkflasche und füllte sie mit Leitungswasser. Das war es auch, was seine Mutter sah, als sie die Küche betrat. „Mach nicht so laut", mahnte sie ihn, „Jochen schläft noch. Er hat gestern bis spät in die Nacht hinein gearbeitet." Er war wohl eher saufen gewesen, aber das erwähnte Luca nicht. Es würde nichts bringen. Was Jochen betraf, war seine Mutter blind. Er schaute erneut auf die Uhr. Bis sein Bus fuhr hatte er noch eine gute Dreiviertelstunde Zeit. „Weißt du, Jochen bemüht sich wirklich, dir ein guter Vater zu sein", fuhr Sonja fort. „Er ist nicht mein Vater", schoss es Luca aus dem Mund, bevor er die Chance hatte, nachzudenken, weshalb er schnell das Thema wechselte.„Erzähl mir lieber von meinem richtigen Vater." „Jochen ist dein Vater", sagte Sonja mit ernster Stimme. Luca seufzte. „Ich meine den Mann, der mich gezeugt hat, nicht den, den du geheiratet hast." Sonjas Gesicht verfinsterte sich. „Er will nichts von dir wissen", antwortete sie kalt. Gern hätte Luca noch weiter nachgebohrt, um an einen Namen zu kommen, doch als er die Schlafzimmertür hörte, schnappte er sich seine Sachen und floh aus dem Haus. Wenn Jochen einen Kater hatte, war er doppelt unerträglich. Da wollte er ihm auf keinen Fall über den Weg laufen. Erst nach einem starken Kaffee und zwei Aspirin wurde er wieder erträglicher. Luca fasste in seine Hosentasche. Scheiße! Hoffentlich hatte seine Mutter noch einen Pack zu Hause. Ansonsten würde er den Abend nicht überleben. Wie fast jeden Morgen holte er sich ein Brötchen vom Bäcker, er hatte seiner Mutter gestern noch 2€ aus der Geldbörse entwendet, was sie aber nicht bemerkt zu haben schien. Aber er nahm ja auch keine großen Beträge, sondern nur so viel, dass er über die Runden kam. In der Turnhalle begann wieder der übliche Zirkus, doch diesmal ließen sie ihn in die Umkleide. Nicholas hatte sich letzte Woche gehörig Respekt bei seinen Klassenkameraden verschafft und wenn er in der Nähe war, wagte es keiner mehr, Luca als Schwuchtel, Schwulette oder ähnliches zu beschimpfen. Alles, was mit seiner sexuellen Ausrichtung, ja er stand auf Männer, zu tun hatte, wurde nicht erwähnt, so lange Nicholas in der Nähe war. Erschöpft ließ sich Luca nach den Aufwärmübungen auf die Bank fallen. Ihm war schwindlig und er fürchtete, wenn er noch weiter mitmachen musste, würde er ohnmächtig werden. Alles um ihn herum drehte sich. Das schien auch dem Sportlehrer aufgefallen zu sein. Neumann, ein junger Mann mit kurzen, braunen Locken, kam auf ihn zu und setzte sich neben ihm auf die Bank. „Geht es Ihnen nicht gut?", fragte der Lehrer. „Schwindlig", antwortete Luca ihm, ohne nachzudenken. Denken strengte an und er hatte keine Kraft mehr. Neumann legte ihm die Hand auf die Stirn. „Sie glühen ja", stellte er fest. Irgendwie mochte Luca den jungen Mann. Er war anders als die anderen Lehrer, machte keinen Bogen um ihn. „Sie gehen besser nach Hause", meinte Neumann, „Kann Sie jemand abholen?" „Keiner zu Hause", log Luca. Seine Mutter war zwar da, aber sie würde ihn nicht abholen, egal wie dreckig es ihm ging. Neumann seufzte. „Schaffen Sie es mit dem Bus? Eigentlich darf ich das nicht, aber ihnen scheint es wirklich nicht gut zu gehen." Luca nickte. Das würde schon irgendwie funktionieren. Neumann brachte ihn noch in die Umkleide, wo er sich unter einigen Schwierigkeiten umzog. Dann lief er langsam, sich an der Wand abstützend zum Ausgang, als er plötzlich gegen einen warmen Körper lief. Der Sechzehnjährige verlor das Gleichgewicht und wäre umgefallen, hätte sein Gegenüber ihn nicht an den Schultern gepackt und gegen die Wand gedrückt. Überrascht sah Luca auf und blickte in das emotionslose Gesicht von Nicholas. Dieser musterte ihn kurz, ehe er Lucas Stirn fühlte. „Du bist wirklich krank", stellte er leise fest, „Neumann hat mich gebeten, dich zur Bushaltestelle zu bringen", erklärte er danach. Nicholas schlüpfte schnell in seine Straßenschuhe, die Sportkleidung ließ er an, ehe er Luca dessen Gepäck abnahm und mit ihm gemeinsam die Turmhalle verließ. „Wo musst du hin?" Luca zeigte ihm die Richtung. Schweigend liefen sie nebeneinander her. Erst wenige Meter vor der Haltestelle brach Nicholas das Schweigen: „Bist du wegen gestern krank?" Luca blieb stehen und sah ihn verwundert an. „Du hast gestern den ganzen Tag mit nassen Klamotten im Unterricht gesessen", fuhr Nicholas mit neutraler Stimme fort. Luca nickte. Es abzustreiten machte keinen Sinn. „Warum wehrst du dich nicht endlich gegen sie?", wollte Nicholas wissen, „Wenn du sie weiterhin gewähren lässt, werden sie noch wer weiß was mit dir anstellen. Willst du das?" Luca schüttelte seinen Kopf. „Sie sind zu viert", flüsterte er, „Ich kann nichts gegen sie ausrichten." „Dann geh zu einem Lehrer! Oder rede mit deinen Eltern!", verlangte Nicholas. „Als ob das etwas bringen würde. Die interessiert das einen Scheißdreck!" Nicholas packte ihn am Kragen und stieß ihn gegen das Haltestellenschild. Luca zuckte zusammen, was der Schwarzhaarige ignorierte. „Jetzt hör endlich auf, dich selbst zu bemitleiden! Wie lange will du noch das Opfer spielen? Wach endlich auf und tu etwas!" Was denn, hätte Luca ihn am liebsten an den Kopf geworfen, doch sagte nichts. Stumm schüttelte er seinen Kopf. Nicholas schnaubte. „Genau aus diesem Grund hasse ich Leute wie dich. Nichts bekommt ihr auf die Reihe! Ständig heult ihr rum, wie schlecht es euch doch geht, aber ihr ergreift trotzdem nicht die Initiative! Hoffst du darauf, dass irgendwann jemand Mitleid mit die bekommt und dich rettet? Du bist einfach nur erbärmlich!" Mit diesen Worten warf er Luca dessen Taschen vor die Füße, drehte sich um und lief zurück zur Turnhalle. „Es tut mir leid", flüsterte Luca, in dessen Augen inzwischen Tränen standen. Er verstand Nicholas nicht. Mal half er ihm und mal machte er ihn herunter. Was wollte der Schwarzhaarige von ihm? Als der Bus eintrudelte, stieg er ein, allerdings fuhr er nicht nach Hause. Jochen war sicher noch da. Deshalb stieg Luca eine Haltestelle früher aus und schlenderte durch die Stadt. Auf einer Brücke blieb er stehen. Er beugte sich über das Geländer und sah nach unten. Das Wasser war tief, die Strömung dagegen nicht besonders stark, das wusste er. Ein guter Schwimmer konnte den Fluss ohne große Probleme überqueren. Aber Luca konnte nicht schwimmen, er hatte es nie gelernt. Fasziniert betrachtete er das Wasser. Wie lange würde es wohl dauern, bis ihn jemand entdeckte? Ob er inzwischen ertrunken wäre? Er beugte sich weiter über das Geländer. Was wohl passierte, wenn er jetzt sprang? Vermissen würde ihn keiner. Seine Mutter und Jochen würden wahrscheinlich sogar feiern, ihn endlich losgeworden zu sein. Er beugte sich noch ein Stück weiter über das Geländer. Ertrinken sei schmerzhaft, das hatte er zumindest gehört. Er hatte Angst vor Schmerzen. Schluchzend ließ Luca sich auf die Knie sinken. Sogar zum Selbstmord war er zu feige. Nicholas hatte Recht, er war erbärmlich. Es dauerte lange, bis er die Kraft fand, wieder aufzustehen und nach Hause zu gehen. Kapitel 9: Rebeckas berüchtigte Standpauke * -------------------------------------------- „Sag mal, geht es dir noch ganz gut?!", wütend baute Rebecka sich vor Nicholas auf, „Wie konntest du nur so etwas sagen? Hast du denn überhaupt kein Mitgefühl?" Nachdem Nicholas zum Sportunterricht zurückgekehrt war, hatten seine Freunde in ausgequetscht, was passiert sei. In der Pause hatte er ihnen dann geantwortet. Seitdem schritt Rebecka wütend vor ihm auf und ab und warf ihm ein Schimpfwort nach dem anderen an den Kopf. Er hatte gar nicht gewusst, dass sie so viele Schimpfworte kannte. „Wie kann man nur so ein Arsch sein? Denkst du auch mal nach, bevor du handelt oder hast du dein Hirn zu Hause gelassen? Schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!" Genervt erwiderte Nicholas ihren Blick. Rebeckas blaue Augen funkelten ihn bedrohlich an. Inzwischen hatten sich einige Schaulustige in ihr Klassenzimmer gesellt, doch sie hielten alle Sicherheitsabstand. Das wollte Nicholas ihnen auch geraten haben! René, der seiner Freundin bis eben ruhig beim Schimpfen zugeschaut hatte, legte ihr die Hand auf die Schulter. „Jetzt beruhige dich wieder, Schatz." Doch dadurch schien er sie nur noch wütender zu machen. Sie riss sich von ihm los, bevor sie ihn ebenfalls zornig anfunkelte. „Halte dich da raus oder du kannst dich in Zukunft selbst Hand anlegen, wenn du wieder etwas Aufregung willst. Dann gibt es für dich die nächsten zwei Monate keinen Sex mehr!" René blickte seine Freundin erschrocken an, bevor er hastig einen Schritt zurückwich und kein Wort mehr sagte. Florian und Fabian lachten leise und auch als Nicholas sie wütend ansah, hörten sie nicht auf. Seit neuestem gehörten die zwei zu ihrer Gruppe dazu. Wie genau das passiert war, wusste Nicholas nicht. Sie waren auf einmal da gewesen und hatten sich seitdem hartnäckig geweigert, wieder zu verschwinden. „Gib es ihm Becky! Zeig dem Pantoffelhelden, wo der Hammer hängt!", feierte Florian, der ältere der Zwillinge, der immer blaue Shirts trug. Fabian, der Jüngere in den grünen Shirts lachte. „Ja, zeig ihm, wo der Hammer hängt!" „Klappe, ihr zwei Idioten", brauchte Becky auf, bevor sie ihre Sporttasche auf einen der Zwillinge warf, der aber gekonnt auswich. Daraufhin griff sie sich ihr Englischbuch und zog es zuerst Fabian, dann Florian über den Kopf. Danach waren die beiden ruhig. Sie blickte zurück zu Nicholas. „So, jetzt wieder zu dir: Hast du auch mal daran gedacht, was deine Worte bei Luca auslösen könnten, du Hornochse? Willst du ihn unbedingt am Boden sehen? Erst hilfst du ihn, dann nennst du ihn erbärmlich und sagst ihm, dass du ihn hast! Hast du denn gar kein Taktgefühl? Oder gesellst du dich neuerdings zu Thomas und seiner Gang von Machos? Findest du es jetzt auch cool, auf jemandem rumzuhacken, der sich nicht wehrt? Ich hatte dich vernünftiger eingeschätzt! Wenn du Luca nicht magst, ist das deine Sache! Aber fang jetzt ja nicht damit an, ihn ebenfalls fertig zu machen! Er hat es schon schlimm genug." Genervt sah Nicholas Rebecka an, ehe er die Arme hinter seinem Kopf verschränkte und sich in seinem Stuhl zurücklehnte. Er verstand nicht, warum sie so wütend war. Gut, er hätte sich vielleicht etwas netter ausdrücken können, aber deswegen musste sie sich nicht gleich so aufregen! „Becky hat recht", meinte jetzt auch René, „Das bist nicht mehr du. Diese Unentschlossenheit passt nicht zu dir." Verdutzt sah Nicholas seinen besten Freund an. Unentschlossenheit? Wovon redete er bitte. René seufzte. „Du brauchst dich gar nicht herauszureden! Ich habe dich genau beobachtet! Ich sehe doch, wie du Luca anschaust. Deine Bettgeschichten hatten allesamt blonde Haare, helle Augen und waren etwas kleiner als du. Da braucht es nicht viel, um eins und eins zusammenzuzählen." Nicholas wurde immer verwirrter. Wovon redete sein bester Freund da? Er war doch nicht an dem Knirps interessiert! So weit kam es noch, dass er kleine Kinder fickte. „Lass es lieber", fuhr René fort, „Auch wenn er vielleicht dein Typ ist und schwul, das kannst du ihm nicht antun. Such dir lieber einen anderen!" Rebecka nickte zustimmend. War er hier im falschen Film? Glaubten seine Freunde wirklich, er wolle etwas von Luca. Obwohl, wenn er länger darüber nachdachte... Der Kleine sah gar nicht mal so übel aus. Hätte Luca ihn in der Disco angesprochen, hätte er ihn sicher nicht abgewiesen. Womit Nicholas nicht klar kam, war Lucas Charakter. Er verstand nicht, wie der Blonde das alles über sich ergehen lassen konnte, warum er sich nicht wehrte, oder wenigstens jemanden um Hilfe bat. Aber nein, Luca fraß alles in sich hinein und heulte dann später, weil es ihm ja so beschissen ging. Sah er denn nicht ein, dass es so nicht weitergehen konnte? Nicholas stockte, als ihm Lucas Worte wieder in den Sinn kamen. Und, obwohl er es nur ungern zugab, der Kleine hatte recht. Die Lehrer interessierte es nicht, wie es Luca ging. Er wurde ja sogar im Unterricht, vor der Nase der Lehrer, fertiggemacht, ohne dass sie eingriffen. Es war also kein Wunder, dass Luca keine Hilfe bei den Lehrern suchte. Aber nicht nur das, Lehrer wie Peters und Wagner ließen ihn auch noch nachsitzen, für etwas, was er eindeutig nicht gewesen war. Das machte Nicholas wütend, noch wütender wie er auf Luca war, war er auf die Lehrer, die ihre Position schamlos ausnutzten, um dem Kleinen nur noch mehr zu schaden. Montag war es ihm dann zu viel geworden. Er hatte Peters' Visage nicht länger ertragen können. Eigentlich hatte er die Milch noch trinken wollen, aber er war so wütend geworden... „Tu mir einen Gefallen", sagte René als er sich in den Stuhl neben Nicholas fallen ließ, „Sei netter zu Luca. Oder hör wenigstens auf, ihn auch noch herunterzumachen. Und denk darüber nach, was genau du von ihm willst. Ich will nicht, dass du später etwas bereust." „Das waren zwei Gefallen!", stellte Nicholas trocken fest. René boxte ihm lachend gegen die Schulter. „Tu es einfach, okay?" Nicholas nickte. Er dachte nach. Hätte er Luca geholfen, wenn dieser ihn um Hilfe gebeten hätte? Nicholas wusste es nicht und diese Tatsache machte ihn wütend. Wie konnte es sein, dass er es nicht wusste? Er dachte an Lucas tränenüberströmtes Gesicht als er ihn letzte Woche in der Toilette eingesperrt vorgefunden war. Die nassen Haare waren selbsterklärend, er hatte nicht fragen müssen, um zu wissen, was vorgefallen war. Eine Sache hatte ihn allerdings erschreckt und das war Lucas Antwort auf die Frage, wieso er nicht mitbekommen hatte, wie viel Zeit vergangen war. Der Junge war bewusstlos gewesen und das wahrscheinlich für eine längere Zeit. Es war Luca vielleicht nicht bewusst, aber er hätte dabei draufgehen können! Dazu brauchte er nicht viel. Er hätte nur auf dem Rücken liegen und, während er bewusstlos war, erbrechen müssen, und das taten Bewusstlose öfters, schon wäre er erstickt. Kein schöner Gedanke. Und das schlimmste war, niemand hätte etwas dagegen unternehmen können. Die Lehrer hatten nicht einmal nach ihm gesucht, als er nicht zum Unterricht erschienen war, seine Sachen aber noch da waren. Sie hätten ihn einfach auf der Toilette verrecken lassen! Es klingelte und die Lehrerin betrat den Raum, aber Nicholas ließ sich davon nicht stören. Er sah aus dem Fenster und hing seinen Gedanken nach. Keiner wagte, ihn zu stören. Alles war wie immer. Es überraschte ihn nicht, dass er Peters für den Rest der Woche nicht mehr zu Gesicht bekam. Der Mann hatte wohl die Flucht ergriffen. Feiger Mistkerl. Genauso wenig überraschte es ihn, dass Luca ebenfalls nicht zum Unterricht erschien, obwohl er ihn gern gesehen hätte und sei es nur, um sicher zu gehen, dass er in Ordnung war. Aber zu Hause war der Kleine wohl besser aufgehoben. Da hatte er seine Ruhe und seine Eltern kümmerten sich um ihn. Es ging ihm dort auf jeden Fall besser wie in der Schule. Kapitel 10: Der neue Mathelehrer -------------------------------- Am Montag ging Luca wieder in die Schule. Er war zwar noch nicht ganz gesund, wollte aber nicht noch länger zu Hause bleiben. Das ganze Wochenende hatte seine Mutter ihm vorgehalten, wie nutzlos er doch sei und dass er sich wegen einer kleinen Erkältung nicht so haben solle. Aber die Packung Aspirin, die immer noch in seine Hosentasche steckte, hatte sie nicht vermisst. Sie hatte wohl noch eine auf Reserve gehabt. Er ließ sich auf seinen Platz fallen, den er heute relativ unbeschadet erreicht hatte. Aus irgendeinem Grund hatte Thomas' Gang sich entschlossen, ihm heute nur mit den Üblichen Beschimpfungen zu begrüßen. Handgreiflich waren sie nicht geworden. Es klingelte und er staunte nicht schlecht, als Neumann, ihr Sportlehrer, das Zimmer vertrat. Der Mann stellte sich vor die Klasse. „Da wir uns schon kenne, können wir gleich beginnen. Ich bin bis auf Weiteres die Vertretung für Ihren ursprünglichen Mathelehrer. Da sich auf die Schnelle niemand anders gefunden hat, der Sie unterrichten kann und Ihr neuer Lehrer erst nach Weihnachten Zeit hat, werde ich bis dahin übernehmen. Keine Angst, ich habe neben Sport auch Mathe und Physik studiert, es nur die letzten Jahre nicht unterrichtet, aber das kommt schon wieder", scherzte er zum Schluss. Einige aus der Klasse lachten höflich, aber der Großteil schaute ihn immer noch verwirrt an. Doch Neumann ließ sich davon nicht weiter stören und begann mit dem Unterricht. Dafür, dass er Mathe lange nicht mehr unterrichtet hatte, machte er sich erstaunlich gut. Luca hatte keinerlei Schwierigkeiten, dem Unterricht zu folgen und schrieb fleißig mit. Auch schaffte der Lehrer es irgendwie Thomas, Leonie, Martin und Jan zu beschäftigen, wofür ihm Luca sehr dankbar war. Nach der ersten Unterrichtsstunde bat er Luca, ihn nach draußen zu begleiten. „Geht es Ihnen wieder besser?", fragte Neumann. „Ich bin wieder gesund", antwortete Luca. Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber war glaubhaft genug, dass sein Lehrer nicht weiter nachfragen würde. „Das freut mich zu hören", fuhr Neumann fort, „Ihnen schien es wirklich schlecht zu gehen. Deshalb habe ich Nicholas hinterhergeschickt. Hat er sich ordentlich um Sie gekümmert?" Luca nickte. „Er hat meine Sachen getragen und mich zur Bushaltestelle gebracht." Neumann lachte. „Das freut mich zu hören. Wissen Sie, Nicholas kann manchmal etwas schwierig sein. Aber Sie scheint er zu mögen." Luca horchte auf. Nett? Wovon redete Neumann da? Mögen? Nicholas hatte ihm letzte Woche mehr als deutlich gesagt, was er von ihm hielt. Wie kam der Mann auf die abwegige Idee, dass Nicholas ihn mögen könnte. „Dann will ich Sie mal nicht weiter stören", beendete Neumann das kurze Gespräch. Luca trat zurück ins Zimmer und hätte es am liebsten sofort wieder verlassen. Seine Sachen lagen auf dem Boden. Während seiner Abwesenheit hatte jemand seine Schultasche und sein Federkästchen ausgeschüttet und den Inhalt am Boden verteilt. Der Sechzehnjährige schluckte. Bloß nichts anmerken lassen. Am besten er klaubte das Zeug schnell und ohne großes Drama wieder ein. Wenn die anderen glaubten, dass es ihn nicht störte, hörten sie vielleicht damit auf. „Hey du kleiner Spinner", Leonie trat auf den Hefter, den er gerade aufheben wollte, „hast du zufällig etwas verloren?" Sie nippte an ihrem Kaffee und betrachtete ihn abschätzend von oben herab. Hinter ihr lachten Martin und Jan. „Was kniest du denn hier so am Boden?", spottete Thomas, „Hast du endlich kapiert, wo du hingehörst?" Er trat Luca in die Seite. Luca biss sich auf die Unterlippe, um keinen Schmerzenslaut von sich zu geben und versuchte, die vier zu ignorieren. Das schien Thomas jedoch nicht zu gefallen. Er trat erneut nach ihm, diesmal kräftiger. „Hey! Ich rede mit dir!", bellte er. Luca erhob sich und brachte die Schulsachen, die er bis jetzt eingesammelt hatte, an seinen Platz. Um den Rest würde er sich später kümmern, sobald die vier ihm nicht mehr den Weg versperrten. Doch sie gingen nicht zur Seite. Bald würde die nächste Stunde beginnen und Luca brauchte seine Sachen. Er wollte nicht, dass Neumann sah, wie er behandelt wurde. Der Lehrer war die ganze Zeit nett zu ihm gewesen, hatte ihn behandelt, wie jeden anderen Schüler auch. Das würde vorbei sein, wenn er hiervon erfuhr. Er warf einen hilfesuchenden Blick zu Fynn, dem Klassensprechen, doch dieser sah sofort weg, tat, als würde er Luca nicht bemerken. Luca schluckte, ehe er seinen Blick ebenfalls abwandte und auf den Boden starrte. So war es immer. Noch nie hatte ihm jemand geholfen. Aber warum tat es dann jedes Mal so weh? Wieder kamen ihm die Tränen. Verzweifelt kämpfte er gegen sie an. Es gelang ihm nicht. Leise schluchzte er. „Guck mal, jetzt fängt er an zu heulen!" Thomas spazierte auf seine Bank zu und wischte mit dem Arm die eben aufgehobenen Bücher wieder vom Tisch. Luca zuckte erschrocken zusammen, als er den anderen erblickte, tat aber nichts. Die anderen lachten, auch diejenigen, die nicht zu Thomas' Gang gehörten. „Soll ich deine Mama anrufen, damit sie dich trösten kann, du Heulsuse?", höhnte Leonie während sie sich ihre Platinblonden Haare aus dem Gesicht strich. „Verschwinde von hier", fuhr Thomas ihn an, „Ich kann deine hässliche Visage nicht mehr ertragen." Er holte aus und schlug Luca mit der flachen Hand ins Gesicht. Luca wurde immer kleiner auf seinem Stuhl. „Sag mal, sind wie hier im Kindergarten?", hörte er plötzlich Rebeckas aufgebrachte Stimme. Wütend erhob sie sich, klaubte Lucas Schulsachen auf und knallte sie vor dem Sechzehnjährigen auf den Tisch. „Holst du dir jetzt schon ein Mädchen als Bodyguard", spottete Martin. „Bist dir selbst wohl noch nicht Mädchen genug. Wenn ich in deinem Körper stecken müsste, würde ich wahrscheinlich auch auf Kerle stehen." Thomas fuhr mit einer Hand Lucas sein Haar. „Du hast Recht, mit den Haaren sieht er wirklich wie ein Mädchen aus. Aber das lässt sich vielleicht beheben." Mit diesen Worten schüttete sie ihm ihren Kaffee über den Kopf. Es brannte, als die heiße Flüssigkeit ihm über das Gesicht lief. „Jetzt sieht er aus wie ein begossener Pudel", meinte Jan. Der Rest der Gang lachte. Das war zu viel für Luca. Er griff nach den Büchern, stopfte sie in seine Tasche und rannte aus dem Zimmer. Im Flur blieb er stehen und überlegte kurz, auf die Toilette zu gehen. Doch dann fiel ihm wieder ein, was dort passiert war. Er verließ die Schule über den Hinterausgang und rannte los. Keine Sekunde länger wollte er hier bleiben. Auf dem Heimweg kam er wieder an der Brücke vorbei, an der er schon letzte Woche gestanden hatte. Wie das letzte Mal lehnte er sich auf das Geländer und sah hinunter auf das Wasser. Er wollte dieses Leben nicht weiterleben. Er wollte, dass es aufhörte. Doch er war zu schwach, konnte sich nicht wehren, weder gegen Jochen noch gegen Thomas' Gang. War es sein Leben überhaupt noch wert, gelebt zu werden? Wäre es nicht leichter, wenn er aufgab. Es gab nichts, was ihn hier hielt. Er hatte keine Freunde, keine Familie. Nicht eine Person sorgte sich um ihn. Ob auf seiner Beerdigung wohl jemand anwesend war? Er verließ sie Brücke und stieg neben ihr zum Fluss hinunter, um sich den Kaffee aus Haaren und Gesicht zu waschen. Er trocknete sich mit seiner schwarzen Trainingsjacke ab. Jetzt sah er wieder einigermaßen passabel aus. Er beschloss, noch einmal auf den Spielplatz zu gehen und dort abzuwarten, bis die Schule offiziell vorbei war. Wenn er zu früh nach Hause kam, würde Jochen ihn nur wieder schlagen. Seine blauen Flecke waren gerade dabei, zu verheilen. „Pass doch auf!", rief eine Frau mittleren Alters, als er sie anrempelte und ihre Einkäufe auf dem Gehweg landeten. Sofort hockte Luca sich hin und half ihr, ihre Sachen wieder einzusammeln, bis seine Finger an einer Packung Schlaftabletten hängen blieben. Unauffällig steckte er sie in die Tasche seiner Trainingsjacke, den Rest reichte er der Frau, die sich mit keinem Wort bei ihm bedankte und ihren Weg fortsetzte. Sie bemerkte nicht, dass die Tabletten fehlten. Lucas Finger schlossen sich um die kleine Schachtel. Damit müsste es gehen. Am Dienstag erschien er nicht in der Schule. Kapitel 11: Lucas Entscheidung ------------------------------ Schweigend betrachtete Luca das Glas und die Tabletten auf dem abgenutzten Schreibtisch. Wenn er sie schluckte, war alles vorbei. Er müsste nicht länger leiden. Doch warum tat er es nicht? Immer wieder, wenn er die Augen schloss, sah er Nicholas' Gesicht. Die Worte, die der Schwarzhaarige gesagt hatte, hallten in seinen Ohren wieder. Luca wusste, wenn er sich jetzt das Leben nahm, gab er auf. Er würde in Nicholas' Augen noch erbärmlicher werden, als er ohnehin schon war. Warum störte ihn das? Sonst interessierte es ihn doch auch nicht so sehr, was Fremde über ihn dachten, denn das war Nicholas, ein Fremder. Der Sechzehnjährige ließ sich auf sein Bett fallen, welches laut quietschte, doch das störte ihn nicht weiter. Ihm tat alles weh. Jochen hatte ihn mal wieder verprügelt. Diesmal hatte er ihn sogar die Treppe hinuntergestoßen. Irgendwann brachte der Mann ihn noch um, wenn Luca es nicht selbst tat. Es wäre so einfach: Eine Handvoll Tabletten nehmen, schlucken und mit Wasser nachspülen. Dann musste er nur noch warten, bis sie begannen, zu wirken. Warum also zögerte er? Plötzlich verstand er. Er hatte Angst, Angst vor dem Tod und dem, was danach kam. Deshalb konnte er es nicht tun. Er würde wohl immer ein kleiner Feigling bleiben, der es zu nichts brachte. Nicht einmal umbringen konnte er sich. Draußen begann es zu Dämmern. Hatte er die ganze Zeit auf dem Bett gesessen und die Tabletten betrachtet? Anscheinend schon. Er hatte nicht bemerkt, wie viel Zeit vergangen war. Kurz ließ Luca den Blick durch sein Zimmer schweifen. Es war das am spärlichsten eingerichtete Zimmer im ganzen Haus, neben dem Dachboden und dem Keller. Die Möbel waren allesamt bunt zusammengewürfelt und hatten schon bessere Zeiten gesehen. Aber trotzdem war es noch wohnlich genug eingerichtet, dass das Jugendamt, sollte es entgegen allen Erwartungen noch hier auftauchen, nichts bemerken würde. Luca betrachtete seine Schultasche. Ob er nicht doch lieber hingehen sollte? Er hatte schon gestern geschwänzt und Montag war er aus der Schule gestürmt. Was die anderen jetzt wohl dachten? Eigentlich konnte es ihm egal sein, aber das war es nicht. Heute war Mittwoch. Das hieß, er würde wieder Sport haben. Neumann war zwar besser als die anderen Lehrer, aber würde er auch eingreifen, wenn Thomas' Gang ihn erneut schikanierte? Das hatte bis jetzt keiner getan. Alle, selbst die Lehrer, hatten es ignoriert. Hatten es nicht sehen wollen. War Neumann wie sie? Luca wusste es nicht. Schwerfällig erhob er sich vom Bett. Einmal würde er es noch versuchen, beschloss er. Nach dem Sportunterricht würde er zu Neumann gehen und mit ihm darüber sprechen. Entweder der Mann half ihm, was Luca hoffte, oder er würde heimgehen und die Tabletten schlucken. Wenn Neumann ihm nicht half, würde es keiner tun. Außerdem wusste Luca nicht, an wen er sich sonst wenden sollte. Vielleicht Rebecka? Immerhin hatte sie am Montag eingegriffen. Doch das hatte sie wahrscheinlich nur getan, weil Thomas und die anderen sie mit ihrem Verhalten genervt haben. Fynn würde ihm nicht helfen, das hatte er ihm am Montag klar gemacht. René? Luca schüttelte den Kopf. René war mit Nicholas befreundet und von diesem sollte er sich wohl besser fernhalten, auch wenn Nicholas ihm bis jetzt nichts getan und ihm sogar ein paar Mal geholfen hatte. Aber die Worte, die er ihn an den Kopf geworfen hatte, hatten weh getan. Nicholas stellte sich das alles so einfach vor. Das war es jedoch nicht. Luca hatte keinen, an den er sich wenden konnte, keinen, der ihm helfen würde. Der Sechzehnjährige beschloss, die Sportsachen gleich anzuziehen, dann musste er sich nur einmal vor seinen Mitschülern umziehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie die blauen Flecken sahen, war also halb so groß. Er stieg in seine lange Jogginghose und zog sich ein weites T-Shirt über den Kopf, das verbarg, wie viel er über die letzten Wochen hinweg abgenommen hatte. Dass er zu dünn war, wusste er, immerhin konnte er seine Rippen sehen. Aber wo sollte er genügend Essen herbekommen. Seine Realschule hatte eine Kantine gehabt, wo Luca, als Dankeschön dafür, dass er der Köchin jede Mittagspause geholfen hatte, umsonst etwas bekommen hatte. Eigentlich war das illegal und die Köchin hatte sich strafbar damit gemacht, Luca hingegen war ihr unglaublich dankbar gewesen. Er zog sich eine Joggingjacke über, bevor er seine Schultasche packte. In die Sporttasche legte er sie Sachen, die er nach dem Unterricht anziehen würde und die Turnschuhe. Die Tabletten versteckte er in seiner Matratze. Diese hatte an der Unterseite einen kleinen Riss, durch den er sie Pappschachtel problemlos hineinschieben konnte. Dort würde sie keiner suchen. Die Aspirin hatte er an der gleichen Stelle versteckt. Dann schlick er leise die Treppe hinunter zur Haustür. In der Küche blieb er stehen. Jochen und seine Mutter schliefen noch, konnten aber jeden Augenblick aufstehe, weswegen er nur einen Apfel aus der Obstschale und ein Brötchen vom Vortag aus dem Brotschrank nahm. Zu mehr reichte die Zeit nicht, denn oben öffnete sich gerade die Schlafzimmertür und es waren Schritte zu hören. Schnell stopfte Luca beides in seine Schultasche und verschwand aus dem Haus. Er war zwar viel zu früh, aber noch war es Sommer und draußen relativ warm. Da konnte er ruhig eine halbe Stunde an der Haltestelle warten, bis der Bus eintrudelte. Im Winter würde es schwieriger werden. Aber vielleicht lebte er dann ja auch nicht mehr. Noch war es nicht zu spät, umzukehren. Er könnte, wie er es gestern getan hatte, den Tag durch die Stadt spazieren und am Nachmittag so tun, als sei er in der Schule gewesen. Unentschuldigte Fehltage hatte er eh schon genug. Da kam es auf den einen auch nicht mehr an. Der Bus hielt an der Haltestelle und Luca zwang sich, einzusteigen. Einmal, hatte er beschlossen, würde er es noch versuchen. Also konnte er jetzt nicht weglaufen. Wenn er jetzt weglief, würde sich nichts ändern. Aber wenn er zur Schule ging und mit Neumann sprach, bestand zumindest die Möglichkeit, dass der Mann ihm half, egal wie unwahrscheinlich es war. Es war besser, das Ganze hinter sich zu bringen, kurz und schmerzlos, als es ewig vor sich her zu schieben. So hatte er heute Abend wenigstens Gewissheit, ob sich etwas änderte oder er die Tabletten schluckte. Vor der Turnhalle traf er Nicholas, der mit René direkt neben dem Eingang am Gebäude lehnte und sich mit ihm unterhielt. Von Rebecka und den Zwillingen war nichts zu sehen, aber sie waren wahrscheinlich noch nicht da. Unsicher blieb Luca stehen. Sollte er jetzt hineingehen oder war es besser, zu warten, bis die beiden nicht mehr da waren. Innerlich schüttelte er den Kopf. Das war lächerlich. Weder René noch Nicholas hatten ihn bis jetzt angegriffen. Nicholas' Worte waren immer erst gefallen, nachdem Thomas ihn mit seiner Gang fertiggemacht hatte. Und das war heute noch nicht passiert. Luca zwang sich, seinen Kopf zu heben und aufrecht an den beiden vorbeizugehen, die ihn zwar warnahmen, aber nicht weiter beachteten. Er konnte die Turnhalle ungehindert betreten und auch in die Kabine ließ man ihn, ohne zu murren. Allerdings war außer ihm auch nur Fynn da und dieser ignorierte ihn, so gut er konnte. Nach und nach füllte sich die Umkleide, doch bis jetzt hatte Luca seine Ruhe. Thomas und dessen Gang waren zwar anwesend, schienen aber anderweitig beschäftigt zu sein, jedenfalls standen sie mit zusammengesteckten Köpfen in der Ecke und schienen über etwas zu diskutieren. Im Unterricht bemühte Luca sich, so gut er konnte mitzumachen, was nicht besonders leicht war. Jede Bewegung schmerzte. Auch Neumann schien das bemerkt zu haben, sprach ihn jedoch nicht darauf an. Überhaupt schien er den Mann heute nicht zu interessieren. Lucas Mut sank, je mehr Zeit verging und am Ende der Stunde überlegte er, ob es überhaupt noch sinnvoll wäre, Neumann anzusprechen. Immerhin schien es ihn nicht zu interessieren. Doch Luca hatte beschlossen, es zu tun, also würde er es auch durchziehen. Kaum war der Unterricht zu Ende und seine Mitschüler auf dem Weg in die Umkleiden, ging er unauffällig zu Neumanns Aufenthaltsraum. Umziehen würde er sich erst später, wenn die anderen weg waren. Vor der geschlossenen Tür blieb er stehen. Sollte er wirklich? Noch konnte er zu den anderen gehen und tun, als sei nichts gewesen. Aber dann würde sich nichts ändern. Entschlossen hob er seine Hand und wollte gerade anklopfen, als ihm von hinten etwas auf den Mund gehalten und er zurückgezerrt wurde. Kapitel 12: Thomas' Rache ------------------------- „Du wolltest doch nicht etwa petzen?", erklang Thomas' Stimme an seinem Ohr. Luca wurde durch den Gang zurück zur inzwischen leeren Kabine gezerrt. Erst als sie in den Duschkabinen waren, wurde sein Mund wieder freigegeben, allerdings nur ganz kurz. Luca hatte kaum nach Luft geschnappt, da wurde ihm ein Stück Stoff zwischen die Lippen gedrückt und hinter seinem Kopf zusammengebunden. Jetzt konnte er nicht einmal mehr um Hilfe schreien. „Weißt du, was Montag passiert ist, nachdem du abgehauen bist?", schimpfte Thomas, „Neumann hat uns die Schuld dafür gegeben und wir durften bis halb Fünf nachsitzen. Und das nur wegen dir, weil du kleiner Schisser abhauen musstest!" Luca schluckte. Das klang nicht gut. Jan und Martin zerrten ihn unter eine der Duschen, wo sie seine Hände mit einem dünnen Seil über dem Kopf an den Duschkopf fesselten. Danach wurden seine Füße zusammengebunden. „Jetzt zeige ich dir, was wir mit Petzen machen, du miese kleine Schwuchtel. Und diesmal ist keiner da, der dich retten kann. Du wirst dir n och wünschen, niemals geboren worden zu sein." Grinsend zog Thomas eine Schere aus seiner Hosentasche und begann, Lucas Klamotten zu zerschneiden. „Wer weiß", meinte Martin, „Vielleicht gefällt es ihm ja sogar. Soll ja Schwuchteln geben, die sich darauf aufgeilen, von anderen Männern nackt gesehen zu werden." Luca wollte schreien, treten, nach ihnen schlagen, doch die Fesseln hielten ihn an seinem Platz und durch den Knebel brachte er keinen vernünftigen Ton heraus. Ihm standen die Tränen in den Augen. Wäre er doch nur nicht hergekommen! Seine Trainingsjacke fiel auf den Boden und das T-Shirt folgte wenig später. „Wow, wer hat dich denn so zugerichtet?", spottete Jan, „Da ist uns wohl jemand zuvorgekommen." Die anderen beiden lachten. Luca konnte sich nicht länger zurückhalten und begann, hemmungslos zu weinen, was seine Mitschüler nur noch mehr anstachelte. Ihm wurden die Schuhe ausgezogen und die Hose vom Körper geschnitten, am Ende hatte er nichts mehr an. Jan und Martin holten ebenfalls ihre Scheren und schnitten Lucas Klamotten in kleine Fetzen. Danach zerstörten sie seine restlichen Sachen, zerrissen Hefte und Schulbücher und warfen sein Handy so oft auf den Boden, teilweise sprangen sie sogar darauf herum, bis das Display splitterte. Mit Entsetzen beobachtete Luca, wie sie seine Kleidung zerstörten. Er wusste, selbst wenn es ihm irgendwie gelang, sich zu befreien, müsste er nackt heimfahren. „Das wird dir eine Lehre sein!", drohte Thomas, ehe er Lucas zerstörte Sachen in der gesamten Umkleide verteilte. „Weißt du, was das Beste ist?", flötete Jan Martin lachte. „Bis heute Abend hat keiner mehr hier Unterricht. Du hast also ganz viel Zeit über dein Verhalten nachzudenken." „Ja, denk darüber nach, du kleine Missgeburt", spottete Thomas. Jan drehte die Dusche auf und kaltes Wasser lief auf Luca herab. Erschrocken zuckte der Blonde zusammen. Es dauerte nicht lange, da fing er an, vor Kälte zu zittern. Doch das schien die drei nicht zu interessieren. Munter dekorierten sie weiter due Umkleide. Als sie damit fertig waren, packten sie ihre Sachen und gingen. Thomas kehrte noch einmal um. Zuerst hatte Luca gehofft, er würde vielleicht das Wasser wieder abdrehen, doch Thomas zog sein Handy aus der Hosentasche und schon zwei Fotos von Luca. Danach verschwand er. Luca hörte noch, wie die Tür zur Umkleide abgeschlossen wurde. Wenig später ging das Licht aus. Luca blieb allein, zitternd vor Kälte unter dem kalten Wasserstrahl zurück. Er wusste, er musste das Wasser abdrehen, bevor er endgültig ausgekühlt war, doch das war gar nicht so einfach. Nach einigem Strecken und Verdrehen gelang es ihm eine gefühlte Ewigkeit später endlich, doch er hörte nicht auf zu frieren. Zeit verging, ohne das sich etwas tat. Inzwischen hatten sich Lucas Augen an die Dunkelheit gewöhnt und er konnte ein paar Umrisse erkennen. Auch hatte er aufgehört zu weinen. Wie hatte er nur so blöd sein können. Er hätte wissen müssen , dass so etwas passieren würde, immerhin hatte es bis jetzt noch keinen Tag gegeben, an dem Thomas und dessen Gang ihn in Ruhe gelassen hatten. Wenn er doch nur geschwänzt hätte. Dann würde er jetzt irgendwo durch die Stadt laufen und das schöne Wetter genießen. Aber nein, er hatte ja unbedingt mit Neumann reden müssen! Jetzt hatte er den Mist. Jetzt war er nackt und geknebelt in einer Duschkabine festgebunden und konnte nur darauf hoffen, dass ihn schnell jemand befreite. Aber es kam keiner. Luca hörte weder Stimmen, noch Schritte im Gang. Alles war still. Martin hatte anscheinend recht gehabt, mit seiner Aussage, dass erst am Abend wieder jemand vorbeikommen würde. Luca wollte sich gar nicht vorstellen, wie diese Personen reagierten, wenn sie ihn so vorfanden. Wie lange er hier wohl schon stand? Langsam begannen seine Arme zu krampfen. Er war es nicht gewohnt, sie für längere Zeit so zu halten. Eine Weile versuchte er, die Hände von dem Seil zu befreien, doch er merkte schnell, dass er sich damit nur die Gelenke wund scheuerte. Als der Schmerz zu groß wurde, gab er auf und ließ sich kraftlos gegen die Wand sinken. Er konnte nichts anderes tun, als zu warten. Wie lange, wusste er nicht. Er wusste ja nicht einmal, wie viel Zeit bereits vergangen war. In der Turnhalle gab es kein Klingelzeichen und die Finsternis, die ihn umgab, nahm ihm jegliches Zeitgefühl. Auf die Hilfe der Lehrer, die seine Abwesenheit sicher bereits bemerkt hatten, brauchte er nicht zu hoffen. Von ihnen würde keiner nach ihm suchen. Thomas und dessen Gang hatte ihn vor ihren Augen fertiggemacht und keiner hatte eingegriffen. Warum sollten sie es also jetzt tun? Hätte er gestern Abend doch nur diese Tabletten geschluckt! Warum hatte er gezögert? Ach ja, wegen Neumann. Luca konnte es nicht fassen. Er hatte doch tatsächlich geglaubt, dass ein Lehrer ihm helfen würde. Vielleicht war das hier ja die Strafe für seine Dummheit. Die Schmerzen in seinen Armen wurden immer schlimmer, bis er sie letztendlich entspannte und in den Seilen hängen ließ. Jetzt brannten zwar seine Handgelenke, aber die Schmerzen waren erträglicher. Auch gefühlte Stunden später hatte sein Körper sich noch nicht wieder aufgewärmt. Er zitterte zwar nicht mehr so stark, wie am Anfang, fror aber immer noch. Morgen war er sicher wieder krank, dabei war er doch erst wieder gesund geworden. Das Leben war ungerecht. Was hatte Luca getan, um das zu verdienen. Er hatte doch nur versucht, seiner Mutter ein guter Sohn zu sein. Jedenfalls bis er begriff, dass sie ihn nicht wollte. Danach war er ihr aus dem Weg gegangen. Erneut liefen ihm Tränen über das Gesicht. Leise schluchzte Luca. Warum ausgerechnet er? Hätten sich Thomas und dessen Freunde kein anderes Opfer suchen können. Ihm ging es auch ohne die vier schon schlecht genug! Mussten sie ihm zusätzlich das Leben zur Hölle machen? Konnte er nicht wenigstens in der Schule seine Ruhe haben, wenn er zu Hause schon mehrmals die Woche verprügelt wurde? Was hatte er an sich, dass die Leute ihn hassten? Es konnte nicht daran liegen, dass er schwul war, denn er war auch in der Grundschule nicht anders behandelt wurden. Außerdem wussten weder Jochen noch seine Mutter, dass er auf Kerle stand. Trotzdem verprügelte ihn Jochen. Es musste also etwas anderes sein. Aber was? Lag es an seinem Aussehen? Seinem Verhalten? Luca fuhr zusammen, als er glaubte, Schritte zu hören. Zuerst glaubte er, es sich eingebildet zu haben, doch die Schritte wurden lauter. Vor der Tür zur Umkleide stoppten sie. Ein Schlüssel wurde ins Schloss gesteckt und mehrfach gedreht. Die Tür wurde geöffnet. Fast gleichzeitig ging das Licht ein. Luca wurde so sehr geblendet, dass er die Augen zusammenkniff und erst einmal nur horchte. Es folgten weitere Schritte. Die Person, die die Umkleide betreten hatte, war allein, das hörte Luca. Allerdings hörte er auch, dass die Person zielstrebig auf die Duschen zulief. Wieder begann Luca, zu zittern. Diesmal allerdings nicht vor Kälte, sondern aus Angst. Was würde mit ihm passieren, nachdem man ihn gefunden hatte? Auf einmal stoppten die Schritte. Die Person keuchte erschrocken auf. Luca traute sich nicht, die Person anzublicken, weshalb er seine Augen geschlossen ließ. „Scheiße!", rief eine Luca sehr bekannte Stimme. Schnelle Schritte näherten sich ihm. Kapitel 13: Unerwartete Hilfe ----------------------------- Als Luca sich endlich traute, die Augen zu öffnen, blickte er in das Gesicht von Nicholas. Dieser stand direkt vor ihm und starrte ihn aus geweiteten Augen heraus an. Dann streckte er die Hand nach dem Blonden aus. Luca erstarrte, ehe er schluchzend zurückwich und sich regelrecht gegen die Wand presste, um so viel wie möglich Abstand zwischen sich und sein Gegenüber zu bringen. Zuerst schien Nicholas verwundert über diese Reaktion, dann seufzte er. „Hey, ganz ruhig", flüsterte Nicholas, „Ich will dich nur losmachen." Erst danach griff er wieder nach den Fesseln. Dieses Mal wich Luca nicht zurück, trotzdem beobachtete er jede von Nicholas' Bewegungen genau. „Ich tu dir nichts, versprochen", fuhr Nicholas, der das beobachtet hatte, leise fort. Luca wusste, er wollte ihn beruhigen, doch es funktionierte nicht. Er war es nicht gewohnt, dass ihm andere Menschen so nah waren und fühlte sich dementsprechend unwohl. Mehrfach zuckte er zusammen, als Nicholas eine unerwartete Bewegung machte. Dann, endlich, waren seine Hände wieder frei. Luca versuchte, den Knebel zu entfernen, scheiterte aber, da er keinerlei Gefühl mehr in den Fingern hatte. Nicholas beobachtete seine Versuche eine Weile, ehe er nach Lucas Händen griff und sie vorsichtig zur Seite drückte. „Du bist ja ganz kalt", stellte er fest, ehe sein Blick an Lucas aufgeschürften Handgelenken hängenblieb. Darauf erwiderte Luca nichts, auch nicht, als Nicholas den Knebel entfernt und auf den Boden geworfen hatte. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Wenn er gekonnt hätte, wäre er weggerannt, aber sein Körper wollte sich nicht bewegen. Nachdem Nicholas auch seine Füße von den Fesseln befreit hatte, griff er nach dem Duschkopf, löste ihn aus der Halterung und drehte das Wasser auf. Mehrfach prüfte er die Temperatur, bis er sie wohl als passend befand und den Strahl auf Luca richtete. Das Wasser war warm, aber nicht so warm, wie man normalerweise duschte. Nicholas nahm also auf seinen ausgekühlten Körper Rücksicht. Nach und nach, stelle der Schwarzhaarige die Wassertemperatur etwas wärmer ein, bis Luca irgendwann aufhörte, zu zittern. Auch die Tränen stoppten irgendwann. Langsam lösten sich die Verkrampfungen in Lucas Gliedmaßen und er ließ sich erschöpft gegen die Wand sinken. Wenig später stellte Nicholas auch das Wasser wieder ab. „Warte kurz", sagte er, bevor er in die Umkleide zurücklief. Luca hörte, wie er in seinen Sachen herumkramte. Mit einem Badetuch in der Hand kam er wieder. Er reichte es Luca, woraufhin dieser sich sofort darin einwickelte, um seine Blöße zu verbergen. Mit einer Handbewegung forderte Nicholas ihn auf, ihm zu folgen. Doch Luca hatte sich kaum von der Wand abgestoßen, da gaben seine Beine schon nach und er sackte kraftlos auf den Boden. „Ich sehe schon, das wird nichts", stellte Nicholas neutral fest, kehrte um und kniete sich neben Luca. Er legte eine Hand um die Schulter des Blonden und die andere unter die Kniekehlen, ehe er ihn ohne große Anstrengungen anhob und in die Umkleide trug. Dort setzte er Luca auf eine der Bänke. „Du warst seit heute früh da drinnen, nicht wahr?" Nicholas ließ sich neben ihn auf die Bank fallen. Luca nickte. „Wie spät ist es?" „Dreiviertel Sieben", antwortete Nicholas. Dann deutete er auf die am Boden liegenden Fetzen. „Das waren deine Sachen, oder?" Wieder nickte Luca. Sein Blick wanderte zu seinem zerstörten Handy. Nicholas erhob sich, hob es auf und betrachtete er kurz. „Das ist hinüber", meinte er bedauernd. Luca senkte seinen Blick. Das Handy war teuer gewesen. Er hatte nicht genug Geld, um sich ein neues zu kaufen. Nicholas ging zu ihm zurück und legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. In diesem Augenblick wurde die Tür schwungvoll aufstoßen. Da kein Türstopper angebracht war, knallte sie mit einem lauten Schlag gegen die Wand. Erschrocken fuhr Luca zusammen. Ohne wirklich zu realisieren, was er tat, griff er, am ganzen Körper zitternd, nach Nicholas' Oberteil und krallte sich darin fest. Auch sein Gesicht vergrub er in dem weichen Stoff. Zuerst erstarrte Nicholas und Luca glaubte schon, er würde ihn wegstoßen, doch dann legten sich Arme um ihm und er wurde an einen warmen Körper gezogen. Es fühlte sich gut an. Wann war er das letzte Mal umarmt wurden? Luca konnte sich nicht mehr daran erinnern. Schutz suchend presste er sich näher an Nicholas heran. „Shh", flüsterte sein Klassenkamerad und strich ihm sanft über den Rücken. „Oh", sagte eine Luca unbekannte Männerstimme. Die Tür wurde leise wieder geschlossen. Nicholas schnaubte. „Steh hier nicht so blöd rum! Mach dich nützlich! Ich brauche eine Decke und einen Verbandskasten. Ein Besen wäre auch nicht schlecht!" Der Mann murmelte etwas, was Luca nicht verstehen konnte, und verließ die Umkleide wieder. „Das war nur Andy", erklärte Nicholas, „Wir haben gleich Karate." Langsam beruhigte sich Luca wieder. Das Zittern ebbte ab und er schloss leise seufzend die Augen. Als Andy wiederkam, öffnete er die Tür vorsichtiger. Mit ruhigen Schritten trat er in die Umkleide. Vor Nicholas und Luca blieb er stehen. „Was ist hier eigentlich passiert?" „Wenn du nichts zu tun hast, kannst du gerne anfangen, dem Müll zusammenzufegen", brummte Nicholas. „Sklaventreiber", schimpfte Andy, kam er Aufforderung aber nach. „Ich muss mich um deine Verletzungen kümmern." Behutsam befreite Nicholas sich aus Lucas Klammergriff. Nur widerwillig ließ Luca von ihm ab, doch Nicholas' Argument klang logisch und er schien sich ernsthaft um ihn zu sorgen. Widerstandslos ließ Luca die Untersuchung über sich ergehen. Nicholas reinigte und verband seine Handgelenke. Die blauen Flecken und kleineren Schürfwunden begutachtete er mit kraus gezogener Stirn. „Wer hat dich so zugerichtet?", fragte er nach einer Weile. Anstatt zu antworten, schüttelte Luca den Kopf. Er wollte jetzt nicht darüber sprechen. Nicholas schien ihn zu verstehen, denn er wickelte Luca vorsichtig in die Decke und zog ihn in eine Umarmung. Luca ließ sich fallen. In Nicholas' Umarmung fühlte er sich geborgen und beschützt, dabei kannte er ihn nicht einmal. Aber es lang vermutlich weniger an der Person, sondern an der Geste, dass Luca so fühlte. „Ich will nicht mehr", flüsterte er erstickt. Er wollte so nicht mehr weiterleben. nicht mit der ständigen Angst, die er vor Jochen und Thomas' Gang hatte. Nicholas schien ihn zu verstehen, denn die zuerst noch lockere Umarmung wurde fester. Sachte wiegte er ihn hin und her. „Ich werf das Zeug in den Müll, okay?", erklang Andys Stimme. Luca spürte, wie Nicholas nickte. „Wer ist der Kleine eigentlich? Dein neuer Freund?", wollte Andy wissen. Nicholas antwortete nicht. Er löste die Umarmung und zog seine Trainingsklamotten an. „Wie heißt du überhaupt?", bohrte Andy weiter. „Luca", antwortete der Blonde leise und musterte ihn. Andy hatte, wie Nicholas auch, einen durchtrainierten Körper, kurzes, braunes Stoppelhaar, einen Dreitagebart und dunkelbraune Augen. Nach und Nach füllte sich die Umkleide mit den anderen Karateschülern, die Luca zwar nicht ansprachen, aber neugierig musterten. Verunsichert rutschte der Blonde näher an Nicholas heran, der das Ganze eine Weile beobachtete, bevor er seufzte. „Ich gehe schon mal in die Halle", meinte er an die anderen gewandt. Sofort streckte Luca eine Hand nach ihm aus. Er wollte hier nicht allein gelassen werden. Nicholas lachte leise, bevor er, wie schon vorhin, Luca an Schulter und Kniekehlen packte und aus der Umkleide trug. Die anderen sahen ihm mit teils belustigten und teils verwunderten Blicken hinterher. In der Halle angekommen setzte Nicholas ihn wieder auf einer Bank ab. Danach wandte er sich an den Mann, der gerade den Boden mit Matten bedeckte. Die beiden wechselten ein paar Worte. Als Nicholas zu Luca zurückging, sagte er locker. „Ich habe mit dem Trainer gesprochen. Er hat nichts dagegen, wenn du heute zuschaust." Erleichtert atmete Luca aus. Er hatte schon befürchtet, in diesem Aufzug auf die Straße zu müssen. „Danach nehm ich dich mit zu mir. Ich habe meinem Bruder eben eine Sms geschrieben. Er holt mich ab und bringt Klamotten für dich mit." Verdutzt schaute Luca sein Gegenüber an. Hatte er gerade richtig gehört? „Jetzt schau nicht so", meinte der Schwarzhaarige belustigt, „In deinem Zustand kann ich dich ja schlecht allein lassen." Luca wusste, dass er nicht nur das Fehlen der Klamotten meinte. Er begann sich zu fragen, seit wann Nicholas so nett zu ihm war. Letztes Mal hatte er ihn noch angefahren und jetzt half er ihm. Es war fast, als wäre Nicholas auf einmal ein völlig anderer Mensch. Kapitel 14: Samuel und Sheila ----------------------------- In der Decke eingewickelt beobachtete Luca das Karatetraining. Ein paar Mal zuckte er zusammen, weil das, was dort getan wurde, gefährlich aussah. Das war es wahrscheinlich auch. Er kam sich seltsam vor, nur mit einer Decke bekleidet in einem Raum voller sich prügelnder Jungs und Männer zu sitzen. Er wollte gar nicht wissen, was sie von ihm dachten. Ihm fiel auf, dass Nicholas einige Jahre jünger war als die anderen, aber trotzdem problemlos mithalten konnte. Er musste schon sehr lange Karate machen. Kein Wunder, dass die anderen Angst vor ihm hatten. Als der Trainer kurz Pause machte, kam Nicholas wieder zur Bank und setzte sich neben ihn. Die anderen beobachteten Luca von ihren Plätzen aus. Nur Andy gesellte sich zu ihnen. „Und, wie findest du uns?", fragte Andy gut gelaunt. „Sieht brutal aus", meinte Luca nur. Daraufhin lachte Andy. „Ist es wohl auch. Ich hab oft blaue Flecke vom Training, vor allem wenn ich mit Nicholas trainiere. Er kann sich einfach nicht zurückhalten." Nicholas schnaubte. „Stell dich nicht so an, du bist schließlich kein Mädchen." „Du hast mir immer noch nicht gesagt, wer der kleine ist", wechselte Andy das Thema. „Ein Klassenkamerad", antwortete Nicholas ihm. Die kurze Pause wurde beendet und es ging weiter. Doch Luca achtete nicht mehr wirklich auf das Training. Seine Gedanken waren bei Nicholas. Vor wenigen Stunden noch hatte er geglaubt, der Schwarzhaarige würde ihn hassen. Das tat er anscheinend nicht, sonst hätte er ihn einfach in der Dusche hängen gelassen. Hatte er mit seinen Worten vielleicht etwas ganz anderes bezweckt? Luca überlegte. Wenn Nicholas ihn nicht fertig machen wollte, wollte er dann vielleicht, dass Luca sich wehrte? Hatte er ihm das sagen wollen, oder interpretierte er zu viel in die Situation hinein? Er wusste nicht mehr, was er von Nicholas halten sollte. War er ein Verbündeter, ein Freund, oder ein Feind? Und warum half er ihm? Aus Mitleid? Luca wollte kein Mitleid, egal von wem! Der Trainer beendete das Training. Während die anderen schnell die Halle verließen, ging Nicholas wieder zu Luca. „Kannst du wieder laufen?", fragte er leise. Zögernd stand Luca auf. Er war noch etwas wackelig auf den Beinen, konnte aber stehen. Nicholas betrachtete ihn skeptisch. „Es geht schon", antwortete Luca, der nicht wieder getragen werden wollte. „Wenn du meinst." Nicholas legte ihm einen Arm um die Schulter, um ihn zu stützen. Gemeinsam liefen sie zurück zur Umkleide. Sie hatten diese kaum betreten, als Andy laut rief: „Nicholas, dein Bruder wartet draußen!" Nicholas setzte Luca auf der Bank ab und verschwand mit einem kurzen „Bin gleich wieder da" aus der Umkleide. Wenig später kam er mit einer Plastiktüte wieder, die er Luca reichte. Sie enthielt die Klamotten, die Nicholas ihm besorgen wollte. Luca wartete, bis die anderen sich fertig umgezogen hatten oder in die Duschen verschwunden waren, ehe er sich Nicholas' Klamotten schnell überzog. Die Jogginghose war ein paar Zentimeter zu lang, also schlug er sie unten um. Dafür rutschte sie aber nicht. Auch das T-Shirt und die Schuhe waren ihm zu groß. Nicholas wartete, bis Luca angezogen war, dann begleitete er ihn nach draußen. Am Ausgang stand ein junger Mann, Luca schätzte ihn auf Mitte zwanzig, mit glattem, hellbraunem Haar, das ihm bis zum Kinn reichte. Er hatte die gleichen grünen Augen wie Nicholas und sah seinem Mitschüler auch so recht ähnlich, nur dass er nicht so viele Muskeln besaß und ein paar Zentimeter größer war. Nicholas nickte dem Mann zu, was dieser erwiderte, ehe er sich an Luca wandte. „Hallo, ich bin Samuel", grüßte der Mann ihn freundlich, „Nicholas' Bruder." Er betrachtete Luca genauer, sagte aber nichts weiter, sondern führte die beiden Klassenkameraden zu seinem Auto. Luca war ihm dankbar, dass er nicht näher fragte, was passiert sei. Er wusste nicht, ob er hätte antworten können. Jetzt, wo er sich wieder halbwegs beruhigt hatte, was es ihm peinlich. So fuhren sie schweigend zu Nicholas nach Hause. Samuel hielt vor einem Einfamilienhaus mit Vorgarten und parkte in der Einfahrt ebenjenes Hauses. Es war nicht so protzig wie die umstehenden Häuser, doch Nicholas' Familie musste viel Geld haben, um sich ein Haus in dieser Gegend leisten zu können. „Willkommen in meinem bescheidenen Heim", scherzte Samuel als er die Haustür aufschloss. Die drei traten ein. Im Flur wurden sie von einer jungen Frau mit dunkelblondem Haar, das sie zu einem Zopf geflochten hatte, der ihr bis zum Po reichte. Sie lächelte freundlich und als sie Luca erblickte, wie er sich unsicher und in Nicholas zu großen Klamotten umsah, begannen ihre bernsteinfarbenen Augen zu strahlen. „Der ist ja knuffig", rief sie begeistert, rannte auf Luca zu und streichelte ihm über das Haar. Dann sah sie zu Samuel. „Können wir ihn behalten?" Sie wollte ihn in eine Umarmung ziehen, aber Luca wich zurück und versteckte sich hinter Nicholas. Er war es nicht gewohnt, dass sich Leute ihm gegenüber so offen verhielten. Samuel, der hinter ihm stand, lachte. „Das ist Sheila, meine Freundin. Nimm sie nicht so ernst, das fragt sie immer, wenn sie etwas süß findet." Sheila zog einen Schmollmund. „Mach dich nicht über mich lustig." „Ruf uns, wenn das Essen fertig ist", meinte Nicholas. Er packte Luca am Arm und zog ihn durch den Flur, die Treppe hinauf in ein gut eingerichtetes Jungenzimmer, wahrscheinlich sein Zimmer. Dort ließ er sich auf das Bett fallen. Luca setzte sich auf den Drehstuhl, unsicher, was er sonst tun sollte und sah sich um. Neben einem Doppelbett befanden sich ein Schreibtisch, drei große Schränke und ein gut gefülltes Bücherregal im Zimmer. Über dem Bett war ein großes Fenster, darunter eine Heizung, an der das Bett mit wenigen Zentimetern Abstand stand. Die Wände waren in einem hellen Gelbton gestrichen und ein dunkelgrüner, flauschiger Teppich lag im Zimmer. Alle Möbel waren neu und schienen nicht die billigsten gewesen zu sein. Das Zimmer war gemütlich eingerichtet, fand Luca, viel besser als seines. „Sagst du mir jetzt, was heute Morgen passiert ist?", erkundigte sich Nicholas, nachdem sie sich eine Weile angeschwiegen hatten. Zuerst wollte Luca ihm nicht antworten. Das Ganze war ihm peinlich. Aber Nicholas hatte schon genug gesehen, um es sich auch so zusammenreimen zu können, weswegen es keinen großen Unterschied mehr machte. Leise begann er zu erzählen: „Ich wollte nach dem Unterricht noch zu Neumann. Thomas fand das nicht so toll..." „Das kann ich mir denken", meinte Nicholas, „Er hat die vier Montag ganz schön fertig gemacht." Erstaunt blickte Luca ihn an. Vielleicht hatte er sich doch nicht in Neumann getäuscht. Es klopfte an der Tür und Sheila lugte in das Zimmer. „Kommt runter. Das Essen ist gleich fertig." Nicholas erhob sich und folgte ihr in die Küche. Luca tat es ihm gleich. Samuel stand eine Schürze und eine Kochmütze tragend in der Küche und deckte gerade den Tisch, für vier Personen. „Setzt euch", meinte er. Sheila und Nicholas ließen sich auf zwei der Stühle nieder. Luca zögerte kurz, ehe er sich neben Nicholas setzte. Samuel wollte bestimmt neben seiner Freundin sitzen. Ein wenig wunderte es ihn, dass sie nur zu viert waren. Wo waren Nicholas' Eltern? Sheila schien erraten zu haben, was er dachte, denn sie begann zu erklären: „Nicholas' und Samuels Eltern sind viel beruflich unterwegs und nur selten zu Hause. Deswegen ist Nicholas, als Samuel ausgezogen ist, mit zu ihm gezogen. Er wollte nicht die ganze Zeit allein sein." Luca nickte. Das klang logisch. Samuel stellte das Essen auf den Tisch, es gab Spagetti mit selbstgemachter Tomatensoße und Käse. Er nahm Lucas Teller und füllte ihn reichlich, eher er auch den anderen und zum Schluss sich selbst den Teller füllte. Dann wurde begonnen, zu Essen. Während des Essens führten Sheila und Samuel höflichen Smalltalk mit Luca, wo er wohnte, woher er Nicholas kannte und was er später mal für einen Beruf lernen oder ob er studieren wollte. Als jedoch nach einer Weile die Frage fiel, ob er mit Nicholas zusammen sei, wurde er verlegen. Wieso dachte jeder, dass er etwas mit Nicholas hatte? „Wir gehen nur in die selbe Klasse", antwortete Luca. Samuel hob die Augenbrauen, erwiderte aber nichts. „Wo wohnst du?", fragte Nicholas als sie aufgegessen hatten und Sheila Samuel gerade beim abspülen half, „Ich bring dich nach Hause." Luca lächelte ihn dankbar an. Kapitel 15: Der nächste Morgen ------------------------------ Als Luca zu Hause klingelte, öffnete seine Mutter die Tür. „Leise, Jochen schläft. Er hatte einen anstrengenden Tag und muss morgen früh wieder raus", grüßte sie ihn. Sie sagte nichts dazu, dass er so spät kam. Auch zu seinem Outfit meinte sie nichts. Es war fast, als bemerke sie noch nicht einmal, dass etwas mit Luca nicht stimmte. Auch, dass er nicht allein war, schien ihr nicht aufzufallen. Nicholas musterte sie kurz, schien sie dann aber als normal einzuschätzen. Er lächelte Luca aufmunternd an. „Soll ich noch mit reinkommen?" Schnell schüttelte der Blonde den Kopf. „Lieber nicht. Ich will Jochen nicht wecken." Verwundert hob Nicholas die Augenbrauen. „Warum nennst du deinen Vater beim Vornamen?" „Er ist nicht mein Vater", erklärte Luca. Warum er das tat, wusste er nicht. Vielleicht lag es daran, dass ihn das noch nie jemand gefragt hatte. „Meine Mutter hat ihn vor zehn Jahren geheiratet." Es wunderte ihn etwas, warum Nicholas auf einmal so neugierig war. Er wusste nicht, ob er hätte misstrauisch sein sollen oder genauer darauf achten, was er gefragt wurde. Aber das tat er nicht. Nicholas bohrte auch nicht weiter. „Tschüss", verabschiedete er sich leise, „Wir sehen uns morgen in der Schule." „Bis morgen", antwortete Luca ihm. Er wusste, Nicholas hatte ihm eben die Möglichkeit genommen, zu schwänzen, aber das störte ihn nicht. Er hatte eh vorgehabt, in die Schule zu gehen. Jetzt, wo es vielleicht jemanden gab, der ihm half, würde es ganz aushaltbar sein. Luca huschte schnell ins Haus und schlich in sein Zimmer. Dort packte er schnell die Sachen für den nächsten Tag zusammen. Seine Schultasche ersetzte er durch einen alten Rucksack und anstatt der zerrissenen Hefter nahm er einen Block mit. Zum Glück hatte er heute nicht besonders viele Bücher dabei. Trotzdem wurde es bestimmt teuer, sie zu ersetzen. Wo er wohl das Geld dafür herbekam? Jochen würde es ihm sicher nicht geben. Außerdem brauchte er auch noch ein neues Handy. Sein altes mit zersprungenem Display legte er in die Schreibtischschublade. Vielleicht konnte er es reparieren lassen. Und selbst wenn nicht, die Sim-Karte war sicher noch brauchbar. Er stellte sich den Wecker auf eine Stunde früher, damit er sicher sein konnte, dass er aus dem Haus war, wenn Jochen aufwachte. Lieber wartete er die Zeit an der Bushaltestelle, als dass er sie in diesem Haus verbrachte. Luca wartete, bis seine Mutter ebenfalls schlafen ging, dann schlich er sich noch einmal in den Keller, um Nicholas' Klamotten zu waschen. Er wählte das Schnellprogramm der Waschmaschine, immerhin waren die Klamotten nicht dreckig, und wartete, bis sie fertig waren. Danach hängte sie zum Trocknen auf den Wäscheständer, damit sie nicht knitterten. Er betrachtete sein Werk noch einmal und schlich dann in sein Zimmer zurück, wo er sich erschöpft in sein Bett fallen ließ. Der Tag hatte es echt in sich gehabt. Er schloss seine Augen und war wenig später eingeschlafen. So kam es, dass Luca am nächsten Morgen noch genug Zeit hatte, sich Pausenbrote zu schmieren. Das kam nur sehr selten vor. Als er eben an der Tür des Schlafzimmers von seiner Mutter und Jochen vorbeigeschlichen war, hatte er Jochen laut schnarchen gehört. Das bedeutete, selbst wenn er aufwachte, brauchte er noch etwa zehn Minuten, bis er die Küche betrat. Mit dem Messer schnitt Luca sich die Scheiben vom Brot, die Brotschneidemaschine würde nur zu viel Lärm machen und womöglich Jochen wecken. Darauf konnte er gut verzichten. Er belegte seine Brote großzügig mit Schinken und Käse, strich sogar Butter aufs Brot, ehe er sie in Frischhaltefolie einwickelte. Wie jeden anderen Tag auch füllte er seine Trinkflasche mit Leitungswasser. Dann eilte er in den Keller, wo er schnell Nicholas' Klamotten, die inzwischen trocken waren, zusammenlegte und vorsichtig in seinen Rucksack packte. Er hörte noch, wie die Schlafzimmertür seiner Eltern geöffnet wurde und verließ eilig, aber trotzdem leise, das Haus. Gemütlich schlenderte er zur Bushaltestelle. Er hatte noch reichlich Zeit, die er nutzte, um einen kleinen Umweg zu laufen. Er kam an der Brücke vorbei, von der er sich hatte stürzen wollen. Vielleicht war es doch nicht so schlimm, dass er es nicht durchgezogen hatte. Auch wenn es ihm immer noch etwas peinlich war, wie Nicholas ihn gestern vorgefunden hatte, war er froh, dass sein Klassenkamerad ihm geholfen hatte. Ob er ihm wieder half, wenn er an Thomas' Gang geriet oder war das eine einmalige Aktion gewesen? Gern würde Luca mehr über Nicholas erfahren. Auch wenn er es vielleicht nicht zugeben wollte, der Schwarzhaarige faszinierte ihn. Er hatte etwas an sich, was Luca anzog. Allerdings traute Luca sich sicher nicht, ihn heute anzusprechen. Er würde nur vor lauter Scham im Boden versinken. Nicholas hatte ihn nackt gesehen! Und Nicholas war so freundlich zu ihm gewesen, hatte sich den ganzen Abend um ihn gekümmert. Das hatte Luca ihm gar nicht zugetraut. Er hatte ihn für unfreundlicher gehalten. Aber vielleicht hatte Nicholas auch einfach nur Mitleid mit ihm gehabt. Luca hob einen Stein auf und warf ihn in das langsam fließende Wasser. Mit einem leisen 'Platsch' kam dieser an der Wasseroberfläche auf und ging unter. Dem Stein folgte ein zweiter und ein dritter, bis Luca genug vom Steine werfen und ins Wasser starren hatte. Er lief zurück zur Bushaltestelle. Unterwegs kam er bei dem Bäcker vorbei, bei dem er sich sonst immer seine Brötchen holte. Heute würde er keins brauchen. An der Haltestelle wartete er nur noch kurz auf den Bus. Als er an der Schule wieder ausstieg, fiel ihm auf, dass etwas nicht stimmte. Von Thomas und dessen Gang war keine Spur, was Ärger bedeutete. Aufmerksam schaute Luca sich um, konnte sie aber nicht entdecken, weswegen er ins Klassenzimmer ging. Auch dort waren sie nicht. Außer ihm war noch keiner im Zimmer. Schnell legte er Nicholas' Klamotten auf dessen Platz. Dann ließ er sich auf seinen Stuhl fallen und wartete, bis das Zimmer sich füllte. Noch immer hörte er nichts von Thomas' Gang. Sein schlechtes Gefühl stieg. Irgendwas stimmte hier nicht, aber er wusste nicht, was. Oder war er einfach nur paranoid? Nicholas betrat das Zimmer, nickte ihm kurz zu und ging an seinen Platz. Ein schwaches Lächeln bildete sich auf seinem Gesicht, als er die sauber zusammengefalteten Klamotten entdeckte, die er anschließend in seinem Rucksack verstaute. Die Zwillinge Florian und Fabian betraten laut lachend und herumalbernd das Zimmer. Sie schubsten sich noch ein paar Mal und verstrubelten sich gegenseitig ihr dunkelgrünes Haar, sie hatten es wohl erneut gefärbt, ehe sie sich auf ihre Plätze fallen ließen. Irgendwie kam es Luca seltsam vor, wie sie sich verhielten. Irgendetwas stimmte nicht, aber er kam nicht darauf, was es war. Der Unterricht begann wie immer. Nach der Begrüßung rief ihre Deutschlehrerin, Frau Schiller, wie der Dichter Schiller, einen Schüler nach vorn und ließ ihn die letzte Stunde zusammenfassen. Erst danach ging es weiter. Luca befand das für eine gute Idee, denn so bekam er gleich mit, was er verpasst hatte. Fabian musste an die Tafel. Allerdings benahm er sich etwas seltsam, fand Luca. Letztens war er aufgedrehter. Er schaute zu Florian, dem anderen Zwilling, der mit einem breiten Grinsen auf seinem Platz saß und seinem Bruder zuwinkte. Das hatte Florian noch nie getan, Fabian war für gewöhnlich der, der die Grimassen schnitt. Es war fast, als hätten sie die Rollen getauscht. Aber natürlich! So musste es sein. Zumindest war es denkbar. Die Zwillinge hatten schon so manchen Blödsinn getrieben und unterscheiden konnte sie eh keiner, zumindest keiner der Lehrer. Nach der kurzen Wiederholung, die der Zwilling recht gut hinbekam, begann Schiller den Unterricht. Sie klappte die Tafel herum, um etwas anzuschreiben, als sie mitten in ihrer Bewegung stoppte. An der Tafel hing, farbig, die gesamte Länge verbrauchend, aus einzelnen A4-Blättern zusammengepuzzelt das Foto, das Thomas gestern von Luca geschossen hatte. Daneben hing seine Unterhose, die sie ihm vom Körper geschnitten hatten, und über der Unterhose stand in Kreide mit großen Druckbuchstaben geschrieben: „VERRECK ENDLICH DU ELENDE SCHWUCHTEL!" Kapitel 16: Nicholas wird wütend -------------------------------- Entsetzt starrten sowohl die Schüler als auch Frau Schiller an die Tafel. Keiner sagte etwas. Keiner rührte sich. Auch die Lehrerin sagte nichts. Auch Luca war geschockt. Mit so etwas hatte er nicht gerechnet. Tränen stiegen ihm in die Augen und er schluchzte leise. Am liebsten wäre er weggelaufen, doch er konnte sich nicht rühren. Seine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding. Er war sich sicher, würde er jetzt versuchen, aufzustehen, würden sie nachgeben und er würde zusammenbrechen. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sitzen zu bleiben. Die Tränen liefen ihm über das Gesicht. Wieso tat keiner etwas? Von seinen Mitschülern hatte er ja nichts anderes erwartet, aber als Lehrerin musste Frau Schiller jetzt eingreifen, oder? Sie konnte es nicht länger ignorieren. Doch sie tat nichts. Die Klasse begann, zu murmeln. Luca hörte, wie Thomas leise lachte und Leonie kicherte. Ihm wurde schlecht. Er wollte weg von hier! Egal, wohin, überall war es besser! Doch er konnte sich nicht rühren. Durch die vielen Tränen nahm er seine Umgebung nur noch verschwommen wahr, aber das interessierte ihn nicht. Warum unternahm niemand etwas? Er senkte seinen Blick und starrte auf den Tisch vor sich. Er konnte seine Mitschüler nicht mehr ansehen, nicht, nachdem sie dieses Foto gesehen hatten Ein Stuhl wurde zurückgeschoben und jemand stand auf. Luca hörte Schritte, jemand ging zur Tafel. Immer noch wagte er nicht, aufzusehen. „Ihr seid doch alle krank!", erklang Nicholas' wütende Stimme aus der Richtung der Tafel. Luca fuhr zusammen, wischte sich schnell die Tränen aus den Augen und schaute nach vorn. Tatsächlich! Nicholas stand vor der Klasse. Seine grünen Augen blitzten gefährlich und verliehen ihm ein raubtierartiges Aussehen. Er erinnerte Luca an einen Panther, kurz bevor er seine Beute angriff. „Hier fehlt ein Komma", stellte Nicholas betont nüchtern fest und deutete auf die in Kreide an die Tafel geschriebenen Worte. Es sah fast so aus, als würde er das Komma setzen, doch er tat es nicht. Stattdessen griff er nach dem Foto und riss es von der Tafel. Er zerknüllte es und warf es ins Waschbecken. Danach drehte er das Wasser auf. Während das Foto einweichte, riss er Lucas zerschnittene Unterhose von der Tafel und warf sie in den Müll. Dann schnappte er sich den Schwamm und wischte die Drohung von der Tafel. Er warf den Schwamm ins Waschbecken und nahm das inzwischen völlig aufgeweichte, zerknüllte Foto, aus dem die im Wasser gelöste Farbe tropfte, heraus. Als er zur Lehrerin ging, hinterließ er einige Tropfen auf dem Boden, doch das schien ihn nicht zu interessieren. Vor Frau Schiller blieb er stehen. Er warf ihr einen abfälligen Blick zu, ehe er ihr das zerknüllte Foto an die Stirn drückte. Die Farbe lief ihr über das Gesicht bis zu ihrer hellrosa Bluse, die sich am Kragen langsam verfärbte. „Vielleicht kommen Sie nächstes Mal ihren Verpflichtungen nach!", sagte er bedrohlich leise. Dann entfernte er sich wieder von der Tafel. Allerdings ging er nicht zu seinem Platz, sondern blieb vor Jans Tisch stehen. Er packte Jan am Kragen und warf ihn neben seine Bank. „W- Was soll das?", rief Jan erschrocken. „Spiel nicht den Ahnungslosen!", brauste Nicholas auf, „Das an der Tafel war deine Handschrift." Darauf erwiderte Jan nichts. Nicholas schnappte sich dessen Tasche und schüttete ihren Inhalt auf die Bank. Diesen durchwühlte er, bis er Jans Geldbörse gefunden hatte. Er öffnete sie und entnahm ihr das Gesamte Geld. „Das reicht nicht. "Kritisch beäugte er die Scheine und die wenigen Münzen, ehe er sie in seine Hosentasche steckte. Erneut baute er sich über Jan auf. „Wer war noch beteiligt?", fragte er. Dabei war seine Körperhaltung so drohend, dass es wohl keiner gewagt hätte, die Frage nicht zu beantworten. „Thomas und Martin", flüsterte Jan, aber es war trotzdem Verständlich, „Und Leonie, es war ihre Idee." Nicholas wandte sich an die anderen drei, die erschrocken vor ihm zurückwichen. Wie auch bei Jan, schüttete er ihre Schultaschen aus, schnappte sich ihr Portmonee und entnahm das ganze Geld. Die leeren Geldbörsen warf er wieder auf den Boden. Keiner hielt ihn auf. Alle starrten sie ihn mit einer Mischung aus Entsetzen und Bestürzung, teilweise aber auch Bewunderung oder Anerkennung an. Nicholas ging auf den immer noch geschockten Luca zu und blieb vor dessen Bank stehen. Er legte das gesamte Geld, dass er Thomas Gang eben abgenommen hatte, auf den Tisch. „Das müsste reichen, um deine Sachen zu ersetzen, oder?", erkundigte er sich. Fassungslos starrte Luca zuerst Nicholas, dann das Geld an. So viel hatte er noch nie besessen. Zögernd nickte er und steckte das Geld ein. Nicholas nickte ihm noch einmal zu, dann setzte er sich zurück auf seinen Platz. Wenig später klingelte es. Frau Schiller nutzte das, um möglichst schnell aus dem Raum zu verschwinden. Thomas, Leonie, Jan und Martin warfen ihm wütende Blicke zu, doch sie unternahmen nichts. Nicht ein einziger dummer Kommentar kam über ihre Lippen. Lucas Blick wanderte zu Nicholas, der ihn zu beobachten schien. Ihm fiel auf, dass er sich noch gar nicht bedankt hatte. Entschlossen wischte Luca sich die letzten Tränen aus dem Gesicht und ging auf Nicholas zu. Leider hielt seine Entschlossenheit nicht so lange, wie er es gerne gehabt hätte, denn als er vor Nicholas stehen blieb, der ihn abwartend musterte, wusste er nicht, was er sagen sollte. Auch die anderen schauten ihn an. „Ich- ähm... also", stotterte Luca und hätte sich am liebsten geohrfeigt. Blöder konnte er sich wirklich nicht aufführen. Konnte er sich nicht einmal zusammenreißen? Gestern hatte er auch normal mit Nicholas sprechen können. Er biss sich auf die Unterlippe und ballte die Hände zu Fäusten, ehe er einen neuen Versuch startete: „Ich wollte mich bedanken, für eben..." Nicholas nickte ihm zu und deutete auf den leeren Stuhl neben ihm. Als Luca ihn verwirrt ansah, seufzte er, packte den Blonden am Arm und drückte ihn auf den Stuhl. Irritiert ließ Luca es über sich ergehen. Ein unangenehmes Schweigen entstand. Nervös faltete er seine Hände ineinander und schaute die anderen, die ihn immer noch musterten, unsicher an. Dabei war er unbewusst näher an Nicholas herangerutscht, der es zwar bemerkte, sich aber nicht davon stören ließ. Rebecka brach das Schweigen, indem sie Luca freundlich lächelnd ihre Hand hinhielt. „Lass dich von den bösen Jungs nicht einschüchtern. Sie tun nur so. In Wirklichkeit tun sie keiner Fliege etwas zuleide. Ich bin Rebecka, aber meine Freunde nennen mich Becky." Als Luca nicht darauf reagierte, packte sie seine Hand und schüttelte diese. René, der neben ihr saß, grinste. „Da Nicholas es nicht für nötig hält, und vorzustellen, mache wir es eben selbst. Ich bin René, Nicholas bester Freund, wie sind seit dem Kindergarten unzertrennlich." Sein Grinsen wurde breiter. „Becky scheint richtig angetan von dir zu sein. Ich hoffe, ich muss mir keine Sorgen machen, dass du mir die Freundin ausspannst." Luca wurde rot. Verlegen senkte er seinen Blick und starrte auf den Boden. „Das glaube ich eher weniger. Dafür habe ich oben zu viel und untern zu wenig", meinte Rebecka belustigt. Luca wurde noch roter. Er war sich sicher, inzwischen einer Tomate Konkurrenz zu machen. „Ich bin Fabian", stellte sich einer der Zwillinge vor, „und das ist mein älterer Bruder Florian." Skeptisch betrachtete Luca ihn, ehe er nuschelte: „Andersrum." Nicholas hob fragend die Augenbraue. Auch die Zwillinge schienen verwundert. „Was hast du gerade gesagt?", fragten sie synchron. „Ihr habt vor Deutsch die Rollen getauscht", murmelte Luca, nur wenig deutlicher als vorhin. Die Zwillinge sahen zuerst Luca, dann sich an, ehe sie laut prustend loslachen. „Das gibt's nicht! Bis jetzt ist es noch nie jemandem aufgefallen, unsere Eltern und unsere Schwester mal außen vor. Wie hast du es bemerkt?" Nicholas, Rebecka und René schienen verwirrt. Sie hatten anscheinend nichts vom Rollentausch bemerkt. „Als Florian an die Tafel musste, hat Fabian Grimassen geschnitten. Normalerweise ist das immer andersrum", erklärte Luca. Florian klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. „Weißt du was? Ich glaub, ich mag dich, Kleiner." Es klingelte zum Unterricht, doch Frau Schiller kam nicht zu ihrer zweiten Unterrichtsstunde, weswegen die Gruppe fröhlich weiterquatschte. Auch, wenn Luca meist nur zuhörte und nur wenig zum Gespräch beisteuerte, so glücklich war er schon lange nicht mehr gewesen. Kapitel 17: Jochens Wutausbrüche -------------------------------- Luca begann, sich so oft es ging in Nicholas' Nähe aufzuhalten. Denn dort war das Mobbing am wenigsten. Solange Nicholas in der Nähe war, traute sich keiner, ihm etwas zu tun. Lediglich das Getuschel seiner Mitschüler musste er über sich ergehen lassen. Frau Schiller war am Freitag wieder zum Unterricht erschienen. Allerdings trug sie diesmal eine dunkelblaue Bluse. Außerdem machte sie einen großem Bogen um Nicholas. Auch Luca sprach sie nur an, wenn es zwingend notwendig war. Sie hatte eindeutig Angst vor Nicholas, aber das konnte ihr keiner verdenken. Wenn Luca ehrlich war, fand er es mutig, dass sie zurückgekommen war, aber trotzdem mochte er sie nicht. Von dem Geld, dass Nicholas Thomas' Gang abgenommen hatte, hatte Luca sich neue Schulbücher und Hefter gekauft. Auch sein Handy hatte er reparieren lassen. Es war glücklicherweise reparierbar gewesen. Den Rest des Geldes, es war noch ziemlich viel übrig, versteckte er in seiner Matratze. Vielleicht würde er es später mal brauchen. Es war Samstag. Eigentlich hatte Luca vorgehabt, auszuschlafen, wurde aber von Jochen daran gehindert. Der Mann war früh halb Sechs von einem Saufgelange mit seinen Kollegen gekommen. Anstatt wie sonst immer schlafen zu gehen, war er durch den Flur bis vor Lucas Zimmer gestürmt und hatte die Tür aufgerissen. Er schaltete das Licht ein, welches Luca blendete, doch das war im Moment das geringste seiner Probleme. Die Hände in die Hüfte gestemmt, stand er vor Luca. Der Blonde war, als die Tür aufgerissen wurde, auf einen Schlag wach gewesen. Er bereute schon jetzt, sie nicht abgeschlossen zu haben. Wie hatte er das nur vergessen können? „Ich mach dich fertig, du Missgeburt!", brüllte Jochen. Luca erstarrte. So wütend hatte er seinen Stiefvater schon lange nicht mehr erlebt. Er wusste schon jetzt, dass er für den Rest des Wochenendes das Bett wohl nicht mehr würde verlassen können. „Hast du auch nur den Hauch einer Ahnung, was du angestellt hast?", tobte der Mann weiter. Zögernd schüttelte Luca den Kopf. Er wusste es nicht. Ihm fiel nichts ein, was passiert sein könnte, dass Jochen so wütend war. Er war sich sicher, nichts getan zu haben, womit er das verdiente. „Vielleicht hilft dir ja das auf die Sprünge!" Jochen zog einen zerknüllten Zettel aus seiner Hosentasche, den er auseinanderfaltete und Luca vor die Nase hielt. Der Sechzehnjährige erkennte es sofort. Es war das, das Thomas Mittwoch in der Dusche geschossen hatte. Doch wie war sein Stiefvater an es herangekommen? „Das", fuhr Jochen immer noch gereizt fort, „war unter den Scheibenwischer des Autos meines Kollegen geklemmt!" Luca schluckte. Jochens Kollegen hatten es gesehen. Das war schlecht, sehr schlecht. „Stell dir vor, ich komme da ganz ahnungslos aus meiner Stammkneipe und finde meine Kollegen, wie sie sich gerade über ein Foto lustig machen, ein Foto von dir." Er packte Luca am Kragen, zerrte ihn aus dem Bett und warf ihn auf den Boden. Luca wehrte sich nicht. Er brauchte seine Arme, um sein Gesicht zu schützen, als Jochen begann, auf ihn einzutreten. „Du widerliches, undankbares Miststück", rief der Mann zwischen seinen Tritten. Inzwischen war auch Lucas Mutter durch den Lärm wach geworden. Tatenlos stand sie in der Tür und beobachtete, mal wieder, wie ihr Mann ihren Sohn verprügelte. In Lucas Augen bildeten sich Tränen und er konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken. „Heul hier nicht rum!", bellte Jochen, „Das hast du dir alleine eingebrockt!" Luca schloss seine Augen. Er wollte nichts mehr sehen. Er wollte nicht sehen, wie seine Mutter ihn wieder enttäuscht ansah, ihm wieder die Schuld für alles gab. Er hatte längst aufgegeben, sich zu fragen, warum sie nicht sah, was hier passierte, ob sie wirklich so blind war. Sie sah es einfach nicht. Es gab keine Erklärung dafür. Er stellte sich bewusstlos, in der Hoffnung, dass die Tritte dann aufhören würden, was sie nach einer Weile auch taten. Jochen trat ihm noch einmal kräftig in den Bauch, dann ließ er ihn auf den Boden liegen und verschwand aus dem Zimmer, aber nicht, ohne die Tür von außen abzusperren. Luca blinzelte und sah auf die geschlossene Tür. Er wusste, was das bedeutete. Er würde das gesamte Wochenende hier verbringen, ohne das Zimmer verlassen zu können. Mit etwas Glück schloss Jochen Montag Morgen wieder auf. Wenn er Pech hatte, musste er aus dem Fenster klettern. Sein Zimmer lag im ersten Stock, er würde einen Sprung vom Fensterstock also ohne größere Verletzungen überstehen, trotzdem würde es schmerzhaft werden, mit seinen Verletzungen. Mühsam quälte er sich in sein Bett, wo er sich erschöpft fallen ließ und die Augen schloss. Er wusste, er durfte jetzt nicht schlafen. Falls er eine Gehirnerschütterung hatte, könnte es sonst sein, dass er nicht wieder aufwachte. Aber es war ihm egal. Alles war ihm egal. Er wollte nicht mehr. Er wollte dieses Leben nicht länger leben. Er wollte endlich weg von hier. Ihm war egal, wohin, überall war es besser als hier. Lucas Gedanken schweiften zu seinem Vater, nicht Jochen, seinem leiblichen Vater, von dem er nichts wusste. Weder wie er aussah, noch seinen Namen, noch irgendetwas anderes. Im ganzen Haus gab es nicht ein einziges Foto von einem Mann anderen Mann als Jochen. Nichts deutete darauf hin, dass Sonja vor Jochen etwas mit einem anderen gehabt hatte. Nichts, außer Luca. Immer, wenn er seine Mutter nach ihm fragte, antwortete sie ihm, sein Vater wolle nichts von ihm wissen. Stimmte das? Oder hatte Sonja ihn nur erfolgreich aus seinem Leben verdrängt, weil sie mit Jochen perfekte Familie spielen wollte? Manchmal wünschte sich Luca, sein Vater würde hier auftauchen und ihn aus dieser Hölle befreien. Doch bis jetzt hatte sein Vater sich noch nie bei ihm gemeldet. Nicht einmal eine Karte zu Weihnachten oder zu seinem Geburtstag hatte er geschrieben. Wusste sein Vater überhaupt, dass es ihn gab? Vielleicht hatte seine Mutter ihm ja auch verschwiegen, dass sie schwanger war. Luca wischte sich mit dem Handrücken das Blut aus dem Gesicht. Er hatte eine Platzwunde an der Stirn und Nasenbluten schien er ebenfalls zu haben. Sein gesamter Körper schmerzte, auch wenn er ihn nicht bewegte. Selbst atmen tat weh. Aber gebrochen hatte er sich wohl nichts, zu glück. Sonst hätte er zu einem Arzt gemusst und Jochen hätte ihn nie und nimmer gehen lassen. Luca wusste, er musste etwas tun. Irgendwann würde Jochen ihn in seiner Wut totschlagen. Doch er wusste nicht, was er tun sollte. Er konnte hier nicht weg, nicht einmal für ein paar Tage. Es gab keinen, der ihn bei sich aufnehmen konnte. Außer seiner Mutter hatte er keine lebenden Verwandten mehr. Wie es auf der Seite seines Vaters aussah, wusste er nicht. Wenigstens war es in der Schule etwas ruhiger geworden, dank Nicholas. Luca verstand noch immer nicht, warum der Schwarzhaarige ihm geholfen hatte, aber er war ihm dankbar. Er holte sich die Schachtel Aspirin aus seiner Matratze und nahm zwei der Tabletten. Zum Glück hatte er gestern nach der Schule die Flasche nachgefüllt, sonst hätte er für den Rest des Wochenendes nichts mehr zu trinken bekommen. Eines der Pausenbrote war ebenfalls noch übrig. Besser, er teilte es sich ein. Er starrte an die Zimmerdecke und wartete, bis die Schmerzen aufhörten, dann schloss er die Augen und schlief ein. Als er wieder aufwachte, war es mitten in der Nacht. Er hatte den ganzen Tag geschlafen. Außerdem schienen die Schmerztabletten nachgelassen zu haben, ihm tat wieder alles weh. Er nahm noch eine, ehe er den Rest wieder versteckte. Dann begann er, seine Schulsachen zu packen. Hausaufgaben hatte er keine auf, aber er wäre wohl auch nicht in der Lage gewesen, sie vernünftig zu machen. Zum Schluss steckte er noch ein Zwei-Euro-Stück in die Tasche der Hose, die er am Montan tragen würde, damit er sich wieder ein Brötchen kaufen konnte. Als er damit fertig war, kletterte er wieder ins Bett, stellte den Wecker und zog sich die Decke bis ans Kinn. Wenn es doch nur endlich Montag wäre. Er wollte Nicholas wiedersehen. Kapitel 18: Der Montag danach ----------------------------- Wie erwartet, schloss Jochen die Tür am Montag nicht auf. Luca hörte, wie er gemeinsam mit seiner Mutter das Schlafzimmer verließ, um in der Küche zu frühstücken. An ihn dachte keiner. Also schnappte er sich seine Sachen, zum Glück war es Sommer, sonst wäre ihm ohne Jacke kalt geworden, und öffnete das Fenster. Er steckte noch schnell die Aspirin ein und zog sich noch einen dünnen Pullover über das T-Shirt, damit keiner seine blauen Flecke sah. Dann warf er seine Schulsachen aus dem Fenster. Er kletterte hinterher, setzte sich auf den Fensterstock und ließ sich fallen, bis er sich nur noch mit den Händen festhielt. So war der Sprung nicht so hoch. Er lehnte das Fenster an, damit Jochen nicht bemerkte, dass er es zur Flucht verwendet hatte. Sonst würde er es womöglich noch vergittern und das konnte Luca wirklich nicht gebrauchen. Trotzdem tat ihm alles weh, als er auf dem weichen Rasen landete. Er schnitt eine Grimasse, bevor er sich schnell seine Schultasche schnappte und so schnell er konnte das Grundstück verließ. Er holte sich vom Bäcker sein übliches Brötchen und zusätzlich noch eins zum gleich essen. Er hatte Hunger, was auch verständlich war, immerhin hatte er bis auf die Reste seines Pausenbrotes das ganze Wochenende nichts zwischen die Zähne bekommen. Die Trinkflasche würde er erst in der Schule auffüllen können. Dann konnte er auch endlich die Aspirin nehmen. Während er sein Brötchen aß, wartete er wie jeden Morgen auf seinen Bus. Dieser errichte mit zwei Minuten Verspätung die Haltestelle. Auf dem Schulgelände angekommen, nahm er den kürzesten Weg in sein Klassenzimmer. Weit kam er allerdings nicht, da Thomas und dessen Gang ihm den Weg versperrten. Eigentlich hatte er gedacht, dass sie durch Nicholas' Eingreifen eingeschüchtert waren und ihn zumindest für eine Weile in Ruhe ließen. Aber da hatte er sich wohl geirrt. Thomas ging einige Schritte auf ihn zu und blieb direkt vor ihm stehen. Er legte eine Hand ans Kinn und tat, als würde er überlegen. „Du siehst scheiße aus, hat dich jemand verprügelt?", höhnte er. Hinter ihm lachten Jan und Martin. Leonie kicherte. „Ich frage mich, wie dein Vater auf das Foto reagiert hat, dass wir so schön für ihn platziert haben. Hat er es gefunden?" Luca erstarrte. Sie hatten Jochen das Foto zukommen lassen? Das erklärte, wo er es her hatte. Aber woher wussten sie, wo sie Jochem antrafen?" „Wir gehen seit Sechs Jahren in dieselbe Klasse", spottete Leonie auf seinen verwirrten Blick hin, „Glaubst du nicht, da erfährt man das ein oder andere über seine Mitschüler?" Luca wollte an ihnen vorbeigehen, doch als er auf gleicher Höhe war wie Jan, stellte dieser ihm das Bein. Der Blonde fiel hin. Er biss sich auf die Lippe, um nicht vor Schmerz aufzustöhnen. Ihm tat alles weh! Doch er ließ sich nichts anmerken. Es gelang ihm sogar, die Tränen zu unterdrücken, bis er es ins Schulgebäude geschafft hatte. Überraschenderweise wurde er nicht verfolgt. Doch Luca traute dem Frieden nicht, weswegen er zügig zu seinem Klassenzimmer lief. Als er die Tür öffnete, stellte er fest, dass Nicholas und René bereits anwesend waren. „Morgen", grüßte Luca die Beiden und ging auf die beiden zu. René nickte ihm kurz zu, von Nicholas kam keine Reaktion. Er sah ihn noch nicht einmal an. Luca hielt inne, ehe er sein Ziel änderte und zum Waschbecken ging, wo er seine Trinkflasche auffüllte. Danach ließ er sich auf seinen Platz fallen. Nicholas wollte wohl nichts mehr mit ihm zu tun haben. Das schmerzte, Luca hatte angefangen, den Schwarzhaarigen zu mögen, bestätigte aber seine Vermutung: Nicholas hatte nur Mitleid mit ihm gehabt. Er drückte zwei Aspirin aus der Packung und schluckte sie mit etwas Wasser. Renés verwunderten Blick ignorierend lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und wartete, dass die Tabletten anschlugen. Das Zimmer füllte sich. René wurde wie jeden Morgen von Rebecka mit einem Kuss begrüßt und als es klingelte, betrat Neumann das Zimmer. „Heute machen wir eine Gruppenarbeit", verkündete er grinsend, worauf einige der Schüler begannen, zu jubeln, „Findet euch bitte zu fünf Gruppen mit jeweils fünf Personen zusammen. Es geht nicht ganz auf, deshalb werden in einer Gruppe sechs Personen sein." Luca starrte auf die Bank. Er hasste Gruppenarbeiten. Nie wollte jemand mit ihm arbeiten. Immer blieb er zum Schluss noch übrig, so auch heute. Die Gruppen hatten sich recht schnell gefunden und platzierten sich jetzt um einige Tische herum, aber keiner sprach ihn an und Luca traute sich nicht, die anderen anzusprechen. Nervös faltete er seine Hände ineinander und ließ seinen Blick kurz durch die Klasse schweifen, ehe er zurück auf den Tisch starrte. „Das kann ja keiner mit ansehen", schnaubte Nicholas. Er stand auf, ging auf Luca zu, packte ihn am Oberarm und zog ihn auf die Beine. Um ein Haar wäre Luca zusammengezuckt oder hätte sich durch einen Schmerzenslaut verraten, es gelang ihm nur knapp, sich nichts anmerken zu lassen. Nicholas nahm seine Sachen und drückte sie Luca in die Arme, dann warf er sich die Schultasche des Blonden über die Schulter. „Mitkommen!" Luca wagte nicht, ihm zu widersprechen, weswegen er ihm stumm folgte. Nicholas lief zurück zu seinem Platz, wo René inzwischen gemeinsam mit den Zwillingen die Tische aneinandergeschoben hatte. Rebecka stellte gerade die Stühle wieder an die Tische. Nicholas drückte Luca auf einen der Stühle, woraufhin sich der Sechzehnjährige setzte. Neumann ging durch die Klasse und teilte die Aufgaben aus. „Hier ist euer Thema." Er reichte ihnen einige zusammengeheftete Blätter. Florian nahm diese entgegen und schnitt sofort eine Grimasse. „Quadratische Funktionen", erklärte er, woraufhin sein Bruder und Rebecka stöhnten. „Ich bin darin auch nicht sonderlich gut", erklärte René, „Meine Stärken liegen eher in Sport und Informatik." Er nahm die Blätter entgegen und überflog sie kurz. „Ich kann über die Hälfte der Aufgaben nicht lösen", erklärte er nüchtern, ehe er sich an Nicholas wandte. „Schau mich nicht so an", entgegnete dieser trocken, „Du bist in Mathe besser als ich." „Wir sind geliefert", stellte Florian fest. Es folgte ein synchrones aufseufzen. „K- Kann ich mir die Aufgaben ansehen?", fragte Luca nach einer Weile schüchtern. Er war in Mathe bis jetzt immer gut gewesen. Es hatte zwar nie für eine Eins gereicht, aber er war mit seiner Zwei auch ganz zufrieden gewesen. Nicholas reichte ihm die Zettel. Luca blätterte sie kurz durch. Es waren nur Dinge gefragt, die er bereits behandelt hatte und die er demzufolge beherrschte. „Das ist doch ganz einfach", sprach er aus, was er dachte. Daraufhin starrten ihn vier Augenpaare, Nicholas sah aus dem Fenster, geschockt an. Er hätte das wohl lieber nicht sagen sollen. „Du kannst das?", hakte Rebecka nach. Luca nickte, nicht sicher, was er erwidern sollte. „Sieht aus, als wären wir doch nicht so geliefert", meinte René. Die Zwillinge nickten, ehe sie Luca je auf eine Schulter klopften. „Unsere Rettung." Luca war die ganze Aufmerksamkeit unangenehm. Er konnte nicht damit umgehen, hatte es nie gelernt. Um sich abzulenken, nahm er seinen Block und einen Stift und begann, die erste Aufgabe zu rechnen, ohne Taschenrechner. Die anderen schauten ihm dabei zu. „Kannst du mir das nochmal erklären?", fragte Rebecka als er fertig war und deutete auf den mittleren Teil seiner Rechnung. Luca zwang sich zu einem Lächeln. „Also das ist ganz einfach, du musst nur..." Während er Rebecka die Aufgabe erklärte, schrieben die anderen sie von ihm ab. So verfuhren sie auch mit den anderen Aufgaben. Je schwieriger die Aufgaben wurden, desto mehr Fragen stellte Rebecka und nach einer Weile schaltete sich auch René in das Gespräch mit ein. Die Aufregung und das Unwohlsein ließen langsam von Luca ab und er begann, sich in der Gruppe wohlzufühlen. Als es nach der zweiten Stunde klingelte, hatten sie Dreiviertel der Aufgaben geschafft. „Erledigen Sie bitte den Rest der Aufgaben zu Hause", rief Neumann noch, bevor die ersten Schüler das Zimmer verließen. Die Zwillinge warfen ihm böse Blicke zu, meinten dann aber zur Gruppe: „Gehen wir nach der Schule zu uns? Wir wohnen nur zwei Straßen weiter." Kapitel 19: Bei den Zwillingen ------------------------------ Der Rest des Tages verlief verhältnismäßig ruhig. Thomas' Gang schien eine neue Beschäftigung gefunden zu haben, denn sie ließen Luca weitestgehend in Ruhe. Nur ein paar dumme Sprüche musste er sich von ihnen anhören, aber damit konnte er leben. Er war es nicht anders gewohnt. Er hatte beschlossen, nach der Schule mit zu den Zwillingen zu gehen und die Aufgaben zu beenden. Wenn er nach der Schule seine Mutter anrief, würde sie es Jochen vielleicht ausrichten und dieser würde nicht zu sauer sein. Sein Handy konnte er dazu nicht verwenden. Dazu müsste er erst die Karte wieder aufladen, weil er sein gesamtes Guthaben verbraucht hatte, was er vielleicht mal tun sollte. Jetzt hatte er immerhin wieder Geld. Andererseits wäre es vielleicht sinnvoller, das Geld zu sparen. Er war sich sicher, es kam der Augenblick, an dem er sich wünschte, das Geld nicht ausgegeben zu haben. Also beschloss er, mit dem Aufladen noch etwas zu warten. Er hatte eh niemanden, den er anrufen konnte. Die Zwillinge warteten auf dem Schulhof auf den Rest der Gruppe. Geschlossen ging die Gruppe zum Haus der beiden, sie wohnten wirklich nicht weit von der Schule entfernt. Luca betrachtete die Doppelhaushälfte und den gepflegten Vorgarten mit den vielen Blumenbeeten, die bestimmt eine Menge Arbeit machten. Hier schien jemand einen grünen Daumen zu haben. „Kann ich von euch aus bei mir zu Hause anrufen?", fragte Luca als sie das Haus betraten, „Ich habe kein Geld mehr auf meinem Handy." „Natürlich", antwortete Fabian und führte ihn durch den Flur zum Festnetztelefon. „Wir sind in meinem Zimmer. Die Treppe hoch die zweite Tür links", erklärte er noch, dann ließ er Luca allein, damit dieser in Ruhe telefonieren konnte. Luca holte noch einmal tief Luft, hoffentlich ging auch seine Mutter ans Telefon. Mit Jochen wollte er nicht sprechen. Er wählte die Nummer und hörte das gewohnte Tuten. „Anders", erklang die Stimme seiner Mutter am anderen Ende der Leitung. Wie immer ging sie mit dem Nachnamen ran. „Hier ist Luca", sagte der Sechzehnjährige, „Wir sind heute in Mathe mit der Gruppenarbeit nicht fertig geworden, weshalb ich noch mit zu Klassenkameraden bin, damit wir sie fertigstellen können." „Ich werde es Jochen ausrichten." Mit diesen Worten legte seine Mutter auf. Luca seufzte. Irgendwie war er froh, dass die anderen schon vorgegangen waren. Sonst hätten sie das Gespräch vielleicht seltsam gefunden. Schnell machte er sich auf den Weg zu Fabians Zimmer, welches er auch gleich fand. Die anderen hatten die Aufgaben inzwischen auf dem dunkelgrünen Teppich ausgebreitet. Florian verteilte ein paar dicke Bücher, die wohl als Unterlage beim Schreiben dienen sollten. Als er Luca erblickte, winkte er ihn schnell in die Mitte der Gruppe. Sie machten dort weiter, wo sie in der Schule aufgehört hatten. Allerdings fiel Luca auf, dass nur René, Rebecka und Nicholas sich von ihm erklären ließen, wie er auf die Lösungen kam. Die Zwillinge schrieben nur von ihm ab. Aber das konnte Luca egal sein. Wenn sie meinten, dass sie es nicht brauchten, war das nicht sein Problem. ein wenig überraschte ihn, wie gut er mit Nicholas arbeiten konnte. Der Schwarzhaarige war zwar immer noch etwas kühl ihm gegenüber, blieb aber höflich. Nach etwas mehr als einer Stunde hatten sie die Aufgaben endlich geschafft. Sie verglichen noch einmal die Lösungen, um sicherzustellen, dass sich keine Fehler eingeschlichen hatten, dann packten sie ihre Mathesachen weg. „Endlich geschafft", freute sich Florian. Doch seine Freude hielt nicht lange. Die Tür wurde aufgerissen und ein Mädchen, so um die dreizehn oder vierzehn Jahre stampfte wütend ins Zimmer. Es hatte hellbraunes Haar, das hochgesteckt war, und blaue Augen, aus denen heraus es die Zwillinge wütend anfunkelte. „Wer von euch Idioten war an meinen Schminksachen?", rief es aufgebracht. „Dir auch einen Guten Abend Chrissie", grüßte Fabian das Mädchen, dann wandte er sich an seine Klassenkameraden, „Darf ich vorstellen: Unsere kleine Schwester, Christine." „Lenk nicht vom Thema ab: Wer von euch beiden war an meinen Sachen?", fauchte Christine. Florian hob beschwichtigend die Hände. „Jetzt mach mal halblang, wir haben alles wieder zurückgelegt." Christine schnaubte: „Und dabei alles durcheinandergebracht! Wie oft muss ich es euch noch sagen? Finger weg von meinen Sachen!" Sie schien allerdings einzusehen, dass sie bei ihren Brüdern auf keinerlei Verständnis stoßen würde, weswegen sie ihnen einen letzten vernichtenden Blick zuwarf und aus dem Zimmer stolzierte. Die Tür warf sie so stark zu, dass Luca befürchtete, sie würde sie kaputt machen. „Nett", brummte René, der, wie alle anderen auch, verdutzt auf die Tür starrte. Fabian kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Sorry, manchmal kann Chrissie echt ein Biest sein." „Also ich wäre auch wütend, wenn jemand einfach so meine Sachen durchwühlen würde", sagte Rebecka, woraufhin René zustimmend nickte. „Wir haben alles wieder zurück getan, ehrlich", entgegnete Florian. Rebecka strich sich eine Strähne ihres schwarzen Haares aus dem Gesicht. „Trotzdem, ihr seid ohne ihre Erlaubnis an ihre Sachen gegangen. Sie hat jedes Recht, wütend zu sein." „Zum Glück bin ich Einzelkind", stellte René nüchtern fest. „Ich bin auch Einzelkind", meinte Rebecka, „Hätte aber gern noch Geschwister." Die Blicke richteten sich auf Nicholas, der seufzte. „Ich habe einen älteren Bruder. Er heißt Samuel und ist 22." „Und du?", fragte Rebecka Luca, „Hast du Geschwister?" Der Blonde wollte gerade mit einem „Nein" antworten, als er bemerkte, dass das nur auf die Seite seiner Mutter zutraf. Es konnte gut sein, dass er einige Halbgeschwister auf der Seite seines Vaters hatte, von denen er nichts wusste. „Keine Ahnung", murmelte er leise, ärgerte sich aber sofort, als er die verwirrten Blicke der anderen sah. Warum hatte er nicht lügen oder zumindest seine Klasse halten können? Er hätte einfach nur verneinen brauchen und die Sache wäre erledigt gewesen. „Wie meinst du das?", fragte René. Luca senkte seinen Blick, beantwortete die Frage nicht. Hätte er doch nur nichts gesagt. „Du wirst doch wohl wissen, ob deine Eltern noch weitere Kinder haben", vernahm er Nicholas' genervt klingende Stimme, „Auch wenn sie geschieden sind oder dein Vater tot ist, wirst du-" Nicholas brach ab, als er Lucas verletzten Blick sah. „Ist er tot?“, fragte er leiser. Luca schüttelte den Kopf, ehe er mit den Schultern zuckte. Er wusste es nicht. Eine Weile war es still. Luca konnte förmlich spüren, wie die Blicke von ihm zu Nicholas wanderten. Am liebsten wäre er im Boden versunken, doch er konnte sich nicht rühren. „Kann es sein, dass du nicht weißt, wer dein Vater ist?", brach Nicholas das Schweigen. Diesmal klang er viel ruhiger. Ob er richtig kombiniert oder nur geraten hatte, wusste Luca nicht, wahrscheinlich eine Mischung aus beidem. Zögernd nickte er. „Nichts?", hakte Florian nach. „Nichts", flüsterte Luca, „Keine Adresse, keinen Namen, noch nicht einmal ein Foto. Es ist, als hätte er nie existiert." „Und deine Mutter? Hat sie dir nichts über ihn erzählt?", wollte René wissen. Luca schüttelte seinen Kopf. „Sie will nicht über ihn sprechen." Mehr sagte er dazu nicht. Er wollte nicht darüber sprechen. Fabian öffnete den Mund, wurde allerdings von Rebecka mit einem Stoß in die Rippen zum Schweigen gebracht. „Hört auf, Luca so auszuquetschen! Ihr seht doch, dass es ihm unangenehm ist, darüber zu sprechen." Fabian rieb sich die Seite, in die sie ihn gestoßen hatte, schwieg aber tatsächlich. Luca warf Rebecka einen dankbaren Blick zu, den diese mit einem Lächeln erwiderte. Sie verbrachten den Rest des Nachmittags damit, sich über irgendwelche unwichtigen Dinge zu unterhalten, wie, wann die nächste Party stattfand. Wieder beteiligte sich Luca nicht am Gespräch, außer er wurde etwas gefragt. Doch das schien die anderen nicht zu stören. Langsam entspannte er sich wieder und die Sache mit seinem Vater geriet in den Hintergrund. Allerdings beschloss er, dass er herausfinden würde, wer sein Vater war. Wenn seine Mutter die Wahrheit gesagt hatte, wusste sie, wer sein Vater war. Er musste es nur irgendwie aus ihr herausbekommen. Luca wollte endlich wissen, wer sein Vater war, wo dieser lebte und warum er noch nie von ihm gehört hatte. Wollte sein Vater ihn wirklich nicht haben oder hatte seine Mutter das nur gesagt, weil sie mit Jochen einen auf glückliche Familie machen wollte. Wie viel von dem, was seine Mutter gesagt hatte, war wahr? Es gab so viel, was er wissen wollte. Kapitel 20: Erste Enthüllungen ------------------------------ Luca schien Glück zu haben. Als er nach Hause kam, war Jochen bei einem seiner Kollegen und demzufolge war nur seine Mutter zu Hause. Er war schnell in sein Zimmer gegangen, schloss es auf, der Schlüssel steckte von außen, und ließ sich auf sein Bett fallen. Er erledigte die restlichen Hausaufgaben und packte seine Schultasche, danach schloss er sich in seinem Zimmer ein und ließ sich ins Bett fallen. Wenig später war er eingeschlafen. Sein Glück schien allerdings nicht lange zu halten. Als Luca am nächsten Morgen aufstand, um sich, seine übliche Trainingsjacke über dem T-Shirt tragend, heimlich aus dem Haus zu stehlen, lief er Jochen im Flur über den Weg. Sein Stiefvater trug zwar noch seinen Schlafanzug, schien aber wach zu sein. „Wo willst du hin?", fuhr er Luca an. Er stank nach Alkohol. „In die Schule", antwortete Luca leise, in der Hoffnung, dass Jochen ihn in Ruhe ließ. Er wusste, der Mann wollte nicht das Aufsehen der anderen Leute erregen, weshalb er ihn auch noch fast nie an Stellen geschlagen hatte, die sich nicht verdecken ließen. Allerdings nur, wenn er nicht zu betrunken war. Und normalerweise war Jochen, wenn er am Vorabend bei einem seiner Kollegen war, sehr betrunken. „Vergiss die dämliche Schule", bellte Jochen und baute sich vor Luca auf, „Geh gefälligst arbeiten. Ich hab keine Lust, dich noch länger durchzufüttern." Er verpasste Luca eine Ohrfeige. „Elender Schmarotzer!" Luca schluckte. Jochen schien zwar noch einigermaßen nüchtern, dafür aber extrem schlecht gelaunt zu sein. Das war schlecht, noch schlechter, als wenn er betrunken wäre. „Hörst du mich?", brüllte Jochen und stieß Luca gegen die Brust. Der Sechzehnjährige verlor das Gleichgewicht und stürzte rückwärts die Treppe hinunter. Das Schlimmste war zwar durch seine Schultasche abgefangen worden, aber es tat trotzdem weh und würde einige blaue Flecken hinterlassen, doch daran dachte Luca im Moment nicht. Er nutzte Jochens kurze Verwirrung, um aus dem Haus zu fliehen. So schnell er konnte, hinkte er die Straße entlang, bis er sicher war, nicht verfolgt zu werden. Dann verlangsamte er seine Schritte. Er holte sich sein übliches Brötchen vom Bäcker und wartete an der Haltestelle auf den Bus. Erst jetzt begriff er, was er gerade getan hatte. Scheiße! Er war vor Jochen geflüchtet. Das bedeutete Ärger. Jochen würde ihn fertig machen, wenn er wieder nach Hause kam. Der Sechzehnjährige bekam nicht mit, wie er in den Bus stieg, zur Schule fuhr und das Schulgelände betrat. Erst als er im Flur gegen jemanden stieß, erwachte er aus seiner Trance. Alarmiert sah er sein Gegenüber an und blickte in die wütenden Augen Nicholas'. „Pass doch auf!", zischte der Schwarzhaarige. Luca zuckte zusammen und wich einige Schritte zurück, bis er mit dem Rücken an einer Wand anstieß. „Hast du keine Augen im Kopf?", schimpfte Nicholas weiter. Er ging auf Luca zu und baute sich vor dem Blonden auf. „I- Ich... Es t- tut mir leid", stotterte Luca. Nicholas hob seine Hand, kam aber nicht mehr dazu, die geplante Handlung durchzuführen. Als Luca die erhobene Hand sah, kniff er die Augen zusammen und hob seine Arme schützend vor den Kopf, wie er es immer tat, wenn Jochen kurz davor war, ihn zu schlagen. Er bekam nicht mit, wie Nicholas erschrocken nach Luft schnappte. Auch den geschockten Blick des Schwarzhaarigen bemerkte er nicht. Als er dann plötzlich Nicholas' Hand auf seiner Schulter spürte, zuckte er zusammen, als sei er geschlagen worden. Sein gesamter Körper verkrampfte sich und er begann gleichzeitig, zu zittern, während er auf die Schläge wartete, von denen er dachte, dass sie kommen. „Hey, ganz ruhig...", flüsterte Nicholas und streichelte vorsichtig den Arm, „Ich tu dir nichts..." Als das nichts brachte, zog er Luca vorsichtig in eine Umarmung. Zuerst wehrte der Blonde sich dagegen, doch je länger Nicholas ihn hielt, desto mehr entspannte er sich. Auch das Zittern wurde wieder weniger, bis es ganz aufhörte. Leise schluchzte Luca auf, bevor er sich an Nicholas festkrallte und begann, hemmungslos zu weinen. Nicholas fuhr ihm tröstend mit einer Hand über den Rücken und wartete geduldig, bis Luca sich wieder beruhigt hatte. Es schien ihn nicht zu stören, dass der Blonde gerade sein Shirt nassweinte. Erst als der Blonde sich wieder von ihm löste, mit dem Ärmel dir Tränen aus dem Gesicht wischte und verlegen auf den Boden blickte, ließ er ihn wieder los. Luca, der inzwischen realisiert hatte, was da gerade passiert war, traute sich nicht, Nicholas ins Gesicht zu sehen. Schon wieder war er vor seinem Klassenkameraden zusammengebrochen. Außerdem war es ihm peinlich. Kleine Kinder heulten, und manchmal auch Mädchen. Er war weder das eine noch das andere. Nicholas griff nach seinem Arm. Diesmal zuckte Luca nicht zusammen. Widerstandslos ließ er sich von dem Schwarzhaarigen ins Klassenzimmer ziehen. „Da bist du ja endlich. Ich dachte schon, das du wärst in die Kloschüssel gefallen!", rief René, der sich als einziges im Zimmer befand, als er sie erblickte. Luca zuckte zusammen und rückte näher an Nicholas, der seufzte, ihm aber einen Arm um die Schulter legte. René schien jetzt auch bemerkt zu haben, dass sein bester Freund nicht allein war. Er brachte ein intelligentes „Oh..." heraus. Nicholas dirigierte Luca auf den Stuhl, auf dem er normalerweise saß. Durch einen sanften Druck auf die Schultern, brachte er den Blonden dazu, sich hinzusetzen. Luca tat, was Nicholas von ihm verlangte, ohne sich zu wehren. Er hatte begonnen, dem Schwarzhaarigen zu vertrauen. „Zieh deine Jacke aus", verlangte Nicholas nachdrücklich. Seine Stimme duldete keinen Widerspruch. Kurz zögerte, dann kam er mit zitternden Fingern der Aufforderung nach. René keuchte auf, als er die vielen blauen Flecken erblickte, während Nicholas' Blick sich verdunkelte. Aus seinen stechend grünen Augen heraus betrachtete er Luca nachdenklich. „Das T-Shirt auch!" Wieder tat Luca, was von ihm verlangt wurde. Jetzt saß er oben ohne vor seinen beiden Klassenkameraden. Nachdenklich betrachtete Nicholas seinen geschundenen Oberkörper. „Da sind Neue hinzugekommen", stellte er fest, „So schlimm sahst du am Mittwoch noch nicht aus. Außerdem sind einige ziemlich frisch." Luca wich seinem Blick aus und starrte auf den Boden. Als Nicholas sich vor ihm hinhockte, blickte er zur Seite. „Schau mich an." Nicholas legte ihm die Hand ans Kinn und zwang ihn sanft aber bestimmt, ihm in die Augen zu sehen. „Wer hat dich so zugerichtet?" Luca befreite sich aus seinem Griff und zog sich schnell das T-Shirt und seine Jacke wieder an. Auf die Frage antwortete er nicht. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Einerseits wollte er Nicholas nicht belügen, andererseits konnte er nicht sagen, dass Jochen ihn verprügelte. Was würde Nicholas von ihm denken, wenn er davon erfuhr? Wahrscheinlich würde er ihn hassen, Luca verabscheute sich ja selbst, dass er so schwach war. Deshalb schüttelte er einfach nur seinen Kopf. Ohne dass er es wollte, stiegen ihm wieder die Tränen in die Augen. „Hey, nicht weinen", tröstete Nicholas ihn sofort und zog ihn wieder in eine Umarmung, „Ich will dir doch nur helfen. Aber das kann ich nicht, wenn du mir nicht sagst, wer das war." Doch Luca schüttelte wieder nur seinen Kopf. Es war besser, wenn er schwieg. Dann würde Nicholas es nicht erfahren und ihn nicht hassen. Er wollte nicht, dass Nicholas ihn hasste. Nicholas war nicht der Freundlichste, aber er hatte mehr für Luca getan, als alle anderen. Er war derjenige, der eingegriffen hatte, als Thomas und dessen Freunde ihn fertiggemacht hatten. Er war derjenige, der ihm geholfen hatte. Er war derjenige, der ihn jemals umarmt oder getröstet hatte. Luca wollte ihn nicht verlieren. Dazu fühlten sich Nicholas' Nähe und tröstende Worte viel zu gut an. Er hatte das Gefühl, dass, wenn Nicholas da war, keiner mehr ihm etwas tun würde. Luca schloss die Augen und lehnte sich vollständig gegen seinen schwarzhaarigen Klassenkameraden. Er hatte längst aufgehört, zu weinen. Aber er löste sich nicht von Nicholas. Dazu fühlte er sich in dessen Umarmung viel zu wohl. Außerdem musste er so nicht die Gesichter von Nicholas und René sehen. Solange Nicholas ihn hielt, war es, als würde die Außenwelt nicht existieren. Solange Nicholas ihn hielt, war alles in Ordnung. Kapitel 21: Rebeckas erste Eins in Mathe ---------------------------------------- Als Rebecka das Zimmer betrat, befand sich Luca immer noch in Nicholas' Armen. Doch als er ihre Schritte hörte, löste er sich von dem Schwarzhaarigen. Rebecka tat, als hätte sie nichts bemerkt. „Guten Morgen, Schatz", grüßte sie René mit einem Kuss und setzte sich auf ihren Platz. Auch Nicholas hatte sich inzwischen gesetzt. „Dir auch einen Guten Morgen", meinte René gut gelaunt. Jetzt küsste er sie. Die Beiden schienen sich wirklich gern zu haben, so wie sie sich immer verhielten. Luca fragte sich, ob sie schon lange ein Paar waren, traute sich aber nicht es auszusprechen. Früher oder später würde er es auch so erfahren, hoffte er. Die anderen Schüler, die wenig später ins Zimmer kamen, stellten nichts Ungewöhnliches fest, außer, dass Luca nicht auf seinem Platz saß. Erst als es klingelte, ging Luca auf seinen Platz. Schnell packte er seine Sachen aus. Herr Wagner, ihr Geschichtslehrer, betrat das Zimmer. Der Mann hatte die Tür gerade hinter sich geschlossen, als sie wieder aufgerissen wurde und Thomas, Leonie, Jan und Martin ins Zimmer traten. „Entschuldigen Sie bitte", sagte Leonie mit einem zuckersüßen Lächeln, „Wir haben uns verquatscht und die Zeit vergessen." „Das macht nichts", antwortete Wagner. Die Vier setzten sich auf ihre Plätze. Allerdings grinsten sie sich dabei an, was Luca nicht gefiel. Sicher hatten sie wieder etwas ausgeheckt. Er sollte Recht behalten. Kaum hatte Wagner mit dem Unterricht begonnen und sich zur Tafel gewandt, um etwas anzuschreiben, da bekam Luca schon ein Geschoss an den Kopf. Erschrocken zuckte er zusammen. Das hatte weh getan. Dem einen Geschoss folgten weitere. Nach dem Vierten erkannte der Blonde, womit er beworfen wurde: kleine Steine. Diese hatten die vier sicher vor dem Unterricht eingesammelt. Zuerst waren die Steine, mit denen sie ihn bewarfen noch sehr klein, doch nach und nach wurden sie größer und es schmerzte mehr, wenn sie ihn trafen. Luca kauerte sich auf seinem Platz zusammen, schützte das Gesicht mit den Händen und wartete darauf, dass Wagner endlich etwas unternahm. Doch der Mann tat, als bemerke er es nicht. Am liebsten hätte Luca losgeheult, so blind konnte doch kein Mensch sein, aber er zwang sich, ruhig zu bleiben. Er hatte heute schon genug geweint. Trotzdem stiegen ihn die Tränen in die Augen, die Luca schnell wegwischte. „Gleich fängt er an zu heulen", flüsterte Leonie und die drei Jungs lachten leise. „Geschieht ihm recht", meinte Martin. Noch immer unternahm Wagner nichts. Inzwischen hatte Luca verstanden, dass der Mann nicht eingreifen würde. Sie könnten ihn vor Wagners Nase verprügeln und er würde noch immer so tun, als bemerke er nichts. „Jetzt ist aber genug!", erklang plötzlich Nicholas' wütende Stimme von der anderen Seite des Klassenzimmers. Erschrocken zuckte Luca zusammen. Der Klasse erging es ähnlich und sogar Wagner fuhr zusammen. „Was ist denn in Sie gefahren?", wollte er von dem Schwarzhaarigen wissen. „Das sollte wohl eher ich Sie fragen", erwiderte Nicholas ruhig. Er erhob sich und schritt auf Luca zu. Vor dem Blonden blieb er stehen. Er packte den inzwischen etwas verwirrten Luca vorsichtig an den Schultern, drückte ihm seine Schulsachen in die Hände, die Tasche warf er sich über die Schulter. Nicholas zog Luca aus seinem Stuhl, schob ihn durch das Klassenzimmer und drückte ihn schließlich auf den freien Platz neben Nicholas. Dann warf Nicholas die Tasche auf den Boden, nahm ihm die Schulsachen wieder ab, und legte die Bücher auf den Tisch. Wagner starrte Nicholas fassungslos mit aufgeklapptem Mund an. „Was soll das?", wollte er aufgebracht wissen. Auch die Schüler schienen verwundert. Thomas und dessen Gang schauten den Schwarzhaarigen aufgebracht an, wagten aber nicht, etwas zu sagen. Nicholas schnaubte. „Ich tue, was eigentlich Ihre Aufgabe ist, wozu Sie sich aber zu fein sind!" Zuerst schien es, als wolle Wagner noch etwas erwidern, doch dann wandte er sich von Nicholas ab und fuhr mit seinem Unterricht fort. Luca sah zu Nicholas, bevor er leise flüsterte „Danke." Sein neuer Banknachbar lächelte nur und nickte. Auch wenn Luca die ständige Nähe Nicholas' etwas unangenehm war, er war es nicht gewohnt, dass jemand so dicht neben ihm saß, fühlte er sich hier wohler als auf seinem alten Platz. Nicholas achtete darauf, keine unerwarteten Bewegungen zu machen, mit denen er ihn erschrecken konnte, wofür Luca wirklich dankbar war. Der Rest der Stunde verlief ohne weitere Zwischenfälle, wenn man mal von den dummen Kommentaren der Zwillinge absah. Die Beiden schienen es sich zum Ziel gesetzt zu haben, immer dümmere Kommentare zum Unterricht beizusteuern. Luca fand das lustig und lächelte sogar ein wenig. In der darauf folgenden Pause wurde er in die Gespräche mit einbezogen. Auch wenn es nur um belanglose Dinge wie das Wetter oder die Hausaufgaben ging, tat es gut, dass er nicht ignoriert wurde. Florian und Fabian verschwanden auf die Toilette und kamen wenig später in den Klamotten des jeweils anderen wieder. Sie mallten mal wieder die Rollen getauscht. Er erwähnte das allerdings nicht, als sie sich setzten, da es den anderen nicht aufzufallen schien. Florian grinste ihn an und bedeutet ihm mit einer kleinen Geste, dass er sie nicht verraten sollte. Später, als sie in Mathe, Neumann hatte Lucas neues Sitzplatz schweigend zur Kenntnis genommen, ihre Aufgaben präsentierten, staunten einige nicht schlecht. Neumann war so überrascht von der guten Leistung, dass er der ganzen Gruppe eine Eins eintrug. Er hatte es kaum erwähnt, da fiel Rebecka Luca schon vor der ganzen Klasse mit einem lauten Jubelruf um den Hals. „Du bist der Beste! Ich liebe dich!", freute sie sich. Sie küsste ihn sogar auf die Wange, ließ von ihm ab und umarmte ihn erneut. Luca, der zu einer Salzsäule erstarrt war, ließ es über sich ergehen, schließlich meine Rebecka es nicht böse. „René, deine Freundin geht gerade fremd", scherzte Florian, der sich gerade als sein Bruder ausgab. Der Angesprochene lachte nur. „Ich glaube nicht, dass das so gemeint ist." Rebecka löste sich von Luca und blickte Florian übertrieben schmollend an. „Ich hatte noch nie eine Eins in Mathe, da werde ich mich wohl ein kleinwenig freuen dürfen!" „Ein kleinwenig?" Fabian betrachtete sie skeptisch. „Darf ich mir das mal kurz ausleihen?", fragte Rebecka eine ihrer Mitschülerinnen und deutete auf ihr Mathebuch. Das Mädchen nickte, wenn auch etwas verwirrt. Rebecka nahm das Buch und schlug zuerst Florian, danach Fabian damit auf den Kopf. „Ihr hirnlosen Vollidioten! Müsst ihr mir jedes Mal meine Freude verderben." „Rebecka, wenn sie sich mit den Beiden prügeln wollen, können Sie das gern tun. Aber gehen Sie dafür bitte vor die Tür, damit ich es nicht sehen kann", kommentierte Neumann das ganze trocken, „Ansonsten bin ich gezwungen, einzugreifen." Rebecka lachte, ehe sie mit der Hand Lucas blondes, gelocktes Haar zerzauste. „Dich behalte ich." Die Zwillinge ließ sie links liegen. „Siehst du, sie geht wirklich fremd", rief Florian und ruderte wild mit den Armen, wie als wollte er damit die Dringlichkeit seiner Aussage verdeutlichen. Luca war das ganze mehr als unangenehm, er mochte es nicht, von Fremden angefasst zu werden, doch er bemühte sich, ruhig zu bleiben. Die gesamte Klasse starrte ihn und Rebecka an, auch Thomas. Allerdings schien dieser wütend zu sein. Seine Gruppe hatte nur eine mittelmäßige Arbeit präsentiert, die Neumann auch an einigen Stellen hatte korrigieren müssen. Nicholas beobachtete das Ganze, ohne sich einzumischen. Aber dazu hatte er auch keinen Grund. Allerdings haftete sein Blick relativ lange an Thomas und Leonie, fast als warte er darauf, dass sie etwas taten. Aber das trauten sie sich wohl nicht, dafür hatten sie zu viel Angst vor dem Schwarzhaarigen. Solange Nicholas in seiner Nähe war, würden sie ihn in Ruhe lassen, das wusste Luca. Doch was, wenn er allein war und ihnen begegnete? Hatten sie dann immer noch genug Angst vor Nicholas, um außer ein paar dummen Sprüchen nichts zu tun, oder ging es dann dort weiter, wo sie aufgehört hatten, bevor Nicholas eingegriffen hatte. Luca wusste es nicht und diese Ungewissheit machte ihm Angst. Kapitel 22: Ärger auf dem Schulhof ---------------------------------- Am nächsten Tag hatte Luca nicht so viel Glück. Zwar war es ihm gelungen, Jochen aus dem Weg zu gehen, weil seine Mutter ihn gleich nach der Schule zum Friseur geschickt hatte. Als er eine Stunde später mit geschnittenen Haaren, die deutlich kürzer waren als zuvor, wiedergekommen war, war Jochen bereits weg gewesen. Seine Mutter hatte gemeint, er wäre einen Kollegen besuchen. Luca hatte das so hingenommen, froh darüber, Jochen nicht begegnen zu müssen. Eigentlich hatte er erwartet, dass Jochen ihm auflauere und sobald er das Haus betreten hatte, dort weitermachen würde, wo er am Morgen aufgehört hatte. Doch Jochen kam den ganzen Abend nicht und als Luca früh in die Schule fuhr, war er immer noch nicht wieder da. Doch Lucas Erleichterung hielt nicht lange. Er hatte kaum das Schulgelände betreten, da wurde er auch schon von Thomas und dessen Freunde an den Rand des Geländes gedrängt, zu den Fahrradständern, wo sich kaum jemand aufhielt. Jan und Martin beuten sich bedrohlich vor ihm auf, während Leonie mit verschränkten Armen vor ihm stand. „Du hältst dich jetzt wohl für besonders cool, nur weil Nicholas dir vielleicht ein- oder zweimal geholfen hat", höhnte sie, „Mich würde interessieren, wie du ihn dazu bekommen hast. Machst du die Beine breit für ihn?" Erschrocken starrte Luca sie an. Wie konnte sie nur so etwas behaupten. Er wagte es jedoch nicht zu widersprechen. Damit würde er alles nur noch schlimmer machen. Thomas lachte. „So wird es wohl sein. Wieso sonst sollte er der kleinen Hure helfen." Er stieß Luca gegen die Schulter, woraufhin der Sechzehnjährige einige Schritte zurückstoplerte. Zwar fand er sein Gleichgewicht relativ schnell wieder, weswegen er nicht stürzte, aber die vier lachten trotzdem. Jan fuhr ihm durch sein seit gestern kurzes Haar, konnte ihn aber nicht am Haar packen, da es dazu zu kurz war. Darauf hatte Luca extra geachtet, als er es sich schneiden ließ. Jan versuchte es noch ein weiteres Mal, fand aber mit seinen Fingern keinen Halt, weswegen er Luca wütend gegen die Schulter stieß. Leonie betrachtete ihn skeptisch. „Du musst ziemlich gut im Bett sein, so wie Nicholas dich beschützt." Luca starrte auf den Boden. Es war ihm mehr als unangenehm, wie sie über ihn und Nicholas herzogen, aber ihm fehlte der Mut, etwas zu sagen. Jan, Martin und Thomas lachten, während Luca immer kleiner wurde. Er wollte hier weg. Martin schubste ihn, während Thomas ihm ein Bein stellte. Luca stürzte über Thomas' Bein und landete auf den Knien. „Sieh dich gut um, damit du weißt, wo du hingehörst", spottete Thomas, ehe er seinen Fuß auf Lucas Rücken platzierte. Leonie kicherte und trat ihn in die Seite. Luca sog scharf Luft ein. Die blauen Flecke, die Jochen ihm zugefügt hatte, waren noch nicht verheilt. Thomas tat, als würde er überlegen. „Vielleicht solltest du mich auch mal ranlassen. Möglicherweise fang ich dann auch an, dich zu mögen." Er machte eine kleine Pause. „Obwohl nein. Dazu müsste ich ja Sex mit dir haben." „Da hast du Recht. Nicholas hat die kleine Schwuchtel damit vielleicht rumgekriegt, aber ich finde das ekelhaft", meinte Jan. Die Gruppe lachte erneut. „Ja, das wäre widerlich", stimmte Martin grinsend zu. Doch plötzlich verstummten sie. Im nächsten Augenblick verschwand Thomas' Fuß von Lucas Rücken. Verwundert blickte Luca auf und sah, wie Thomas auf dem Boden landete. Über ihm stand Nicholas. Drohend sah der Schwarzhaarige die Gruppe an. „Wärt du so nett und würdest den letzten Satz noch einmal wiederholen? Ich könnte schwören, dass ich 'Schwuchtel' gehört habe." René ging währenddessen neben Luca in die Hocke. „Ist alles klar bei dir?" Luca nickte, unsicher, was er von der Situation halten sollte. Klar, war er froh, dass Nicholas ihm half. Allerdings gefiel ihm der Gedanke nicht, dass Nicholas wahrscheinlich gehört hatte, was Thomas und Jan über ihn gesagt hatten. Luca war zwar schwul, aber das bedeutete nicht, dass er mit jedem Kerl ins Bett stieg! Schließlich war er keine Hure! Und schon gar nicht würde er mit jemandem schlafen, nur damit dieser ihm dann half! So billig war er nicht! René half ihm, aufzustehen. Eigentlich hätte Luca das auch allein geschafft, aber er war noch immer mit der Situation überfordert. Er war es nicht gewohnt, dass jemand eingriff, wenn andere ihn fertigmachten. Sein Blick fiel auf Nicholas, der sich gerade mit den drei Junge prügelte, Leonie stand daneben und tat nichts. Obwohl sie zu dritt nach dem Schwarzhaarigen traten und schlugen, wich Nicholas fast immer mühelos aus. Nur selten wurde er getroffen. Trotzdem sah es auf den ersten Blick so aus, als sei der Schwarzhaarige den anderen drei Schülern unterlegen. Nicholas war nicht größer als sie und auch nicht muskelbepackt wie es dir Türsteher meist waren. Klar, er war muskulös, aber seine Statur glich einer Raubkatze und nicht einem Bär. „Um Nicholas brauchst du dir keine Sorgen zu machen", meinte René belustigt, „Er wird mit den drei Idioten schon fertig." Luca wusste, René hatte recht. Er hatte Nicholas am Mittwochabend während seines Karatetrainings gesehen. Und als er genauer hinsah, bemerkte er, dass Nicholas sich anders bewegte als seine Gegner. Seine Bewegungen waren geschmeidiger. Er wusste, was er tat. René hatte inzwischen sein Hand aus der Hosentasche gezogen. „Dann will ich dem Idiot mal helfen, dass er nicht zu viel Ärger bekommt." Er tippte darauf herum, bevor er es sich ans Ohr hielt. Luca schaute ihn verwundert an, sagte aber nichts. „Guten Morgen, Herr Lemke", begann René nach einer Weile zu sprechen. Er hatte also Nicholas' Vater angerufen. „Hier ist René." Einen Augenblick war es still, dann sprach Lucas Klassenkamerad weiter. „Nicholas prügelt sich gerade auf dem Schulgelände mit ein paar Mitschülern. Noch haben es die Lehrer nicht bemerkt, aber das ist nur noch eine Frage der Zeit. Es wäre nett, wenn Sie schnell vorbeikommen könnten, bevor er unnötig Ärger bekommt." Es war wieder kurz still. Dann sagte René. „Ja, das wäre gut. Bis gleich." Dann legte er auf. Nicholas hatte inzwischen Leonie in den auf dem Schulgelände stehenden Springbrunnen geworfen. Das Mädchen war von Kopf bis Fuß durchnässt, ihre großzügig aufgetragene Schminke verwischt und sie schaute den Schwarzhaarigen wütend an, wagte aber nicht, etwas zu sagen. Die anderen drei von Thomas Gang knieten auf dem Boden und hielten sich verschiedene Körperteile. Nicholas war, bis auf eine kleine Schramme am Kinn und eine aufgeplatzte Lippe heil geblieben. „Ich wiederhole mich nur ungern, also hört besser genau zu", sagte er, immer noch gereizt, „Wenn ihr Luca auch nur noch einmal verletzt, und dazu zählen auch Worte, dann sorge ich dafür, dass ihr das Krankenhaus so schnell nicht mehr verlassen werdet." Er sah zu Leonie. „Und dann ist es mir auch egal, dass du ein Mädchen bist. Ich werde dich genauso verprügeln wie deine Freunde." Er wandte sich an Luca. „Bist du verletzt? Haben sie dir etwas getan?" Der Blonde schüttelte den Kopf. „Was ist denn hier los?", erklang auf einmal Wagners Stimme. Wütend schaute der Mann Nicholas, René und Luca an. „Haben Sie sich etwa geprügelt?" „Ich habe mich geprügelt. René und Luca haben nichts getan", stellte Nicholas sofort klar. Er verschränkte seine Arme vor der Brust und schaute den Mann abwartend an. „Allerdings bin ich nicht derjenige, der angefangen hat." „Das kann jeder sagen", brummte Wagner. „Thomas, Jan, Martin und Leonie haben auch mitgemacht", mischte sich jetzt René gespielt unschuldig ein, „Wollen Sie ihnen nichts sagen?" Wagner ignorierte ihn und starrte weiterhin Nicholas an. „Hierfür fliegen Sie von der Schule, dafür sorge ich. Und Sie auch, Luca. Ich sehe doch, dass Ihre Klamotten ebenfalls dreckig sind!" Nur gegen René sagte er nichts. Luca schluckte. Was hatte Wagner nur gegen ihn? Er hatte nichts getan, was dieses Verhalten rechtfertigte. „Nicht so schnell", rief jemand hinter Wagner. Ein Mann, Ende dreißig, Anfang Vierzig kam zügig über den Schulhof gelaufen. Er trug einen dunkelblauen Designeranzug mit weißem Hemd uns Schlips und machte den Eindruck, dass er zum besser verdienenden Teil der Bevölkerung gehörte. Vor Wagner blieb der Mann stehen. „Was wollen Sie meinem Sohn diesmal in die Schuhe schieben?" Kapitel 23: Karl Lemke, Rechtsanwalt ------------------------------------ René grinste: „Perfektes Timing, Herr Lemke." „Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du mich Karl nennen sollst?", entgegnete der Angesprochene. „Keine Ahnung, ich habe nicht mitgezählt", scherzte René. Er schien ihn ziemlich gut zu kennen. Nicholas schaute den Mann verwirrt an. „Was machst du denn hier, Vater?" Gut, das erklärte, woher René den Mann kannte. Karl Lemke warf seinem Sohn einen vorwurfsvollen Blick zu. „Dein bester Freund hat mich vor wenigen Minuten angerufen und mir berichtet, dass mein Sohn sich mal wieder prügelt. Und das auch noch auf dem Schulgelände. Langsam solltest du alt genug sein, um die Dinge anders regeln zu können, meinst du nicht auch? Was hättest du gemacht, wenn ich gerade nicht in der Gegend gewesen wäre?" Nicholas schnaubte. „Eine andere Sprache scheinen die vier nicht zu verstehen! Ich habe ihnen oft genug gesagt, dass sie ihre Finger von Luca lassen sollen, aber sie wollten nicht hören. Was hätte ich sonst tun sollen? Weiter zusehen, wie sie ihn fertigmachen?" „Sie sind Nicholas' Vater?", mischte sich jetzt auch Wagner in das Gespräch ein, „Wissen Sie eigentlich, was Ihr Sohn alles so treibt? Wie viele Kollegen sich schon über ihn beschwert haben?" Luca sah zwischen den beiden Männern hin und her. Er fühlte sich mehr als unwohl in seiner Haut. Nicholas hatte ihm geholfen und bekam jetzt Ärger dafür. Und das vielleicht nicht nur von der Schulleitung sondern auch von seinem Vater. „Ich bin durchaus über das Verhalten meines Sohnes informiert", antwortete Karl ruhig. „Es ist noch gar nicht so lange her, da rief ein gewisser Herr Peters bei mir an. Sie glauben gar nicht, was er mir alles für Lügen auftischen wollte." Sein Blick wurde kalt und ernst. „Ich möchte mit der Schulleitung sprechen." Wagner schaute ihn aufgebracht an. Man sah, dass er schon einen spitzen Kommentar auf der Zunge hatte, den er sich aber verkniff. Stattdessen erwiderte er höflich und mit einem falschen Lächeln. „Hören Sie, das geht nicht so einfach. Ohne Termin kann ich-" „Nein, jetzt hören Sie", fuhr Karl auf, „Wir können diese Sache jetzt hier regeln oder wir sehen uns demnächst vor dem Gericht. Und seien Sie sicher, den Prozess werden Sie verlieren." Wagner schnappte nach Luft und wollte gerade ansetzet, etwas zu sagen, als Nicholas' Vater fortfuhr: „Es würde nicht nur Ihren Ruf ruinieren, sondern auch den der Schule. Außerdem werden Sie zeitlebens nie wieder eine Anstellung finden." Luca wusste nicht, ob die Drohung ernst gemeint war, aber so, wie Nicholas' Vater auftrat, wusste er wohl, was er machte. Oder er konnte sehr gut schauspielern. „Was bilden Sie sich eigentlich ein?", brauste Wagner auf. „Um Ihren Kollegen Peters habe ich mich bereits gekümmert. Wollen Sie der nächste sein?" Karl Lemke blieb ruhig, so ruhig, dass es Luca ein kleinwenig Angst machte. Normalerweise schrien Leute, wenn sie wütend waren, aber Nicholas' Vater tat das nicht. Wagner wurde etwas blass um die Nase. „Einen Moment bitte. Ich schaue, ob der Direktor zugegen ist", meinte er plötzlich kleinlaut und eilte im nächsten Augenblick schon über den Schulhof, in die Richtung des Lehrgebäudes. Nicholas' Vater wandte sich an Luca. „Du bist also Luca." Seine Stimme klang auf einmal viel freundlicher. Er lächelte den blonden Jungen an. „Mein Sohn hat schon viel über dich erzählt. Und über die Umstände an dieser Schule. Ich will nicht groß um den heißen Brei herumreden, er hat mich gebeten, dir zu helfen." Verdutzt blickte Luca den Mann vor sich an. Hatte er gerade richtig gehört? Karl lachte leise. „Keine Sorge, das bekommen wir schon hin. Ich rede jetzt ein erstes Wörtchen mit dem Schulleiter und den betreffenden Lehrern. Es wäre doch gelacht, wenn ich diesen Saftladen hier nicht wieder in Ordnung bringen kann." Ohne es zu wollen, musste Luca loslachen. Die Art, wie der Mann die Schule beschrieb, war einfach zu komisch. Auch Nicholas musste lächeln. Er wischte sich das Blut, das aus seiner aufgeplatzten Lippe lief vom Kinn. René reichte ihm ein Papiertaschentuch. „Bevor du noch deine Klamotten vollblutest." Inzwischen hatte Wagner auch den Direktor geholt. Der Mann Mitte Fünfzig mit Halbglatze und kariertem Hemd kam gemeinsam mit Wagner zügig über den Schulhof gelaufen. „Rechtsanwalt Lemke", größte er Nicholas' Vater. Luca staunte nicht schlecht. Nicholas' Vater war Rechtsanwalt? Kein Wunder, dass er sich mit der Sache mit dem Gericht so sicher gewesen war. Karl nickte. „Ich möchte mit Ihnen über die Zustände an dieser Schule sprechen." Er blieb stehen, woraus Luca schloss, dass er nicht vorhatte, die Sache im Büro des Direktors hinter geschlossenen Türen zu besprechen. „Aber natürlich, Herr Lemke", antwortete der Schulleiter sofort, „Welches Problem gibt es denn?" Die Art, wie er sich ausdrückte und versuchte es Nicholas' Vater recht zu machen, zeigte, dass er Respekt vor ihm hatte. „Nun, zum Einen würde mich interessieren, warum keiner der Lehrer eingreift, wenn ein Schüler vor ihren Augen von seinen Mitschülern gemobbt wird. Dann wird, als besagter Schüler verschwindet, seine Sachen aber noch im Zimmer liegen, den ganzen Tag nicht nach ihm gesucht. Was hätten Sie gemacht, wenn dem Schüler etwas zugestoßen wäre? Der Schüler lag für eine längere Zeit bewusstlos auf der Toilette. Ihnen ist bewusst, dass Bewusstlose manchmal erbrechen, oder?" Der Direktor erbleichte. „Davon höre ich das erste Mal", rechtfertigte er sich. Aber auch Luca war erschrocken. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass die Sache auf der Toilette so gefährlich gewesen war. Nicholas dagegen schon, denn sein Gesicht zeigte keine Regung. Aber eine Sache erschrak Luca noch mehr: Nicholas hatte mit seinem Vater über ihn gesprochen. Das hieß, sein Vater wusste jetzt wahrscheinlich alles, was Nicholas wusste. „Warum wurde der Schüler nicht gesucht?", wollte Karl wissen, „Soweit ich weiß, kontrolliert jeder Lehrer die Anwesenheit. Wie kann es sein, dass das nicht aufgefallen ist?" Er sah jetzt auch Wagner an. Der Schulleiter wurde immer bleicher. Langsam schien er nicht mehr zu wissen, was er sagen sollte. Sein Blick fiel auf Luca, der sofort auf den Boden sah und zurückwich. Erst zu spät merkte er, dass er sich durch sein Verhalten verraten hatte. Am liebsten wäre der Blonde im Boden versunken. Wie konnte er nur so blöd sein? Jetzt wussten alle, dass von ihm die Rede war. Wagner hob die Augenbraue. „Ich weiß ja nicht, was der Junge Ihnen für Lügenmärchen erzählt hat, aber in meinem Unterricht wurde niemand gemobbt." „Sie Lügner", fuhr Nicholas den Mann an und auch René schien aufgebracht, „Sie haben es ignoriert, genau wie alle anderen! Bis auf Neumann hat keiner von Ihnen eingegriffen!" „Das heißt Herr Neumann", korrigierte Karl seinen Sohn. René grinste, sagte aber nichts. Es schien fast, als hätte er gewusst, dass Karl seinen besten Freund zurechtweisen würde. Aber die Beiden kannten sich auch schon lange, da war das wohl normal. „Als Luca", diesmal verwendete Nicholas' Vater seinen Namen, „nach dem Sportunterricht nicht in der Schule erschien, hat auch keiner nach ihm gesucht. Von der Turnhalle zum Schulgebäude dauert es zu Fuß zwar nur fünf Minuten, aber in diesen fünf Minuten hätte einiges passieren können! Luca hätte beispielsweise entführt werden können, oder von einem Auto angefahren. Solche Sachen passieren immer wieder. Was hätten Sie seinen Eltern gesagt? 'Tut mir leid, meine Kollegen schlampen bei der Anwesenheitskontrolle der Schüler, deswegen ist uns nicht aufgefallen, dass Ihr Sohn verschwunden ist.'?" Je länger Karl redete, desto kleiner wurden Wagner und der Schulleiter. „Und als das Bild von Luca an der Tafel auftauchte, ist da jemand auf die Idee gekommen, einzugreifen?", bohrte Karl weiter, „Spätestens da hätten Sie es bemerken müssen!" Er baute sich vor den beiden Männern auf. „Kann ich mich darauf verlassen, dass Sie die Sache in den Griff bekommen?" Wagner und der Direktor nickten. Karl wandte sich an den Direktor. „Gut, dann kümmern Sie sich als erstes um die vier Schüler, die Luca seit Schuljahresbeginn fertigmachen, danach um Ihre unfähigen Lehrer. Dazu gehört auch, dass Sie Lucas Eltern anrufen und sich für den letzten Anruf, der getätigt worden ist, entschuldigen! Die Lügen, die Ihr Kollege Peters erzählt hat, haben Luca bestimmt Ärger gebracht. Das bringen Sie wieder in Ordnung! Sollte ich feststellen, dass Sie nichts unternommen haben, sehen wir und wieder. Aber nicht hier, sondern vor Gericht!" Kapitel 24: Endlich Ruhe ------------------------ Karl hatte sich noch eine Weile mit Luca unterhalten, während Nicholas ins Büro des Direktors musste, weil er sich geprügelt hatte. Ihm, Thomas, Jan, Martin und Leonie wurde eine Moralpredigt gehalten und sie wurden alle fünf verwarnt. Aber mehr passierte nicht.. Danach durfte Leonie nach Hause gehen, um ihre nassen Klamotten auszuziehen. „Und du bist sicher, dass du mir nicht sagen willst, wer dich so zugerichtet hat?“, fragte Karl bereits zum dritten Mal. Er hatte die Frage zwar jedes Mal anders formuliert, aber es lief auf das gleiche hinaus. Wie schon zuvor schüttelte er seinen Kopf. Er wollte nicht darüber sprechen. Außerdem, was würde Nicholas von ihm denken, wenn er davon erfuhr. Karl würde es ihm sicher sagen. Luca holte seine Wasserflasche aus seiner Schultasche, um einen Schluck zu trinken, als Karls Blick auf die Packung Aspirin fiel, die er dummerweise im gleichen Fach aufbewahrte. „Nimmst du die regelmäßig?“, wollte der Mann sofort wissen. Verwundert blickte der Blonde ihn an. Woraus wollte Nicholas‘ Vater hinaus? War das nicht egal, solange er nicht zu viele auf einmal nahm? „Aspirin enthält Acetylsalicylsäure“, erklärte Karl, „welche die Blutgerinnung hemmt. Nicholas‘ Erzählungen entnehme ich, dass es wohl häufiger vorkommt. Wenn du also eine Aspirin nimmst, kurz bevor du das nächste Mal verprügelt wirst, denn etwas anderes ist es nicht, dann könnte das unter Umständen schlimme Folgen haben. Stell dir vor, du ziehst dir eine größere Verletzung zu, dazu brauchst du unter Umständen nur blöd zu fallen. Im Extremfall könntest du daran verbluten.“ Luca starrte den Mann erschrocken an. Karls Gesicht war ernst, woraus Luca schloss, dass es sich nicht um einen Scherz handelte. „Das wusste ich nicht“, sagte er leise. Karl legte ihm die Hand auf die Schulter. Mit der anderen Hand nahm er ihm die Aspirin weg. „Wenn du dir schon nicht helfen lässt, dann versprich mir wenigstens, dass du sie nicht mehr nimmst, solange die Gefahr besteht, dass du erneut verprügelt werden könntest. Es gibt genug andere Schmerzmittel.“ Zögerlich nickte Luca. Zu etwas anderem war er nicht mehr fähig. Er hatte nie darüber nachgedacht, dass die Aspirin vielleicht irgendwelche unschönen Nebenwirkungen, wenn er es überhaupt als solche bezeichnen konnte, haben könnten, sondern sie einfach genommen. Er wollte gar nicht wissen, was alles hätte passieren können. „Und vergiss nicht, wenn du deine Meinung ändern solltest und doch mit mir darüber sprechen möchtest, kannst du jederzeit zu mir kommen. Ich werde mein Möglichstes tun, um dir zu helfen.“, fuhr er fort. „Warum tun Sie das alles?“, wollte Luca wissen. Er verstand nicht, warum ihm geholfen wurde, noch dazu von jemandem, den er nicht einmal kannte. „Zum einen hat mich Nicholas darum gebeten, du solltest wissen, dass es mir schwer fällt, ihm einen Wunsch abzuschlagen. Und zum anderen hasse ich es, wenn Kinder von anderen misshandelt werden“, antwortete Karl. Dann lächelte er. „Mein Sohn scheint dich ziemlich zu mögen. Normalerweise legt er sich nicht so ins Zeug, um jemandem zu helfen, denn er erst seit so kurzer Zeit kennt. Versteh mich nicht falsch, Nicholas würde alles für seine Freunde tun, er tut sich nur schwer darin, neue Freunde zu finden.“ Luca war verwirrt. Wieso erzählte der Mann ihm das alles? Was wollte er damit bezwecken. Der Blonde war ja nicht einmal mit Nicholas befreundet. Klar, er mochte den Schwarzhaarigen und er war sich sicher, dass sie sich in der Zukunft noch anfreunden konnten, aber noch waren sie nichts weiter als Klassenkameraden.“ „Dann lasse ich dich mal wieder allein. Ich werde auf Arbeit sicher schon vermisst. René hat mich angerufen, als ich gerade auf dem Weg war, weswegen keiner weiß, wo ich bin. Nicht, dass sie sich noch Sorgen machen“, mit diesen Worten verabschiedete sich Karl. Die Aspirin gab er ihm nicht zurück, aber das war Luca auch egal. Luca sah ihm noch hinterher und beobachtete, wie er in einen schwarzen Mercedes, der sicher teuer war, stieg und vom Schulgelände fuhr. Erst danach ging er ins Schulgebäude. Die erste Stunde war inzwischen vorbei. Er wartete noch, bis es klingelte, dann betrat er das Zimmer und setzte sich auf seinen neuen Platz. René, der schräg vor ihm stand, lächelte ihn an. „Und, worüber hast du noch so mit Nicholas‘ Vater gesprochen? „Nichts Wichtiges“, antwortete Luca ausweichend. René hob fragend die Augenbraue, bohrte allerdings nicht weiter nach, wofür Luca ihm dankbar war. Rebecka lächelte ihn aufmunternd an. „Mein Schatz hat mir erzählt, was passiert ist, bist du okay?“ Luca nickte. Wenig später betrat auch Nicholas das Zimmer. Zielsicher, als sei nichts passiert, lief er durch das Zimmer und ließ sich auf seinen Platz fallen. Einige Mitschüler beäugten ihn und seine Aufgeplatzte Lippe, auf die er ein Kühlakku gepresst hielt neugierig, schienen sich aber nicht zu trauen, ihn darauf anzusprechen. „Na, du Raudi“, grüßte René ihn, „Und ich dachte, du seist aus dem Alter raus, in dem du dich mit anderen schlagen musst.“ Nicholas brummte etwas Unverständliches. „Hör ich da richtig?“, rief Florian von hinten. Er trug die Klamotten seines Zwillingsbruders. „Du hast dich geprügelt?“, wollte Fabian wissen. Florian stand auf, stemmte die Hände in die Hüften und sah den Schwarzhaarigen tadelnd an. „Also nein, nein, nein…“ Fabian tat es ihm gleich. „… So etwas tut man doch nicht.“ „Hast du denn…“, begann Florian. „… keinen Anstand?“, beendete Fabian den Satz seines Zwillingsbruders. Rebecka prustete los. „Wie lange musstet ihr denn dafür üben?“ Florian tat beleidigt. „Wie üben das nicht! Wir sind Zwillinge! Wir können das auch so.“ „Habt ihr gestern Abend zu lange Harry Potter geschaut?“, mischte sich jetzt auch René ein, „Da gab es doch auch diese beiden Zwillinge, die immer den Satz des Anderen beendet haben.“ Rebecka streichelte ihm über den Oberarm. „Schatz, wenn du Zwillinge sagst, dann ist es eigentlich klar, dass es zwei sind.“ „Und ‚eigentlich‘ macht jeden Satz kaputt“, konterte René. Fabian setzte sich wieder auf seinen Stuhl und tat, als würde er Popcorn essen. „So ein Ehestreit ist doch immer wieder schön anzusehen.“ Rebecka stampfte auf ihn zu und baute sich vor ihm auf. „Florian! Na warte!“ „Das ist Fabian. Sie haben die Rollen getauscht“, entfuhr es Luca, ohne dass er über seine Worte nachdachte. Drei Augenpaare blickten ihn überrascht an. „Verräter“, brummte Fabian. Es war aber deutlich zu sehen, dass er es nicht ernst meinte. „Du kannst sie auseinanderhalten?“, fragte René verwundert. Luca nickte, woraufhin Florian ihm auf die Schulter klopfte. „Unser Kleiner ist wirklich gut, was?“ Der Blonde zog einen Schmollmund. Sie hatten kein Recht, ihn so zu nennen! So viel kleiner wie die Beiden war er auch wieder nicht. Das waren maximal zwei Zentimeter. Außerdem mochte er es nicht, einfach so, ohne Vorwarnung angefasst zu werden. Nicholas, der sich in seinem Stuhl lässig zurückgelehnt hatte, hob die Augenbraue. „Soso, euer Kleiner…“ Florian grinste. „Ist da etwa…“ „… jemand eifersüchtig?“, beendete Fabian. Danach lachten die Zwillinge los. „Keine Angst“, japste Fabian, bevor ihn ein neuer Lachkrampf erfasste, „Ich steh mehr auf Leute, die obenrum etwas mehr und untenrum etwas weniger haben. Wenn du verstehst, was ich meine. Du hast den Kleinen also ganz für dich allein.“ Luca wurde rot. Es war ihm unangenehm, dass sie so über ihn sprachen. Aber er wollte auch nichts sagen, schließlich meinten sie es nicht böse. „Jetzt hört endlich auf, ständig Luca zu ärgern“, schimpfte Rebecka, „Seht ihr nicht, dass ihm euer Blödsinn keinen Spaß macht.“ Hätte in diesem Augenblick nicht ihr Lehrer das Zimmer betreten und mit dem Unterricht begonnen, hätten die Zwillinge sicher noch eine Weile ihre Scherze getrieben. So begnügten Sie sich damit, den Lehrer zu verwirren, der verzweifelt versuchte, sie auseinanderzuhalten. Jedes Mal, wenn er sich zur Tafel drehte, tauschten sie schnell ihre Plätze. Das ging so weit, bis der Lehrer sie mit Zwilling Eins, für denjenigen, der am Fenster saß, und Zwilling Zwei, derjenige, der am Gang saß, anredete. Gegen Ende der Stunde betraten Thomas, Jan und Martin das Zimmer. Alle drei sahen betreten auf den Boden, und selbst wenn sie mal ihren Blick hoben, schaute keiner von ihnen in Lucas Richtung. Der Schulleiter musste ihnen wohl eine ordentliche Moralpredigt gehalten haben. Luca lächelte. Jetzt hatte er endlich seine Ruhe, zumindest hoffte er das. Kapitel 25: Der Mathetest ------------------------- Zeit verging. Luca verbrachte seine Pausen bei Nicholas und dessen Freunden, inzwischen hatten sie ihn vollständig in ihre Gruppe integriert. Zwar ärgerten die Zwillinge ihn nach wie vor gerne, aber er hatte sich daran gewöhnt. Außerdem meinten sie es ja nicht böse und Rebecka wies sie jedes Mal zurecht, wenn sie es zu weit trieben. Ob der Schulleiter wirklich bei ihm zuhause angerufen hatte, wusste er nicht. Weder Jochen noch seine Mutter hatten etwas erwähnt, aber das taten sie ja nie, solange er nirgendwo negativ auffiel. Außerdem ging er ihnen, so gut er konnte, aus dem Weg. Im Großen und Ganzen war es eine gute Zeit für Luca. Zwar wurde er noch regelmäßig von Jochen verprügelt, aber zumindest in der Schule hatte er seine Ruhe. Thomas, Leonie, Jan und Martin machten einen großen Bogen um ihn, worüber er mehr als froh war. Langsam hatte er auch keine Angst mehr, in die Schule zu gehen. Gerade hatte Luca Mathe und Neumann hatte beschlossen, einen Überraschungstest zu schreiben, weil einige von ihnen in den letzten Stunden nicht aufgepasst hatten. Luca hatte keine Probleme mit dem Test, bis jetzt hatten sie nur wiederholt, was er aus der Mittelschule eh noch wusste. Nicholas dagegen schien seine Schwierigkeiten damit zu haben. Er war nicht der Beste in Mathe, das hatte Luca schon in der Gruppenarbeit festgestellt. Er warf einen unauffälligen Blick auf das Blatt seines Banknachbarn, nur um festzustellen, dass es noch sehr leer aussah. Einige Aufgaben hatte Nicholas gelöst, davon aber viele falsch. Gerade fuhr er sich mit der Hand durch sein Schulterlanges, schwarzes Haar. Zu Beginn der Unterrichtsstunde war es noch sauber im Nacken zusammengebunden gewesen, jetzt hingen einige Strähnen hinaus. Nicht mehr lange und Nicholas würde das Haarband verlieren. Eine Viertelstunde hatten sie noch, das wusste Luca, immerhin hing schräg über der Tafel eine große Uhr. Allein würde Nicholas diesen Test niemals auf die Reihe bekommen, weshalb Luca, sobald er fertig war, seinen Test unauffällig in die Mitte schon, damit sein Banknachbar einen Blick darauf werfen konnte. Als Nicholas das nicht bemerkte, er war wohl zu sehr damit beschäftigt, noch eine Aufgabe zu finden, die er lösen konnte, stieß Luca ihn vorsichtig mit dem Ellenbogen an. Nicholas Blick fiel zuerst auf ihn, dann auf dessen gut lesbar geschriebenen Test. Er lächelte kurz dankbar, bevor er sich daran machte, eine Aufgabe nach der anderen abzuschreiben. Neumann bemerkte es glücklicherweise nicht und als er am Stundenende die Tests einsammelte, hatte Nicholas es geschafft, fast alles abzuschreiben. Einige seiner Fehlerhaften Aufgaben standen noch auf seinem Zettel, weil die Zeit nicht gereicht hatte, aber er würde jetzt viel besser abschneiden. Er wartete noch, bis Neumann das Zimmer verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte, ehe er sich an Luca wandte. „Danke, das war meine Rettung.“ Luca lächelte. „Keine Ursache.“ Florian betrachtete die beiden mit nachdenklicher Miene, ehe er zu verstehen schien, worüber die beiden sprachen. „Das ist Betrug!“, beschwerte er sich, „Du kannst doch nicht einfach so bei unserem Luca abschreiben!“ Luca tat, als sei er beleidigt. „Ich gehöre niemandem!“, stellte er klar. Auch René warf Nicholas einen eher sauren Blick zu. „Soso, du meinst also, bei Luca abschreiben zu müssen? Meinst du nicht, dass ist den anderen, die nicht neben ihm sitzen, gegenüber etwas unfair?“ Nicholas hob die Schultern. „Er hat euch ja schon eine Eins in der Projektarbeit erarbeitet, was wollt ihr denn noch?“ „Jetzt hört aber auf!“, schimpfte Rebecka, „Ihr benehmt euch, als wäre Luca ein Arbeitstier, dass nur dazu da ist, euch gute Noten zu beschaffen.“ Fabian betrachtete sie nachdenklich. „Wenn ich mich recht erinnere, warst du diejenige, die ihm um den Hals gefallen ist und gemeint, hat, sie wolle ihn behalten.“ Das Mädchen griff nach ihrem Mathebuch.“ Sofort hob Fabian die Hände, um sich zu beruhigen, was allerdings nichts brachte, das Buch wurde ihm trotzdem über den Kopf gezogen. Florian lachte, ehe er Luca auf die Schulter klopfte. „Keine Angst, wir machen bloß Spaß…“ Als Neumann das Zimmer wieder betrat, lachte die Gruppe, alle außer Nicholas, gerade über einen Scherz, den die Zwillinge gemacht hatten. Neumann betrachtete sie skeptisch, sagte aber nichts und fuhr mit seinem Unterricht fort. „Wir werden jetzt den Test vergleichen.“ Die Klasse stöhnte. „Dazu bitte ich Luca nach vorn an die Tafel. Ich habe in der Pause Ihren Test überflogen und keine Fehler gefunden. Wären Sie so freundlich, für mich anzuschreiben, während ich einen Test aus der Klasse bewerte?“ Verwirrt nickte der Blonde. So etwas hatte noch keiner der Lehrer gemacht, aber ihm war es recht, solange er nicht erklären musste, wie er auf die Lösung kam. Auch wenn er nicht mehr so große Angst vor der Klasse hatte, war es ihm immer noch unangenehm, von allen so gemustert zu werden. „Irgendwelche freiwilligen?“, fragte Neumann. Luca bemerkte, dass alle ihn erschrocken ansahen. Einige schüttelten sogar mit dem Kopf. „Wie wäre es mit Ihnen, Nicholas?“, wollte der Mann wissen. Der Schwarzhaarige seufzte. „Wenn es unbedingt sein muss…“ Neumann suchte Nicholas‘ Test heraus, während er Luca seinen reichte, unter welchem eine große, rote Eins stand. Er hatte sogar volle Punktzahl. „Den können Sie dann gleich mitnehmen. Heute sind alle da, also muss keiner nachschreiben…“ Dann machte er sich an Nicholas‘ Test. Luca schrieb die Aufgaben, eine nach der anderen an die Tafel, während Neumann erklärte. Einmal musste der Lehrer allerdings mittendrin abbrechen, weil Luca einen anderen Lösungsweg genommen hatte. Einige aus der Klasse lachten, als Neumann sich kopfschüttelnd an Luca wandte. „Könne sie mir erklären, wie Sie auf die Idee gekommen sind, den dritten Winkel in einem rechtwinkligen Dreieck mit dem Kosinussatz zu berechnen?“ „Ist das nicht egal?“, antwortete Luca leise mit einer Gegenfrage. Er hörte, wie René, Nicolas, Rebecka und einige andere lachten. Neumann beäugte ihn skeptisch. „Aber den Innenwinkelsatz beherrschen Sie, oder?“ Daraufhin schaute der Blonde ihn leicht gereizt en, bevor er nickte. „α, β und γ ergeben zusammen 180°, da γ in einem rechtwinkligen Dreieck immer 90° beträgt, bleiben noch 90° für die anderen beiden Winkel übrig. β betrug in Ihrem Beispiel 55°, also bleiben für α noch 35°.“ Daraufhin fuhr Neumann mit dem restlichen Test fort, ohne Luca noch einmal zu fragen, ob er die Grundlagen beherrschte. Nach etwa vierzig Minuten war er fertig und verkündete. „Gute Arbeit, Nicholas. Es ist eine Zwei minus.“ Der Angesprochene starrte ihn für einen Augenblick fassungslos an, eher er nickte. „Sie haben über die Ferien wohl ziemlich viel gelernt. Ihre Gruppenarbeit war auch schon so gut.“ Nicholas konnte nur nicken. Hätte er etwas anderes behauptet, wäre aufgefallen, dass er nur abgeschrieben hatte. Als Luca wieder zu seinem Platz ging, nahm er den Test seines Banknachbars mir. Er reichte ihn Nicholas, woraufhin dieser leise sagte. „Den rahme ich ein und hänge ihn über mein Bett. So einen guten Test hatte ich noch nie. Du bist ein Schatz, weißt du das?“ Lucas Herz begann, schneller zu schlagen. Ihm wurde warm und er errötete. Schnell senkte er seinen Blick, damit keiner das bemerkte. Warum war er plötzlich so nervös? Lag es daran, dass ihm gerade ein Kompliment gemacht worden war? Oder lag es daran, dass Nicholas derjenige war, der ihm dieses Kompliment gemacht hatte? Er wusste es nicht. Er murmelte ein leises „Danke“, ehe er seinen Test verstauen wollte, damit ihn keiner sah. Allerdings hatte er seine Rechnung ohne Nicholas gemacht, denn dieser zog ihm den Test einfach aus der Hand. Der Schwarzhaarige überflog ihn schnell, ehe er anerkennend pfiff. „Volle Punktzahl, nicht schlecht.“ Nicholas hatte so laut gesprochen, dass die gesamte Klasse es hörte. Einige schauten ihn erstaunt, einige neidisch an. Damit hatten sie wohl nicht gerechnet. Nur Leonies Augen schienen sprichwörtlich Funken zu sprühen. Könnten Blicke töten, wäre er sicher tot vom Stuhl gefallen. Es wunderte ihn etwas, dass Thomas nicht ebenfalls wütend war, aber vielleicht war es ihm ja auch egal, was er für den Test bekam. Luca spürte, wie seine Wangen noch roter wurden. Hoffentlich bemerkte Nicholas das nicht. Kapitel 26: Belauscht --------------------- Am nächsten Tag, einem Donnerstag, wartete Luca wieder mit seinem vom Bäcker gekauften Brötchen eine halbe Stunde zu früh an der Haltestelle. Wie immer fuhr er die Dreiviertelstunde mit dem Bus zur Schule und betrat das Schulgelände. Eigentlich hatte er vorgehabt, gleich ins Klassenzimmer zu verschwinden, dann hörte er allerdings die aufgebrachte Stimme von einem seiner Klassenkameraden aus der hintersten Ecke des Geländes, nur wenige Meter vom geöffneten Hintereingang, an dem Luca gerade vorbeilief, entfernt. Luca hielt sich nicht gern hier auf, weil Thomas und dessen Gang begonnen hatten, sich hier zu treffen und er ihnen unter keinen Umständen begegnen wollte, auch wenn sie ihn für den Moment in Ruhe ließen. Wer weiß, wie lange das noch hielt… Normalerweise lauschte Luca nicht, doch er glaubte, Nicholas‘ Namen gehört zu haben, weswegen seine Neugier geweckt worden war. „Seid ihr Wahnsinnig?“, rief in diesem Moment Jan, „Er bringt uns um! Er bringt uns alle um!“ Noch bevor Luca sich darüber wundern konnte, wen Jan wohl meinte, hörte er, wie Leonie schnaubte: „Jetzt stell dich nicht so an, du Feigling. Wir wollen doch nur den beiden Schwuchteln eine Lektion verpassen! Meine Eltern zahlen mir seit dem bescheuerten Anruf vom Direktor keinen Cent Taschengeld! Außerdem ist er selbst schuld, was musste er auch die Kleine Schwuchtel in Schutz nehmen!“ „Du hast keine Ahnung, wovon du redest“, seufzte Jan. Luca hörte Schritte. Schnell presste er sich gegen die Wand, genau an der Stelle, an der die geöffnete Tür ihn hinter sich verbarg. Doch er hatte Glück, denn die Schritte stoppten und kehrten wieder um, also lauschte er weiter. „Natürlich weiß ich, was ich tue! Außerdem, was kann Nicholas schon tun? Wenn er sich noch einmal prügelt, fliegt er von der Schule. Also pass auf, wir machen das so: Als erstes brauchen wir ein paar peinliche Bilder von Nicholas, am besten welche, auf denen man gleich sieht, dass er eine Schwuchtel is-“ Sie wurde von Jans lautem Aufschrei unterbrochen. „Nenn ihn nicht so! Hörst du? Nenn Nicholas niemals Schwuchtel oder anderes Schimpfwort für Schwule!“ „Wow“, mischte sich jetzt auch Thomas in das Gespräch ein. Seinem spöttischen Unterton entnahm Luca, dass er nicht sonderlich viel von Jans verhalten hielt. „Ich wusste gar nicht, dass du ihn so sehr magst…“ „Ich mag ihn nicht!“, schrie Jan so laut, dass Luca erschrocken zusammenzuckte, „Ich bin nur nicht lebensmüde. „ Er wurde etwas leiser und seine Stimme begann zu zittern. „Ihr habt ja sowas von keine Ahnung. Wisst ihr, es gab schon mal welche, die Nicholas als Schwuchtel bezeichnet haben. Damals war er vierzehn, sie waren sechzehn und zu dritt. Er hat sie so schlimm verprügelt, dass sie das Krankenhaus für Monate nicht mehr verlassen konnten. Zwei haben die Schule gewechselt und der eine, der geblieben ist, hat sich nie wieder in Nicholas‘ Nähe gewagt.“ Luca schluckte. Er wusste von dem Gerücht und Nicholas hatte am ersten Schultag auch bestätigt, dass es stimmte. Aber es auch Jans Mund zu hören, war etwas anderes, denn er konnte die Angst, die sein Mitschüler vor dem Schwarzhaarigen hatte, förmlich spüren. „Ihr habt ihn nicht gesehen, wie er rasend vor Wut auf die drei eingeschlagen hat, selbst, als sie schon am Boden lagen. Ihr habt ihre unnatürlich geknickten Beine, Arme und Finger nicht gesehen. Ihr habt das Blut nicht gesehen und nicht gehört, wie sie um Gnade gefleht haben. Nicholas ist ein Monster. Er macht seit über elf Jahren Kampfsport, wir sind ihm in keinster Weise gewachsen!“ Draußen war es still geworden. Luca hatte noch gehört, wie die einzelnen Personen nach Luft geschnappt hatten, doch jetzt hörte er kein Geräusch mehr. Lange war es still, bis Jan plötzlich mit fester Stimme sprach: „Ich mach da nicht mehr mit! Sucht euch einen anderen Idioten.“ Es folgten Schritte. So schnell er konnte, rannte Luca den Flur entlang und um die Ecke, bevor er seinen Schritt wieder verlangsamte und so tat, als sei er gerade erst gekommen. Das eben Gehörte machte ihm Angst. Er zweifelte keine Sekunde daran, dass Jan die Wahrheit gesagt hatte. So ängstlich, ja fast schon panisch, konnte nur jemand klingen, der es live miterlebt hatte und die beiden waren auf der gleichen Realschule gewesen. Was ihm aber mehr Sorgen machte, war, dass Nicholas nicht aufgehört hatte, als seine Gegner am Boden lagen. Luca kannte das von Jochen. Hatte Nicholas sich so sehr in seine Wut, in seinen Hass hineingesteigert, dass er nichts mehr von seiner Umwelt mitbekam oder war es ihm einfach nur egal gewesen? Luca wusste es nicht, genauso wenig, wie er wusste, wie er mit diesen neuen Informationen umgehen sollte. War Nicholas wirklich, das Monster, das Jan in ihm sah? Der blondhaarige wollte es nicht glauben. Nicholas hatte ihm geholfen, als alle anderen ihn im Stich gelassen, sich von ihm abgewandt hatten. Nicholas hatte ihn umarmt, etwas, was noch nie jemand getan hatte. Er lächelte, wenn Luca ihn morgens begrüßte. Er konnte einfach kein Monster sein! Als Luca das Klassenzimmer betrat, waren nur Rebecka und die Zwillinge anwesend, die ihn gleich stürmisch begrüßten. „Du bist ziemlich spät dran“, meinte Florian, während er ihn musterte. Der Blondhaarige hatte keine Ahnung, wonach er suchte, doch Florian schien es nicht zu finden, weswegen er nur schief grinste. „Genau“, meinte Fabian. Auch er hatte Luca gemustert. „Sonst bist du immer viel früher da. „Euch auch einen guten Morgen“, grüßte Luca, ehe er sich auf seinen Platz setzte. Ein kleinwenig war er verwundert. Normalerweise kamen die Zwillinge erst kurz vor dem Klingelzeichen. Sie waren nur eher hier, wenn sie irgendwelche Streiche planten, die eine gewisse Vorbereitungszeit brauchten. Aber ihren Gesichtern zufolge hatten sie noch nichts angestellt. Ein kleinwenig war Luca auch erleichtert, dass Nicholas noch nicht da war. Er hätte nicht gewusst, wie er ihm gegenüber treten sollte. Er hatte etwas Angst, was wohl auch verständlich war. Aber er war auch neugierig. Gern hätte er Nicholas gefragt, was damals wirklich passiert war, aber das würde er sich wohl nicht trauen. Also konnte er nur abwarten und hoffen, dass er auch so noch einiges aufschnappen konnte. Es wurde später, das Zimmer füllte sich immer mehr, aber von Nicholas war nichts zu sehen. Inzwischen war sogar René da. Langsam glaubte Luca nicht, dass sein schwarzhaariger Banknachbar noch kommen würde, schließlich fuhren er und René immer zusammen zur Schule. Ob Nicholas krank war? Jan betrat das Zimmer. Allerdings ging er nicht zu seinem Sitzplatz neben Martin, sondern ließ sich auf den Platz hinter Fynn, wo Luca früher gesessen hatte, fallen. Nicholas‘ Freunde, inzwischen waren sie wohl auch Lucas Freunde, beobachteten das mit einem Stirnrunzeln, sagten aber nichts. Rebecka flüsterte nur leise: „Es scheint, als sei einer von ihnen zur Vernunft gekommen.“ Rene nickte, bevor er grinsend meinte: „Da waren’s nur noch drei.“ Ihre Deutschlehrerin, Frau Schiller, betrat den Raum. Nach der allmorgendlichen Anwesenheitskontrolle, die seit dem Vorfall auf dem Schulhof vor jeder einzelnen Unterrichtsstunde stattfand, begann sie ihren Unterricht. Sie wunderte sich nicht über Nicholas‘ Abwesenheit, also musste er entweder entschuldigt sein oder krank und schon die Schule benachrichtigt haben. Es folgte die übliche Wiederholung. Diesmal musste Rebecka an die Tafel. Sie war in Deutsch recht gut, weswegen sie wohl auch keine schlechte Note bekommen würde. Auch Geschichte, Englisch und Französisch schienen ihr zu liegen. Nur mit dem mathematischen oder technischen Fächern hatte sie ihre Probleme. Tatsächlich bekam sie für ihre Zusammenfassung eine Eins Minus. Als sie sich vor Freude strahlend wieder hinsetzte, küsste René sie schnell auf die Wange. „Gut gemacht, Schatz“, flüsterte er. Die Zwillinge hinter Luca pfiffen anerkennend. Nur irgendwie konnte Luca sich denken, dass sie damit nicht Rebeckas gute Note, sondern den Kuss zur Belohnung meinten. Rebecka schien auf das gleiche Ergebnis zu kommen, denn im gleichen Moment flogen zwei Deutschbücher, sie hatte sich wohl das von René ‚geliehen‘, knapp über Lucas Kopf hinweg und trafen jeweils einen der Zwillinge. Luca zuckte erschrocken zusammen und hielt für einen Augenblick die Luft an. Hätte er sich nicht geduckt, hätten die Bücher ihn sicher getroffen. Er versteckte seine zitternden Hände unter dem Tisch und zwang sich, normal zu scheuen. Er wollte nicht, dass die anderen die Panik sahen, die diese Sache in ihm ausgelöst hatte. Kapitel 27: Wiedersehen mit Julian und Benni -------------------------------------------- „Schau mal“, meinte René munter und hielt Luca sein Handy vors Gesicht. Als der Blondhaarige es ansah, entdeckte er den Vertretungsplan. „Wir haben morgen zwei Stunden eher aus“, stellte er fest. „Nicht ganz.“ René schüttelte den Kopf, „Schau noch mal genau hin. Hinter der fünften und der sechsten Stunde steht, dass wir es eigenständig zu Hause erarbeiten sollen. Also können wir nach der vierten schon gehen.“ Luca sah sich den Vertretungsplan noch einmal genauer an. Tatsächlich. Es war, wie René es sagte. „Hast du morgen schon etwas vor?“, fragte Nicholas‘ bester Freund weiter. Verwundert blickte Luca ihn an. Was wollte er von ihm? Sonst war er doch auch nicht so erpicht darauf, Zeit mit ihm zu verbringen. Hatte er etwas verpasst. Trotzdem nickte der Blondhaarige. Rene grinste. „Gut, dann treffen wir uns morgen nach der Schule auf dem Schülerparkplatz. Ich will dir etwas zeigen.“ Wieder nickte Luca nur. Er war verwirrt, und das nicht nur ein kleinwenig. Auch als er mit dem Bus nach Hause fuhr, ließ seine Verwirrung nicht nach. Was wollte René nur von ihm? Hatte es etwas mit Nicholas zu tun? Wohl eher nicht, dann hätte sein Klassenkamerad es wohl gesagt. Aber was sollte es sonst sein? Zu Hause angekommen, ließ ihn seine Mutter ein, bevor sie wieder verschwand, um die Wäsche zu aufzuhängen. Wie Luca dem Signalton der Waschmaschine und den schnellen Schritten seiner Mutter in den Keller entnahm. Schnell nahm er sich eines der Brötchen und zwei Scheiben Schinken aus der Küche und ließ sie in seiner Jackentasche verschwinden. Sein Blick fiel auf den Tisch, wo viele geöffnete Briefe lagen. Das meiste von ihnen waren Rechnungen. Aber ein Schriftstück fiel ihm besonders ins Auge: Der Kontoauszug. Luca horchte kurz, wo seine Mutter war, und um sich zu versichern, dass sie nicht gleich hereinplatzen würde. Da er sie im Keller fröhlich pfeifend hörte, würde sie so schnell nicht wiederkommen. Dann sah er aus dem Fenster. Jochens Auto war nicht da. Schnell nahm er sich den Kontoauszug und überflog ihn. Er sah Jochens Lohn, der monatlich einging. Das Konto schien gut gefüllt zu sein, denn neben dem Lohn gab es noch eine viel größere Einzahlung, ebenfalls jeden Monat. 3000€. Als der Sechzehnjährige jedoch den Betreff dieser Zahlungen las, hätte er den Kontoauszug beinahe fallen gelassen. Dort stand in großen Druckbuchstaben der Name eines Mannes, Peter Mertens, und darunter: Unterhalt Luca. Noch bevor er wusste, was genau er tat, hatte er schon sein Handy genommen und den Kontoauszug abfotografiert. Dann legte er ihn fein säuberlich wieder zurück auf den Tisch und verschwand leise in sein Zimmer. Sein Herz schlug bis zum Hals. Peter Mertens, er hatte den Namen bereits einige Male gehört. Dem Mann gehörten viele Boutiquen, in denen nur hochwertige, aber auch sehr teure, Klamotten verkauft wurden. einmal war Luca in einem dieser Modegeschäfte gewesen. Doch als er die Preisschilder gesehen hatte, hatte er sie schnell wieder verlassen. Normalsterbliche konnten sich diesen Luxus nicht leisten. Erst letztens hatte wieder etwas über ihn in der Zeitung gestanden: Peter Mertens hatte die gesamten Geschäfte eines Konkurrenten aufgekauft. Wie viele Milliarden er dafür bezahlt hatte, wusste der Sechzehnjährige nicht mehr. Aber es war auf jeden Fall eine Menge Geld gewesen, mehr als ein Großteil der Menschen jemals besitzen würde. Aber war dieser Peter Mertens auch derselbe Peter Mertens, der seiner Mutter und Jochen monatlich 3000€ zahlte, beschrieben als Unterhalt für Luca? Eines wusste der Sechzehnjährige jetzt allerdings. Sein Vater hieß Peter Mertens. Allerdings gab es wohl mehr Personen mit diesem Namen, aber jetzt hatte er zumindest einen Anhaltspunkt. Luca stockte. Seine Mutter hatte vor zehn Jahren neu geheiratet. Hieß das nicht eigentlich, dass sein Vater keinen Unterhalt mehr zahlen musste? Er war sich nicht sicher, glaubte aber etwas darüber gelesen zu haben. Außerdem war der Betrag viel zu hoch für eine Unterhaltszahlung. Aber was war es dann? Seine Mutter konnte er nicht fragen. Erstens würde er von ihr keine Antwort bekommen und zweitens würde sie es Jochen sagen. auf die Prügel konnte Luca getrost verzichten. Er beschloss, erst einmal allein zu recherchieren. Vielleicht fand er ja etwas, was ihn weiterbrachte. Dann erledigte er seine Hausaufgaben, auch die, die sie laut Vertretungsplan erst morgen erledigen sollten, damit er sich nach der Schule mit René treffen konnte. Wieder wünschte er sich, jemanden zu haben, dem er vertrauen konnte, dem er von seiner Entdeckung berichten konnte. Doch diesen Menschen gab es nicht. Klar, er kam mit seinen neuen Freunden in der Schule gut aus, aber er vertraute ihnen nicht, oder noch nicht. Zu groß war die Angst, wieder sitzen gelassen zu werden und noch viel schlimmer: Was, wenn sie es nicht für sich behielten. Sie wussten schon viel zu viel über ihn, vor allem Nicholas und René. Am nächsten Tag ging er wie gewohnt zur Schule, nur holte er sich zwei Brötchen vom Bäcker, da er nicht wusste, wann er wieder zu Hause sein würde. Das hatte er auch seiner Mutter gesagt. Allerdings hatte er gelogen und behauptet, mit einigen Mitschülern eine Präsentation vorbereiten zu müssen und da e keinen Computer besaß, gingen sie zu einem anderen nach Hause, wo dummerweise keine regelmäßigen Busse fuhren. Er würde also erst spät wiederkommen. Sonja hatte das hingenommen und gemeint, sie richte es Jochen aus, wie immer eigentlich. In der Schule wurde er von René, Rebecka und den Zwillingen begrüßt, die überraschenderweise schon auf ihren Plätzen saßen. Doch wieder war nichts von Nicholas zu sehen. Bemüht, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, setzte er sich auf seinen Platz. Es hatte nach der vierten Stunde kaum geklingelt, da stopfte René schon seine Sachen in die Schultasche. Er schnappte sich Lucas Sachen und tat mit ihm das gleiche. „Beeil dich!“, rief er. Dann zerrte er den Blondhaarigen aus dem Zimmer durch den Flur bis auf den Schülerparkplatz. Dort sah er sich kurz um, dann zog er Luca weiter. Vor einem roten Passat mit getönten Scheiben bei den Rücksitzen blieb er stehen. Das Fenster auf der Fahrerseite wurde heruntergelassen und Benni grinste sie an. „Rein mit euch“, meinte er. Zögernd stieg Luca in das Auto. Dabei musste er an den Satz denken, den viele Eltern ihren Kindern erzählten, wenn sie noch jünger waren: „Steig niemals zu einem Fremden ins Auto!“ Innerlich musste der Sechzehnjährige grinsen, denn das war das, was er gerade tat. Er kannte zwar ihre Namen, aber trotzdem waren Benni und Julian, der ihm vom Beifahrersitz aus zuwinkte, Fremde für ihn. Nur René kannte er. Sein Klassenkamerad war ebenfalls eingestiegen. Sie schnallten sich noch an, dann drückte Benni aufs Gas und fuhr, schneller als erlaubt, vom Parkplatz. Beinahe hätte er Wagner überfahren. Der Mann war in letzter Sekunde aus dem Weg gesprungen. Wütend schimpfend und mit der Faust drohend schaute er dem Auto hinterher. Julian lachte. „Immer drauf. Selbst schuld, wenn er auf der Fahrbahn läuft.“ Auch Luca lächelte. Er mochte seinen Lehrer nicht besonders, was auch Gegenseitigkeit zu beruhen schien, also störte ihn Bennis Verhalten auch nicht weiter. Im Gegenteil, er fand es sogar amüsant. „Wo geht es eigentlich hin?“, fragte Luca nach einer Weile, als sie an einer roten Ampel standen. „Wohin wohl?“, scherzte Julian, der sehr gute Laune zu haben schien, „Wir gehen deinen Liebsten besuchen.“ „Bitte was?!“, rief Luca, woraufhin alle außer ihm lachten. Als es wieder ruhiger wurde, erklärte René: „Ich hab euch doch gesagt, dass die zwei nicht zusammen sind!“ „Noch nicht!“, erwiderte Benni, „Alles nur noch eine Frage der Zeit.“ René seufzte. „So einfach ist das nicht! Ihr könnt doch nicht einfach zwei Menschen zwingen, sich ineinander zu verlieben!“ Luca wurde immer verwirrter. Was wurde hier gespielt? Wenn das nur ein dummer Streich war, dann könnten die zwei Idioten vor ihm was erleben! René, der scheinbar Mitleid mit ihm bekommen hatte, sagte genervt: „Die zwei wollen dich mit Nicholas verkuppeln, weil sie meinen, das ihr „ach so gut“ zusammen aussehen würdet. Völliger Schwachsinn, wenn du mich fragst. Als ob es in einer Beziehung darum geht.“ Der Blondhaarige blickte aus dem Fenster. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Klar, er mochte Nicholas. Der Schwarzhaarige war in letzter Zeit immer nett zu ihm gewesen. Er sah gut aus. Aber er war nur sein Freund. Außerdem würde Nicholas sich nie im Leben für Luca interessieren. Was hatte der Blondhaarige denn auch zu bieten? Nichts. Und dazu noch sein verkorkstes Leben. Nein, es war besser, wenn Nicholas sich von ihm fernhielt. Kapitel 28: Nicholas‘ Vergangenheit ----------------------------------- Auf dem Parkplatz einer Sporthalle, zumindest besagten die Wegweiser das, parkten sie und gingen auf das Gebäude zu. Es war ziemlich groß, für eine Turnhalle. und nicht mit der, in der Luca immer Sport hatte, zu vergleichen. Dazu kam auch, dass die Turnhalle über eine große Tribüne verfügte, die zwar nicht sonderlich gut besucht war, aber einige Leute waren trotzdem hier. Sie saßen auf den Plätzen oder standen in den Gängen und unterhielten sich. In der Mitte der Halle lagen mehrere Quadrate aus roten und blauen Matten, wobei die roten Matten eine Art Markierung zu sein schienen. Um die Matten herum standen viele Menschen, die meisten davon trugen seltsame weiße Anzüge mit Gürteln, wie es auch alle bei Nicholas‘ Karatetraining getan hatten. Luca fiel auf, dass nicht alle Gürtel die gleiche Farbe hatten, sondern rot und blau waren, hatte das etwas zu bedeuten? Wo war er hier überhaupt. Es schien eine Art Turnier zu sein, wahrscheinlich ein Karateturnier. Das beantwortete die Frage nach dem Wo, allerdings fragte er sich jetzt, warum er hier war. Julian, der ihn auf einen von vier freien Plätzen in der ersten Reihe. „Na, wie findest du es?“, wollte er wissen. Luca schaute sich um, noch immer nicht wissend, weswegen er hier war. „Wollten wir nicht zu Nicholas?“, fragte er nach einer Weile. René, der ebenfalls neben ihm saß, lachte. „Sind wir doch.“ Er deutete auf eines der Quadrate aus Matten. „Dort hinten ist er.“ Der Blondhaarige sah in die Richtung, in die sein Klassenkamerad zeigte, und tatsächlich, dort hinten war Nicholas. Wie im Sportunterricht hatte er sein Haar zu einem Zopf gebunden. Er trug einen roten Gürtel und rote Schützer. Wie sie genau hießen, wusste Luca nicht, aber das war ihm auch egal. Nicholas kämpfte gerade gegen einen Mann, der etwas älter zu sein schien als er, welcher einen blauen Gürtel und blaue Schützer trug. Es sah ziemlich brutal aus, was die beiden auf den Matten taten. Einmal kniff der Blondhaarige sogar die Augen zusammen, weil er nicht länger hinsehen konnte. Dann hörten sie auf einmal auf. „Nicholas hat gewonnen“, erklärte René. Luca nickte nur. So ganz gefiel ihm nicht, was hier vor sich ging, aber er bemühte sich, es sich nicht anmerken zu lassen. Er wusste, dass Nicholas seit Jahren Kampfsport betrieb und bis jetzt war er nicht einmal verletzt in die Schule gekommen, wenn man den einen oder anderen blauen Fleck mal außen vor ließ, aber selbst die waren eher selten. So gefährlich konnte es also nicht sein. „Dachte ich mir doch, dass ich eure Gesichter kenne“, erklang eine belustigte Stimme hinter ihnen. Als Luca sich umdrehte, erkannte er Andy, der gemeinsam mit Nicholas Karate machte. „Hallo“, grüßte Andy die Gruppe, ehe er sich grinsend an Luca wandte. „Du hast eben Nicholas beobachtet. Er ist richtig gut, oder? Ich bin leider schon ausgeschieden…“ Luca wusste nicht, was er darauf antworten sollte, deswegen nickte er nur. Andy lachte. „Das muss er auch sein, immerhin hat er seit kurzem den dritten Dan.“ Obwohl Luca nicht wusste, was genau ein Dan war, konnte er sich denken, dass es sich dabei um eine Art Rang handelte. Andys Aussage zufolge war es sogar ein relativ hoher Rang. Nicholas schien sie ebenfalls erblickt zu haben, denn er kam zielstrebig auf sie zugelaufen. „Was macht ihr denn hier?“, begrüßte er Benni, Julian und René, ehe sein Blick auf Luca fiel. Kurz musterte er den Blondhaarigen, ehe er sich wieder an die anderen drei wandte und sie begrüßte. Irgendwie kam Luca sich unerwünscht vor, wenn er auch nicht gleich verstand, warum. Er hatte mehrfach nach der Schule noch etwas mit den anderen unternommen, ohne, dass Nicholas so abwesend zu ihm gewesen war. Wenigstens begrüßen hätte er ihn können, aber nicht einmal das tat der Schwarzhaarige. Luca schien wirklich unerwünscht zu sein, dabei war es doch Nicholas gewesen, der ihn in die Gruppe integriert hatte. Jedoch waren es immer die anderen, die Luca eingeladen hatten, nach der Schule oder in einer Freistunde etwas Zeit mit ihnen zu verbringen. Er erhob sich und lief langsam in Richtung Ausgang. Er musste jetzt allein sein. Nicholas‘ abwesendes Verhalten hatte ihn mehr verletzt, als er zugeben wollte. Wieder einmal bestätigte sich sein Verdacht, dass sein Banknachbar ihm nur aus Mitleid geholfen hatte. Jetzt, wo es Luca scheinbar besser ging, interessierte er ihn nicht mehr. Doch warum ging Luca dieses Verhalten so nahe? Klar, er mochte Nicholas, aber trotzdem sollte es nicht so weh tun! Auf dem Parkplatz ließ er sich in einer abgelegenen Ecke auf den Boden sinken. Er hätte nicht mitkommen dürfen. Nicholas fühlte sich jetzt wahrscheinlich von ihm genervt. Leise schluchzend vergrub er das Gesicht in seinen Händen. „Hier bist du“, ertönte plötzlich Renés Stimme direkt vor ihm. Erschrocken fuhr Luca zusammen, ehe er sich schnell mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht wischte und aufsah. „Ich habe dich schon überall gesucht. Du kannst doch nicht einfach so verschwinden!“ Luca senkte seinen Blick. Er wollte nicht zurück. René ließ sich neben ihm auf den Boden fallen. „Nicholas kann manchmal ein richtiger Arsch sein“, schimpfte er. Dann fuhr er ruhiger fort. „Du magst ihn, oder?“ Es abzustreiten war sinnlos, weswegen Luca zögerlich nickte. „Das dachte ich mir“, meinte René, „Deshalb werde ich dir jetzt etwas erzählen. du musst mir aber versprechen, dass du es für dich behältst. Versprichst du das?“ Wieder nickte Luca. Er wusste zwar nicht, worum es ging, war allerdings neugierig geworden. René sah sich um, wohl, um zu überprüfen, ob sie wirklich allein waren ehe er begann: „Es geht um Nicholas. Er war nicht immer so, wie er jetzt ist, weißt du? Früher war er anders: freundlicher, offener. Er hatte viele Freunde. Vor vier Jahren starb seine Mutter. Damals brach eine Welt für ihn zusammen. Du musst wissen, sein Vater arbeitete schon damals sehr viel und hatte kaum Zeit für ihn. Seine Mutter dagegen war Hausfrau. Was genau passiert ist, weiß ich nicht. Es war Anfang der Sommerferien. Ich habe meine Tante in Amerika besucht und erst bei meiner Rückkehr Wochen später davon erfahren. Nicholas hatte in der Zwischenzeit den Kontakt zu seinen Freunden abgebrochen. Später erfuhr ich, dass sie nur wegen des Geldes mit ihm befreundet waren. Karl verdient sehr gut und Nicholas trug früher immer Markenklamotten. Aber nach einem Streit mit seinen damaligen Freunden, hat er sie alle weggeworfen und sich ‚normale‘ Kleidung gekauft. Er hatte sich neue Freunde gesucht. Sie waren drei Jahre älter wie er. Eine Weile passierte nichts und ich hatte schon gehofft, dass Nicholas über den Tod seiner Mutter hinweg war, doch er wurde immer zurückgezogener. Als er dann auch noch feststellte, dass er mit Mädchen nichts anfangen konnte, war es auch mit dieser Freundschaft vorbei. Drei seiner damaligen Freunde zogen ihn damit auf, beleidigten ihn seiner Sexualität wegen. Immer, wenn sie ihn sahen, beschimpften sie ihn als Schwuchtel oder ähnliches. Irgendwann war es Nicholas zu viel. Er rastete aus und prügelte sich mit den dreien. Wie genau es dazu kam, weiß ich nicht. Ich bin erst dazugestoßen, als die Prügelei schon voll im Gange gewesen ist. Er schlug alle drei krankenhausreif und selbst dann hörte er nicht auf. Es musste die Polizei gerufen werden, die ihn von den dreien trennte und mit aufs Revier nahm. Das war auch der Zeitpunkt, an dem Karl bemerkte, dass etwas mit Nicholas nicht stimmte. Weißt du, nach dem Tod seiner Frau hat er sich in die Arbeit gestürzt. Er macht sich heute noch Vorwürfe, weil er damals nicht für Nicholas dagewesen ist. Jedenfalls musste Nicholas Zivilstunden leisten und kam in psychologische Behandlung. Er ist zwar inzwischen über den Tod seiner Mutter hinweg und kommt mit Karls neuer Ehefrau gut aus, aber sein Charakter hat stark darunter gelitten.“ Fassungslos starrte Luca seinen Klassenkameraden an. Dass Nicholas so eine Vergangenheit hatte, hatte er nicht gewusst. Ihm fiel der Streit in Thomas‘ Gang wieder ein. „Jan hat so etwas ähnliches gesagt“, murmelte er. „Er war damals dabei“, erklärte René, „bei der Prügelei und vorher war er einer von Nicholas‘ Freunden gewesen.“ Dann lächelte er. „Ich persönlich denke, dass Nicholas immer noch Angst hat, andere an sich heranzulassen und sie deshalb von sich stößt. Deshalb nimm sein Verhalten nicht so hart. Ich bin mir sicher, er hat es nicht so gemeint. Vielleicht hat er nicht einmal bemerkt, dass er dich verletzt hat.“ Rene erhob sich und reichte Luca die Hand. „Und jetzt lass uns zurück zu den anderen gehen, bevor sie noch eine Vermisstenanzeige aufgeben. Wenn du willst, kann ich auch noch einmal mit Nicholas reden, damit er zukünftig besser auf sein Verhalten achtet.“ Dankbar nahm Luca die Hand an. „Das ist nett von dir, aber nicht nötig. Ich komme schon klar.“ „Wenn du meinst…“ Zusammen gingen sie zurück in die Sporthalle. Kapitel 29: Gefühlsausbruch --------------------------- Als Luca und René die Gruppe erreichten, wurden sie bereits von Julian, Benni und Andy erwartet. Nicholas hatte gerade seinen nächsten Kampf. „Alles ok?", fragte Andy. Er schien besorgt zu sein. Luca nickte und zwang sich zu einem Lächeln. Er wollte nicht, dass die anderen sich um ihn sorgten, weswegen er sich wieder zu ihnen setzte und seinen schwarzhaarigen Klassenkameraden weiter zuschaute. Noch immer fand er brutal, was hier getan wurde. Andy neben ihm lachte. „Du kannst wirklich nichts mit Karate anfangen, oder?" Der Blondhaarige lächelte entschuldigend, ehe er nickte. „Tut das nicht weh?" Er deutete auf Nicholas Gegner, der gerade einen Schlag auf die Brust einsteckte. Andy schüttelte den Kopf. „Nicholas hat den Schlag vorher abgebremst. Auch wenn es sich hier um einen Kampfsport handelt, ist es nicht das Ziel, uns gegenseitig zu verletzen. Es geht eher um die korrekte Ausführung der einzelnen Techniken und die Platzierung der Schläge und Tritte, als die Kraft dahinter. Es gibt viele Regeln, die uns untersagen, unseren Gegner zu verletzen." „Verstehe", murmelte Luca. Das erklärte, warum er bis jetzt noch niemanden gesehen hatte, der sich ernsthaft verletzt hatte. Mit dem Wissen, dass sich alle zurückhielten, wirkte das Ganze gleich nicht mehr so brutal. Trotzdem konnte er sich Schöneres vorstellen. Er beobachtete weiterhin, wie Nicholas sich mit seinem Gegner prügelte, obwohl er wusste, dass 'prügeln' nicht der richtige Ausdruck war, nannte er es weiterhin so. Nicholas' Bewegungen schienen geübt. Er wich den Schlägern seines Gegners mit Leichtigkeit aus. Dabei fiel ihm auf, dass er sich so ganz anders bewegte, wie es Menschen normalerweise taten. Das war wahrscheinlich auch der Grund, warum er, als er sich mit Thomas und dessen Freunden auf dem Schulhof geprügelt hatte, ihnen so weit überlegen war. Er schlug nicht blind auf seinen Gegner ein, sondern setzte gezielte Treffer. Einmal nutzte er sogar dessen Schwung, um ihn über seine Schulter zu werfen. Der Gegner blieb am Boden liegen und Nicholas gewann. Zumindest meinte Andy das. Doch konnte Luca sich nicht viel aus den Fachbegriffen nehmen, die er während des Kampfes nannte. Einige Kämpfe später, Nicholas hatte es gerade ins Viertelfinale geschafft, sackte Andy neben Luca auf seinem Sitz zusammen. „Du Arsch, das zahl ich dir zurück", schimpfte er laut und bedachte Nicholas mit einem wütenden Blick. Luca blickte ihn verwirrt an. Sollte er sich nicht darüber freuen, dass sein Freund gewonnen hatte? Der Schwarzhaarige drehte sich zu ihm um und grinste. Luca hatte ihn noch nie so gelassen Grinsen sehen. „Dann wissen wir auch, wer heute Abend das Essen bezahlt“, flötete René gut gelaunt. Andy schnaubte, erwiderte aber nichts. „Du hättest eben nicht mit ihm wetten sollen“, meinte Julian, der sich bis jetzt leise mit Benni unterhalten hatte. Luca verstand gar nichts mehr. Worum hatten die beiden gewettet? Doch nicht etwa wie weit Nicholas in dem Turnier kam, oder? Andy lachte. „Letztes Mal ist Nicholas viel früher ausgeschieden, also habe ich gedacht, ich gewinne diese Wette mit Leichtigkeit. Woher hätte ich den wissen sollen, dass er in so kurzer Zeit so viel besser geworden ist. Im Training hält er sich immer zurück.“ „Weil du dich immer über die blauen Flecken aufregst“, neckte Julian ihn. Er, Benni und René lachten. Wenig später stimmte auch Luca mit ein. Andy schnitt eine Grimasse, grinste dann aber. Er zog sein Portemonnaie aus seinem Rucksack und zählte den Inhalt. „Irgendwelche Wünsche, wo wir heute Abend hingehen?“, wollte er wissen, „Sucht euch nur nichts zu teures aus.“ „Wir sind auf dem Weg an einer Pizzeria vorbeigefahren. Dort könnten wir halt machen“, meinte Benni. „Du und deine Pizza. Du bist ja schon süchtig danach“, scherzte Julian und klopfte seinem Freund auf die Schulter, „Von mir aus können wir Pizza essen gehen. Ich hatte schon eine Weile keine mehr.“ „Und du?“, wandte Andy sich an Luca. Dabei hatte er sich nach vorn gebeugt und war dem Blondhaarigen ziemlich nahe gekommen. Zu nahe. Luca blickte ihn erschrocken an, bevor er vor ihm zurückwich. Doch das schien Andy nicht weiter zu stören, er rückte einfach noch ein Stück näher an ihn heran. „Hey!“, ging René schnell dazwischen, „Jetzt bedräng ihn doch nicht so. Du siehst doch, dass er das nicht mag.“ Andy seufzte, setzte sich allerdings wieder zurück auf seinen Platz. „Ich weiß zwar nicht, was Nicholas über mich erzählt hat, aber ich beiße nicht, Kleiner.“ Luca nickte zaghaft. Das wusste er. Er wusste auch, dass Andy es nicht böse meinte. Es war ihm nur unangenehm, wenn ihm jemand zu nahe kam, egal ob er diese Person kannte oder nicht. Wenn er nicht damit rechnete, erschrak er sich. Bis jetzt war Nicholas der einzige, der von seinen Berührungsängsten wusste und Luca wollte, dass es so bleib. außerdem war es ja nicht so, dass andere ihn gar nicht anfassen konnten. Solange er sah, was sie taten, konnte er damit umgehen. Wenig später trat Nicholas gegen seinen nächsten Gegner an. Allerdings verlor er diesen Kampf. Luca war etwas enttäuscht, dass der Schwarzhaarige es nicht weiter geschafft hatte, aber er fand trotzdem, dass er gut gekämpft hatte. Es konnte ja nicht jeder gewinnen. Und außerdem hatte Andy ja eben gemeint, er hätte sich sehr verbessert. Nächstes Mal kam er bestimmt weiter. Nicholas schien seine Niederlage nicht weiter schwer zu nehmen. Mit einem Grinsen im Gesicht schlenderte er auf die Gruppe zu. „Du hast dich gut geschlagen“, meinte René sofort. Andy dagegen schaute ihn beleidigt an. „Hättest du nicht eine Runde früher verlieren können?“, schimpfte er. Nicholas hob die Augenbrauen. „Und euch gefräßiges Volk heute Abend durchfüttern? Vergiss es!“ Sein Blick fiel auf Luca. „Es wäre allerdings nett, wenn ihr die Besucher in Zukunft in Grenzen halten könntet.“ Das tat weh. Es war eine Weile her, dass Luca sich das letzte Mal so unerwünscht gefühlt hatte. Ohne wirklich zu realisieren, was er tat, erhob er sich und griff nach dem Handgelenk des Schwarzhaarigen. Er zog ihn in den Gang und noch ein paar Meter weiter, damit sie weit genug vom Rest der Gruppe entfernt waren und nicht mehr von ihr gehört werden konnten. Luca wusste nicht, woher er die Kraft nahm. Seine Hände zitterten, das bemerkte auch Nicholas, der sich widerstandslos hatte mitziehen lassen und ihn jetzt abwartend musterte. Er wusste nur, dass er genug vom abweisenden Verhalten seines Gegenübers hatte. „Wenn du mich nicht dabeihaben willst, dann sag es mir ins Gesicht“, flüsterte er. Sogar seine Stimme zitterte. Am liebsten wäre er weggelaufen, doch er zwang sich, das nicht zu tun. Nicholas zeigte keine Regung. Immer noch blickte er ihn abwartend an. Luca schluckte. „Dann werde ich dich nicht weiter belästigen.“ Er wandte sich zum Gehen. So war es besser. Er musste es beenden, bevor Nicholas ihm noch wichtiger wurde, bevor Nicholas irgendwann später entschied, dass er nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. „Warte“, rief der Schwarzhaarige und packte ihn am Arm, „So hab ich das nicht gemeint.“ „Lass mich los!“ Luca kämpfte gegen den Griff an, hatte allerdings keine Chance, da ihm die Kraft dazu fehlte. Nicholas war ihm körperlich mehr als nur überlegen. Der Schwarzhaarige schon ihn rückwärts durch den Gang, bis er gegen eine Mauer stieß. „Wie bitte kommst du auf die Idee, dass ich dich nicht dabeihaben will?“ Jetzt war Luca verwirrt. „Aber du hast doch eben gesagt-“ Sein Gegenüber unterbrach ihn. „Julian und Benni schleppen ständig irgendwelche Leute an. Irgendwann fängt das einfach an zu nerven.“ „Und warum hast du mich dann die ganze Zeit ignoriert?“ „Verstehst du nicht?“, brauchte Nicholas auf, „Die zwei versuchen, uns miteinander zu verkuppeln.“ Luca fuhr zusammen, konnte sich allerdings nicht rühren, da Nicholas ihn an beiden Schultern gegen die Wand presste. Er musste unbedingt Abstand zwischen sie bringen, bevor es zu spät war und er sich nicht mehr kontrollieren konnte. „Du tust mir weh“, sagte er deshalb. Der Schwarzhaarige lockerte den Griff etwas, ließ ihn allerdings nicht los, doch es war besser als nichts. Jetzt fühlte er sich nicht mehr ganz so stark bedrängt. „Du hast mich nie eingeladen“, fuhr der Blondhaarige fort, „Immer waren es die anderen, die mich gefragt haben, ob ich mitkommen möchte.“ Inzwischen standen ihm die Tränen in den Augen. Er konnte nicht länger ignorieren, was er vorhin bemerkt hatte. „Du warst es, der mich in eure Gruppe aufgenommen hat und trotzdem habe ich das Gefühl, dass du mich nicht dabeihaben willst. Hattest du nur Mitleid mit mir?“ Er zwang sich, Nicholas in die Augen zu sehen. Doch er erhielt keine Antwort. Unfähig, die Tränen noch länger zurückzuhalten, fing er leise an zu schluchzen. „Versteh mich nicht falsch. Ich bin dir wirklich dankbar, für alles, was du für mich getan hast. Aber ich will kein Mitleid. Ich will nicht nur geduldet werden, ich will dein Freund sein!“ Kapitel 30: Pizzaabend * ------------------------ „Versteh mich nicht falsch. Ich bin dir wirklich dankbar, für alles, was du für mich getan hast. Aber ich will kein Mitleid. Ich will nicht nur geduldet werden, ich will dein Freund sein!“ Nicholas war sprachlos, aber nicht im positiven Sinne. Geschockt beschrieb es schon eher. Wovon redete Luca da? Wie kam er auf die Idee, es wäre alles nur Mitleid gewesen? Der Schwarzhaarige hatte schon den Mund geöffnet, um etwas zu erwidern, als er die Tränen bemerkte, die über Lucas Gesicht liefen. Er schloss seinen Mund wieder und schluckte. Er hasste Tränen. Das lag nicht daran, dass er Leute, die weinten für schwach hielt, oder so. Er hatte kein Problem mit schwachen Leuten, in Grenzen, versteht sich. Der Grund, warum er es nicht ausstehen konnte, wenn jemand weinte, war ein anderer: Nicholas konnte nicht damit umgehen. Er wusste dann nicht, was er tun oder sagen sollte. So war es auch jetzt, mit der Ausnahme, dass ihn Lucas Tränen noch stärker trafen. Vielleicht lag es daran, dass er wusste, dass das Leben des Blondhaarigen einfach nur scheiße war. Oft genug hatte er die blauen Flecken auf dem Körper seines Gegenübers gesehen. Luca versuchte zwar, es zu verbergen, weswegen Nicholas ihn noch nicht wieder darauf angesprochen hatte, trotzdem waren sie ihm aufgefallen. Luca war anders. Nicholas hatte noch nie jemanden getroffen, der ein so geringes Selbstbewusstsein besaß. Dazu kamen noch die Berührungsängste. Es war nicht so, dass Luca sich gar nicht anfassen ließ, er war nur extrem schreckhaft. Außerdem mochte er es nicht, wenn ihm jemand zu nahe kam. Er versuchte zwar, es zu überspielen, aber Nicholas war es trotzdem aufgefallen. Der Schwarzhaarige wusste einfach nicht, wie er mit ihm umgehen sollte. Lucas Schluchzen riss ihn aus seinen Gedanken. „Was bin ich für dich?“, fragte er. Nicholas seufzte. Er hasste es, sich erklären zu müssen. Aber Luca hatte diese Erklärung wohl verdient. Auch wenn er die Gründe, warum er ihm geholfen hatte, selbst noch nicht ganz verstanden hatte: „Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, kein Mitleid mit dir gehabt zu haben.“ Obwohl die Worte leise gesprochen waren, fuhr Luca zusammen. Er versuchte, sich aus dem Griff seines Klassenkameraden zu befreien, was Nicholas schnell unterband, indem er dein Blondhaarigen in eine Umarmung zog. Luca wehrte sich halbherzig gegen ihn, doch Nicholas ließ nicht locker. Er war noch nicht fertig. „Aber das ist nicht alles“, fuhr Nicholas schnell fort. Er hatte die Worte kaum zu Ende gesprochen, da spürte er, wie Luca langsam ruhiger wurde. Er ließ die Umarmung zu. Gleichzeitig spürte Nicholas, dass Luca sich nicht entspannte. Der blondhaarige blieb steif in seinen Armen stehen. „Ich weiß, ich habe mich dir gegenüber nicht immer richtig verhalten und das tut mir leid. Aber ich hatte nie die Absicht, dir das Gefühl zu geben, unerwünscht zu sein“, flüsterte Nicholas. „Bitte, was bin ich für dich?“, wiederholte Luca seine Frage. „Das weiß ich selbst nicht so richtig“, antwortete Nicholas ehrlich. Das war das mindeste, was er tun konnte, nachdem er Luca wieder zum Weinen gebracht hatte. „Ich weiß auch nicht, warum ich dir geholfen habe. Ich weiß nur, dass ich nicht länger zusehen konnte. Noch nie habe ich einen Menschen gesehen, der so am Boden war, wie du. Du warst am Boden und sie haben trotzdem weiter nach dir getreten. Das hat mich unglaublich wütend gemacht. Ich konnte nicht länger zusehen. Anfangs hatte ich vor, mir die vier vorzuknöpfen, damit sie dich in Ruhe ließen und dich dann links liegen zu lassen. Dann habe ich begonnen, dich näher kennen zu lernen, und fing an, dich zu mögen. Wie du sicher schon festgestellt hast, tu ich mich unglaublich schwer darin, neue Freunde zu finden. Aber du bist irgendwie anders als die anderen. Du drängst dich nicht auf, bist aber trotzdem da. Ich habe begonnen, mich an dich zu gewöhnen.“ Er hielt kurz inne, bevor er mit zuversichtlich klingender Stimme weitersprach: „Als Freunde würde ich uns noch nicht bezeichnen, aber wir sind auf dem besten Weg, welche zu werden.“ Nicholas blickte auf den blonden Haarschopf, der still an seiner Schulter lehnte. Selten hatte er so viel geredet, wie eben, aber als er spürte, wie Luca sich langsam entspannte, war er sicher, dass es das wert gewesen war. „Findest du es so schlimm, was Benni und Julian tun?“, fragte Luca leise, „Ich finde es auch nicht besonders toll, aber meinst du nicht, dass sie aufgeben, wenn sie sehen, dass es nichts bringt?“ Der Schwarzhaarige wusste nicht, wie er darauf antworten sollte. Natürlich hatte Luca mit seiner Aussage recht. Wo keine Gefühle waren, konnten die anderen kuppeln, wie sie wollten, es würde nichts passieren. „Es tut mir leid“, flüsterte er, „Ich habe meine Wut auf die zwei Idioten an dir ausgelassen und das war nicht richtig. Nur in einer Sache täuschst du dich. So schnell werden sie nicht aufgeben. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt haben, dann kann sie nichts und niemand mehr davon abbringen. Und aus irgendeinem Grund meinen sie, dass wir gut zusammenpassen.“ Luca lachte leise. „Nichts gegen dich, du siehst gut aus und bist mit Sicherheit auch ein guter Freund, aber ich bin nicht in dich verliebt. Ich mag dich nur irgendwie...“ Den letzten Satz nuschelte er gegen Nicholas‘ Oberteil, so dass dieser Schwierigkeiten hatte, ihn zu verstehen. Nicholas war erleichtert. Luca liebte ihn nicht. Wenn er ehrlich war, hatte er keine Ahnung, wie er reagiert hätte, hätte Luca irgendwelche Gefühle gehabt, die über normale Freundschaft hinausgingen. Wahrscheinlich hätte er ihn abgewiesen. Aber damit hätte er Luca auch verloren, wahrscheinlich für immer, und je länger er darüber nachdachte, desto unwohler wurde ihm bei dem Gedanken, Luca nicht mehr in seiner Nähe zu haben. Ohne Luca würde ihm etwas fehlen. Aber ob er deswegen bereit war, eine Beziehung einzugehen? Konnte eine Beziehung, in der er seinen Partner nicht liebte überhaupt funktionieren? Deshalb war er so erleichtert darüber, dass Luca keine solchen Gefühle für ihn hegte und ihn somit nicht in diese Zwickmühle brachte. „Lass und zurück zu den anderen gehen“, meinte er nach einer Weile. Luca nickte, löste sich von ihm und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Auf seinem Gesicht bildete sich ein schwaches Lächeln. Auch Nicholas lächelte, als sie zurück zu den anderen gingen. Dort wurden sie gemustert, Luca länger als Nicholas. Der Schwarzhaarige sah, dass es seinem Klassenkameraden unangenehm war, so viel Aufmerksamkeit auf sich gerichtet zu haben, weswegen er mit dem Kopf schüttelte und seinen Freunden durch ein Zeichen vermittelte, dass sie den Blondhaarigen nicht auf sein verheultes Gesicht ansprechen sollten. Sie blieben noch bis nach der Siegerehrung, dann stiegen sie in ihre Autos, Andy war ebenfalls mit seinem Auto da. Nicholas und Luca fuhren bei ihm mit, während René zu Julian und Benni stieg. Nicholas hatte ihn darum gebeten, die zwei zu ermahnen, Luca nicht mehr in ihre blöden Spielchen mit hineinzuziehen, was René ihm auch sofort versprach. Es schien fast, als hätte sein bester Freund das schon vorgehabt. „Bring ihn nicht wieder zum Weinen“, hatte René ihm noch schnell zugeflüstert. Die Fahrt verlief ruhig, wenn man von Andys dummen Kommentaren bezüglich der Wette mal absah. Aber Nicholas würde nicht nachgeben. Wenn er es nicht vertrug, zu verlieren, hätte er eben nicht wetten dürfen. Obwohl Nicholas natürlich wusste, dass es ein teurer Spaß werden würde, für die gesamte Gruppe das Abendessen inklusive Getränken zu bezahlen. Aus Kostengründen hatten sie sich darauf geeinigt, dass es nur das Getränk zum Essen gab. Den Rest musste jeder selbst bezahlen. In der Pizzeria angekommen, suchten sie sich einen großen Tisch und warteten, bis ihnen die Bedienung die Karten brachte, bevor sie ihre Getränke bestellten. Wie immer bestellte keiner ein alkoholisches Getränk, aber Benni war auch der einzige, der das gekonnt hätte. Julian und Andy mussten fahren und waren beide noch nicht Einundzwanzig, weswegen sie nichts trinken durften. Und Benni hielt sich wahrscheinlich zurück, weil es sonst unfair wäre. Nicholas beobachtete, wie Luca unsicher durch die Karte blätterte. Er war schon beim bestellen seiner Cole nervös gewesen. „Geht das wirklich in Ordnung?“, fragte der Blondhaarige Andy wenig später? Der Angesprochene lachte. „Wettschulden sind Ehrenschulden. Und ich habe verloren, also such dir was aus.“ Dann sah er zu seinem Wettgegner. „Nächstes Mal bist du dran, da verliere ich nicht wieder.“ Nicholas hob die Brauen. „An deiner Stelle wäre ich mir da nicht so sicher...“ Er duckte sich unter der Hand hinweg, mit der Andy nach ihm ausholte, als Luca neben ihm erstarrte. „Scheiße“, schimpfte Nicholas. Kapitel 31: Nähe ---------------- Luca erstarrte. Er wusste, Andy wollte ihm nichts Böses. Er scherzte nur ein kleinwenig mit Nicholas. Trotzdem konnte der Blondhaarige seine Reflexe nicht unterdrücken. Er kauerte sich auf seinem Stuhl zusammen, das Gesicht hinter seinen Armen verbergend und am ganzen Körper zitternd. „Scheiße“, schimpfte Nicholas neben ihm. Das nächste, was Luca mitbekam, war, wie er an einen warmen Körper gezogen wurde und sich zwei starke Arme um ihn schlossen. „Shhh… ganz ruhig“, hörte er Nicholas leise flüstern. Erst jetzt bemerkte Luca, dass es sein schwarzhaariger Klassenkamerad war, der ihn gerade umarmte. Dann wurde er langsam von seinem Stuhl gezogen und nach hinten geschoben, bis sie an der Tür angekommen waren. „René, die Jacken“, wandte Nicholas sich an seinen besten Freund. Danach verließ er mit Luca die Pizzeria. Er zog den Blondhaarigen noch einige Meter weiter, in den hinteren Teil des Parkplatzes. Erst dort blieb er stehen. Mit einer Hand strich Nicholas Luca behutsam über den Rücken, während er ihn mit der anderen an sich drückte, damit er nicht zurückweichen konnte. „Ruhig“, sprach er leise, „Keiner tut dir was. Es ist alles gut.“ René, der ihnen gefolgt war, reichte Nicholas die Jacken. „Ist alles in Ordnung?“, fragte er hörbar besorgt. „Wir kommen gleich wieder“, versicherte Nicholas seinem besten Freund, „Bestell schon mal für uns mit. Ich möchte eine große Hawaii. Und bring die anderen zum Schweigen, egal wie.“ „Vielfraß“, lachte René, ehe er sich an Luca wandte: „Und was möchtest du?“ „Salami“, nuschelte der Blondhaarige. René schien es jedoch verstanden zu haben, denn er lief zurück zum Eingang, blieb auf halber Strecke stehen und meinte: „Geht klar.“ Nicholas reichte Luca die Jacke, ehe er sich seine anzog. Auch Luca schlüpfte schnell in seine Jacke. Inzwischen hatte er sich so weit beruhigt, dass er nicht mehr zitterte. Zögerns löste er sich von Nicholas und sah auf dem Boden. Auch wenn er es vielleicht nicht zeigte, er war seinem Klassenkameraden sehr dankbar. Dafür, dass er ihn schnell hier raus gebracht hatte und dafür, dass es dafür gesorgt hatte, dass drinnen keiner darüber sprach. „Hier.“ Nicholas reichte ihm ein Papiertaschentuch. Verwirrt blickte Luca zuerst zu Nicholas, dann zu dem Taschentuch, dann wieder zu Nicholas. Erst dann fuhr er sich mit dem Handrücken über seine linket Wange. Sie war nass. Er musste geweint haben. Sich leise bedankend nahm er das Taschentuch und befreite sein Gesicht von den Tränen. Als er fertig war, verstaute er es in seiner Hosentasche. Vielleicht brauchte er es noch. „Geht es wieder?“, fragte Nicholas. Luca nickte, dann schüttelte er den Kopf. Er hatte sich zwar wieder beruhigt, aber wenn er jetzt zurück zu den anderen gehen würde, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis wieder etwas passierte. Sein Gegenüber seufzte. „Gehen wir ein Stück“, schlug er vor, „Vielleicht fällt es dir so besser, dich zu beruhigen.“ Er führte Luca in einen schmalen Feldweg, der vom Parkplatz der Pizzeria abging, hinein. Eine Weile liefen sie schweigend nebeneinander her. Luca genoss die Ruhe. Und er genoss Nicholas‘ Nähe. In der Gegenwart des Schwarzhaarigen fühlte er sich seltsam wohl. „Willst du darüber sprechen?“, brach Nicholas die Stille. Luca schüttelte seinen Kopf. Selbst wenn er es wollte, wusste er nicht, was er sagen sollte. Außerdem wusste Nicholas schon mehr als genug. „So kann es mit dir nicht weitergehen“, sagte Nicholas, „Ich sehe doch, dass es dir nicht gut geht. Du kommst ständig mit neuen blauen Flecken in die Schule. Du fühlst dich nicht wohl, wenn dir jemand zu nahe kommt und weichst fast immer zurück. Bei ruckartigen oder unerwarteten Bewegungen zuckst du zusammen, genauso wenn jemand etwas lauter wird. Eben sah es so aus, als hättest du beinahe eine Panikattacke bekommen. So kann es nicht weitergehen.“ Luca schüttelte wieder den Kopf. „Bitte“, flüsterte er, „Ich kann nicht darüber sprechen.“ „Kannst du nicht darüber sprechen oder willst du nicht darüber sprechen?“, fragte Nicholas. „Bitte, zwing mich nicht“, antwortete Luca. Erneut wurde er von Nicholas gepackt und in eine Umarmung gezogen. Zuerst war Luca erschrocken, doch dann entspannte er sich und genoss die Wärme, die Geborgenheit, die ihm diese Geste spendete. „Versprich mir etwas“, verlangte Nicholas. Seine Stimme klang fest, selbstsicher. Er würde keinen Widerspruch dulden. „In Ordnung.“ Etwas anderes konnte Luca nicht erwidern. Nicholas hätte es nicht zugelassen. Die Umarmung wurde kräftiger. „Versprich, dass du zu mir kommst, solltest du deine Meinung ändern oder Hilfe brauchen. Egal wie spät es ist, komm sofort zu mir. Ich bin für dich da. Du bist nicht mehr allein. Du hast jetzt Freunde. Also versuch nicht, allein mit der Sache klar zu kommen! Obwohl Luca sein Gesicht nicht sehen konnte, wusste er, dass er ihn wohl eindringlich anschaute. Er konnte nicht anders, als zu nicken. „Ich verspreche es.“ Sie gingen noch ein Stück, bevor sie umkehrten und zurück zur Pizzeria liefen, wo sie schon erwartet wurden. „Perfektes Timing“, rief René und deutete auf den Kellner, der gerade damit begonnen hatte, ihnen ihr Essen zu bringen. Schnell setzten die beiden sich zurück auf ihre Plätze. Luca lächelte den anderen entschuldigen zu. Es war ihm peinlich, dass sie ihn so gesehen hatten. Auch wenn sie nichts sagten und ihn normal ansahen, wusste er, dass sie Antworten wollten. Antworten, warum er so reagiert hatte. Antworten, die er ihnen nicht geben würde. Er fühlte sich unwohl in seiner Haut und als er einen Schluck von seiner Cola nahm, hätte er sich um ein Haar verschluckt. Auch beim Essen seiner Pizza hatte er Schwierigkeiten. Er schnitt sich extra kleine Stückchen ab und kaute sehr gründlich, um sicher zu gehen, dass er sich nicht noch mehr vor den anderen blamierte. Trotzdem schmeckte ihm das Essen sehr gut. Es war Jahre her, dass er seine letzte Pizza gegessen hatte. Seit seinem Realschulabschluss ernährte er sich fast ausschließlich noch von den Brötchen, die er vom Bäcker holte. Besonders gesund war das nicht, das wusste er. Aber es war besser, als zu verhungern. Ein paar Mal hatte er auch etwas Wurst oder Käse oder Sogar Obst und Gemüse aus dem Kühlschrank nehmen können. Allerdings musste er aufpassen, dass es nur so viel nahm, dass es Jochen nicht auffiel. In einer Woche hatte er Geburtstag. Ob seine Mutter sich daran erinnerte. Wahrscheinlich nicht, er war schließlich nicht Jochen, also existierte er nicht für sie. Er schaute in die Runde. Die anderen unterhielten sich gerade fröhlich. Über das Karateturnier, das kommende Wochenende oder was sie für die nächste Woche geplant hatten. Luca schwieg. Er wusste nicht, was er zum Gespräch beitragen konnte. Schweigend aß er seine Pizza. Danach trank er den Rest seiner Cola, ehe er sich in seinem Stuhl zurücklehnte. So satt wie jetzt war er schon lange nicht mehr gewesen. Nicholas, dessen Pizza ein gutes Stück größer gewesen war als seine, bestellte sich gerade einen Nachtisch. „Das zahlst du aber selber“, schimpfte Andy sofort, woraufhin Nicholas ruhig seine Geldbörse aus der Jackentasche zog und ihm das Geld für das Dessert gab. „Wie kann man nur so viel essen?“, meinte Julian und deutete auf Nicholas‘ leeren Teller. „Ich muss so viel essen“, verteidigte der Schwarzhaarige sich, „sonst nehme ich ab.“ René nickte zustimmend. „Ich weiß. Man muss sich alle Kalorien, die man durch sein Training verbraucht hat, wieder anessen. Allerdings muss man, wenn man regelmäßig Sport betreibt, auch darauf achten, was man isst. Nur Fastfood ist keine Lösung.“ Nicholas schnaubte. „Als ob es auf diese eine Pizza ankommt.“ Der Kellner brachte Nicholas‘ Nachtisch, einen großen Eisbecher mit zwei Waffeln und Schokosoße. Noch bevor er das Dessert auf den Tisch gestellt hatte, war Julian schon aufgesprungen und hatte sich eine der Waffeln geschnappt. „Die isst du doch eh nicht“, rechtfertigte er sein Verhalten. Nicholas seufzte. „Du bist unverbesserlich.“ Luca betrachtete den Eisbecher. Am liebsten hätte er sich auch einen bestellt, obwohl er eigentlich satt war, doch er musste auf sein Geld achten und konnte sich solchen Luxus nicht leisten. Zumindest nicht, ohne mehrere Wochen dafür hungern zu müssen, denn so ein Eisbecher kostete das Vielfache von dem, was er jeden Morgen für sein Brötchen bezahlte. Er hatte zwar noch das Geld, das Nicholas Thomas und dessen Freunden abgenommen hatte, aber er wollte es nicht verschwenden. Trotzdem schaute er das Eis geradezu sehnsüchtig an. Sein Klassenkamerad schien seinen Blick bemerkt zu haben, denn er nahm die zweite Waffel, lud ordentlich Eis und Soße darauf und reichte sie Luca. „Nun nimm schon“, grinste er, „Ich sehe doch, dass du auch was willst.“ Zuerst war Luca verwundert, doch dann nahm er die Waffel freudig lächelnd entgegen. „Danke.“ Er biss in die Waffel und konnte nicht anders, als zu lächeln, als ihm das süße Eis auf der Zunge zerlief. Es war fast noch süßer, als er es in Erinnerung gehabt hatte. Kapitel 32: Briefe aus der Vergangenheit ---------------------------------------- Mitte der nächsten Woche waren Lucas Mutter und deren Ehemann für ein paar Tage in den Urlaub gefahren. Damit Jochen sich von seinem beruflichen Stress erholen konnte, hatte Sonja gemeint. Luca war das nur recht. Als er Freitagabend wiedergekommen war, war der Mann so zornig gewesen, dass ihm immer noch alles wehtat, vor allem sein linkes Handgelenk. Außerdem war es angeschwollen und seine Hand stand in einem seltsamen Winkel ab. Es wäre wohl besser, wenn er einen Arzt aufsuchen würde. Jochen hatte ihn, als er nach Hause gekommen war, die Kellertreppe hinuntergestoßen. Es war gut möglich, dass es gebrochen war, allerdings fuhren jetzt keine Busse mehr, weswegen er bis morgen warten musste. Außerdem hatte Sonja ihm zwei Fünfzigeuroscheine auf den Tisch gelegt, damit er sich etwas zu essen kaufen konnte. Das war mehr, als er sonst zur Verfügung hatte. Allerdings wusste er auch, dass Jochen bei ihrer Rückkehr die Ausgaben streng kontrollieren würde. Er würde sich also nur etwas mehr leisten können als sonst. Nachdem der Sechzehnjährige sicher gewesen war, dass sie auch wirklich weg waren, war er in ihr Schlafzimmer, wo der Safe stand. Er gehörte seiner Mutter, weswegen er davon ausging, dass sie auch das Passwort, oder wie man es bei einem Safe auch immer nannte, ausgesucht hatte. Luca kniete sich vor den großen grauen Kasten. Einige Sekunden zögerte, dann gab er Jochens Geburtsdatum ein. Bingo. Der Safe ließ sich öffnen. Manchmal war seine Mutter wirklich berechenbar. Als Luca hineinschaute, sah er Geld, viel Geld. Aber das interessierte ihn weniger. Außerdem war es sicher gezählt und er wollte nicht, dass herauskam, dass er im Safe gewesen war. Also schob er das Geld zur Seite. Dabei fiel ihm seine Krankenversicherungskarte in die Finger, die er sogleich einsteckte. Morgen Vormittag würde er gleich zum Arzt gehen können. Morgen war Mittwoch, da hatte er in den ersten beiden Stunden Sport, wo er eh nicht mitmachen konnte, also verpasste er auch nicht besonders viel. Der Arzt würde ihm sicher eine Freistellung schreiben. Luca durchwühlte den Safe weiter. Am Boden, unter den Geldscheinen und anderen wichtigen Dokumenten von Jochen und Sonja, wie den Unterlagen zu ihren Haus, fand er Briefe. Neugierig, warum seine Mutter diese dort aufbewahrte, nahm er den obersten heraus. Er steckte sauber zusammengefaltet im sorgfältig geöffneten Briefumschlag. Als Luca das Schriftstück herausnahm, fiel sein Blick auf den Absender: Boutique Mertens Peter Mertens Den Rest las Luca nicht. Stattdessen faltete er den Brief schnell auseinander und überflog ihn kurz. An einem Absatz in der Mitte des Schriftstücks blieb er hängen. Ich wiederhole mich nur ungern. Ich möchte nicht, dass du mich noch einmal kontaktierst. Ich will weder mit dir noch mit deinem Kind etwas zu tun haben! Das zwischen uns war ein Fehler, mehr nicht. Ich werde dir den Unterhalt für dein Kind zahlen, da es nachweislich von mir ist, aber mehr nicht. 3000€ im Monat sind mehr als genug, um es zu versorgen. Ich werde den Betrag bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres überweisen. Dafür verlange ich, nie wieder etwas von dir oder dem Kind zu hören. Erzähl ihm, was du willst. Aber lass mich aus dem Spiel. Seine Mutter hatte also die Wahrheit gesagt, als sie meinte, sein Vater wolle nichts mit ihm zu tun haben. Luca faltete den Brief wieder zusammen. Er fotografierte die Adresse, vielleicht brauchte er sie später noch einmal. Dann faltete er den Brief wieder, verstaute ihn im Umschlag und legte ihn zurück. Sein Blick fiel auf einen größeren Umschlag. Auch diesen nahm er heraus. Als er die Zettel, herausnahm, stellte er fest, dass es sich um einen Vaterschaftstest handelte. Und wenn er diesem Vaterschaftstest glauben konnte, war Peter Mertens wirklich sein Vater, und zwar nicht irgendein Peter Mertens, sondern der Eigentümer der vielen Boutiquen. Luca wusste endlich, wer sein Vater war. Aber es nutzte ihm nicht wirklich etwas. Peter wollte nichts von ihm wissen, also konnte er von ihm keine Hilfe erwarten. Bis jetzt hatte er noch eine kleine Hoffnung gehabt, wenn er seinen Vater fand, würde er vielleicht bei ihm wohnen können. Das konnte er jetzt wohl vergessen. Vielleicht könnte er Peter zu seinem achtzehnten Geburtstag kontaktieren, damit der Unterhalt, oder ein Teil davon) an ihm ging und nicht mehr seine Mutter. Dann könnte er ausziehen. Aber vorher ließ sich wohl nichts machen. Am Freitag hatte er Geburtstag, er wurde siebzehn. Also musste er noch ein Jahr und drei Tage warten. Wenn Peter ihm überhaupt helfen würde. Luca machte noch ein Foto von jeder Seite des Vaterschaftstest, ehe er auch ihn wieder zurücklegte. Er verteilte das Geld wieder so, wie es vorher gelegen hatte, und schloss den Save. Erschöpft lief Luca zurück in sein Zimmer, wo er sich aufs Bett fallen ließ. Trotz seiner Müdigkeit dauerte es, bis er einschlafen konnte. Sein Handgelenk hörte nicht auf, zu schmerzen. Am Ende stand er wieder auf und nahm sich zwei Aspirin aus der Hausapotheke. Erst als das Schmerzmittel anschlug, konnte er schlafen. Am nächsten Morgen wurde er durch sein schmerzendes Handgelenk geweckt. Es war noch finster draußen, aber weiterschlafen konnte er nicht, weswegen er aufstand und sich fertig machte. Es war etwas ungewohnt, alles mit einer Hand zu tun und dauerte länger, aber er schaffte es. Während er frühstückte, was noch im Schrank war, begann es zu dämmern. Danach lief er mit seinen Schulsachen zur Bushaltestelle und fuhr ins Zentrum, wo er umstieg und zum nächstbesten Krankenhaus fuhr. Dort in der Notaufnahme war er wohl am besten aufgehoben. Besonders lange warten musste er nicht, es war wohl noch zu früh, als dass das Wartezimmer überfüllt sein konnte. Nach einer knappen Stunde wurde er ins Behandlungszimmer gerufen. Der Arzt, ein freundlicher älterer Mann, musterte sein Handgelenk kritisch. „Wann ist das passiert?“, wollte er wissen. „Heute Nacht“, log Luca, „Meine Eltern sind nicht da und es konnte mich auch sonst keiner fahren. Also habe ich gewartet, bis der Linienverkehr wieder fuhr.“ „Du hättest einen Krankenwagen rufen können“, entgegnete der Arzt, kaufte ihm seine Ausrede aber anscheinend ab, denn er wechselte das Thema. „Wie ist es passiert?“ „Ich bin die Kellertreppe runtergefallen.“ Das war nicht einmal gelogen. Er ließ nur weg, dass Jochen bei dem Sturz nachgeholfen hatte. Der Arzt zog die Stirn kraus. „Zieh bitte den Pullover aus.“ Er deutete auf die weiten Ärmel des Kleidungsstückes, die gerade zum dritten Mal heruntergerutscht waren und die Verletzung bedeckten. Zögerns kam Luca der Aufforderung nach. Am liebsten hätte er sich geohrfeigt. Er hätte ein T-Shirt darunterziehen sollen, um die blauen Flecken zu verbergen. Aber das Handgelenk hatte so sehr geschmerzt, dass er sich nur den Pullover mit den weitesten Ärmeln angezogen hatte. Als der Arzt seinen Oberkörper sah, schnappte er erschrocken nach Luft. „Was ist mit dir passiert?“ Luca zwang sich zu einem Lächeln. Er wusste, wenn er jetzt nicht gut schauspielerte, war er aufgeschmissen. Der Arzt durfte keinen Verdacht schöpfen. „Ich habe mich geprügelt“, log er deshalb, „Ein paar meiner Mitschüler haben Probleme mit meiner Sexualität und letztens auf dem Nachhauseweg, hab ich einfach die Nerven verloren und zugeschlagen. „ „Und selbst einige Treffer eingesteckt“, beendete der Arzt. Er schien ihm zu glauben, auch wenn Luca manchmal den Verdacht hatte, der Mann tat nur so und wartete darauf, dass er sich von allein verriet. Trotzdem war Luca erleichtert. außerdem war seine Ausrede so abwegig gar nicht gewesen. Der Arzt wusste nicht, dass es nicht das erste Mal war, dass er so aussah, also könnte es so abgelaufen sein, wie er beschrieben hatte. Der Arzt widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Handgelenk. „Das ist gebrochen“, stellte er wenig später fest, „Ich werde es röntgen müssen. Vielleicht muss es auch operiert werden.“ Widerspruchslos folgte der Sechzehnjährige dem Mann ins Nebenzimmer, wo sein Handgelenk geröntgt wurde. Dann musste er warten, bis das Bild fertig war, bevor er wieder zum Arzt gerufen wurde. „Du hast Glück“, meinte der Mann, „Es ist ein sauberer Bruch und muss nicht operiert werden. Ich werde das Gelenk betäuben und dann die Knochen wieder richten. Danach werde ich einen Gips anlegen.“ Luca hatte schon eine Grimasse geschnitten, als der Arzt erzählte, was er vorhatte, weswegen er bei der eigentlichen Behandlung konsequent wegschaute. Erst als der Gips am Arm war, wagte er, ihn wieder anzusehen. Kapitel 33: Lügen und Scherze ----------------------------- Als Luca am nächsten Morgen, der Arzt hatte ihn gestern für den gesamten Tag krankgeschrieben, das Zimmer betrat, saßen Nicholas und René bereits auf ihren Plätzen. Der Sechzehnjährige begrüßte die beiden und ließ sich auf seinen Platz fallen. „Wo bist du gestern gewesen?“, fragte Nicholas auch gleich. Luca hob sein eingegipstes Handgelenk. „Ich war im Krankenhaus. Bin die Treppe runtergefallen.“ Sein Banknachbar zog skeptisch die Augenbraue hoch, er schien ihm nicht zu glauben, sagte aber nichts, worüber Luca wirklich dankbar war. Er wusste nicht, ob er in der Lage gewesen wäre, Nicholas weiter ins Gesicht zu lügen. „Sieht sehr stark nach gebrochen aus“, mischte sich René ein. Luca schnitt eine Grimasse. „Ich bin ziemlich blöd gefallen.“ Die Tür wurde aufgestoßen und eine wütende Rebecka, gefolgt von den Zwillingen, stapfte ins Zimmer. „Ihr seid echt unmöglich“, schimpfte sie. Vor René blieb sie stehen. „Guten Morgen, Schatz“, grüßte sie ihn, wie sie es jeden Morgen tat und küsste ihn kurz auf den Mund. „Morgen“, erwiderte René. „Jetzt stell dich nicht so an“, motzte Florian. Fabian nickte zustimmend. „Genau. Es war ja bloß ein kleiner Scherz?“ „Kleiner Scherz?“, brauste Rebecka auf, „Ihr habt völlig den Verstand verloren!“ Während Rebecka den beiden Spaßvögeln mit ihrem Deutschbuch drohte, füllte sich das Klassenzimmer. Luca fiel auf, dass Martin sich nicht auf seinen gewöhnlichen Platz bei Thomas und Leonie setzte, sondern neben Jan. Er hatte sich wohl ebenso von der Gruppe losgesagt. Leonie warf ihm einen beleidigten Blick zu, ehe sie sich das Haar hinters Ohr strich und ihn ignorierte. „Da waren’s nur noch zwei“, flüsterte René Luca leise zu, woraufhin der Blondhaarige grinsen musste. Er wusste nicht, ob etwas passiert war, aber das war ihm auch egal. Hauptsache, Thomas Gang wurde um eine Person vermindert. Die Deutschlehrerin betrat das Zimmer. Vor der Tafel blieb sie stehen und schaute grimmig in die Klasse. „Ich will nicht groß um den heißen Brei herumreden, Ihr Test war eine Katastrophe!“ Sie schrieb einen Notenspiegel an die Tafel. Wage erinnerte Luca sich an besagten Test. Sie hatten ihn Anfang letzter Woche geschrieben. Besonders schwer hatte er ihn allerdings nicht gefunden. Unter der Eins setzte Frau Schiller einen Querstrich. Es gab also keine. Danach schrieb sie vier Zweien und Sieben Dreien an. „Bis hier hin ist es okay, aber der Rest ist unakzeptabel.“ Es folgten drei Vieren, wo Luca fand, dass das eigentlich auch noch ging. Schließlich konnte nicht jeder gut in Deutsch sein. Aber die den neun Fünfen und drei Sechsen stimmte er seiner Lehrerin dann doch zu. „Findet euch in Gruppen zu je fünf oder sechs Personen zusammen. In der ersten Stunde werdet ihr eine vollständige Berichtigung erarbeiten, die ich auch bewerten werde.“ Es folgte synchrones aufseufzen, doch die Schüler kamen der Aufforderung nach. Während sie Stühle und Bänke verrückten, teilte die Lehrerin die Tests, einschließlich des Aufgabenblattes aus. „Gut gemacht“, lobte Frau Schiller Rebecka als sie ihr ihren Test reichte. „Eine zwei“, freute sich das schwarzhaarige Mädchen. „An sich nicht schlecht, Sie müssen nur an Ihrer Rechtschreibung arbeiten“, kommentierte die Lehrerin Renés Test. Dann sah sie zu Nicholas. „Hier das gleiche.“ Luca reichte sie den Test kommentarlos. Sie schaute ihn noch nicht einmal an. „So schlecht?“, wollte René sogleich wissen. Der Blondhaarige schüttelte seinen Kopf. „Ich hab eine Zwei.“ Als René seinen Test auf die Bank legte, sah Luca eine große rote drei darunter stehen. Er hatte also auch recht gut abgeschnitten. Die Lehrerin ging weiter zu den Zwillingen und reichte Florian den nächsten Test. „Sind Sie sicher, dass das auch meiner ist?“, fragte der Zwilling. Dieses Spiel hatten sie schon mit mehreren Lehrern gespielt. Neumann ließ inzwischen Luca die Tests austeilen, weil er mitbekommen hatte, dass der Sechzehnjährige die zwei auseinanderhalten konnte. Frau Schiller zögerte, schaute kurz auf den Sitzplan, der momentan recht nutzlos war. „Ich möchte schließlich nicht, dass mein Bruder meinen Test bekommt“, meldete sich jetzt auch Fabian. Das war zu viel für die Frau. Sie klatschte beide Tests in die Mitte des Tisches und ging weiter. „Nicht so freundlich“, rief Florian ihr hinterher. Der Rest der Gruppe lachte. Seit der Aktion mit Lucas Bild an der Tafel konnte keiner die Frau ausstehen. Die Lehrerin drehte sich um und blickte ihn wütend an. „Florian Schäfer-“ „Sind sie sicher?“, entgegnete der Zwilling unschuldig schauend, „Ich könnte auch Fabian sein.“ Nicholas lehnte sich unauffällig näher zu Luca. „Wer ist wer?“, wollte er wissen. Luca zeigte auf den jeweiligen Zwilling, bevor er den Namen flüsterte: „Florian. Fabian.“ „Nicht petzen“, rief Fabian gespielt entsetzt. Er schien erst jetzt bemerkt zu haben, was Luca getan hatte. „Zu spät.“ Der Blondhaarige blickte ihn entschuldigend an. Frau Schiller war es inzwischen zu dumm geworden und sie war zur nächsten Gruppe weitergegangen. Die Gruppenarbeit verlief ohne Größere Zwischenfälle, wenn man von Florians entsetztem Ausruf über seine Sechs, sein Bruder war zwei Noten besser als er, mal absah. Zufrieden sammelte die Lehrerin ihre Berichtigungen ein und entließ sie in die Pause. Später im Informatikunterricht setzte Luca sich in die letzte Reihe. Etwas verwirrt folgten die anderen ihm, normalerweise saßen sie weiter vorn. Dem Lehrer war es egal, wer wo saß, da er sehen konnte, wer an welchen Computer eingeloggt war. Demzufolge brauchte er auch keinen Sitzplan. Während die anderen mit Excel addierten und multiplizierten, durchforschte er das ‚Internet nach Peter Mertens. Ihr Lehrer stand an der Tafel und erklärte gerade, wie sie die Formel einzugeben hatten, damit sie das richtige Ergebnis erhielten. Er bemerkte also nicht, was Luca tat. Keiner bemerkte etwas, außer Nicholas. Dieser hob fragend die Augenbraue. „Was tust du da?“ „Recherchieren“, antwortete Luca. Er war gerade auf der Homepage der Boutique Mertens. Dort fand er auch endlich ein Foto des Mannes. Doch, was er sah, ließ ihn erstarrten. Er erblickte einen blonden Haarschopf und ihm sehr bekannte blaue Augen, seine Augen. Zwar waren Peters Haare glatt, Lucas leicht gewellt, aber die Ähnlichkeit war unübersehbar. Er war dem Mann wie aus dem Gesicht geschnitten. Auch Nicholas war erschrocken. „Er sieht dir ziemlich ähnlich, findest du nicht?“, murmelte er. Der Blondhaarige nickte. „Er ist mein Vater“, erklärte er dann leise. Einen Augenblick schien sein Klassenkamerad geschockt über diese Aussage, doch er hatte sich schnell wieder gefasst. „Ich dachte, du weißt nicht, wer dein Vater ist.“ Luca zog sein Handy aus der Hosentasche und öffnete das Bild, was er vom Brief seines Vaters aufgenommen hatte. Dann reichte er es Nicholas. Der Schwarzhaarige betrachtete das Elektrogerät kurz verwirrt, schien dann aber zu verstehen und begann, zu lesen. „Meine Mutter und Jochen sind im Urlaub. Das habe ich im Safe gefunden“, fügte Luca noch hinzu. „Ich kenn den Mann“, meinte jetzt auch Nicholas, „Aber nur vom Namen her. Er arbeitet viel mit meinem Vater zusammen. Aber gesehen habe ich ihn bis jetzt noch nicht.“ Er schwieg eine Weile. „Was wirst du tun?“ Luca hob die Schultern. „Ist das nicht egal? Du hast es doch auch gelesen. Er will nichts von mir wissen.“ Er wusste nicht, warum er Nicholas das alles erzählte, aber es tat gut, mit jemandem darüber zu sprechen. Außerdem vertraute er Nicholas. „Er wollte nicht einmal, dass ich erfahre, dass er mein Vater ist“, fuhr der Blondhaarige fort, „Was glaubst du, wie er reagiert, wenn ich plötzlich bei ihm auftauche.“ Nicholas seufzte. „Vielleicht kann mein Vater mal mit ihm reden. Er scheint sich gut mit ihm zu verstehen.“ Luca schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass das etwas bringt. Er klang ziemlich entschlossen in dem Brief.“ „Er hat den Brief vor Sechzehn Jahren geschrieben. Meinst du nicht, er hat inzwischen vielleicht seine Meinung geändert?“ Erneut schüttelte Luca den Kopf. „Ich weiß doch nicht einmal, wo er wohnt.“ Das war eine Ausrede. Die Adresse ließ sich wahrscheinlich über jedes Telefonbuch herausfinden. Er hatte Angst. Was, wenn Peter ihn genauso wenig wollte, wie seine Mutter? Er wollte nicht von Personen weggestoßen werden, die sich eigentlich um ihn kümmern sollten. So etwas tat weh. Wenn er Peter nicht kontaktierte, blieb ihm zumindest die Hoffnung, dass es besser werden könnte. Und diese Hoffnung wollte er nicht zerstören. Aber das konnte er Nicholas nicht sagen. Deshalb schwieg er. Kapitel 34: Überraschungen -------------------------- Irgendwie war es Luca gelungen, Nicholas das Versprechen abzunehmen, mit keinem über seinem Vater zu reden. Wie er es geschafft hatte, wusste er jetzt, am nächsten Morgen, nicht mehr. Aber das war auch egal, Hauptsache Nicholas unternahm nichts. Da heute sein Geburtstag war, hatte er sich ausnahmsweise zusätzlich zu dem Brötchen noch ein Stück Kuchen gekauft. Außerdem hatte er von der Nachbarin, einer netten alten Frau, die manchmal nicht mehr ganz in der Realität lebte, eine Tüte Kekse geschenkt bekommen. Sie waren sich vor dem Haus der Frau über den Weg gelaufen, als diese gerade die Zeitung aus dem Briefkasten holte. Er hatte keine Ahnung, wo die alte Dame diese aufgetrieben hatte, hatte sich trotzdem artig bedankt, sie sollte schließlich nicht schlecht über ihn reden. Aber da das Verfallsdatum erst seit wenigen Tagen abgelaufen war, konnte er sie sicher noch Essen. Die Verpackung war auch fast nicht verstaubt. Im Klassenzimmer wurde er von den lauten Gratulationen der Zwillinge begrüßt. „Alles Gute zum Geburtstag“, riefen sie, ehe sie begannen, ein Lied zu trällern. „Danke.“ Luca war verwirrt. Er wusste, dass er ihnen nichts von seinem Geburtstag erzählt hatte. Woher wussten sie das also? „Ich wünsch dir auch alles Gute“, sagte Rebecka und zog ihn in eine Umarmung. „Deine Freundin geht schon wieder fremd“, neckte Florian René sofort wieder, nur um sich im nächsten Moment unter Rebeckas Hand hinweg zu ducken. Mit einem leichten Lächeln im Gesicht beobachtete Luca, wie Rebecka den Zwilling durch das Zimmer hinterher jagte und setzte sich auf seinen Platz. „Na, wie fühlt man sich mit Siebzehn?“, wollte sogleich René wissen. „Nicht anders als mit sechzehn“, antwortete der Blondhaarige ihm, noch immer etwas irritiert. Was war heute hier los? „Ich habe im Klassenbuch gespickt. Als stellvertretender Klassensprecher darf ich das ja. Ich hoffe, du bist nicht böse“, ergänzte René auf Lucas verwirrten Gesichtsausdruck hin. Dann geschah etwas, womit der jetzt Siebzehnjährige nicht gerechnet hatte. Nicholas, der bis jetzt schweigend auf seinem Stuhl gesessen hatte, zog ihn in eine Umarmung. Luca zuckte zusammen, erschrocken über die unerwartete Berührung, und verspannte sich. Doch Nicholas ließ ihn nicht los, sondern drückte ihn weiterhin an sich. Es dauerte einen Augenblick, dann begann Luca, sich wieder zu entspannen. Er erwiderte die Umarmung nicht, wehrte sich aber auch nicht dagegen. Trotzdem fühlte er sich in den Armen seines Klassenkameraden wohl. Er schloss die Augen und schmiegte sich näher an den Schwarzhaarigen an. „Alles Gute“, flüsterte Nicholas, leise über das Verhalten des Blondhaarigen lachend. Luca spürte es am Rütteln, dass durch Nicholas’ Oberkörper ging. „Danke“, erwiderte Luca in genauso leise. „Och, wie süß“, neckte Fabian die beiden. Doch Nicholas ließ sich gar nicht weiter stören. „Wärst du so nett, Becky?“ „Aber gerne doch“, antwortete das Mädchen. Kurz darauf ertönte ein dumpfer Schlag. Sie hatte Fabian wohl eines ihrer Bücher über den Kopf gezogen, wie sie es immer tat, wenn die Zwillinge sie ärgerten. Luca ließ sich davon nicht weiter stören. Der Schlag war weit genug entfernt gewesen, damit er ihn als nicht gefährlich einstufte. Außerdem war Nicholas bei ihm. Der Schwarzhaarige würde nicht zulassen, dass ihm jemand etwas tat. Die Tür zum Klassenzimmer wurde aufgerissen und er vernahm Schritte. Ein paar flache Schuhe, wohl Turnschuhe oder so, und einmal Stöckelschuhe, die bei jedem Schritt klackten. „Das glaub ich jetzt nicht’“, erklang Leonies gespielt schockierte Stimme, „Jetzt tun die Schwuchteln das schon in der Öffentlichkeit!“ Das hätte sie wohl besser nicht sagen sollen. Sie hatte das Schimpfwort noch nicht zu Ende gesprochen, da versteifte sich Nicholas. „Würdest du das wiederholen?“, zischte er bedrohlich. Seine Stimme stand im Widerspruch zu seinen Gesten, denn noch immer drückte er Luca sanft an sich. Der Blondhaarige konnte die Umarmung allerdings nicht mehr genießen, weswegen er sich von ihm löste. Leonie schnaubte. „Jetzt tu nicht so. Du hast mich sehr wohl verstanden.“ Langsam erhob sich Nicholas und ging noch langsamer auf sie zu. Sein Gang hatte etwas bedrohliches, fast wie eine Raubkatze, die ihre Beute umkreiste. Leonie wich vor ihm zurück und versteckte sich hinter Thomas, in der Hoffnung, er würde sie schützen. Und so, wie Thomas ihr in der Realschule immer hinterher gesehen hatte, zweifelte Luca auch keine Sekunde daran. Doch er wurde überrascht. Thomas trat zur Seite. „Ich sage es dir nur noch einmal: Halte mich aus deinem Scheiß raus. Ich will damit nichts mehr zu tun haben. Ich bin es leid, ständig die Drecksarbeit für dich zu erledigen.“ „Oh?“ Erstaunt hob Nicholas die Brauen. Allerdings zeigte er durch diese Geste auch, dass er es ihm nicht wirklich abnahm. Auch Luca war verwundert. So etwas war noch nie vorgefallen. Hatten sich Leonie und Thomas gestritten? „Ich bin schließlich nicht lebensmüde“, begann Thomas zu erklären, „Ich habe recherchiert und weiß jetzt, zu was du fähig bist.“ „Du hast doch nur Schiss bekommen!“, brauste Leonie auf. „Na und?“, rief Thomas. Er stritt es nicht ab. „Im Gegensatz zu dir habe ich wenigstens kapiert, wie die Sache endet, wenn wir so weitermachen, wie du es gern hättest: Im Krankenhaus! Deshalb fällt es mir auch nicht weiter schwer, dir zu sagen, dass es das nicht wert ist. Nicht für mich! Ich weiß zwar nicht, was du an Luca findest, aber wenn dir so viel an ihm liegt.“ Sein Blick wanderte zum Blondhaarigen. „Das heißt aber nicht, dass ich dich plötzlich leiden kann. Also erwarte keine Hilfe von mir, wenn Leonie ihren Plan in die Tat umsetzt. Ich werde ihr zwar nicht mehr helfen, aber auch nichts dagegen unternehmen. Kannst du damit leben?“ Jetzt war Luca noch verwirrter. War das gerade ein Friedensangebot? Zögernd nickte er. „Wie kannst du es wagen?“, schrie plötzlich Leonie. Nicholas, Luca, aber auch Thomas scheuten zurück zu ihr, bevor Nicholas an ihr vorbeischritt, den Mülleiner für den Restmüll packte und ihr den Inhalt über den Kopf. Die Reinigungskraft hatte ihn gestern wohl nicht geleert, denn es kam eine Menge geflogen. Leonie kreischte auf, als ein angebissener Apfel in ihrem Ausschnitt landete. Es war auch eine Bananenschale geflogen gekommen, die jetzt auf ihrem Kopf lag. „Hoch lebe die Mülltrennung“, feierte Florian, woraufhin die gesamte Gruppe lachte, auch Luca. Der Blondhaarige empfand eine Genugtuung, die er nicht für möglich gehalten hätte. Und auch, wenn ihn das ein kleinwenig erschrak, war er froh, dass die Blondine endlich ihre eigene Medizin zu schmecken bekam. Leonies Gesicht hatte unterdessen einen rötlichen Farbton angenommen. Sie warf Thomas einen letzten enttäuschten Blick zu, ehe sie aus dem Zimmer stürmte. „Das wirst du bereuen“, rief sie Nicholas zu, „Du und dein kleiner Schwuchtelfreund.“ „Willst du ihr nicht hinterherlaufen?“, fragte René, der ihr, wie alle anderen auch, hinterhersah. Thomas schüttelte seinen Kopf. „Damit würde ich alles nur noch schlimmer machen.“ Dann wandte er sich an Luca. „Wenn ich du wäre, würde ich in den nächsten Tagen auf dem Heimweg aufpassen. Sie hat vor, ihren Schlägerfreund auf dich zu hetzen. Auf Nicholas auch, aber da muss ich mir eher Sorgen um ihren Freund machen.“ „Keine Sorge“, antwortete Nicholas, „Ich passe schon auf Luca auf.“ Thomas nickte ihm noch einmal zu, ehe er sich auf den Platz hinter Jan und Martin fallen ließ. Jetzt saß Leonie allein auf ihrer Bank und die hinter ihr war auch schon seit einer Weile frei. „Sieht aus, als stünde Leonie jetzt allein da“, bemerkte Rebecka. Luca nickte. Er wusste noch immer nicht, was er von der ganzen Situation halten sollte. Konnte er dem Frieden trauen oder würde Thomas den Moment, in dem er unachtsam wurde, ausnutzen und erneut zuschlagen? Andererseits war es immer Leonie gewesen, von der die schlimmeren Dinge ausgingen. Von sich aus hatte Thomas nichts getan, als ein paar dumme Sprüche zu klopfen und ihn hin und her zu schubsen. Trotzdem wollte er sich nicht unbedingt in Thomas‘ Nähe aufhalten, wenn es sich vermeiden ließe. Florian und Fabian grinsten sich vielsagen an. „Da hat er dir aber ein…“, begann Fabian. „… ziemlich gutes Geburtstagegeschenkt gemacht.“, fuhr Florian fort. „Findest du nicht auch?“ Den letzten Satz sagten sie gemeinsam. Rebecka griff sich seufzend an die Stirn. „Nicht so viel Harry Potter schauen, Jungs!“ Luca lächelte. So hatte er die Sache noch gar nicht betrachtet. „Du hast Geburtstag?“, rief jetzt Thomas durch das Zimmer. Er hatte den Zwillingen also zugehört. Zögernd nickte Luca, unsicher, ob er die Frage nicht vielleicht doch besser ignoriert hätte. Doch Thomas gab ihm keinen Grund, seine Entscheidung zu bereuen. „Dann alles Gute“, gratulierte auch er. „Danke.“ Mehr brachte Luca nicht heraus. Kapitel 35: Bennis Plan ----------------------- Kaum hatte es nach der letzten Unterrichtsstunde geklingelt, wurde Luca auch schon von Nicholas aus dem Zimmer gezogen. Im Augenwinkel sah er, wie René und Rebecka ihre Sachen einpackten und ihnen dann schnell folgten. Nicholas zog ihn auf den Schülerparkplatz, wo sie vor einem Luca sehr bekannten roten Passat stehen blieben. „Wo bleibt ihr denn so lange?“, rief Benni durch das geöffnete Fenster auf der Fahrerseite. Julian war nicht dabei. Benni sprang aus seinem Auto und öffnete ihnen die Türen. „Los, rein mit euch.“ „Dir auch einen guten Tag“, brummte Nicholas. Er schien die fehlende Begrüßung allerdings nicht weiter übel zu nehmen, denn er stieg ohne weitere Worte ins Auto. Luca, der noch etwas verwirrt neben dem Auto stand, wurde von Benni auf die Rückbank geschoben. „Hinsetzen. Anschnallen.“ Der Blondhaarige tat, was von ihm verlangt wurde. Noch immer wusste er nicht, was hier los war. Es kam ihm fast so vor, als wüssten alle außer ihm, was hier gespielt wurde. Benni stieg wieder ins Auto. Im Augenwinkel sah Luca, wie Nicholas auf seinem Handy herum tippte, wahrscheinlich sendete er eine SMS. Dann fuhr Benni los. Wohin er fuhr, konnte Luca nicht sagen. So gut kannte er sich in diesem Teil der Stadt nicht aus. Allerdings fiel ihm auf, dass Benni recht langsam fuhr. Letztes Mal war er deutlich über die zugelassenen 50 km/h gefahren, jetzt hielt er sich brav an die Vorschriften. Täuschte er sich oder versuchte Benni, etwas Zeit zu gewinnen? Luca scheute durch die getönten Fensterscheiben hinaus. Waren sie an diesem Haus nicht vorhin schon vorbeigefahren? Er wollte gerade Nicholas fragen, als Benni abbog und in die Einfahrt eines MC Donalds hineinfuhr. „Ich habe glatt vergessen, dass du heut Geburtstag hast“, entschuldigte er sich, klang dabei allerdings wenig glaubhaft, „Als Entschädigung gebe ich dir ein Eis aus. Welche Soße möchtest du? Karamell? Schoko? Oder gar keine?“ „Karamell“, antwortete Luca. Was war hier los? In seiner Verwunderung vergaß er sogar, dass er hier noch nie ein Eis gegessen hatte und deswegen nicht wusste, wie es schmeckte. Aber Karamell hatte sich eigentlich gut angehört. Anstatt in den Drive in zu fahren, parkte Benni das Auto auf dem fast leeren Parkplatz in der hintersten Ecke und spazierte gemütlich zum Fastfood-Restaurant. Der Blondhaarige wurde von Minute zu Minute verwirrter. Inzwischen war er sich sicher, dass hier etwas vor sich ging, konnte aber nicht begreifen, was. Sein Blick wanderte zu Nicholas, doch sein schwarzhaariger Klassenkamerad schüttelte nur den Kopf. von ihm würde er also keine Antwort bekommen. Zwölf Minuten später, Luca hatte auf die Uhr in seinem Handy geschaut, kam Benni dann mit drei Eis beladen zurück. „Ihr glaubt nicht, was da drinnen los ist!“, stöhnte er und ließ sich erschöpft auf den Fahrersitz fallen. Luca schaute auf den Parkplatz, außer Bennis Auto standen nur zwei weitere hier. So viele Menschen konnten also nicht da drinnen sein, außer sie waren alle gelaufen. Aber das bezweifelte er irgendwie. Benni reichte ihm und Nicholas ihre Eisbecher und begann, seinen zu löffeln. Der jetzt Siebzehnjährige tat es ihm gleich. Ihm war mittlerweile klar, dass Benni versuchte, Zeit zu gewinnen. Anders ließ sich sein Verhalten nicht erklären. Nur war Luca noch unklar, warum. Aber er wollte Benni seine Freude nicht nehmen, weswegen er mitspielte und sein Eis extra langsam löffelte. Außerdem wollte er es genießen, denn es schmeckte wirklich lecker. Nicholas war bereits fertig und er hatte noch nicht einmal die Hälfte gegessen. Als er dann als letzter aufgegessen hatte, verkündete Benni laut, noch einmal die Toilette aufzusuchen und verschwand wieder in das Fastfood-Restaurant, wohl, um noch mehr Zeit zu gewinnen. Luca beachtete seine Ausrede nicht weiter, stattdessen wandte er sich an Nicholas und grinste ihn verschmitzt an. „Was meinst du, wie lang die Schlage diesmal ist?“ Als Nicholas nichts erwiderte, fuhr er fort: „Bei der Masse an Autos hier muss ja eine Unmenge an Leuten da drin sein. Mich wundert es etwas, dass die Schlange noch nicht bis vor die Tür reicht.“ Nicholas seufzte. „Du hast es durchschaut, richtig.“ Der Blondhaarige lächelte und nickte. „Es ist ziemlich offensichtlich.“ Wie erwartet, dauerte es, bis Benni wiederkam. Luca wunderte es ein kleinwenig, dass er nicht noch eine zweite Runde Eisbecher holte, sondern vom Parkplatz fuhr. Allerdings stellte er dann nach zweihundert Metern fest, dass er sich einen Platten gefahren hatte und musste das Rad wechseln. Allerdings schien er trotzdem beste Laune zu haben. Luca spielte weiterhin mit, tat als ob er die Sache mit dem Reifen glaubte, denn er konnte beim besten Willen keinen Platten erkennen und ließ sich von Benni erzählen, wann er von wem das Auto gekauft und wie lange er daran herumgebastelt hatte. Dabei sah der Passat eigentlich ganz normal aus, bis auf die getönten Rückscheiben und dem Radio, denn das war mit Sicherheit auch neu. Als Benni den Reifen dann mit Nicholas‘ Unterstützung endlich gewechselt hatte, fuhren sie weiter, bis Benni vor dem Haus von Samuel, Nicholas‘ älterem Bruder, parkte. „So, da wären wir“, verkündete er breit grinsend. Dann sprang er aus dem Wagen und hielt Luca die Tür auf. Luca ließ sich von den beiden ins Haus den Flur entlang bis in Keller führen, auch wenn er nicht wusste, was sie da sollten. Im Flur und auf der Treppe war es dunkel. Nicholas öffnete die Tür. Auch im Keller brannte kein Licht. Er zog Luca hinter sich her und als auch Benni im Raum war, schloss er die Tür wieder. „Überraschung“, wurde laut gerufen und als im nächsten Augenblick das Licht angemacht wurde, erblickte Luca einen bunt geschmückten Raum. An der Decke hingen Luftballons und Girlanden. Auf dem Tisch in der Mitte des Raumes stand eine große, bunte Torte mit siebzehn Kerzen und der Aufschrift ‚Happy Birthday‘, daneben ein Stapel bunte Pappteller und Gläser. An der Wand stapelten sich Kästen mit Getränken, davon nicht alle alkoholfrei. Rebecka, René, die Zwillinge und Julian standen mit Partyhüten und fröhlich lachend im Zimmer. Jetzt setzten auch Benni und Nicholas einen Hut auf, wobei man Nicholas ansah, dass er das nicht ganz freiwillig tat. Luca stand unterdessen völlig regungslos im Raum, so sehr war er überwältigt. „Ist das für mich?“, fragte er leise. „Natürlich“, lachte René, „Für wen denn sonst?“ „Danke“, flüsterte das Geburtstagskind leise schluchzend. Tränen der Freude liefen ihn über das Gesicht. „Das ist noch nicht alles“, verkündete Rebecka, „Wir haben auch noch ein kleines Geschenk für dich. Aber vorher wird gegessen.“ Sie deutete auf die Torte. „Hier.“ Nicholas reichte ihm ein Taschentuch, was Luca dankbar annahm. Die Gruppe nahm am Tisch Platz und Rebecka lud jedem etwas von dem wirklich köstlich aussehenden Gebäck auf den Teller. Dazu gab es wahlweise Kaffee oder Kakao, wobei Luca Kakao wählte. Wie lange war es her, seit er das letzte Mal ein Stück Torte gegessen hatte. Hatte er überhaupt schon einmal eines gehabt? Luca konnte sich nicht erinnern. Umso mehr genoss er das Stück auf seinem Teller. Es würde dauern, bis er sein nächstes Stück essen konnte. „Du scheinst Süßes ja richtig zu lieben“, stellte Nicholas, der zu seiner rechten saß, fest. Luca nickte nur. Besser seine Freunde hielten ihn für ein Süßmaul, als dass sie erfuhren, wie es wirklich in seinem Leben zuging. Rebecka lud einigen noch ein zweites Stück auf, Luca war allerdings schon satt. Erst das Eis und das Stück Torte war auch nicht gerade klein gewesen. So viel aß er normalerweise nicht. Aber er war glücklich. Seine Freunde hatten sich wirklich Mühe gegeben. Jetzt wusste er auch, warum Benni dieses Theater gespielt hatte. Sie hatten wohl noch etwas anrichten müssen. „Die Torte hat übrigens Sheila gebacken“, erklärte Rebecka, die ebenfalls bereits aufgegessen hatte, „Sie hat sich einen ziemlichen Narren an dir gefressen.“ Der Blondhaarige errötete, als er daran dachte, unter welchen Umständen er Samuel und Sheila kennengelernt hatte. Es kam ihm fast vor, als sei eine Ewigkeit vergangen, seitdem Nicholas ihn in den Duschen der Turnhalle nackt und gefesselt vorgefunden hatte. Wie viel die beiden wohl wussten? Hoffentlich hatte Nicholas ihnen nicht zu viel erzählt. Während Rebecka und René den Tisch abräumten, reichte Nicholas ihm eine kleine Schachtel. Sie war in hellblaues Papier gewickelt und eine weiße Schleife war darumgebunden. Derjenige, der sie verpackt hatte, musste sich wirklich Mühe gegeben haben. Beinahe tat es Luca schon leid, dass er sie jetzt öffnen musste. Kapitel 36: Das beste Geschenk überhaupt ---------------------------------------- „Jetzt mach sie schon auf“, drängte Florian, der es scheinbar kaum erwarten konnte. Auch die anderen sahen ihn gespannt an. Vorsichtig öffnete Luca die kleine weiße Schleife, dann löste er das Paper ab. Zum Vorschein kam ein kleines Schmuckkästchen. Der Blondhaarige traute sich fast nicht, hineinzusehen, und wäre er allein gewesen, hätte er es wahrscheinlich auch nicht gleich geöffnet. Aber er war nicht allein. Behutsam, als könne das Kästchen zerbrechen, klappte er es auf. Zum Vorschein kam ein goldenes Armband, an dem viele kleine Plättchen hingen und das auf schwarzen Samt gebettet war. „Damit du dich immer daran erinnerst, dass du nicht allein bist“, erklärte Nicholas. Er nahm das Armband heraus und zeigte Luca eines der Plättchen. Dort stand fein und säuberlich in Handschrift sein Name. Vorsichtig nahm Luca das nächste Plättchen, es enthielt Rebeckas Namen, und er stellte fest, dass die anderen ebenfalls die Namen seiner Freunde trugen. Für jeden Freund ein Plättchen. Es hing sogar eins für Julian und eins für Benni mir am Armband. „Danke“, flüsterte Luca, während er das Armband zurück in die Schachtel legte. Er war so gerührt, dass ihm erneut die Tränen in den Augen standen. „Das ist das beste Geschenk, was ich je bekommen habe.“ Vor lauter Freude über das Geschenk, was er wirklich sehr schön fand, fiel er Nicholas, der ihm am nächsten stand, um den Hals. „Danke“, wiederholte er, „Danke.“ Nicholas schien damit nicht gerechnet zu haben, denn er versteifte sich kurz und atmete überrascht ein, hatte sich aber schnell wieder gefangen. Er legte seine Arme um Luca und zog ihn an sich heran. „Du weinst ja schon wieder“, stellte er nach einer Weile fest. Luca schüttelte seinen Kopf, ehe er sich von dem Schwarzhaarigen löste. Mit einer Hand wischte er sich die Tränen aus den Augen. „Ich bin nur so glücklich“, schluchzte er. Rebecka lächelte mitfühlend, während die Zwillinge den Tisch an den Rand den Rand stellten. Julian zog eine Leinwand von der Decke und Benni positionierte den Beemer und schloss ihn an einen Laptop an. „Welchen Film möchtest du scheuen?“, fragte René, der auf ein paar Stapel DVDs, die zwischen den Getränken gestapelt waren, deutete. Luca schaute die DVDs durch, sortierte gleich zwei Horrorfilme aus, die ihm wohl nicht so gut gefallen dürften, dann las er die Rückseiten. „Und, schon entschieden?“, wollte René wissen. Luca schüttelte den Kopf. „Welcher ist denn gut? Ich kenn mich da nicht so gut aus.“ René empfahl einen Film, den Luca dann auch nahm. Er klang recht interessant und war sicher auch spannend. Aber den Titel konnte er sich nicht merken. Wie er feststellte, hatte René recht gehabt, der Film war wirklich gut, actionreich und mit viele Specialeffekten, aber gut. Als er zu Ende war, schauten sie noch einen, diesmal eine Komödie, die Luca nicht so gut gefiel. Danach brachte Sheila ihnen das Abendessen, Spagetti mit verschiedenen Soßen, allerdings nicht, ohne Luca zuvor ordentlich zum Geburtstag zu gratulieren. „Lasst es euch schmecken?“, flötete sie fröhlich. Julian begutachtete das Essen skeptisch. „Wer hat das gekocht?“ „Samuel“, antwortete Sheila und zog einen Schmollmund, „Du kannst es also gefahrlos essen.“ Auch René und Benni atmeten erleichtert aus, während die anderen fragend zu Julian schauten. „Sheila kann nicht kochen“, meinte René, nachdem sie das Zimmer wieder verlassen hatte, „Und damit meine ich gar nicht kochen. Keine Nudeln, keine Fertigpizza, nichts. Ich weiß nicht, wie sie es macht, aber alles, was sie anfasst, ist am Ende ungenießbar.“ Die anderen Gäste nahmen das nickend zur Kenntnis, dann machten sie sich über das Essen her. Luca kam sich vor wie im Paradies. Erst das Eis, dann die Torte und jetzt Spagetti. Er konnte sich gar nicht entscheiden, welche Soße er zuerst probierte, weswegen er sich von jeder etwas auflud. „Jetzt spielen wir Flaschendrehen!“, verkündete Florian nach dem Essen. „Och nein“, stöhnte Rebecka, setzte sich aber wie alle anderen auch brav auf den Fußboden, damit sie einen Kreis bilden konnten. Zuerst hatte Luca geglaubt, der Boden sei zu kalt dazu, immerhin war er gefliest, stellte aber erleichtert fest, dass wohl eine Bodenheizung eingebaut war. Außerdem begannen die Zwillinge gerade, Sitzkissen und zusammengefaltete Decken auszuteilen. Nicholas nahm neben ihm Platz. „Damit wir es auch schön gemütlich haben“, meinte Fabian. Er zauberte eine Flasche hervor. „Wer möchte beginnen?“ „Ich!“, rief Florian, woraufhin sein Bruder ihm die Flasche reichte. Rebeckas Protest, das Geburtstagskind anfangen zu lassen, wurde ignoriert, worüber Luca erleichtert war. Er hatte nämlich keinen Plan, welche Regeln es in dem Speil geb. Fragen wollte er aber auch nicht, sonst würden die anderen vielleicht misstrauisch werden, also musste er versuchen, sie aus dem Spiel heraus zu verstehen. „Regeln wie immer“, erklärte Florian, während er die Flasche anschob, „Ihr wählt zwischen Wahrheit und Pflicht, aber nicht immer dasselbe nehmen.“ Die Flasche stoppte vor Benni. „Pflicht“, sagte dieser sofort. Florian grinste. „Du ziehst deine Klamotten mit der Innenseite nach außen an. Den ganzen Abend, bis wir nach Hause gehen.“ Benni brummte etwas Unverständliches, verließ dann aber den Partyraum. Wohl, um sich in Ruhe umziehen zu können. „Vergiss die Unterwäsche nicht!“, rief Fabian ihm hinterher, woraufhin die anderen lachten. Auch auf Nicholas‘ Gesicht war ein Lächeln zu sehen. Obwohl er nicht bei dem Blödsinn seiner Freunde mitmachte, schien es ihn dennoch zu amüsieren. Wenig später kam Benni, die Klamotten falschherum tragend, wieder zurück. Er setzte sich wieder auf seinen Platz und drehte seelenruhig die Flasche, die vor Luca stehen blieb. „Wahrheit“, sagte der Blondhaarige etwas unsicher. „Dann“ Benni verschränkte die Arme hinter dem Kopf und grinste ihn vielsagend an, „beschreib dein erstes Mal, mit allen schmutzigen Details!“ Prompt errötete Luca. „Ich- eh…“, stotterte er, „Ich hab noch nicht-“ „Wie, du hast noch nicht“, wollte Benni verwundert wissen, doch dann schien er zu verstehen, „Du hast noch keinen Sex gehabt.“ Gespielt mitleidig blickte er den Blondhaarigen an. „Dann hast du echt was verpasst, du armer.“ Da keiner der anderen mehr etwas sagte, nahm Luca die Flasche und drehte sie. Er hatte etwas Schwierigkeiten, ihr genug Schwung zu geben, damit sie lang genug in Bewegung blieb, denn seine Hände zitterten. Sein Herz raste und sein Mund war trocken. Er nutzte die kurze Pause, um sich wieder zur Ruhe zu zwingen. Hoffentlich fiel ihm etwas Gutes ein. Vor Nicholas kam die Flasche zum Stehen. „Wahrheit“, sagte der Schwarzhaarige. Kurz zögerte Luca, dann stellte er ihm seine Frage: „Wie ist dein Coming-out verlaufen? Wie hat deine Familie und deine Freunde reagiert und wem hast du es zuerst gesagt.“ Zuerst sah Nicholas ihn verwundert an, dann grinste er. „Ich hab es zuerst René gesagt. Er hat es ganz locker gesehen. Wenn ich mich recht erinnere, hat er ‚Cool, mehr Mädels für mich‘ oder so geantwortet.“ Die Zwillinge brachen in lautes Gelächter aus. „Echt jetzt?“ René grinste. „Was denn? Stimmt doch!“ „Samuel hat es auch ziemlich entspannt gesehen. Sheila war hellauf begeistert, noch jemanden im Haus zu haben, mit dem sie sich über Männer unterhalten kann. Meine Eltern haben es erst für einen Scherz gehalten, sich dann aber relativ schnell wieder eingekriegt.“ Danach war Julian dran, der eine Chilischote essen musste und danach sofort zu den Getränken gestürmt und sich eine Flasche Bier in den Hals geschüttet hatte. Geholfen hatte es allerdings nicht wirklich. Je länger sie spielten, desto müder wurde Luca und das Colabier, das normale Bier hatte ihm nicht besonders geschmeckt, zu dem Julian und Benni ihm überredet hatten, trug nicht gerade zur Besserung bei. Wäre es nur eine Flasche gewesen, ginge es vielleicht noch, aber sie hatten ihm jedes Mal, wenn er ausgetrunken hatte, eine neue gereicht. Inzwischen war er bei seiner vierten Flasche angekommen. Auch die anderen tranken, schienen den Alkohol jedoch besser zu vertragen als er. Erschöpft lehnte er sich gegen Nicholas, neben dem er immer noch saß. Zuerst beobachtete er noch das Geschehen, doch seine Augenlider wurden von Minute zu Minute schwerer. Irgendwann öffnete er sie dann nicht mehr, sondern hörte den anderen nur noch zu. Er bekam noch mit, wie Rebecka mit einem der Stühle flirten musste, dann wurden die Geräusche um ihn herum immer leiser und er driftete in einen leichten Schlaf. Kapitel 37: Kleinen und große Gemeinheiten * -------------------------------------------- Nicholas sah zu Luca, der an seine Schulter gelehnt schlief. Eigentlich sah er ganz niedlich aus, fand der Schwarzhaarige, mir den blonden Locken, die ihm ins Gesicht fielen und seinem leicht geöffneten Mund. Seine Toleranz für Alkohol schien nicht besonders hoch zu sein, aber vielleicht war es auch das erste Mal, dass er etwas trank. Außerdem war es schon nach Zehn. Als sie bei Julian DVDs angeschaut hatten, war Luca auch mittendrin eingeschlafen. Es war gut möglich, dass Luca für gewöhnlich eher ins Bett ging. Die Flasche hielt inzwischen bei René, der Rebecka einen Heiratsantrag machen musste. Er brachte das Ganze gut herüber, mit Hinknien und allem. Er hatte sogar schnell aus Silberpapier einen Ring gefaltet, den e seiner Freundin jetzt an den Finger steckte, denn sie hatte ‚Ja‘ gesagt. Nicholas bemerkte, wie Lucas Kopf immer weiter nach vorn rutschte. Nicht mehr viel und er würde von seiner Schulter herunterrutschen. Der Schwarzhaarige seufzte leise und platzierte den Kopf seines Klassenkameraden in seinem Schoß. Dort würde er besser schlafen können. Dabei verrutschte Lucas Pullover und legte einen großen blauen Fleck auf seinem Schlüsselbei frei. Nicholas wusste, dass Luca regelmäßig verprügelt wurde. Jedenfalls schloss er das aus den vielen blauen Flecken, mit denen der Blondhaarige immer zur Schule kam. Auch wenn Luca sie unter seiner Kleidung verbarg, Nicholas war nicht blöd. Er sprach ihn nur nicht darauf an. Von wem Luca die blauen Flecke hatte, wusste Nicholas allerdings nicht. Zwar hatte er den Stiefvater seines Klassenkameraden unter Verdacht, aber solange er nichts beweisen konnte, würde er schweigen. Es konnte schließlich genauso gut jemand anderes gewesen sein. Als nächstes war Nicholas wieder an der Reihe. „Pflicht“, sagte der Schwarzhaarige. Sein bester Freund grinste ihn vielversprechend an: „Iss einen Teelöffel Kaffeepulver.“ Die Zwillinge waren so nett, ihm die benötigten Utensilien zu reichen, damit er nicht aufstehen musste und jetzt schaute ihn die ganze Gruppe abwartend an. Nicholas nahm den Löffel in den Mund. Das Pulver schmeckte abscheulich. Total bitter. Er schnitt eine Grimasse, als ihn etwas blendete. Julian hatte sein Handy herausgeholt und seinen Gesichtsausdruck fotografiert. Er grinste und zeigte ihm das Display. Der Schwarzhaarige warf ihm einen wütenden Blick zu, dann zwang er sich, das Pulver hinunterzuschlucken. Gleich darauf griff er nach seinem Bier und nahm einen großen Schluck, um den Geschmack loszuwerden, was allerdings nur wenig half. Seine Freunde lachten. „Na wartet, das gibt Rache!“ Er drehte die Flasche. Wie als hätte er es berechnet, hielt sie vor Julian, der zuerst sie dann Nicholas entsetzt ansah. Er schluckte. „Pflicht.“ „Mal dir mit Ketchup Kriegsbemalung ins Gesicht, binde die hübsche Schleifen in die Haare, fotografier dich und schick das Foto an alle deine WhatsApp-Kontakte“, forderte Nicholas, als Rache für das eben aufgenommene Foto. Jetzt war Julian derjenige, der eine Grimasse schnitt. „Das ist nicht dein Ernst“, flehte er. Doch Nicholas gab nicht nach. Er sah seinen Freund unnachgiebig an. Julian seufzte. „Von mir aus.“ Danach war Luca an der Reihe, weswegen Nicholas ihn vorsichtig schüttelte. Der Blondhaarige öffnete seine Augen und blickte ihn verschlafen an. „Was‘n los?“ „Du bist dran“, erklärte Nicholas. „Wahrheit“, nuschelte Luca. Wäre es nicht gerade still im Raum gewesen, hätten die anderen ihn wahrscheinlich nicht verstanden. „Gut.“ Julian rieb sich die Hände und Nicholas wusste, dass jetzt wohl eine sehr peinliche oder persönliche Frage kommen würde. „Wenn du eine der hier anwesenden Personen heiraten müsstest, für wen würdest du dich entscheiden?“ „Nicholas natürlich“, antwortete Luca. Nicholas erstarrte. Hatte er das gerade richtig verstanden? Er wollte Luca gerade darauf ansprechen, als dieser sich bereits an ihn kuschelte und seine Augen schloss. Wenig später war er wieder eingeschlafen. Da interessierte es ihn auch nicht, dass jetzt Florian an seiner Schulter rüttelte. „Du musst noch drehen“, wollte der Zwilling ihn zum Beenden der Runde bringen. Doch Luca rückte einfach nur ein Stück von ihm weh und vergrub sein Gesicht in Nicholas‘ Oberteil. „Will nicht“, murmelte er, „Mach du.“ Die anderen hoben ratlos die Schultern, also drehte jetzt Florian die Flasche. Nicholas schaute zurück zu dem schlafenden Jungen. Noch immer war er sich nicht sicher, ob ihm sein Gehör keinen Streich gespielt hatte. Allerdings deutete das Grinsen auf Bennis und Julians Gesicht sehr darauf hin, dass Luca tatsächlich seinen Namen genannt hatte. Blieb also nur noch die Frage, für wie ernst er die Antwort nehmen sollte. Luca war eindeutig betrunken und Betrunkene logen bekanntlich nicht. Dazu kam, dass er noch halb geschlafen hatte. Wenn man Leute mitten in der Nacht weckte, neigten sie auch dazu, die Wahrheit zu sagen. Gelogen hatte der Blondhaarige schon einmal nicht. Aber Nicholas war auch sicher, dass er die Antwort nicht so ernst nehmen durfte. Luca liebte ihn nicht, das hatte er gesagt. Vielleicht hatte er seinen Namen also nur genannt, weil er ebenfalls schwul war. Da gab es zwar noch Benni und Julian, aber die kannte Luca noch nicht so gut. Außerdem hatte Luca gemeint, er würde gut aussehen. Das bedeutete, der Blondhaarige war nicht in ihm verliebt, fand ihn aber durchaus attraktiv. Nicholas hoffte, mit seiner Logik richtig zu liegen, denn er wusste nicht, was er tun sollte, wenn Luca Gefühle entwickelte, die über Freundschaft hinausgingen. Er war sich nur in einem sicher: zurückweisen könnte er ihn nicht. Zum einen, weil er ihn nicht verletzen wollte und Luca sich danach garantiert wieder in sein Schneckenhaus verzog, aus dem er gerade gekrochen kam. Und zum anderen, weil er dem Blondhaarigen, wenn er ihn aus seinen emotionsgeladenen, blauen Augen ansah, dann konnte er einfach nicht „Nein“ sagen. Das Sprichwort, Augen seien die Fenster der Seele, schien wie auf Luca zugeschnitten. Wenn Nicholas ihm in die Augen schaute, konnte er genau sehen, was in dem Blondhaarigen vorging. Nur leider sah er viel zu oft Angst darin. Der Schwarzhaarige würde nahezu alles tun, um diese Augen ohne diese immer gegenwärtige Angst zu sehen. Nicholas hatte seine Umgebung schon lange vergessen, als er Luca eine Strähne der blonden Locken aus dem Gesicht strich, kurz mit dem Handrücken über seine Wange fuhr und die Hand anschließend auf dem Hinterkopf liegen ließ. „Nicht schon wieder“, riss ihn Florians frustrierte Stimme aus seinen Gedanken. Schnell nahm er seine Hand von Lucas Kopf. René lachte. „Pech gehabt.“ „Pflicht“, brummte der Zwilling. Rebecka schaute ihren Freund abwartend an. Dieser grinste. „Also“, sagte er, „Du wirst drei Runden ums Haus rennen…“ Florian schien erleichtert. „…dabei laut Jingle Bells singen…“ Der erleichterte Gesichtsausdruck wich einem genervten. „Was ist, wenn ich den Text nicht kann?“ „… und dabei nichts weiter tragen als deine Unterhose.“ Dem Zwilling entgleisten sämtliche Gesichtszüge. „Das ist nicht dein Ernst!“ „Natürlich ist es mein Ernst“, antwortete René ruhig, „Aber wenn du möchtest, kannst du deine Unterhose gern auch noch ausziehen.“ „NEIN!“, schrie Florian sofort. Dann begann er blitzschnell, sich aus seinen Klamotten zu schälen. So schnell hatte Nicholas ihn sich noch nie bewegen sehen. „Drei Runden“, wiederholte Florian, „Und dabei Jingle Bells?“ „Du hast es erfasst“, meinte René gespeilt beeindruckt. Jetzt begann auch Luca, sich wieder zu regen. Langsam richtete er sich auf und lehnte sich wieder gegen Nicholas‘ Schulter. Dann rieb er sich seine schläfrig dreinblickenden Augen und schaute in die Runde. So sah er richtig süß aus, fand Nicholas, würde sich aber hüten, etwas zu sagen. Er musste Benni und Julian nicht noch Öl ins Feuer gießen, denn die zwei hatten noch immer nicht mit den Kupplungsversuchen aufgehört. Die Gruppe erhob sich und verließ Samuels Partykeller, um Florian bei seiner kleinen Aufgabe beobachten zu können. Inzwischen war es weit nach Mitternacht. Er würde also den einen oder anderen Nachbar aufwecken. Aber das interessierte Nicholas nicht weiter. Die Leute, die hier wohnten, waren nicht so spießig, dass sie gleich die Polizei riefen. Er legte seinen Arm um Lucas Schulter und geleitete ihn um Ausgang. Luca war so verschlafen, dass er sich widerstandslos von ihm fühlen ließ. Wahrscheinlich bekam er noch nicht einmal mit, wo sie hingingen. Vor der Tür angekommen, begann Florian putzmunter, sein Liedchen zu trällern, traf dabei aber keinen einzigen Ton. „Vielleicht solltest du ihn nächstes Mal ein Gedicht aufsagen lassen?“, riet Julian René aufgrund des wirklich grauenhaften Gesangs. „Ich glaube nicht, dass es das besser machen würde“, verteidigte Rebecka ihren Freund. Florian kam gerade von der dritten Runde zurück und drehte eine Ehrenrunde im Garten. Er lief über den Holzboden der Veranda, auf den Steg des Gartenteiches und mit einem lauten „Platsch!“ war er schultertief im Wasser versunken. „Ihh!“, rief er erschrocken, „Wer hat denn den Tümpel hier liegenlassen?“ Die Gruppe brach in lautes Gelächter aus. Zuerst lachten nur Julian und Benni, doch die anderen stimmten schnell mit ein. Auch Nicholas konnte nicht anders, als in lautes Gelächter auszubrechen. Kapitel 38: Schmetterlinge -------------------------- Verschlafen öffnete Luca seine Augen. Es dauerte, bis er wieder wusste, wo er war. Als er dann auch noch feststellte, dass sein Kopf auf Nicholas‘ Schoß lag, konnte er ein Erröten nicht mehr verhindern. Doch die Aufmerksamkeit galt nicht ihm. Die anderen schauten zu Florian, der über irgendwas sehr erschrocken schien. Verschlafen rieb er sich die Augen. Dann führte Nicholas ihn nach draußen, wo der Zwilling begann, laut Jingle Bells singend um das Haus zu rennen, nur in Unterhose. Luca lehnte sich gegen Nicholas und beobachtete das Geschehen. Florian beendete seine dritte Runde und rannte in den Garten, wo er noch eine Ehrenrunde auf der Veranda drehte. Dann lief er auf eine Art Steg, der aus dem gleichen Material gefertigt war, wie der Boden der Veranda. Plötzlich erklang ein lautes „Platsch!“ und der Zwilling war verschwunden. Als Luca genauer hinsah, konnte er erkennen, dass er am Ende des Steges, es war wohl wirklich einer, angekommen war. Dahinter schien sich ein Gartenteich oder so zu befinden, in dem Florian gelandet war. „Ihh!“, rief er erschrocken, „Wer hat denn den Tümpel hier liegenlassen?“ Die Gruppe brach in lautes Gelächter aus. Zuerst lachten nur Julian und Benni, doch die anderen stimmten schnell mit ein. Auch Nicholas begann zu lachen. Als der Blondhaarige ihn ansah, stockte er. Noch nie hatte er gesehen, wie der Schwarzhaarige lachte. Grinsen hatte er ihn schon sehen, auch lächeln, aber noch nie lachen. Luca lächelte. Er fand, so sah sein Klassenkamerad noch viel besser aus, als er es ohnehin schon tat. In seinem Bauch kribbelte es und der Blondhaarige senkte verlegen seinen Blick. Nicholas schaute ihn an. Das Kribbeln wurde stärker. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er hatte fast schon Angst, der Schwarzhaarige könnte es hören. Warum war er nur so ausgeregt? Nicholas hatte doch sonst auch keine so heftigen Reaktionen bei ihm hervorgerufen. Zwar hatte er sich immer gefreut, den Schwarzhaarigen zu sehen und verbrachte gern Zeit mit ihm, aber Herzklopfen hatte er in seiner Gegenwart noch nie bekommen. Er fühlte sich fast schon wie ein liebeskranker Teenager. Luca stockte. Sein Lächeln verblasste. Hatte er sich etwa in seinen Klassenkameraden verliebt? Bis jetzt war er noch nie verliebt gewesen. Deswegen wusste er auch nicht, wie es sich anfühlte. Er konnte nur hoffen, dass er die Anzeichen falsch deutete. Er konnte und wollte sich nicht in Nicholas verlieben. Das würde niemals gut gehen. Im Garten kletterte Florian aus dem Teich. „Scheiße, ist das kalt“, schimpfte er und schlang die Arme um den Oberkörper. René ging zurück ins Haus und kam wenig später mit einem großen, flauschig aussehenden Badetuch wieder, das er dem Zwilling reichte. Danach gingen sie wieder zurück ins Haus. „Du solltest besser duschen“, riet Nicholas ihm, „Damit du wieder warm wirst.“ Florian nickte geschlagen. Erstaunlicherweise nahm er die Aussage ruhig hin. Er gab nicht einmal einen dummen Kommentar von sich. „Die Treppe hoch die zweite Tür links“, sagte Nicholas noch. Florian lief in die gesagte Richtung und da er nicht wiederkam, ging Luca davon aus, dass er die Dusche gefunden hatte. Der Rest der Gruppe setzte sich zurück auf seine Plätze. Inzwischen hatte Luca sich auch wieder einigermaßen beruhigt. Er nahm sich eine Cola, auf alkoholhaltige Getränke verzichtete er lieber, und trank einen Schluck. Allerdings hielt die Ruhe nicht lange, denn Florian kam wenig später geduscht und in das Badetuch gewickelt zurück und drehte die Flasche, allerdings nicht besonders stark, so dass sie wenig später wieder zum Stehe kam. „Pflicht“, sagte Nicholas, auf den sie zeigte. Florian grinste. „Du musst strippen, richtig mit Tanz und so. Die Boxer kannst du anlassen, aber der Rest kommt weg.“ Er ließ sich zurück auf seinen Platz fallen. Beinahe hätte Luca sich verschluckt. Auch Nicholas schien erschrocken, jedenfalls schaute er den Zwilling so an. „Na los“, forderte jetzt auch Julian, „Mach schon.“ Nicholas seufzte, ehe er aufstand und sich in einer langsamen, fließenden Bewegung den Pullover über den Kopf zog. Als Luca den durchtrainierten Oberkörper sah, wurde ihm warm. Schon mit Klamotten fand er den Schwarzhaarigen sehr attraktiv, den Anblick ohne konnte er gar nicht beschreiben. Erneut fing sein Herz an zu rasen und sein Bauch schien Achterbahn zu fahren. Schnell wandte er seinen Blick ab und starrte auf den Boden. Er war sich sicher, dass seine Gesichtsfarbe einer reifen Tomate Konkurrenz machte. Er sah, wie Schuhe und Socken auf dem Boden landete, bemüht, Nicholas nicht anzuschauen. Als dann auch noch Nicholas‘ Jeans geflogen kam, schloss er seine Augen. Allerdings konnte er sie nicht lange geschlossen halten. Irgendwie war er auch neugierig, weswegen er kurz blinzelte. Nicholas tanzte, nur in Unterhose, durch den Raum. Schnell sah er wieder weg. „Nicholas hat es dir richtig angetan, was Luca?“, scherzte Benni, was seinen Zustand nicht gerade verbesserte. „‘tschuldigung“, nuschelte er und floh aus dem Raum. Seine Knie zitterten und er hatte Mühe, nicht auf halber Strecke zusammenzubrechen. Hinter ihm fiel die Tür laut ins Schloss, doch das interessierte ihn nicht. Zügig ging er zur Haustür, öffnete diese und trat hinaus an die frische Luft. Noch immer spielten seine ganzen Wahrnehmungen verrückt, weswegen er sich zwang, ruhig ein und wieder aus zu atmen. Doch das half nur bedingt. Nicholas wollte nicht aus seinen Gedanken verschwinden. Was war nur los mit ihm? Sonst stellte er sich doch auch nicht so an. Lag es am Alkohol? Luca seufzte und setzte sich vor der Tür auf den Boden. Der war zwar kalt, aber das war nebensächlich. Er hätte unmöglich noch länger stehen können. „Hier bist du“, erklang Nicholas‘ Stimme hinter ihm. Zum ersten Mal wollte Luca den Schwarzhaarigen nicht sehen. Aber er ließ es sich nicht anmerken. „Ich hab etwas frische Luft gebraucht“, entgegnete er. Das war nicht einmal gelogen, nur etwas gekürzt. Nicholas ließ sich neben ihm auf den Boden sinken. „Bist du in Ordnung? René meinte, du hättest seltsam dreingeschaut“, fragte er besorgt. „Mir geht es gut“, log Luca. Was hätte er auch anderes sagen können? „Warum bist du dann so überstürzt aus dem Raum geflohen?“, bohrte Nicholas weiter. Luca antwortete ihm nicht. Er wusste nicht, was er sagen sollte, das seine Lage nicht noch verschlimmerte. „Es ist wegen der Pflicht eben, nicht wahr?“ Nicholas ließ nicht locker. Der Blondhaarige nickte. Aus Erfahrung wusste er, dass es nichts brachte, jetzt noch abzustreiten. Sein Gegenüber wusste eh schon, was los war. „Liebst du mich?“ Der Schwarzhaarige blickte ihn ernst an. In einer anderen Situation hätte Luca die Frage vielleicht komisch gefunden, aber jetzt konnte er den Ernst, mit dem Nicholas sie ihm gestellt hatte, beinahe spüren. Er schüttelte den Kopf. „Nein!“ Das stimmte doch, oder? Er war nicht in Nicholas verliebt. Nur leider war er sich da nicht mehr ganz so sicher. Neben ihm atmete Nicholas erleichtert aus. „Zum Glück. Ich hatte schon befürchtet…“ Lucas Herz setzte einen Schlag aus und sein Bauch zog sich zusammen. Er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen, zwang sich aber, zu lächeln. Warum tat es so weh? Es war schließlich nicht so, als wäre er abgewiesen worden. Er hatte ja noch nicht einmal seine Gefühle gestanden, von denen er sich nicht sicher war, ob sie überhaupt existierten. Es deutete jedoch alles darauf hin. „Gehen wir wieder rein?“, fragte Nicholas. Der Blondhaarige schüttelte den Kopf. „Geh schon mal vor. Ich komm in ein paar Minuten nach.“ Er sah seinem Klassenkameraden hinterher, wie er durch die Tür verschwand und diese anlehnte, dann ließ er seinen Blick schweifen. Es hätte nie so weit kommen dürfen! Wie hatte das nur passieren können? Nicholas war sein Freund und in seine Freunde verliebte man sich nicht. Egal wie oft das in Filmen und Büchern gut gehen mochte, in der Realität sah das anders aus. Luca wollte Nicholas‘ Freundschaft nicht aufgeben, auch nicht für die Liebe, denn jetzt war er sicher. Wenn er nicht bereits in seinen schwarzhaarigen Klassenkameraden verliebt war, war er auf dem besten Weg, sich in ihm zu verlieben. Kapitel 39: Herbstferien ------------------------ Herbstferien. Jeder freute sich darüber, jeder außer Luca. Es war nicht so, dass er gern in die Schule ging, obwohl sich das in letzter Zeit auch geändert hatte. Inzwischen war er lieber in der Schule als zu Hause. Das lag aber daran, dass er dort seine Freunde sah und zu Hause Jochen auf ihn wartete. In wenigen Stunden würden Jochen und Sonja, er hatte vor einer Weile aufgehört, sie „Mutter“ zu nennen, wiederkommen. Luca war gerade damit beschäftigt, sein Zimmer mit Getränken nachzufüllen. Wenn diese Ferien ähnlich abliefen wie die letzten, würde er sein Zimmer nur selten verlassen können. Schließlich wollte er Jochen so wenig wie möglich begegnen. Beim Bäcker war er schon gewesen. Er hatte sich ein kleines Brot gekauft, was er vorhin an der Brotschneidemaschine in Scheiben geschnitten hatte. Gestern Abend hatte er noch ein paar Äpfel aus der Mülltonne des Supermarktes geklaut. Sie und das Brot würde er in der nächsten Zeit essen. Außerdem hatte er noch die Kekse der Nachbarin. Seine normale Trinkflasche hatte er bereits abgefüllt, aber nur mit ihr würde er nicht reichen. Er nahm sich einige Pfandflaschen aus dem Keller, ihr Fehlen würde schon keinen auffallen, wusch sie gründlich aus und füllte sie mit Leitungswasser. Aber selbst wenn er sparsam war, würde das wohl nicht reichen. Alle Pfandflaschen konnte er aber auch nicht nehmen, das würde auffallen. Er ging in die Abstellkammer. Vielleicht würde er dort etwas finden. Und tatsächlich. Auf dem Schrank stapelten sich einige Eimer. Er nahm zwei davon und füllte auch sie mit Wasser, ehe er sie in seinem Zimmer versteckte. Es war besser, wenn Jochen sie nicht fand. Da er nicht aus den Eimern trinken wollte, nahm er sich noch einen der Plastikbecher, die von Jochens letzter Grillparty im Sommer übrig geblieben waren. Dann ging er zurück in sein Zimmer. Das Armband, das er zu seinem Geburtstag vor wenigen Tagen geschenkt bekommen hatte, hatte er neben den anderen wichtigen Dingen in seiner Matratze versteckt. Dort würde es keiner finden. Wenig später hörte er, wie die Tür aufgeschlossen wurde. „Luca“, brüllte Jochen laut durch den Flur, „Beweg sofort deinen faulen Arsch hier runter und räum das Auto aus!“ Es wäre ja auch zu schön gewesen, wenn der Mann ihn einfach ignoriert hätte. Um die Situation nicht zu verschlimmern, verließ Luca sein Zimmer uns stapfte die Treppe hinunter. „Da bist du ja endlich“, bellte Jochen, als er ihn erblickte. Dann wurde sein Gesichtsausdruck wütend. Er schnellte auf den Siebzehnjährigen zu und packte dessen linkes Handgelenk, das um das sich der Gips befand. „Wo hast du das her?“ Scheiße, dachte Luca. Er hatte glatt vergessen, den Gips abzudecken. Jetzt hatte Jochen ihn natürlich gesehen. „Bin die Treppe runtergefallen“, antwortete er. Das war das Genauste, was er sagen konnte, ohne Jochen zu beschuldigen. „Und wo kommt der Gips her? Bist du beim Arzt gewesen? Du hast ja noch nicht einmal deine Karte!“, begann der Mann zu toben. „Sie lag neben dem Geld, das ihr mir dagelassen habt“, log Luca. Er wusste nicht, ob er damit durchkam, aber vielleicht hatte er Glück. Wenn Jochen ihm das abnahm und glaubte, ihm die Karte gegeben zu haben, beruhige er sich vielleicht wieder. Doch das Glück schien nicht auf seiner Seite zu stehen. „Du elender Lügner“, schrie der Mann und verpasste ihm eine Ohrfeige, „Ich weiß genau, dass die Karte nicht auf dem Tisch gelegen hat! Wo hast du sie her?“ Luca, der aufgrund des heftigen Schlages einige Schritte zurückstolperte, biss die Zähne zusammen. „Sie lag auf dem Tisch!“, behauptete er weiterhin. Er wusste, wenn er jetzt von seiner Lüge abwich, würde es nur noch schlimmer werden. Schlimmer, als es jetzt schon war. „Wo hast du die Karte her?“ Der Ohrfeige folgte ein weiterer Schlag. „Wage es nicht, zu lügen! Du warst an unseren Sachen, stimmt‘s?“ Der Siebzehnjährige schüttelte seinen Kopf, widersprach allerdings nicht mehr laut. Jochen packte ihn grob am Oberarm und zerrte ihn die Treppe hinauf in sein Zimmer. Dort angekommen, stieß er ihn grob gegen den Kleiderschrank. Luca stöhnte vor Schmerz auf, als sein Kopf gegen das harte Holz schlug, gab sonst aber keinen Laut von sich. „Na warte“, tobte Jochen, „Ich werde dir schon beibringen, was es heißt, mich anzulügen.“ Weitere Schläge folgten. Luca rollte sich auf dem Boden zusammen und verbarg das Gesicht hinter seinen Armen. „Du elender Schmarotzer, was bildest du dir eigentlich ein, wer du bist?“, schrie der Mann, rasend vor Wut, „Da fütter ich dich jahrelang durch, geb dir ein Dach über dem Kopf und Klamotten, und was bekomm ich als Dank?“ Inzwischen wusste Luca, dass diese Worte nicht der Wahrheit entsprachen. Das, was sein leiblicher Vater als Unterhalt zahlte, obwohl Sonja einen anderen geheiratet hatte, war fast doppelt so viel wie Jochens monatlicher Lohn. Aber er würde sich hüten, das zu sagen, er war schließlich nicht lebensmüde. Aus den Schlägen wurden Tritte, von denen jeder neue mehr schmerzte, als der vorhergehende. Verzweifelt presste er die Arme auf sein Gesicht, um wenigstens dort nichts abzubekommen. Dann traf Jochen seine Schläfe. Luca spürte, wie ein Schwindelbefühl sich in ihm ausbreitete. Er begann, die Orientierung zu verlieren und seine Wahrnehmung wurde ungenau. Jochens wütende Schreie klangen immer verzerrter. Es schien fast, als würden sie sich von ihm entfernen. Auch die Schmerzen schienen nachzulassen. Dann wurde alles schwarz. Als Luca wieder zu sich kam, fühlte er sich, als sei er von einem Auto überfahren wurden. Alles tat ihm weh. Aber er schien allein zu sein. Zumindest konnte er Jochen weder sehen noch hören. Unter Schmerzen kämpfte er sich zu seinem Bett. Dabei fiel sein Blick auf die am Boden herumliegenden Klamotten. Er wusste, er hatte sein Zimmer aufgeräumt. Jochen hatte seine Sachen durchwühlt, schlussfolgerte er. Ein ungutes Gefühl breitete sich in dem Blondhaarigen aus. Was genau hatte Jochen gesucht? Hatte er es gefunden? Was, wenn er seine Vorräte entdeckt hatte. Luca zwang sich aus dem Bett und begann, die Verstecke zu überprüfen. Die beiden Wassereimer waren noch da, der Plastikbecher auch. Er schaute unter sein Bett. Das Brot und die Äpfel waren verschwunden. Die dort versteckten Flaschen ebenfalls. Glücklicherweise war die Packung Kekse, die er unter dem Kleiderschrank versteckt hatte, noch da. Die Flaschen hinter dem Schreibtisch waren ebenfalls noch da. Als letztes überprüfte er das Geheimfach in seiner Matratze. Erleichtert stellte er fest, dass Jochen es wohl nicht gefunden hatte. Sowohl die Schlaftabletten als auch das Geld und das Armband waren noch da. Zum Glück, dachte er, als er den Schmuckgegenstand vorsichtig in die Hand nahm. Er wusste nicht, was er gemacht hätte, wen es verschwunden wäre. Das Armband war das erste echte Geburtstagsgeschenk, was er jemals erhalten hatte. Davor hatte er nur manchmal Süßigkeiten von der Nachbarin erhalten. Deshalb war es ihm auch so wichtig. Es zeigte ihm, dass es Menschen gab, denen er nicht gleichgültig war. Menschen, denen er etwas bedeutete. Sie mussten sich Gedanken gemacht haben, was ihm gefallen würde, denn das Armband war nichts, was man einfach so kaufen konnte. Gut, vielleicht das Kettchen. Aber die Plättchen waren Unikate, das wusste er. Es musste ein Vermögen gekostet haben, auch wenn sie alle zusammengelegt hatten. Trotzdem hatte er es nicht fertiggebracht, das Geschenk abzulehnen. Erstens wäre das unhöflich gewesen und zweitens war er zu gerührt gewesen, um überhaupt daran denken zu können. Er stopfte das Armband wieder in die Matratze und legte sie wieder in sein Bett, ehe er sich erschöpft in es fallen ließ. Das würden die längsten Herbstferien werden, die er jemals gehabt hatte. Natürlich wusste er, dass sie nur zwei Wochen lang waren. Aber gefühlt würden es bestimmt Monate sein. Er wünschte sich schon jetzt, wieder in die Schule gehen zu können. Dort hatte er Nicholas, der ihn beschützte und dessen Freund er war. Auch wenn er sich inzwischen ziemlich sicher war, dass er mehr als nur freundschaftliche Gefühle für den Schwarzhaarigen hatte. Mit dem Gedanken, wie gern er sich jetzt an Nicholas‘ Brust gekuschelt und von ihm umarmt werden würde, schlief der Siebzehnjährige an diesem Abend ein. Kapitel 40: Ohnmacht -------------------- Am nächsten Tag war Luca aufgefallen, dass Jochen ihn eingeschlossen hatte. Anfangs störte ihn das weniger. Er schaffte es eh nur unter Schmerzen, das Bett zu verlassen und solange er eingeschlossen war, ließ der Mann ihn gewöhnlich in Ruhe. Glücklicherweise hatte Jochen seine persönlichen Sachen nicht angefasst. Nur die Krankenversicherungskarte war wieder verschwunden gewesen. Jetzt, fast zwei Tage später, fand er es nicht mehr so toll. Die Kekse, die er von der netten Nachbarin bekommen hatte, waren bereits seit einer Woche aufgegessen und auch sein Wasservorrat neigte sich dem Ende. Irgendwann hatte das Hungergefühl nachgelassen und seitdem fühlte Luca sich eigentlich ganz gut, wenn man davon absah, dass man seine Rippen jetzt sehr deutlich sehen konnte. Er war schon immer sehr dünn gewesen, aber noch nie so dünn wie jetzt. Er musste dringend wieder etwas essen, am besten mit vielen Kalorien. Nur, wo sollte er das herbekommen. Sein Geld reichte nicht für mehr als ein Brötchen für die Schule. Danach aß er, was er aus der Küche mitgehen lassen konnte. Manchmal war seine Ausbeute üppig, dann gab es wieder Tage, an denen er fast nichts bekam. Morgen würde er endlich wieder in die Schule gehen können. Er freute sich schon darauf, seine Freund, besonders Nicholas, wiederzusehen. Inzwischen stritt er es auch nicht mehr ab, sich in den Schwarzhaarigen verliebt zu haben. Er hatte seit Beginn der Ferien viel Zeit gehabt, nachzudenken und war zu dem Schluss gekommen, dass er wenigstens zu sich selbst ehrlich sein sollte. Trotzdem würde er seine Gefühle für sich behalten. Es war besser, wenn Nicholas nichts davon wusste. Luca wollte ihn nichts als Freund verlieren und genau das würde er. Nicholas würde sich ihm gegenüber anders verhalten, wenn er von seinen Gefühlen wüsste. Und das wollte der Siebzehnjährige auf keinen Fall. Luca nahm den letzten Schluck aus seiner Wasserflasche. Dann legte er sich aufs Bett und wartete, bis Jochen und Sonja schlafen gingen. Erst als er sich völlig sicher war, dass die beiden schliefen, krabbelte er wieder aus dem Bett und öffnete das Fenster. Was er jetzt tat, war gefährlich. Wenn er dabei erwischt wurde, könnte er sich den Rest der Woche vor Schmerzen kaum rühren. deswegen tat er es nur selten, nur wenn es absolut notwendig war. Heute war es nötig. Wenn er morgen in die Schule gehen wollte, musste er sich duschen, irgendwie. Und da Jochen ihn nicht aus seinem Zimmer lassen würde, musste er sich anderweitig helfen. Er schnappte sich ein Badetuch und ein Stück Seife, dass er vor einer Weile aus dem Badezimmer mitgehen lassen hatte, etwas anderes hatte er nicht. Dann kletterte er aus dem Fenster, verschloss es wieder mit dem Stein, damit keiner sah, dass es geöffnet war. Dann lief er in den Garten, wo er durch ein Loch im Zaun auf das Grundstück seiner Nachbarin schlüpfte. Sie hatte in ihrer Grillecke hinter dem Haus einen Wasserhahn. Wohl, damit sich ihre Gäste nach dem Essen gleich draußen die Hände waschen konnten. Es floss auch nur kaltes Wasser. Doch das musste reichen. Hoffentlich hat sie ihn noch nicht abgestellt, dachte Luca, während er durch das Gebüsch schlich. Doch er hatte Glück. Die Nachbarin schien es noch nicht für nötig gehalten zu haben. Als er den Hahn aufdrehte, begann das Wasser zu fließen. Schnell schlüpfte er aus seinen Klamotten. Es war dunkel, also würde ihn keiner sehen können. Und für Schamgefühl hatte er außerdem keine Zeit. Es musste schnell gehen, bevor sie oder ein anderer der in der Nähe wohnenden Menschen aufwachte. Luca schrubbte sich mit der Seife gründlich ab. Schon nach wenigen Sekunden spürte er seine Finger nicht mehr, aber da musste er durch. Das Wasser würde nicht wärmer werden, wenn er trödelte. Als er mit seinem Körper fertig war, widmete er sich seinem Haaren. Er wusste, es war nicht gerade gut, sie mit Seife zu waschen, aber er hatte nichts anderes. Also seifte er sie großzügig ein. Dann schrubbte er etwas, ehe er seinen Kopf unter dem Wasserstrahl hielt und die Seife wieder ausspülte. Diesen Prozess wiederholte er, um sicher zu gehen, dass er keine Stelle übersehen hatte. Er drehte den Wasserhahn wieder zu und wickelte sich in sein Badetuch. Dann schnappte er sich seine Klamotten, schlüpfte in die Schuhe und beeilte sich, das Grundstück zu verlassen. Da seine Finger immer noch taub vom kalten Wasser waren, dauerte es, bis er es zurück in sein Zimmer geschafft hatte. Erschöpft und völlig aus der Puste, der Essensentzug machte sich bemerkbar, ließ er sich auf sein Bett fallen. Er wartete, bis er wieder halbwegs zu Atem gekommen war, dann schloss er das Fenster und rubbelte sich trocken. Danach bürstete er sein Haar. Es dauerte länger als sonst, da es sich einfach nicht bürsten lassen wollte. Deswegen bevorzugte er es, Shampoo zu benutzen. Vielleicht sollte er Sonja mal eine Flasche entwenden. Danach kuschelte er sich in seine Bettdecke und wartete darauf, dass sein Körper wieder warm wurde. Irgendwann schlief er darüber ein. Als er am nächsten Morgen aufwachte, war ihm immer noch etwas kalt, aber seine Haare waren inzwischen getrocknet. Er bürstete sie ein weiteres Mal, ehe er in seine Klamotten für die Schule schlüpfte und das Zimmer durch das Fenster verließ. Auch das Armband, welches er zum Geburtstag bekommen hatte, hatte er angelegt. Er wollte nicht, dass seine Freunde Fragen stellten und das würden sie, wenn er es nicht trug. Er musste nur dran denken, es nach der Schule gut zu verstecken, damit Jochen es nicht fand. Auf dem Weg zur Bushaltestelle kaufte er sich sein übliches Brötchen. Dann wartete er auf den Bus. Schon als er an der Haltestelle war, bemerkte er, dass ihm leicht schwindlig war. Außerdem begann er, zu frieren. Das mit dem Waschen war wohl doch keine so gute Idee gewesen. Anscheinend hatte er sich dabei eine Erkältung zugezogen. Doch das ließ sich jetzt nicht mehr ändern. In die Schule würde er trotzdem gehen. wo sollte er auch sonst hin? Im Bus merkte er, wie er seinen Kopf immer wieder gegen die kühle Scheibe lehnte. Außerdem schien seine Stirn zu glühen. Deswegen ging er nicht wie sonst immer gleich ins Klassenzimmer, sondern machte einen Umweg auf die Toiletten. Dort wusch er sich das Gesicht mit kaltem Wasser und füllte seine Flasche. Erst danach lief er zum Zimmer. Nicholas und René waren bereits da. René begrüßte ihn auch sogleich lautstart. „Morgen, Luca. Na, wie waren die Ferien?“ „Ganz okay“, log der Blondhaarige, ehe er sich auf seinen Platz fallen ließ. „Hast du noch schön mit seinen Eltern gefeiert, als sie wieder zu Hause waren?“, wollte René wissen. Luca nickte. Würde er etwas anderes behaupten, würden sie vielleicht Verdacht schöpfen und das wollte er um jeden Preis verhindern. Also blieb ihn nichts anderes übrig, als seine Freunde zu belügen. „Morgen“, grüßte ihn jetzt auch Nicholas. Als Luca in die leuchtend grünen Augen seines Banknachbars blickte, begann sein Herz, schneller zu schlagen. Sein Mund wurde trocken und das Schwindelgefühl verstärkte sich. „Morgen“, nuschelte er und wandte schnell seinen Blick ab. Um nicht unhöflich zu wirken begann er, seine Schulsachen auszupacken. Dann nahm er einen Schluck aus seiner Flasche. „Ist alles in Ordnung bei dir?“, fragte Nicholas besorgt. Ich schien aufgefallen zu sein, dass etwas nicht stimmte. „Alles in Ordnung“, log Luca und zwang sich zu einem Lächeln, „Ich war nur etwas in Gedanken.“ „Na dann.“ Nicholas sah nicht aus, als würde er ihm glauben. „Und, was hast du so in den Ferien gemacht?“, versuchte René ein Gespräch aufzubauen, „Ich bin für ein Wochenende mit Becky und ihren Eltern nach Berlin gefahren. Schön dort.“ „Eigentlich nichts weiter“, antwortete Luca. Sein Schwindelgefühl hatte sich verstärkt. Dazu kam, dass er jetzt ein gleichmäßiges Rauschen hörte, was es schwer machte, seine Freunde zu verstehen. Er musste sich am Tisch festhalten, um nicht vom Stuhl zu kippen. René sagte etwas, doch er konnte es nicht mehr verstehen. Seine Sicht schwand. Schwarze Ränder grenzten sie immer weiter ein, bis er nichts mehr sah. Er fühlte noch, wie er gegen irgendetwas fiel, danach nichts mehr.  Kapitel 41: Erschrocken * ------------------------- Schon als Luca das Zimmer betreten hatte, war Nicholas aufgefallen, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Er hielt es jedoch besser, vorerst zu schweigen. Wenn er den Blondhaarigen zu sehr bedrängte, würde er nur gar nichts sagen. René begrüßte Luca auch sogleich lautstart. „Morgen, Luca. Na, wie waren die Ferien?“ „Ganz okay“, antwortete der Blondhaarige, ehe er sich auf seinen Platz fallen ließ. Was verstand er unter ganz okay? War das gut oder schlecht? „Hast du noch schön mit seinen Eltern gefeiert, als sie wieder zu Hause waren?“, wollte René als nächstes wissen. Luca nickte, erzählte aber nichts, was Nicholas wunderte. Hatte es ihm nicht gefallen oder warum wollte er nicht darüber sprechen? Oder hatte es einen ganz anderen Grund. „Morgen“, grüßte ihn jetzt auch Nicholas, als ihm auffiel, dass er noch gar nichts gesagt hatte. „Morgen“, nuschelte der Blondhaarige und wandte schnell seinen Blick ab. Er begann, seine Schulsachen auszupacken. Dann nahm er einen Schluck aus seiner Flasche. „Ist alles in Ordnung bei dir?“, fragte Nicholas besorgt. Mit dem Blondhaarigen schien wirklich etwas nicht zu stimmen. „Alles in Ordnung“, erwiderte Luca mit einem Lächeln, „Ich war nur etwas in Gedanken.“ Das Lächeln war leer. Es erreichte seine Augen nicht. „Na dann.“ Nicholas glaubte ihm nicht, wusste aber auch nicht, was er sonst sagen sollte. „Und, was hast du so in den Ferien gemacht?“, versuchte René ein Gespräch aufzubauen, „Ich bin für ein Wochenende mit Becky und ihren Eltern nach Berlin gefahren. Schön dort.“ „Eigentlich nichts weiter“, antwortete Luca. Er begann, leicht zu schwanken. Mit einer Hand hielt er sich an der Tischkannte fest, doch das Schwanken wurde nicht weniger. „Bist du sicher, dass es dir gut geht“, fragte jetzt auch René besorgt. Das Schwanken wurde stärker, bis Luca schließlich zur Seite kippte. Hätte Nicholas nicht so schnell reagiert, wäre der Blondhaarige vom Stuhl gefallen, so landete er auf Nicholas‘ Oberkörper. „Luca!“, rief der Schwarzhaarige erschrocken. Der Angesprochene rührte sich nicht. Vorsichtig hob Nicholas ihn auf seine Arme. Erschrocken stellte er fest, dass es fast nichts wog. Luca war schon immer recht dünn gewesen, aber noch nie so dünn. Der Schwarzhaarige konnte seine Rippen durch den Pullover hindurch deutlich spüren, zu deutlich. Er legte den Bewusstlosen auf den Boden und kniete sich neben ihn. Als er seine Stirn fühlte, hätte er beinahe die Hand vor Schreck wieder zurückgezogen. Luca glühte. „Hol einen Lehrer!“, wies Nicholas seinen besten Freund an, der sogleich aus dem Zimmer sprintete. Nicholas begann in der Zwischenzeit, seinen Ranzen zu durchsuchen, bis er eine Packung Papiertaschentücher fand. Diese machte er unter dem Wasserhahn nass und legte sie Luca auf die Stirn, in der Hoffnung, seine Körpertemperatur so etwas zu senken. Inzwischen war auch René wieder zurück, gemeinsam mit Neumann und dem Direktor. „Was ist passiert?“, wollte der Direktor sogleich wissen. „Er ist einfach zusammengebrochen“, antwortete Nicholas, „Und er hat Fieber.“ Jetzt kniete sich auch Neumann zu Luca. „Besser, wir rufen einen Krankenwagen“, meinte er, nachdem er den Blondhaarigen kurz untersucht. Der Direktor holte sein Handy aus der Hosentasche und tippte darauf herum. Dann lief er an das andere Ende des Zimmers und hielt es sich ans Ohr. Was genau der Direktor sagte, bekam Nicholas nicht mit, dazu war er zu sehr auf Luca fixiert. Langsam schob er den Pullover seines Klassenkameraden nach oben. Zum Vorschein kamen die üblichen blauen Flecken, nur dass diesmal keine neuen dabei waren, und ein eingefallener Bauch. Auch die Rippen stachen deutlicher hervor, als gesund war. Neben ihm schnappte Neumann erschrocken nach Luft. Ernst sah er Nicholas an. „Was genau geht hier vor sich?“ Der Schwarzhaarige hob seine Schultern. „Luca weigert sich, darüber zu sprechen. Ich kann Ihnen nur sagen, was ich gesehen habe. Und das ist, dass er fast jeden Tag mit neuen blauen Flecken in die Schule kommt. Er ist extrem Schreckhaft, zuckt bei jeder unerwarteten Bewegung zusammen. Ein paar Mal sah es sogar so aus, als würde er gleich eine Panikattacke bekommen.“ Mehr konnte er nicht sagen, der Rest waren nur Vermutungen. Außerdem war er sich nicht mehr so sicher, ob er richtig lag. Anfangs hatte er geglaubt, Jochen, Lucas Stiefvater, sei für die blauen Flecken verantwortlich. Aber Luca war jetzt zwei Wochen zu Hause gewesen und es schien nicht, als seien neue dazugekommen. Es musste also jemand anderes sein, der ihn verprügelte. Aber wer? Und warum hatte Luca in den zwei Wochen Ferien nur so viel abgenommen. Es schien fast, als hätte er die ganze Zeit über nichts gegessen. Magersüchtig war er nicht, das wusste Nicholas. Dazu liebte Luca Süßes viel zu sehr. Trotzdem war dem Schwarzhaarigen aufgefallen, dass Luca nur sehr wenig aß. In der Schule hatte er immer ein Brötchen vom Bäcker, noch in der Bäckertüte verpackt und ohne Belag. Ganz selten hatte er ihn mal mit belegten Pausenbroten gesehen. Dazu kam, dass er immer Wasser trank, Leitungswasser. Noch nie hatte er gesehen, wie Luca etwas Süßes mit in die Schule gebracht hatte, obwohl er es doch so sehr zu lieben schien. Bekam er zu Hause nichts? Nicholas versuchte, sich zu erinnern, was er für einen Eindruck von Lucas Mutter hatte. Sie hatte gewirkt wie jede andere Frau, deren Mann gerade erschöpft von der Arbeit gekommen und sich erst mal schlafen gelegt hatte. Aber er hatte sie auch nicht besonders lange gesehen. Was ihn mehr wunderte, was, dass Luca seinen Stiefvater nicht „Vater“ nannte. Er war immerhin schon seit über zehn Jahren sein Vater. Hatte das etwas zu bedeuten oder nannte Luca ihn einfach nur nicht so, weil er wusste, dass ein anderer sein leiblicher Vater war und er keine anderen Männer so nennen wollte? Irgendwie kam es ihm vor, als würde er im Kreis rennen und dabei etwas Wichtiges übersehen. Doch, was war das? Der mit Blaulicht und Sirenen eintreffende Notarzt, in Begleitung eines Krankenwagens, riss ihn aus seinen Gedanken. Schnell ging er zur Seite, um den Mann an Luca heranzulassen. Der Notarzt untersuchte ihn kurz, ehe er den Blondhaarigen auf eine Trage lud und durch das Treppenhaus trug. Nicholas rannte ihm hinterher und informierte sich, in welches Krankenhaus er Luca brachte. Dann schaute er zu, wie der Krankenwagen vom Schulhof fuhr. Die neugierigen Blicke seiner Mitschüler ignorierte er. Momentan gab es wichtigeres. Die ganze Zeit während es Unterrichtes starrte Nicholas auf den leeren Platz neben sich. Wie es Luca wohl ging? Er machte sich ziemliche Sorgen um ihn. Deshalb sagte er Neumann, ihm sei ebenfalls schlecht. Der Mann schien die Lüge zwar zu durchschauen, rief aber trotzdem bei ihm zu Hause an. Wenig später kam Sheila ihn abholen. Doch anstatt mit ihr nach Hause zu fahren, ließ er sich zu Luca ins Krankenhaus fahren. Seine Schulsachen nahm er mit. Wenn er ihn schon besuchte, konnte er sie ihm auch gleich geben. Am Empfang bedurfte es einiges an Überredungskunst, aber als er erwähnte, wer sein Vater war, nannte ihm die junge Frau doch noch die Zimmernummer. Normalerweise tat Nicholas so etwas nicht, aber das hier war eine Ausnahme. Zügig ging er zu Lucas Zimmer, was er auch nach kurzem Suchen fast sofort fand. In der Tür stieß er beinahe mit einem Arzt zusammen, der gerade das Zimmer verließ. Der freundlich aussehende ältere Mann musterte ihn zuerst skeptisch, ließ ihn aber dann eintreten. Nicholas kannte den Mann, er hatte schon einmal die Dienste seines Vaters beansprucht. „Dein Freund?“, fragte der Mann. Nicholas nickte. „Wie geht es ihm?“ Der Mann seufzte. „Wir haben das Fieber wieder senken können. Mehr Sorgen macht mir seine Unterernährung. Weißt du, ob er irgendwelche Essstörungen hat?“ Der Siebzehnjährige schüttelte den Kopf. „Wenn Sie wissen wollen, ob er magersüchtig ist, die Frage kann ich mit „Nein“ beantworten. Luca liebt Süßes. Ich habe bis jetzt auch noch nicht gesehen, dass er etwas nicht gegessen hat. Er hat auch nie gesagt, dass er sich zu dick findet oder so. Vor den Ferien war er auch noch nicht so dünn.“ Der Arzt nickte. „Kannst du mir etwas zu den blauen Flecken sagen?“ Wieder schüttelte Nicholas den Kopf. „Luca will nicht darüber sprechen. Ich habe es schon mehrfach versucht, aber er blockt immer ab. Und wenn ich ihn zu sehr bedränge, sagt er gar nichts mehr…“ „Ich verstehe.“ Kapitel 42: Bestätigungen und Widersprüche * -------------------------------------------- Nachdem der Arzt wieder gegangen war, setzte Nicholas sich auf die Bettkante. Mit der weißen Decke, die Luca bis zum Kinn reichte, sah er beinahe aus wie ein Engel. Zumindest sie in Filmen und Bildern dargestellt wurden. Wie sie wirklich aussahen, wusste er nicht. An einen Tropf gehängt, wie es Luca war, waren sie aber wahrscheinlich nicht. Er strich Luca eine Strähne des blonden, gelockten Haares von der Stirn und stutzte. Als er das letzte Mal durch das Haar gefahren war, waren sie weicher gewesen. Jetzt fühlten sie sich irgendwie seltsam an. Oder täuschte er sich da? Außerdem machte ihm Lucas Gewicht sorgen. Wie hatte der Blondhaarige es geschafft, in so kurzer Zeit so abzumagern. Seinen Eltern hätte doch etwas auffallen müssen. Aber vielleicht hatte er es auch gut verborgen. Nicholas war ja auch nicht sofort aufgefallen, was mit Luca nicht stimmte. Die Klamotten hatten den Gewichtsverlust gut versteckt. Doch wie kam es dazu. Dass Luca eine Diät gemacht hatte, konnte er fast ausschließen. Doch die Alternativen waren noch schlimmer, denn wenn Luca nicht freiwillig abgenommen hatte, musste ihm das Essen entzogen worden sein. Aber wer machte so etwas? Welches Monster ließ ein Kind hungern? Hatte er vorhin doch falsch gelegen? War es doch dieser Jochen, der Luca misshandelte. Jemand anderes als die Eltern konnte ihm das Essen nicht entziehen. Aber warum waren dann die blauen Flecke zurückgegangen? Irgendetwas übersah er, das wusste Nicholas. Und solange er sich nicht absolut sicher war, konnte er Luca nicht darauf ansprechen. Vielleicht sollte er ihn mal besuchen, dann könnte er sich ein besseres Bild davon machen, am besten wohl unangekündigt. Doch wenn Jochen wirklich derjenige war, der Luca verprügelte, dann wäre ein unangekündigter Besuch so ziemlich das dümmste, was er tun konnte. Am Ende musste Luca noch darunter leiden. Da Nicholas nichts Besseres zu tun hatte, ließ er seinen Blick schweifen. Er sah aus dem Fenster, dann wieder zu Luca. Lange tat sich nichts. Erst Stunden später begannen die Augenlider des Blondhaarigen zu zucken. Ein paar Mal blinzelte der Blondhaarige, ehe er seine blauen Augen öffnete und sich verwirrt in dem sterilen Zimmer umsah. „Du bist im Krankenhaus“, erklärte Nicholas leise. Erst jetzt schien Luca ihn zu bemerken, denn er fixierte ihn plötzlich mit seinen Augen? „Was ist passiert?“, fragte er leise. „Du bist heute Morgen in der Schule zusammengebrochen. Der Direktor hat den Notarzt gerufen. Sie haben dich anschließend im Krankenwagen hier her gefahren“, antwortete der Schwarzhaarige. „Wie spät ist es?“, wollte Luca als nächstes wissen. Nicholas warf einen schnellen Blick auf seine Armbanduhr, ehe er antwortete: „Kurz nach Zwei.“ Lucas Blick fiel auf den Tropf. Nicholas konnte richtig sehen, wie seine Augen dem Schlauch folgten und schließlich an seinem Handgelenk ankamen. „Wann hast du das letzte Mal gegessen?“, begann jetzt Nicholas seine Fragen zu stellen. Besonders Hoffnung, eine Antwort zu bekommen, hatte er nicht. Und er sollte sich nicht täuschen. Luca schüttelte schwach den Kopf und wandte den Blick ab. Nicholas seufzte. „Ich will dir doch nur helfen. Aber das kann ich nicht, wenn du mir nicht sagst, was los ist. Und rede dich nicht heraus, ich weiß, dass es dir nicht gut geht.“ Auch hiermit hatte er keinen Erfolg. Luca blockte ab: „Ich will nicht darüber reden.“ Dann eben so: „Warum stößt du mich weg? Ich dachte, du willst mein Freund sein. Du verhältst dich nicht wie ein Freund. Freunde vertrauen sich. Du vertraust mir nicht.“ Erschrocken blickte ihn Luca an. „Natürlich vertraue ich dir“, widersprach er. Seine Stimme bebte und in seinen Augen sammelten sich Tränen. „Ich vertraue dir mehr, als ich jemals einem anderen vertraut habe. Aber ich kann es dir nicht sagen, ich will dich da nicht mit hineinziehen!“ Jetzt tat es Nicholas fast schon wieder leid, was er gesagt hatte. Er zögerte einen Augenblick, dann legte er Luca die Hand auf die Schulter. „Hey, nicht weinen“, flüsterte er. Äußerlich gab er sich ruhig, doch innerlich war er verzweifelt. Luca vertraute ihm nicht, zumindest nicht genug. Das hatte er eben selbst verraten. Doch was konnte er tun, um das Vertrauen zu stärken? Wie konnte er Luca zeigen, dass er für ihn da war? „Was machst du eigentlich schon hier?“, wechselte der Blondhaarige das Thema. Nicholas ließ es zu. Heute würde er eh keine Antworten bekommen. „Ich hab mich nach der zweiten Stunde wegen Kopfschmerzen nach Hause schicken lassen. Sheila hat mich hergefahren.“ „Du hast geschwänzt“, brummte Luca. Dann zog er einen Schmollmund. Der Schwarzhaarige lächelte. Wenn sein Klassenkamerad ihn so ansah, sah er richtig süß aus. Luca versuchte, sich aufzusetzen. Da Nicholas keinen Grund sah warum er das nicht tun sollte, half er ihm dabei. Er platzierte sogar das Kissen hinter Lucas Rücken, damit der Blondhaarige bequem sitzen konnte. „Umarmst du mich?“, fragte Luca plötzlich. Zuerst glaubte Nicholas, sich verhört zu haben. Doch die Augen seines Klassenkameraden, die ihn beinahe schon flehend anblickten, deuteten darauf hin, dass er es nicht hatte. Innerlich seufzte er. Wenn Luca ihn so ansah, konnte er ihm nichts abschlagen. Also setzte der Schwarzhaarige sich zu ihm und zog ihn in seine Arme. Er spürte, wie Luca sich an ihn kuschelte. Daran könnte er sich gewöhnen. Normalerweise war er genervt, wenn andere Menschen seine Nähe suchten. Er empfand sie als aufdringlich. Doch aus irgendeinem Grund war das bei Luca anders. Er freute sich fast schon, wenn Luca seine Nähe suchte. Abwesend fuhr er mit der Hand über Lucas Rücken und schwieg. So fand sie auch die Krankenschwester vor, als sie später das Zimmer betrat. Zuerst schien sie überrascht, doch dann grinste sie nur wissend. Nicholas konnte sich denken, was sie jetzt von ihnen zu wissen glaubte. Trotzdem machte er sich nicht die Mühe, sie über ihren Fehler zu informieren. Wahrscheinlich hätte sie ihm nicht einmal geglaubt. Außerdem störte es ihn nicht, als Lucas Freund gesehen zu werden. Spätestens bei diesem Gedanken hätten sämtliche Warnsignale losgehen müssen. Doch sie taten es nicht und Nicholas nahm es ihnen auch nicht übel. „Einen Augenblick, ich hole den Arzt“, meinte die Krankenschwester und verließ das Zimmer wieder. Nicholas nutzte die Zeit, um sich von Luca zu lösen und sich auf den Stuhl neben dem Bett zu setzen. Es dauerte nicht lange, da kam die Krankenschwester zurück, in der Begleitung des Arztes, mit dem der Schwarzhaarige sich vorhin schon kurz unterhalten hatte. „Oh, du bist aufgewacht“, meinte er erfreut. Nicholas vermutete aber, dass das gespielt war. Die Schwester hatte ihn sicher bereits informiert. „Wie geht es dir?“ „Ganz gut“, antwortete Luca. Nicholas seufzte. „Die Wahrheit bitte.“ Der Arzt lachte leise, während Luca rot anlief und Nicholas beleidigt anschaute. Doch er antwortete: „Ich habe noch Kopfschmerzen und fühle mich ziemlich schwach, aber sonst geht es wieder. Und ich habe Hunger.“ „Das klingt doch schon mal gut.“ Das Lachen des Arztes wurde lauter. „Die Cafeteria hat noch geöffnet. Vielleicht ist dein Freund so nett und holt dir etwas leicht Verdauliches? Ich habe gehört heute gibt es eine leckere Hühnerkraftbrühe.“ Nicholas verstand den indirekten Rauswurf. Der Arzt wollte sich wohl allein mit Luca unterhalten. Da er nicht weiter stören wollte und sein Magen such langsam nach Nahrung verlangte, verließ er das Zimmer und lief den Gang zurück. Er hatte seit heute früh nichts mehr gegessen, da er vor lauter Sorge um Luca keinen Bissen heruntergebracht hatte. Dort musste er erst mal kurz auf die Schilder sehen, dann setzte er den Weg fort. Kapitel 43: Eine kurze Ruhe --------------------------- Es war Freitag Nachmittag. Luca schaute aus seinem Zimmerfenster und beobachtete, wie Jochens Auto vom Grundstück fuhr. Aus den Unterhaltungen zwischen Sonja und Jochen wusste er, dass der Mann für zwei Wochen weg sein würde. Auf Weiterbildung oder etwas in der Art, das hatte er nicht so genau verstanden. Doch das war Luca auch egal, Hauptsache Jochen war weg. Wohin, war zweitrangig. Leider war er der Meinung gewesen, ein kleines Abschiedsgeschenk dalassen zu müssen. Lucas ganzer Körper schmerzte. Er konnte sich kaum noch bewegen. Doch im Bett liegen bleiben konnte er heute nicht. Die Zwillinge hatten ihn auf eine Party eingeladen und gedroht, ihn abzuholen, erschien er nicht von allein. Das wollte Luca auf jeden Fall vermeiden. Er wartete noch zwei Stunden, um sicher zu gehen, dass alle Blutungen gestoppt hatten, dann schlich er sich in die Küche. Im Flur hörte er den Fernseher laufen. Sonja saß wahrscheinlich davor und schaute irgendeine ihrer dummen Seifenopern an. Wenigstens würde sie ihn jetzt nicht stören. Luca nahm sich zwei Aspirin aus dem Medizinschrank. Eine schluckte er sofort, die andere hob er auf, falls die erste nicht ausreichte. Dann begann er, sich fertig zu machen. Er zog seine übliche Jeans an, etwas anderes hatte er nicht, ein weites T-Shirt, dass am Hals eng anlag, so konnte er seine neuen bauen Flecken gut verstecken, und eine weiten Pullover. Zwar hatte er sein seinem Aufenthalt im Krankenhaus wieder etwas zugenommen, aber er war immer noch sehr dünn. Als Jochen erfahren hatte, dass man ihn ins Krankenhaus gebracht hatte, war zu Hause die Hölle los gewesen. Luca hatte sich für den Rest der Woche nicht mehr bewegen können. Aber wenigstens brachte Sonja ihm Essen, auch wenn es nur die Reste von dem waren, was sie und Jochen aßen. Am nächsten Montag war er dann wieder in die Schule gegangen. Der Blondhaarige wusste bis heute nicht, wieso der Arzt so schnell locker gelassen hatte. Er wusste, er hatte ihm seine Lüge nicht abgekauft, doch er hatte nicht weiter nachgefragt. Aber das war Luca nur recht, so muste er sich nicht noch unnötige Ausreden einfallen lassen. Es klingelte. Er hörte, wie Sonja aufstand und die Tür öffnete. Neugierig, wer es war, verließ Luca sein Zimmer, schlich durch den Flur und lunzte zur Tür. Dort stand kein anderer als Nicholas. „Kann ich Luca für heute Abend entführen?“, fragte der Schwarzhaarige höflich. Als Sonja nicht sofort antwortete, fügte er hinzu: „Ich bring ihn auch morgen Vormittag wieder zurück.“ Luca sah, wie Sonja nickte. Dann wandte sie sich um und lief in Richtung seines Zimmers, wohl um ihn zu hören. „Ich bin gleich unten“, rief Luca, um ihr die Mühe zu ersparen, „Ich hol nur noch meinen Rucksack!“ Er rannte zurück in sein Zimmer, schlüpfte in Jacke und Schuhe und warf sich seinen Rucksack über die Schulter. Dann stürmte er, mit noch offener Jacke zurück zur Haustür. „Hallo“, grüßte er seinen Klassenkameraden, erleichtert, dass dieser vor der Tür gewartete hatte. Es war ihm lieber, wenn Nicholas sein Zimmer nicht sah, er stellte schon so zu viele Fragen. Fragen, die Luca nicht beantworten konnte. „Können wir los?“, wollte der Schwarzhaarige wissen. Der Blondhaarige nickte. „Tschüss, Mum!“, rief er laut, dann ließ er die Tür zufallen. Wäre Jochen da gewesen, hätte er sich das nicht getraut, aber Sonja würde nichts tun. Bis ihr Mann wieder da war, hatte sie es längst vergessen. Außerdem musste er das Bild bewahren, dass bei ihm zu Hause alles in Ordnung war und das war eine gute Möglichkeit, genau das zu tun. Gemeinsam liefen die beiden zur Einfahrt, wo Luca Bennis Auto erblickte. Da wollte Benni wohl sicher gehen, dass jemand nicht ausbüchste. Fragte sich nur, ob es ihn oder Nicholas betraf. „Rein mit euch“, rief Benni. Diesmal setzte Luca sich ohne zu zögern in den roten Passat. Benni fuhr sie zum Haus der Zwillinge, wo er parkte. Zu dritt liefen sie zur Tür. Nicholas hob die Hand, um zu klingeln. Da wurde die Tür aufgerissen, Florian, der die Klamotten seines Bruders trug, begrüßte sie stürmisch: „Na endlich. Ich dachte schon, ihr kommt gar nicht mehr.“ „Jetzt mach mal keinen solchen Stress, Fabian“, seufzte Nicholas, der die zwei immer noch nicht auseinanderhalten konnte. „Falscher Zwilling“, murmelte Luca, an seinen Klassenkameraden gewandt. Florian schien es gehört zu haben, denn er warf ihm einen gespielt wütenden Blick zu. „Verrat doch nicht immer alles!“ Dann zog er ihn ins Haus. Nicholas und Benni folgten ihm. „Geht schon mal rauf. Die Tür ist offen“, meinte der Zwilling an die beiden gewande, ehe er Luca in die Küche zog. Drei Köpfe blickten überrascht in ihre Richtung. Einen erkannte er als die jüngere Schwester der Zwillinge. Das andere schienen die Eltern zu sein. „Als ich ihnen gesagt hab, dass ein Fremder uns auseinanderhalten konnte, haben sie mir nicht geglaubt, also dachte ich, ich stell dich ihnen mal schnell vor“, grinste Florian. Dann wandte er sich an seine Familie. „Darf ich vorstellen, das ist Luca. Er geht in meine und Fabis Klasse und hat eine gruselige Beobachtungsgabe.“ Dann verschwand er mit einem „Bin gleich wieder da“ und ließ Luca einfach stehen. „Soso, du kannst die zwei Idioten also auseinander halten?“, fragte Chrissie. Der Blondhaarige nickte, nicht wissend, was er sonst tun sollte. In diesem Augenblick betrat Fabian die Küche. Er trug die Klamotten, die bis eben sein Bruder getragen hatte. „So, da bin ich wieder.“ Luca zog die Augenbraue nach oben, ehe er den Kopf schüttelte. „Du hast den Pullover falsch herum an, Fabian. So merkt das wirklich jeder.“ Der Zwilling schaute an sich herunter. „Tatsächlich.“ Dann grinste er. „Trotzdem bis du der einzige, der sofort bemerkt, wenn wir unsere Rollen tauschen. Selbst Dad kann uns nicht auseinander halten, wenn wir nicht beide vor ihm stehen.“ Jetzt war der Blondhaarige verwirrt. „Aber ihr seid doch grundverschieden.“ Chrissie lachte. „Kein Wunder, dass die beiden so begeistert von dir sind.“ Fabian lachte. „Und worin unterscheiden wir uns?“, wollte er wissen. „Du bist ruhiger. Es ist immer Florian, der mit dem Unsinn anfängt. du machst nur mit. Außerdem bist du besser in der Schule“, antwortete Luca sofort. Fabians Lachen wurde lauter. „Wie gesagt: gruselige Beobachtungsgabe!“ Dann zerrte er den Blondhaarigen in sein Zimmer, wo die anderen schon erwartet wurden. Im Fernseher lief der Vorspann eines Filmes und die anderen saßen auf dem Bett oder dem Boden davor und schauten zu. Schnell suchten Luca und Fabian sich noch einen freien Platz, wobei Luca neben Nicholas landete. Doch Julians und Bennis Grinsen konnte er entnehmen, dass das geplant gewesen war. Genauso geplant, wie der Horrorfilm, den sie eingelegt hatten, während dem Luca mehrfach zusammenzuckte und sich am Ende an seinem schwarzhaarigen Klassenkameraden festklammerte. Er sah, wie Nicholas den beiden einen wütenden Blick zuwarf, dann zog er Luca an sich heran. So blieben sie für den Rest des Filmes. Auch als der Abspann lief, rührten sie sich nicht, „Was meint ihr?“, fragte Julian, während Florian die DVD wieder aus dem DVD-Player nahm, „Die zwei sehen doch richtig süß zusammen aus.“ Er deutete auf Luca und Nicholas, die immer noch in der Position dasaßen, in der sie den Film geschaut hatten. „Lasst endlich den Mist“, schimpfte Nicholas, löste sich aber nicht von Luca. „Früher oder später kommt ihr schon noch zusammen“, unterstützte Benni seinen Kumpel und grinste siegessicher. „Wenn da keine Gefühle sind, könnt ihr kuppeln, so viel kuppeln, wie ihr wollt, es wird nichts passieren“, versuchte Luca an die Vernunft der beiden zu appellieren. Auch wenn das gelogen war, denn inzwischen hatte er sich in den Schwarzhaarigen verliebt. Doch das brauchte keiner zu wissen. „Aber da sind Gefühle“, meinte Benni. Nicholas wollte etwas erwidern, wurde aber von Julian daran gehindert. „Nicky, Nicky, Nichy… Wie oft muss ich es dir noch sagen? Du sollst deine Gefühle nicht unterdrücken.“ Hätte er nicht Luca in seinen Armen gehabt, wäre der Schwarzhaarige sicher auf seinen Freund losgegangen. Kapitel 44: Warum man sich vor Zwillingen in Acht nehmen sollte --------------------------------------------------------------- Die Zwillinge lachten, ehe sie sich angrinsten. Luca wusste sofort, dass sie wieder etwas ausheckten, fragte sich nur, was. „Jetzt spielen wir Flaschendrehen!“, verkündete Florian. „Schon wieder?“, stöhnte Rebecka. Auch Nicholas schien genervt von dem Vorschlag, sagte aber nichts. „Wir sind die Gastgeber“, verkündete Fabian, „Also bestimmen wir auch, was gespielt wird.“ „Ihr scheint euch wirklich einen Narren an dem Speil gefressen zu haben“, meinte René. Seine Freundin nickte zustimmend. „Die Regeln sind die gleichen wie das letzte Mal“, fuhr Florian fort. Die Gruppe seufzte, positionierte sich aber in Kreisform auf dem Boden, während Fabian eine leere Flache besorgte. Diese legte er in die Mitte und drehte sie kräftig. Vor seinem Bruder stoppte sie. „Pflicht“, sagte Florian. Fabian grinste. „Du gestehst einem der anwesenden deine Liebe. Richtig schnulzig.“ Florian warf seinem Bruder einen wütenden Blick zu, ehe er die Flasche in die Hand nahm und sich vor Rebecka auf den Boden kniete. „Oh du Grund meiner traumlosen Nächte, du Stern, der den Nachthimmel für mich erhellt. Wenn ich dich nur sehe, fängt mein Herz feuer und mein Bauch fährt Achterbahn. Nimm diese Rose als beweis meiner Gefühle.“ Er reichte ihr die Flasche. Rebecka lachte, nahm sie aber entgehen. René schien das Ganze nicht so lustig zu finden, oder vielleicht doch, denn auch er musste grinsen. „Du hast ja vielleicht Nerven, einfach die Freundin eines anderen anzubaggern. Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?“ Florian stemmte wütend die Hände in die Hüften. „Ob es dir passt oder nicht, Becky ist das einzige Mädchen und mit einem Kerl mache ich so etwas bestimmt nicht. Nichts gegen Schwule, aber ich kann mit Kerlen nichts anfangen.“ Rebecka gab ihm die Flasche zurück und er drehte sie. Diesmal hielt sie vor René. „Wahrheit“, verkündete dieser sofort. Florian rieb sich vor Vorfreude die Hände. „Erzähl von deinem peinlichsten Date.“ René schnitt eine Grimasse, kam der Aufforderung aber nach. „Das war letzes Jahr, ich war noch nicht lange mit Becky zusammen und hatte sie zu Candle-Light-Dinner eingeladen. Meine Mutter war mit einer Freundin im Wellnessurlaub und mein Vater mit seinen Kumpels Fußball schauen. Ich wollte, dass der Abend perfekt wird, also habe ich versucht, sehr aufwendige Gerichte zu kochen und eine Flasche Wein aus dem Keller geholt. Nur leider hat das mit dem Kochen nicht so geklappt, wie es sollte. Das Essen schmeckte scheußlich. Ich hab dann aus lauter Verzweiflung eine Fertigpizza in den Ofen geschoben, die mir auch noch verbrannt ist. Jedenfalls hab ich Becky dann diese verkohlte, staubtrockene Pizza vorgesetzt und weil es mir so peinlich war, hab ich fast die gesamte Flasche Wein getrunken. Jedenfalls hing ich den Rest des Abends über der Kloschüssel und meine Mutter fand es gar nicht toll, dass ich ihren teuersten Wein so verschwendet hatte.“ Die Gruppe lachte. „Du bist echt genial“, rief Julian, der sich vor Lachen schon auf dem Boden rollte und den Bauch hielt. Den anderen ging es nicht viel besser. Es dauerte nicht lange, da gesellten sich Benni und die Zwillinge zu ihm. Auch Luca lächelte. Je mehr Zeit er mit den anderen verbrachte, desto wohler fühlte er sich in ihrer Gegenwart. Nachdem sie sich alle wieder erholt hatten, drehte René die Flasche. Jetzt war Nicholas an der Reihe. „Wahrheit.“ „Hast du deine Eltern schon mal beim Sex erwischt? Oder ein anderes Familienmitglied? Wo hast du sie erwischt?“ Man sah René an, wie sehr er sich zusammenreißen musste, nicht während der Frage loszulachen. „Nein“, erwiderte der Schwarzhaarige ruhig, „Nur Samu und Sheila. Sie haben es im Wohnzimmer auf der Couch getrieben.“ Erneut lachte die Gruppe. „Und, was hast du getan?“, wollte jetzt Rebecka wissen. Obwohl es nichts mehr mit der Frage zu tun hatte, antwortete Nicholas. „Das Sofa abgezogen und den Bezug in die Waschmaschine geworfen.“ „Echt jetzt?“, feierte Benni, „Während sie dabei waren?“ Nicholas schnaubte. „Nein, danach, du Trottel!“ Er drehte die Flasche, die diesmal vor Rebecka stoppte. „Pflicht“, sagte das Mädchen. „Zähle alle Personen auf, mit denen du schon etwas hattest und erläutere, wie weit du mit der jeweiligen Person gegangen bist“, forderte Nicholas. Rebecka schien kurz zu überlegen, meinte dann aber relativ schnell: „Timo, er war vor zwei Jahren in meiner Parallelklasse. Wir haben uns ein paar Mal getroffen, aber mehr ist da nicht gelaufen. Die Chemie hat irgendwie nicht gestimmt. Und René. Wir sind jetzt schon sehr lange zusammen und ja, wir hatten Sex.“ Als nächstes war Fabian dran. Er durfte zur Nachbarin gehen und ihr erklären, dass sie die Wäsche raushängen sollte, es regnete schließlich gleich saure Gurken. Der Zwilling lief zum Haus der Nachbarin und klingelte. Wenig später wurde die Tür geöffnet. Die Gruppe beobachtete aus sicherer Entfernung, wie er sich total zum Affen machte. Zuerst verstand ihn die ältere Frau mit weißen Haaren, die sie zu einem Haarknoten gebunden hatte, nicht und er musste es lauter wiederholen. „Sie sollen die Wäsche raushängen!“, rief Fabian fast schon. „Aber es ist doch viel zu spät dazu“, antwortete die alte Frau verwirrt, „Die Wäsche wird nie und nimmer bis heute Abend trocken.“ „Sie sollen ja auch keine Nasse Wäsche raushängen!“ Man hörte dem Zwilling seine Verzweiflung fast schon an. „Aber was soll ich dann raushängen?“ Langsam zweifelte Luca an der Zurechnungsfähigkeit der Frau. „Die Wäsche.“ Fabian fuhr sich genervt durchs Haar. „Aber die wird doch nicht mehr trocken.“ „Sie sollen damit ja auch nur die sauren Gurken auffangen!“, schrie Fabian. „Und warum sollte ich saure Gurken in meine Wäsche tun, dann muss ich sie doch noch mal waschen“, die Frau schien ihn echt nicht zu verstehen. „Weil es die gurken gleich regnet!“, erklärte Fabian laut. „Junger Mann, Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen.“ Endlich schien die Frau zu verstehen, dass sie das Ziel eines Scherzes geworden war. „Nein, wirklich“, behauptete der Zwilling. Doch da hatte sie ihm die Tür schon vor der Nase zugeschlagen. Genervt brummte Fabian etwas, was Luca nicht verstehen konnte, dann kam er zurück zur Gruppe. „Na, wie war ich?“ „Hätte besser sein können“, neckte sein Bruder ihn, woraufhin Fabian ihm gegen die Schulter boxte. Wieder im Zimmer angekommen, drehte der Zwilling die Flasche, die vor Julian anhielt. „Pflicht“, sagte der junge Mann selbstbewusst. „Wir haben von gestern Abend noch etwas Rosenkohl übrig“, erklärte Fabian, „von dem du jetzt eine Untertasse voll essen wirst.“ Julian stöhnte. „Alles, nur kein Rosenkohl.“ Doch der Zwilling war bereits aus dem Zimmer verschwunden. Es dauerte nicht lange, da kam er mit besagter Untertasse voll Rosenkohl wieder. „Guten Appetit!“ „Gib es zu, du willst mich vergiften“, schimpfte Julian als er sie entgegen nahm. Er schnitt eine Grimasse und schob sich den ersten Kohl in den Mund. Dann begann er, zu kauen. Man konnte förmlich sehen, wie er sich anschließend zum Schlucken zwingen musste. „Widerlich, das Zeug!“, schimpfte er, aß es aber tapfer auf. Er spülte sich den Mund großzügig mit Cola., was nicht viel gegen den Geschmack zu bringen schien, denn er schnitt auch danach noch lustige Grimassen. Erst als Rebecka ihm einen ihrer superscharfen Kaugummis reichte, wurde es wieder besser. Er drehte die Flasche, aber mit so viel kraft, dass sie zur Seite, genau an Nicholas‘ Bein rollte und, mit dem Flaschenhals auf ihn zeigend, anhielt. „Pflicht“, sagte der Schwarzhaarige sofort. „Volltreffer“, freute sich Julian und Luca hatte das Gefühl, dass er das geplant hatte. Dann wurden seine Gesichtszüge ernst. „Du küsst Luca. Auf den Mund, mit Zunge und mindestens eine halbe Minute lang.“ Kapitel 45: Der Kuss -------------------- Luca erstarrte. Sein Herz setzte einen Schlag aus und sein Mund wurde trocken. Meinte Julian das ernst. Auch Nicholas schien geschockt zu sein, jedenfalls weiteten seine Augen sich für einen Augenblick. Danach hatte er sich wieder gefangen, im Gegenteil zu Luca, dessen Herz inzwischen bis zum Hals schlug. Er fürchtete schon, die anderen würden es hören. Doch keiner sagte etwas. Es war nicht so, als wollte Luca nicht, dass Nicholas ihn küsste. Es war die Situation, die ihm nicht gefiel. Er wollte seinen ersten Kuss nicht in einem dummen Spiel haben! „Hey“, rief Rebecka, „Das ist unfair. du kannst Luca doch da nicht einfach mit reinziehen!“ Der Blondhaarige lächelte sie dankbar an. Allerdings bekam ihr Einwurf wenig Zustimmung. „Küssen! Küssen!“, riefen die Zwillinge und klatschten in die Hände, „Küssen! Küssen! Küssen!“ Luca spürte, wie er errötete. Nervös verknotete er seine Hände ineinander. „Jetzt küsst euch endlich!“, steuerte Benni zu den Rufen der Zwillinge bei. Nicholas seufzte. Er beugte sich zum Blondhaarigen und sah ihm in die Augen. Erschrocken über die plötzliche Nähe wich Luca zurück. Doch Nicholas packte ihn an den Schultern und zerrte ihn zurück in seine Ursprüngliche Position. Grob, aber nicht schmerzhaft, packte er Lucas Kinn und zwang den Blondhaarigen somit, ihn anzusehen. Dann beugte er sich nach von und legte seine Lippen auf die seines Klassenkameraden. Lucas Herz zog sich unangenehm zusammen. Der Kuss fühlte sich falsch an, gefühlslos und kalt. Nicht ein Funken Romantik war zu spüren. Fast schon schmerzhaft presste Nicholas ihre Lippen aufeinander. Luca wollte sich losreißen, doch Nicholas‘ Griff ließ das nicht zu. Er schob ihm die Zunge in den Mund, ohne darauf zu achten, ob Luca das überhaupt wollte. Emotionslos blickten Nicholas‘ grüne Augen ihn an. Schloss man die nicht, wenn man jemanden küsste? Das war wohl nur bei Personen so, die man auch mochte. Luca schloss die Augen, um zu verhindern, dass die anderen die Tränen sahen, die kurz davor waren, ihm über das Gesicht zu rollen. Als sie sich wieder voneinander lösten, fasste Luca sich mit der Hand an die Lippen. Er konnte nicht fassen, was gerade passiert war. Warum hatte Nicholas das getan? Sie waren Freunde. So etwas tat man einem Freund nicht an! Nicholas wischte sich über den Mund und zog eine Grimasse, als hätte er eben etwas wirklich ekelerregendes getan. Wenn es ihn so sehr ekelte, den Blondhaarigen zu küssen, warum hatte er es dann getan? Luca ballte seine Hände zu Fäusten, bemüht, seine Tränen zurückzuhalten. Er wollte nicht, dass die anderen sahen, wie sehr dieser Kuss ihn verletzt hatte. Nicholas schnaubte hörbar genervt und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Jetzt stell dich nicht so an. Es ist schließlich nur ein Spiel. Außerdem ist es ja nicht so, als ob das dein erster Kuss gewesen wäre.“ Das war zu viel für Luca. So kräftig er konnte, holte er aus und schlug dem Schwarzhaarigen mit der Flachen Hand gegen die Wage. Ein lautes Klatschen ertönte. Mit einem Mal war es still in dem Raum. Alle sahen erschrocken zu Luca und Nicholas. Auch Nicholas war erschrocken. Seine grünen Augen waren geweitet und er fasste sich ungläubig an die Wange. Er schien nicht glauben zu können, dass Luca ihn gerade geohrfeigt hatte. „Was sollte das?“, wollte er erbost wissen. „Du bist so ein taktloses Rindvieh!“, schrie Luca. Die Tränen liefen ihm ungehemmt übers Gesicht. Er hielt es nicht länger in dem Zimmer aus, zu sehr schmerzte es. Seine Sicht war verschwommen, als er die Treppe hinunter rannte. Froh, niemandem begegnet zu sein, schnappte er sich seine Jacke und zog sich seine Schuhe an. Sein Rucksack mit seinen Schlafsachen, immerhin wollte er bei den Zwillingen übernachten, war noch oben bei den anderen im Zimmer, aber er konnte unmöglich zurückgehen. Lieber lief er nach Hause. Immer noch wütend auf Nicholas, aber vor allem verletzt, zog er die Haustür hinter sich ins schloss und rannte vom Grundstück. Er wollte nur noch weg hier, weg von Nicholas und allem, was ihn verletzte. Ungehalten schluchzte er auf. Die Leute auf der Straße warfen ihm neugierige Blicke zu, einige machten sogar einen Bogen um ihn, doch das bekam er nur hintergründig mit. Auch für ihr Gemurmel interessierte er sich nicht. Durch die Tränenflut, die ihm über das Gesicht floss, konnte er nichts mehr erkennen. Ziellos rannte er durch die Straßen, bis er in einem kleinen Park endete, den er noch nie gesehen hatte. Luca wusste weder, wie lange er durch die Stadt gerannt war, noch, welchen Weg er genommen hatte. Er brauchte nicht drum herum zu reden, er hatte sich verlaufen. Erschöpft ließ er sich auf eine der Parkbänke fallen. Inzwischen hatte es begonnen, zu dämmern. Außerdem fielen dicke, große Tropfen vom Himmel. Hatte sich denn wirklich alles gegen ihn verschworen? Dabei hatte der Tag doch so gut angefangen. Der Regen wurde stärker. Es dauerte nicht lange, dann war Luca bis auf die Haut durchnässt. Er zog die Beine an den Oberkörper und umschlang seine Knie mit den Händen. Eine gute Sache hatte der Regen, er war allein. Und er verdeckte seine Tränen. „Wenn du hier sitzen bleibst, wirst du dich erkälten.“ Ein Junge, etwas jünger als Luca, stand neben ihm. In der Hand hielt er einen roten Regenschirm. Doch Luca schüttelte nur seinen Kopf. Sonja erwartete ihn vor morgen nicht zurück. Außerdem hatte er keine Ahnung, wo er war und wie er wieder nach hause kam. Leise schluchzte er auf. „Kim!“, rief eine Stimme. Der Junge drehte sich um, ehe er laut antwortete: „Hier bin ich.“ Ein weiterer Junge, der wohl etwas älter war als Luca, kam auf sie zugerannt. Vor dem Blondhaarigen blieb er stehen. Die beiden Jungen ähnelten sich, woraus Luca schloss, dass sie wohl Brüder waren. Er sprach sie aber nicht darauf an. „Und wer bist du?“, fragte der ältere der beiden Luca höflich, fasste sich aber sogleich an die Stirn. „Wie unhöflich von mir. Ich bin Mirac. Das ist mein Kleiner Bruder-“ „Kim“, unterbrach der jüngere ihn, „und ja, ich bin ein Kerl.“ Der Blondhaarige musste schmunzeln. Der Kleine hatte seine Laune wieder etwas aufgeheitert. Die Aussage war einfach nur putzig. „Ich bin Luca“, sagte er. „Und warum sitzt du hier im Regen, Luca?“, wollte Mirac wissen, „Solltest du nicht besser nach Hause gehen?“ Luca schnitt eine Grimasse. „Ich würde ja gern, aber…“ Mirac schien das Problem zu verstehen. „Du hast dich verlaufen.“ Etwas peinlich war es ihm schon, trotzdem nickte er. „Wo wohnst du?“, fragte Mirac, „Ich kenn mich hier ziemlich gut aus. Wir bringen dich hin.“ „Ich war bei Freunden. Sie wohnen in der nähe des Wirtschaftsgymnasiums an der Bundesstraße“, antwortete Luca. „Dann bringen wir dich da hin“, bestimmte Mirac. Zu dritt machten sie sich auf den Weg. Es dauerte eine Weile, doch irgendwann kam ihm die Gegend bekannt vor. Wenig später konnte er das Haus der Zwillinge sehen. „Danke“, sagte er und meinte es auch so, „Ohne euch hätte ich nicht wieder zurück gefunden.“ „Keine Ursache.“ Die Brüder grinsten und Kim hob zum Abschied die Hand, „Vielleicht sieht man sich mal wieder.“ Luca schaute den beiden hinterher, wie sie an der nächsten Kurve verschwanden, dann schaute er zum Haus der Zwillinge. Langsam ging er auf es zu. Er holte besser schnell seinen Rucksack und fuhr mit dem nächsten Bus nach Hause. Plötzlich wurde er gepackt und an den Schultern gegen die Mauer gestoßen. Erschrocken zuckte er zusammen und kniff die Augen zusammen. „Du kannst doch nicht einfach so verschwinden!“, erklang Nicholas‘ aufgebrachte Stimme, „Was glaubst du, was für Sorgen wir uns gemacht haben? Wir haben dich überall gesucht!“ Der Blondhaarige öffnete die Augen, wie sehr hasste er seine Reflexe, die sich oft verselbstständigten. Doch als er Nicholas ansah, kam der Schmerz, den er erfolgreich verdrängt hatte, wieder zurück. Erneut stiegen ihm Tränen in die Augen. „Lass mich los“, verlangte er leise. Er wollte hier weg, bevor er erneut in Tränen ausbrach. Sein Klassenkamerad sollte ihn nicht so sehen. Der Schwarzhaarige reagierte nicht. „Ich hab gesagt, du sollst mich loslassen!“, schrie Luca jetzt, verzweifelt versuchend, sich loszureißen. Er wusste nicht, was über ihn gekommen war. Er wollte nur noch weg von hier, weg von den anderen und sich in einer Ecke verkriechen, bis er sich wieder beruhigt hatte. Nicholas zuckte zurück, als habe er sich verbrannt. Ungläubig starrte er seinen Klassenkameraden an. Luca nutzte seine zurückgewonnene Freiheit, um schnell ins Haus zu huschen. Dort ging er die Treppe hoch zu den Zimmern der Zwillinge, schnappte er sich seinen Rucksack, der immer noch in der Ecke lag, in der er ihn abgelegt hatte und ging zurück zur Tür. Es verwunderte ihn etwas, keinen der anderen anzutreffen. Doch das war ihm nur recht. „Wo willst du hin?“, verlangte Nicholas zu wissen. Kapitel 46: Streit und Aussprache --------------------------------- „Nach Hause“, antwortete der Blondhaarige ihm. Er wusste zwar noch nicht, ob Sonja ihn reinlassen würde. Aber hier wollte er nicht länger bleiben. Zügig lief er an seinem Klassenkameraden vorbei. „Warte“, rief Nicholas ihm hinterher. Luca machte den Fehler, kurz inne zu halten. Nicholas nutzte das, um ihn zurück ins Haus zu ziehen und hinter ihnen die Tür zu schließen. Er zog den Blondhaarigen bis ins Bad, wo er die Tür ebenfalls abschloss und den Schlüssel einsteckte. Jetzt konnte Luca nicht mehr fliehen. Der Schwarzhaarige drehte das Wasser in der Wanne auf. „Zieh dich aus, du bist ja völlig durchnässt.“ „Lass mich allein“, forderte Luca ruhig. Er ertrug es nicht, noch langer in der Nähe des Schwarzhaarigen zu sein. „Hör mal“, begann Nicholas, wurde aber von seinem Klassenkameraden unterbrochen. „Fühlst du dich jetzt cool? Du hast Benni und Julian gezeigt, dass du nichts von mir willst!“ Luca wusste nicht, woher die Worte kamen, aber als er sie ausgesprochen hatte, fühlte er sich etwas leichter. „Wenn es das ist, was du dir unter Freundschaft vorstellst, kann ich darauf verzichten!“ Nicholas schaute ihn erschrocken an. Er öffnete den Mund um etwas zu erwidern, doch Luca ließ ihn nicht zu Wort kommen. Er wusste, wenn er jetzt nichts sagte, würde er es nie tun. „Oder bin ich nur ein Projekt für dich? Ein Streuner, den du aufgelesen hast und um den du aus Pflichtgefühl meinst, dich jetzt kümmern zu müssen. Ich habe es dir schon einmal gesagt, ich will kein Mitleid. Erst recht nicht von dir!“ „Das ist noch lange kein Grund, einfach wegzulaufen! Rebecka ist fast durchgedreht, als du nicht zurückgekommen bist! Sie hat uns alle zum Suchen verdonnert!“, erwiderte Nicholas wütend. Erneut zog sich Lucas Herz zusammen. „Du hast also nur nach mir gesucht, weil sie es verlangt hat?“, wollte er wissen. Seine Stimme klang seltsam, so emotionslos. „Geh!“, verlangte er, „Ich will dich nicht mehr sehen!“ Als Nicholas nicht reagierte, lief er auf die Tür zu und versuchte, sie zu öffnen. doch Nicholas schien sie wirklich abgeschlossen zu haben, denn sie ging nicht auf. „Lass mich raus!“ „Warum bist du so wütend?“, fragte der Schwarzhaarige leise. Luca wandte sich um und sah ihn fassungslos an. „Das ist jetzt nicht dein Ernst!“ Ihm fiel auf, dass Nicholas‘ Wange noch immer von seiner Ohrfeige leicht gerötet war. „Eigentlich schon.“ Der Blondhaarige ging auf ich zu. „Vielleicht ist Rebecka ja so nett, dir auch das zu verraten. Und jetzt gib mir den Schlüssel!“ Fordernd hielt er seinem Klassenkameraden die Hand hin. Seine Hand zitterte, doch er zog sie nicht zurück. Wenn er jetzt nachgab, würde Nicholas ihn nicht ernst nehmen. Außerdem war er immer noch wütend. Der Schwarzhaarige rührte sich nicht. „Den Schlüssel“, wiederholte Luca betont ruhig. Aus Erfahrung wusste er, dass man Leute, die schrien und mit Schimpfwörtern um sich warfen, nicht so ernst nah, wie wenn sie ruhig blieben. Inzwischen war die Wanne gut gefüllt, doch der Blondhaarige schenkte ihr keine weitere Beachtung. „Luca, bitte…“, brachte der Schwarzhaarige nach einer Weile hervor. „Was?“, hakte der Angesprochene nach. „Es tut mir leid“, flüsterte Nicholas. Früher hatte ihm das gereicht, doch heute war es nicht genug, um ihn zu besänftigen. Zu sehr hatte Nicholas ihn verletzt. „Was tut dir leid?“ Nicholas vergrub sein Gesicht in seinen Handflächen. „Ich weiß es doch nicht!“ Er schien verzweifel. „Woher auch, wenn du es mir nicht sagst.“ „Keine Idee?“ Irgendwie kam sich Luca gerade ziemlich verarscht vor. So blind konnte doch kein Mensch sein! Der Schwarzhaarige schüttelte den Kopf. „Dir ist also nicht in den Sin gekommen, dass ich den Kuss vielleicht gar nicht gewollt habe?“, fragte er. Erneut schüttelte Nicholas den Kopf. „Es war doch nur ein Spiel.“ „Nur ein Spiel?“, wiederholte Luca ungläubig. Seine Stimme wurde von Wort zu Wort lauter. Er redete sich regelrecht in Rage. „Wie kannst du nur?! Das war mein erster Kuss, du ignoranter Mistkerl! Und dann hast du die Nerven, mich so zu behandeln! Ich hätte dir die Zunge blutig beißen sollen. Mann hätte meinen können, dass dir das genügt, aber nein, du musst mich auch noch vor deinen Freunden lächerlich machen. Ich habe jedes Recht, wütend zu sein!“ Mit jedem Wort, dass ihm Luca an den Kopf geworfen hatte, war Nicholas blasser geworden. „Scheiße!“, murmelte er. Erschöpft ließ Luca sich auf den Boden sinken und lehnte sich an den Rand der Wanne. Er hörte, wie das Wasser hinter ihm den Überlauf hinab floss. Ein warmes Bad wäre gar nicht mal so schlecht. Ihm war kalt und er wusste, durch seinen langen Aufenthalt im Regen war er so sehr ausgekühlt, dass sein Körper von allein nicht so schnell wieder warm werden würde. Doch vorher musste er die Sache mit Nicholas klären und da gab es noch eine Sache, die ihm auf dem Herzen lag: „Wenn du dich so sehr vor mit ekelst, warum hast du mich dann geküsst?“ „Wie kommt du darauf, dass-“ Nicholas brach ab. Er schien verstanden zu haben. „Scheiße!“, schimpfte er. Langsam lief er auf Luca zu und ließ sich neben ihm auf den Boden sinken. „Ich bin so ein Idiot. Die Ohrfeige hab ich mehr als nur verdient.“ Er legte Luca einen Arm um die Schulter und zog ihn an sich heran. Zuerst wollte der Blondhaarige sich wehren, doch er brachte nicht mehr die Kraft auf, die nötig gewesen wäre, um sich loszureißen. Deshalb ließ er es widerstandslos über sich ergehen. Nicholas griff nach seiner Hand und umschloss sie mit seiner. „Ich ekel mich nicht vor dir. Das hab ich nur gemacht, um Julian und Benni nicht noch mehr Feuer für ihre Verkupplungspläne zu geben. Aber du hast recht, ich hätte es lassen sollen. Es war mehr als nur unangebracht.“ Er zog den Blondhaarigen näher an sich heran, ignorierend, dass er nass dabei wurde, weil Luca seine nassen Klamotten noch nicht ausgezogen hatte. „Es tut mir leid. Wenn ich das gewusst hätte- Wenn ich gewusst hätte, dass du noch nie- Ich hätte doch nicht-“ Nicholas seufzte. „Jetzt hab ich deinen ersten Kuss ruiniert. Du wolltest ihn sicher mit jemandem haben, denn du liebst. Ich bin so ein Idiot.“ Wie schwer von Begriff konnte der Schwarzhaarige eigentlich sein? Sonst verstand er doch auch immer alles sofort. Luca schüttelte seinen Kopf. „Das ist es nicht. Es stört mich nicht, dass du derjenige bist, der mich geküsst hat“, flüsterte er leise, hoffend, dass er nicht zu viel verriet, „Mich stört auch nicht, wie es zu dem Kuss gekommen ist, obwohl es nicht wirklich optimal war und ruhig anderes verlaufen hätte können. Aber dass du das unter einem Kuss verstehst…“ Er spürte, wie Nicholas ihn vorsichtig an den Schultern packte und zu sich drehte. Als der Blondhaarige seinen Klassenkameraden anblickte, bemerkte er, dass dessen grüne Augen geweitet waren. Hatte er doch zu viel verraten? „Ist das dein Ernst?“, fragte Nicholas ungläubig, „Du bist nicht wütend, weil es dein erster Kuss war oder weil ich es war, der dich geküsst hat. Auch nicht, weil es in einem Spiel passiert ist?“ Luca nickte. „Ich bin wütend, weil du mich wie den letzten Dreck behandelt hast.“ „Ich bin echt ein Idiot“, stellte Nicholas erneut fest. Dann lächelte er plötzlich und fuhr dem Blondhaarigen mit der Hand über die Wange. „Also ist es okay, wenn ich das gleich tue?“ Noch bevor Luca die Chance hatte, etwas zu erwidern, legten sich Nicholas Lippen auf seine, diesmal spürbar sanfter. Ihm blieb das Herz fast stehen und er riss seine Augen erschrocken auf. Nicholas‘ Augen waren geschlossen, also schloss Luca seine ebenfalls. Zögerlich erwiderte er den Kuss. Er fühlte sich so viel besser an, als der letzte. Sein Bauch fuhr Achterbahn. Sein Herz schlug drei Takte schneller und seine Haut kribbelte. Nicholas löste sich wieder von ihm und grinste ihn schief an. „War das besser?“ Verdutzt nickte Luca. „Und wofür war das jetzt?“ „Das war die Wiedergutmachung. Ich hab deinen ersten Kuss versaut, also ist es nur logisch, wenn du als Entschädigung einen richtigen Kuss bekommst. Und jetzt ab in die Wanne, bevor du dich noch erkältest.“ Kapitel 47: Schweigen --------------------- Luca beobachtete, wie Nicholas sich erhob. Er drehte das Wasser ab, die Wann war schon seit einiger Zeit übergelaufen. Dann durchsuchte er das Regal neben der Wanne. Als er das Gesuchte gefunden zu haben schien, wandte er sie wieder dem Blondhaarigen zu. In seiner rechten Hand hielt er eine Flasche Schaumbad. Er wollte gerade etwas davon ins Wasser geben, als Luca ihn daran hinderte. Er griff nach dem Arm des Schwarzhaarigen und als dieser ihn ansah, schüttelte er den Kopf. Es war besser, wenn er ohne badete. Es würde sonst nur unnötig in seinen Verletzungen brennen. Außerdem hatte er keine Hoffnung, sie vor Nicholas verbergen zu können, selbst wenn er ihn bat, ihn allein zu lassen. Also konnte er es auch von vornherein zugeben. Nicholas stellte die Flasche neben der Wanne auf den Boden, seinen Klassenkameraden argwöhnisch musternd. Der Blondhaarige versuchte unterdessen, seine Jacke zu öffnen. Seine Finger waren noch immer etwas steif von der Kälte, weswegen es erst nach einigen Versuchen gelang. Nicholas nahm ihm die Jacke ab und warf sie ihn die Dusche, wohl, damit sie nicht auch noch den restlichen Boden nass tropfte. Als nächstes zog Luca seinen Pullover über den Kopf. Das ging leichter als die Jacke. Er hörte, wie Nicholas erschrocken nach Lust schnappte. Er schien Jochens Abschiedsgeschenk entdeckt zu haben. Der Blondhaarige ging nicht weiter darauf ein, sondern reichte ihm wortlos das Kleidungsstück. Vielleicht konnte er so die unangenehmen Fragen, die sicher gleich kommen würden, ein wenig hinauszögern. Danach folgte das T-Shirt. Es landete neben dem Pullover und der Jacke in der Dusche. Luca schluckte, ehe er sich Nicholas zuwandte. Der Schwarzhaarige starrte auf seinen entblößten Oberkörper. Sein Gesicht trug einen seltsamen Ausdruck. „Wer war das?“, verlangte er, zu wissen. Luca antwortete nicht. Stattdessen fuhr er aus seinen Schuhen und reichte sie ebenfalls an den Schwarzhaarigen Weiter. Seine Socken waren ebenfalls völlig durchnässt, stellte er fest, weswegen sie den Schuhen folgten. Jetzt kam er unangenehme Part. Obwohl Nicholas ihn bereits einmal nackt gesehen hatte, wollte Luca das nicht wiederholen. Trotzdem musste er aus den Klamotten raus. Nur widerwillig zog er seine Jeans aus, ehe er sich an Nicholas wandte. „Kannst du dich vielleicht umdrehen?“ Zu seiner Überraschung kam der Schwarzhaarige der Aufforderung sofort nach. Luca nutzte das, um schnell aus seinem letzten Kleidungsstück zu schlüpfen und in die Wanne zu steigen. Das Armband hatte er nicht abgelegt. Er zischte, als das Wasser, was sich schrecklich heiß anfühlte, seine Haus berührte. Trotzdem stieg er zügig in die Wanne, setzte sich in die Ecke, winkelte seine Beine an und schlang die Arme um die Knie. So war sichergestellt, dass Nicholas nicht alles sehen konnte, auch wenn er sich immer noch seltsam entblößt vorkam. Doch Nicholas beachtete ihn gar nicht weiter. Er begann, seine Klamotten in der Dusche aufzuhängen, damit sie besser trockneten. Seine Jacke hängte er gleich dazu, schließlich war er auch im Regen unterwegs gewesen. Dann schnappte er sich einen Mopp aus einem der Schränke und wischte den Boden notdürftig trocken. Erst danach setzte er sich zu Luca neben die Wanne. „Wer hat dich so zugerichtet?“, fragte er erneut. Aber Luca schüttelte nur seinen Kopf. „Ich will nicht darüber reden.“ Damit war das Thema für ihn erledigt. Nicholas schien zu verstehen, dass er keine Antworten bekommen würde. Er erhob sich wieder, nahm eines das Badetücher aus dem Regal und hängte es über die Heizung. Danach öffnete er Lucas Rucksack und holte dessen Schlafanzug, der natürlich langärmlich war, heraus und hängte ihn neben das Badetuch. Der Blondhaarige war froh, auch Socken und eine Unterhose zum wechseln eingepackt zu haben, sonst hätte er jetzt wohl ein Problem. „René hat mir eben geschrieben, dass sie wieder zurück sind. Rebecka und Fabian bereiten gerade heiße Schokolade für alle zu und die anderen kümmern sich ums Aufblasen der Luftmatratzen“, sagte Nicholas, wohl um ein Gespräch zu beginnen und zu signalisieren, dass er nicht weiter nachhaken würde, zumindest nicht heute. Luca nickte, als Zeichen, dass er es zur Kenntnis genommen hatte. Der Schwarzhaarige ließ sich erneut auf den Platz neben der Wanne fallen. „Wenn du mir schon nicht sagst, wer es ist, der dich immer so zurichtet, dann lass mich wenigstens deine Verletzungen behandeln“, forderte er. Luca war immer noch wütend auf seinen Klassenkameraden und so schnell würde er ihm auch nicht verzeihen. Trotzdem brachte er es nicht fertig, in noch länger von sich zu stoßen. Zu viel Angst hatte er davor, wieder allein zu sein. Er hob die Schultern. Daran konnte er seinen Klassenkameraden schlecht hindert. „Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht“, versuchte er es trotzdem. „Ich schau sie mir dann trotzdem an“, erwiderte Nicholas und Luca wusste, dass er sich nicht davon abbringen lassen würde. Besser er ließ ihn einfach machen und brachte es schnell hinter sich. Langsam spürte Luca, wie Leben in seine tauben Glieder zurückkam und auch das brennen, dass er gefühlt hatte, als er mit seinem ausgekühlten Körper in die Wanne gestiegen war, war wieder verschwunden. „Sag den anderen nichts hiervon“, flüsterte Luca nach einer Weile, „Ich will nicht, dass sie hiervon wissen. Es reicht schon, dass René es einmal gesehen hat.“ Nicholas seufzte. „Du weißt, dass es das nicht besser machen wird. Du kannst es nicht einfach totschweigen und hoffen, dass es von allein verschwindet.“ „Ich weiß“, antwortete Luca, „Aber sie machen sich bestimmt schon genug Sorgen, da will ich sie nicht noch damit belasten.“ „Sie wollen dir nur helfen“, widersprach Nicholas. „Sie können mir nicht helfen, das kann keiner“, murmelte der Blondhaarige. Der Schwarzhaarige schüttelte den Kopf. „Vielleicht nicht sie direkt, aber sie haben Beziehungen. Rebeckas Mutter ist Krankenschwester, Renés Onkel ein hohes Tier bei der Polizei. Mein Vater ist Anwalt. Einige wichtige Menschen schulden ihm noch den einen oder anderen Gefallen. Julian und Benni kennen eine Menge Menschen. Es muss etwas geben, was wir für dich tun können.“ „Mach mir keine Hoffnung“, schluchzte Luca leise. Schnell wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht, doch Nicholas hatte sie bereits gesehen. Seine Gesichtszüge wurden sanfter. „Wovor hast du Angst?“, fragte Nicholas. „Dass es nichts bringt. Dass es alles nur noch schlimmer macht.“ Der Blondhaarige war erstaunt, wie ehrlich er antwortete. „Dass du bemerkst, was für eine Last ich für dich bin. Dass ich wieder allein dasteh.“ Er spürte, wie ihm schon wieder die Tränen kamen. „Ich lass dich nicht allein“, versprach Nicholas und fuhr ihm mit der Hand durch sein blondes, leicht gewelltes Haar, „Egal, was passiert, ich bin für dich da.“ Bevor Luca wusste, was er tat, hatte er sich in der Wanne gekniet, zu Nicholas hinübergebeugt und ihn in eine Umarmung gezogen. „Danke“, flüsterte es. Der Schwarzhaarige war spürbar überrascht über diese plötzliche Geste, erwiderte die Umarmung aber trotzdem schnell und fuhr ihm mit der Hand durchs Haar. „Du machst mich noch ganz nass“, lachte er leise. Beschämt löste Luca sich wieder von ihm. Daran hatte er gar nicht gedacht. Nicholas erhob sich unterdessen und reichte ihm das inzwischen gut angewärmte Badetuch. „Ich glaube, du hast jetzt genug Wärme getankt. Zeit, zurück zu den anderen zu gehen. Deine heiße Schokolade wartet.“ Er schaute höflich weg, als Luca aus der Wanne stieg und das weiche Badetuch um sich wickelte. Die Verkündung der heißen Schokolade hatte ihn hungrig auf süßes gemacht, weswegen er sich schnell abtrocknete, und in seine Klamotten stieg. Gemeinsam mit Nicholas verließ er das Badezimmer wieder in Richtung der Zimmer der Zwillinge. Kapitel 48: Unruhe ------------------ Die anderen saßen bereits im Zimmer und erwarteten sie, verloren jedoch kein Wort über Lucas Flucht. Rebecka reichte ihm lächelnd seine heiße Schokolade und er ließ sich auf eine der jetzt auf dem Boden liegenden Luftmatratzen, die den gesamten Boden bedeckten, sinken. Genüsslich nippte er an seinem Getränk. Florian legte unterdessen eine neue DVD ein und Luca stellte nach kurzer Zeit fest, dass es sich um einen selbst aufgenommenen Auftritt eines Komikers im Fernsehen war, den er auf DVD gebrannt haben musste. Der Komiker hatte kaum seinen ersten Witz gerissen, da kam schon die Werbeunterbrechung, die wohl ebenfalls mit aufgenommen wurde. Fabian griff nach der Fernbedienung und spulte vor. Rebecka reichte ihm eine Decke, die Luca dankbar. Sofort wickelte er sich in diese ein. Dann ließ sie sich linke neben ihm auf die Luftmatratze fallen. Rechts saß Nicholas, gegen den sich der Blondhaarige nach kurzem zögern lehnte. Jetzt, wo die Aufregung vorbei war, fühlte er sich unglaublich müde. Der Schwarzhaarige lächelte und legte einen Arm um ihn, wandte seinen Blick aber nicht vom Fernseher ab. Schwach lächelte Luca. Trotz allem, was heute passiert war, fühlte er sich noch sicher in der Nähe seines Klassenkameraden. Er begann, in eine Art Halbschlaf zu dämmern. Wenn das Publikum mal wieder laut Klatschte oder Jubelte oder der Komiker etwas lauter wurde, schreckte er hoch, nur um verschlafen die Augen zu öffnen und gleich weiterzuschlafen. Er spürte, wie ihm eine Hand durch sein blondes Haar fuhr, wohl die von Nicholas. Aber er konnte sich nicht mehr dazu bewegen, die Augen zu öffnen, um es zu überprüfen. Er hörte noch, wie jemand aus Rücksicht auf ihn den Ton leiser stellte, danach bekam er nichts mehr mit. In der Nacht schreckte Luca auf. Irgendetwas hatte ihn geweckt, aber er wusste nicht, was. Sein erster Gedanken war, dass es Jochen gewesen war. Doch dann nahm er seine Umgebung wahr und ihm fiel wieder ein, dass er bei den Zwillingen und Jochen auf einer Weiterbildung war. Etwas anderes musste ihn geweckt haben. Aber was? In der Wand klackte das Holz, aber das Geräusch kannte Luca von zu Hause. Am anderen Ende des Zimmers hörte er einen der Zwillinge leise schnarchen. Er wusste nicht, wer wo lang und in dieser Dunkelheit konnte selbst er sie nicht auseinanderhalten, nicht, während sie schliefen. Er schloss seine Augen und versuchte, weiterzuschlafen. Doch das stellte sich als schwieriger heraus, als er gedacht hatte. Die ungewohnte Umgebung und das fremde Gefühl, auf einer Luftmatratze zu liegen, ließ ihn nicht zur ruhe kommen. Dabei hatten die Zwillinge nicht einmal die einfachen vom Strand verwendet, sondern solche, die zum zelten oder so gedacht waren. Sie hatten auf der Oberfläche eine samtartige Beschichtung und waren jeweils so groß, wie eine normale Matratze. Die, auf der Nicholas allein lag, Benni und Julian waren nach Hause gefahren, das hatte er noch mitbekommen, war sogar doppelt so groß, wie eine normale Matratze. Luca versuchte, sich zu entspannen, konnte es aber nicht, nicht in dieser Umgebung. Er seufzte leise und starrte an die Decke. Vielleicht sollte er ja Schäflein zählen, auch wenn er bezweifelte, dass das etwas brachte. „Kannst du auch so schlecht schlafen?“, vernahm er plötzlich die geflüsterte Stimme von Nicholas. Der Blondhaarige nickte, ehe er sich daran erinnerte, dass es dunkel war und ihn keiner sehen konnte. „Ich hab so etwas noch nie gemacht“, antwortete er ebenso leise, schließlich wollte er die anderen nicht wecken, „Das ist alles so ungewohnt. Ich kann mich einfach nicht entspannen.“ „Vorhin hattest du doch auch keine Probleme“, murmelte Nicholas. „Da lief der Fernseher noch“, flüsterte Luca, Bei irgendwelchen Hintergrundgeräuschen kann ich immer gut einschlafen.“ Das stimmte auch. Im sommer, wenn seine Nachbarn manchmal noch bis in die Nacht auf der Terrasse saßen und sich unterhielten, hatte er nie Probleme gehabt. Ein Fernseher musste ähnlich funktionieren. Der Schwarzhaarige schmunzelte, obwohl Luca ihn nicht sehen konnte, hörte er es am Klang seiner Stimme: „Du bist der erste, den ich kenne, der Geräusche braucht um einschlafen zu können.“ „Ich fühl mich einfach sicherer, wenn ich das Gefühl habe, dass noch jemand da ist“, entgegnete der Blondhaarige. Eine Weile war es still. Luca glaubte schon, sein Klassenkamerad sei eingeschlafen, da hörte er dessen Decke rascheln. „Komm her“, flüsterte Nicholas. Verdutzt blickte der Blondhaarige in die Richtung aus der er die Stimme gehört hatte. War das jetzt ernst gemeint. Anscheinend schon, denn der Schwarzhaarige klopfte leise auf den leeren Platz neben sich. Langsam stand er auf und schnappte sich Decke und Kissen. Vorsichtig, um nicht gegen die restlichen Matratzen oder irgendwelche anderen Gegenstände zu laufen, damit würde er nur die anderen wecken und das wollte er nicht, ging er langsam auf Nicholas zu. Er musste sich an der Wand orientieren, um sein Ziel zu finden. Als er vor Nicholas stand, rutschte dieser ein Stück zur Seite und machte ihm somit genug Platz. So leise er konnte, legte Luca sein Kissen neben das seines Klassenkameraden, ehe er zu ihm auf die Matratze krabbelte und sich zudeckte. Er spürte, wie Nicholas einen Arm um ihn legte und ihn nähr an sich heranzog, doch das störte ihn nicht weiter. Eigentlich hätte er alarmiert aufschrecken müssen, denn ihm fiel auf, dass sie Dinge taten, die sonst nur Paare taten. Doch das interessierte ihn nicht weiter. Er mochte Nicholas‘ Nähe zu sehr, als dass er sich darüber beschweren würde, wie es dazu kam. Wer weiß, vielleicht sah Nicholas in ihm auch mehr als nur einen Freund. Er musste ja nicht gleich in ihn verliebt sein. Vielleicht war es irgendwas dazwischen. So schnell wie der Gedanke aufkam, verdrängte Luca ihn wieder. Er wollte sich keine unnötigen Hoffnungen machen. Bis jetzt gab es nichts, was bewies, dass der Schwarzhaarige irgendetwas für ihn empfand, was über Freundschaft hinausging. Dass er ihn irgendwie gern hatte, das konnte der Blondhaarige nicht mehr abstreiten, dazu kümmerte Nicholas sich zu gut um ihn. aber er wollte auf keinen Fall mehr in Nicholas‘ Verhalten hineininterpretieren, als wirklich da war. Das würde ihn nur unnötig verletzen. Dennoch kuschelte er sich an den Schwarzhaarigen und als er wieder die Hand in seinem Haar spürte, seufzte er wohlig. „Du bist ziemlich verschmust, was?“, schmunzelte Nicholas. Luca nickte, wissend, dass sein Klassenkamerad es spüren konnte. „Es fühlt sich gut an, von jemandem berührt zu werden, der einem nicht wehtun will.“ „Trotzdem ist es meine Nähe, die du suchst“, murmelte der Schwarzhaarige, „Woran mag das wohl liegen?“ „Ich mag dich einfach“, nuschelte Luca, „Außerdem bist du der erste in Jahren, der mich nicht meinem Schicksal überlassen, sondern mir ernsthaft geholfen hat. Um ehrlich zu sein, hatte ich schon die Hoffnung aufgegeben, dass sich jemals etwas ändern würde.“ So redefreudig war er sonst nie. Obwohl er darauf achtete, nicht zu viel zu verraten, gab er doch mehr von sich Preis, als ihm unter anderen Umständen lieb gewesen wäre. Vermutlich lag das an der Sicherheit, die er in Nicholas‘ Nähe fühlte, aber die Ereignisse des heutigen Tagen, oder war es schon gestern, trugen sicher auch ihren Teil dazu bei. „Eine Sache interessiert mich noch“, flüsterte der Schwarzhaarige, „Du hast bereits mehrere Andeutungen gemacht: Hast du versucht, dich umzubringen?“ Luca erstarrte. Erschrocken schnappte er nach Luft. Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit dieser Frage. Nur langsam entspannte er sich unter Nicholas‘ Streicheleinheiten wieder. Er beschloss, die Wahrheit zu sagen, Nicholas hatte es verdient, außerdem war es ja nicht so, als ob er es jemals ernsthaft versucht hätte. „Ich habe daran gedacht, ja. Aber jedes Mal hat mir der Mut gefehlt, es zu Ende zu bringen.“ „Ich bin froh“, murmelte der Schwarzhaarige, „Dass du es nicht getan hast.“ Der Blondhaarige lächelte. Nicholas nahm es einfach hin, stellte keine weiteren Fragen, redete nicht weiter auf ihn ein und verlangte auch keine Erklärung. Nur an der Hand, die weiter durch sein Haar fuhr, erkannte er, dass sein Gesprächspartner noch nicht eingeschlafen war. Kapitel 49: Erdbeertorte mit Sahne ---------------------------------- Als Luca am nächsten Morgen erwachte, blickte er in Nicholas‘ grüne Augen. Der Schwarzhaarige lag neben ihm, den Kopf auf den Händen gestützt, und beobachtete ihn. Der Blondhaarige gähnte herzhaft und wischte sich den Schlaf aus den Augen „Du scheinst ein Frühaufsteher zu sein“, flüsterte Nicholas, „Die anderen schlafen noch.“ Luca wusste nicht, ob er erleichtert sein sollte. Sicher hätte es Gerede gegeben, wenn sie sie gesehen hätten. Aber es waren immer noch seine und Nicholas‘ Freunde. Er wollte ihnen nichts verheimlichen. Doch tat er das wirklich. Er war nicht mit Nicholas zusammen, sie waren nach wie vor nur Freunde. Auch sonst hatte sich nichts geändert. Es gab also nichts, was er ihnen erzählen konnte. „Was ich dir heute Nacht gesagt habe“, begann Luca nach einer Weile, „Kannst du es für dich behalten?“ Nicholas nickte. Luca schälte sich aus seiner Decke und begann, sich umzuziehen. Er wollte nicht, dass die anderen seine blauen Flecken sahen. Zum Glück hatte er Wechselklamotten eingepackt, denn er war sich nicht sicher, ob die Klamotten, die er ursprünglich angehabt hatte, inzwischen getrocknet waren. Nur eine zweite Jacke und Schuhe hatte er nicht, aber vielleicht waren die ja inzwischen getrocknet, immerhin hatte Nicholas sie gestern noch auf die Heizung gestellt. Danach legte er sich wieder zu seinem Klassenkameraden auf die Matratze. Der Schwarzhaarige schien verstanden zu haben, warum er sich umgezogen hatte, denn er lächelte verstehend und zog sich jetzt ebenfalls um. Es dauerte, bis die anderen wach wurden und die beiden Freunde verbrachten die Zeit damit, sich leise über belanglose Dinge zu unterhalten. Irgendwann schalteten sie auch den Fernseher ein. Aber so früh liefen da nur ein paar Werbeshows und anderer Mist, der keinen interessierte, also schaltete Nicholas ihn wieder aus. Es war nach Neun, als sich Rebecka regte. Sie gähnte herzhaft und streckte sich, wobei sie gegen ihren Freund stieß und diesen damit weckte. „Morgen“, meinte sie unbesonnen. „Morgen“, antworteten ihr Nicholas und Luca. René brummte etwas Unverständliches. „Wie lange seid ihr eigentlich schon wach?“, fragte Rebecka nach einer Weile. Ihr schien aufgefallen zu sein, dass die beiden ihre Schlafanzüge nicht mehr trugen. „Eine Weile“, meinte Nicholas, „Wir wollten euch nicht wecken.“ „Apropos wecken: Die Zwillinge schlafen noch“, sagte René. Lucas Magen entschied sich, genau in diesem Moment zu knurren. Seine Freunde sahen ihn grinsend an, ehe Nicholas schmunzelte: „Also ich wäre dafür, die beiden Langschläfer aus den Federn zu hauen. So langsam ist mir auch nach Frühstück.“ Gesagt, getan. Er und René schnappten sich von je einem Zwilling die Decke und zogen sie ihnen weg. „Aufstehen!“, rief René gut gelaunt, „Wir haben Hunger!“ Rebecka war inzwischen ins Bad verschwunden, um sich umzuziehen. Eigentlich hätte sie es auch bei ihnen im Zimmer tun können, schmunzelte Luca, denn der einzige, der an Frauenkörper interessiert und auch wach war, war René und der war ihr Freund. „Mir doch egal“, brummte Florian, woraufhin ihm Nicholas auch das Kopfkissen wegnahm. „Du bist ein schrecklicher Gastgeber“, meinte er gespielt erbost, „Deine Gäste einfach hungern zu lassen.“ Fabian schien inzwischen eingesehen zu haben, dass sie ihn nicht weiterschlafen lassen würden. Er kroch aus dem Bett, schlüpfte in seine Hausschuhe und verschwand aus dem Zimmer. Wenig später kam er mit einem Tablett vollgestellt mit Teller, Tassen, Gläsern und Besteck zurück. Seine Mutter musste es vorbereitet haben, denn er war viel zu kurz weg gewesen, um erst alles selber her gesucht zu haben. „Ihr könnt ja schon mal die Matratzen in einer Ecke stapeln, damit wir gleich Platz zum Essen haben.“ Das ließen Nicholas und René sich nicht zweimal sagen. Die Matratzen flogen samt Decken und Kissen auf Florians Bett und begruben den Zwilling unter sich. Dann rückten die beiden den Couchtisch wieder an seinen gewöhnlichen Platz. Luca schnappte sich das Tablett und begann, den Tisch zu decken. Alles passte nicht darauf, dazu war der Tisch etwas zu klein, also schnappte er sich noch Florians Nachttischschränkchen, was fast die gleiche Höhe hatte. René schien das gleiche gedacht zu haben, denn wenig später stand ein zweites baugleiches Nachttischschränkchen neben dem ersten. „Jetzt müsste es gehen, oder?“ Fabian kam mit einem zweiten Tablett, auf dem eine große Erdbeertorte, eine Schüssel Sahne, ein Teller mit Zuckerkuchen und ein Teller Kekse standen. Sofort nahm ihm Luca das Tablett ab und verstaute den Inhalt auf dem Tisch. Er musste etwas schlichten und am Ende stand die Sahne auf den Keksen, aber es ging. Inzwischen war auch Rebecka wieder da. Sie ließ sich neben ihren Freund am Couchtisch auf den Boden fallen. Als Fabian zum dritten Mal wiederkam, trug er die Getränke: Eine Kanne Kaffee, einen Pack Milch, Den Krug eines Wasserkochers, Kakaopulver und eine Dose mit Teebeuteln und Zuckerwürfeln. Das alles balancierte er irgendwie bis zum Tisch, wo es ihm die anderen abnahmen. „Wie essen ohne dich“, rief er seinem Zwillingsbruder zu. Florian brummte etwas, bequemte sich dann aber doch aus dem Bett und setzte sich mit an den Tisch. Rebecka teilte die Torte aus und lud jedem, außer sich, einen ordentlichen Löffel Sahne dazu. „Viel zu viele Kalorien“, meinte sie dann, als ihr Freund ihr auch von der Sahen auftun wollte. Die Gruppe begann, zu Essen. Als Luca einen Löffel mit Sahne in den Mund nahm und genüsslich lächelte, mussten die anderen lachen. „Wenn du nur was süßes hast“, neckte ihn Fabian. Daraufhin steckte Luca ihm die Zunge heraus und lud sich noch einen zweiten Löffel Sahne auf den Teller, den er langsam löffelte. Die Torte aß er natürlich auch, mit sehr viel Sahne. Rebecka lachte. „Ich kann ihn verstehen. Wenn ich könnte, würde ich auch die Sahne pur essen…“ „Frauen und ihre Gewichtsprobleme“, schmatzte René mit vollem Mund und musste sich im nächsten Augenblick vor der Hand seiner Freundin ducken. Nicholas, der gerade sein drittes Stück Torte hinter schlang, nickte zustimmend. Darauf schnaubte Rebecka nur. „Im Gegensatz zu euch zwei Idioten mache ich auch nicht mehrmals die Woche Kampfsport. René geht zweimal die Woche zum Kickboxen und du machst außerdem noch Karate dazu. Ist schon klar, dass du mehr futtern musst.“ „Kickboxen ist nur eine Nebenbeschäftigung“, verteidigte sich der Schwarzhaarige, „Karate mache ich professionell.“ Luca entschloss sich, dazu lieber nichts zu sagen. Nicholas musste ein wirklich viel beschäftigter Junge sein. Viermal die Woche Kampfsport und dann noch das ganze Training, was dazu kam und die Turniere. Wie schaffte er das alles nur? Der Blondhaarige glaubte nicht, dass er die nötige Ausdauer dazu gehabt hätte. Lächelnd schob er sich einen Löffel Erdbeertorte mit ganz viel Sahne in den Mund. Er liebte dieses süße Zeug. Dann rührte er sich ein neues Glas Kakao an. Wer weiß, wann er den nächsten haben würde. Deswegen aß er auch mehr als er unter normalen Umständen tun würde. Er war noch immer recht dünn vom Essensentzug in den Herbstferien und brauchte alle Kalorien die er bekommen konnte. Außerdem war so sichergestellt, dass er keinen allzugroßen Hunger hatte, wenn er heute Abend schlafen ging. „Wir wollen heute Nachmittag ins Kino und danach noch zu McDonald's, eine Kleinigkeit essen“, meinte Rebecka, die inzwischen wieder bestens gelaunt war, „Du kommst doch mit?“ Luca schüttelte den Kopf. Das konnte er sich nicht leisten, so sehr er es sich auch wünschte und von seinen Freunden wollte er es nicht bezahlt haben, da käme er sich vor, wie ein Schmarotzer. „Ich habe schon etwas anderes vor“, sagte er deshalb. Und das war nicht einmal gelogen. „Und das wäre?“, wollte Nicholas wissen. Der Blondhaarige zwang sich, ruhig zu bleiben, als er antwortete: „Ich habe herausgefunden, wo mein Vater wohnt und möchte ihn besuchen. Falls er zu Hause ist…“ Kapitel 50: Peter Mertens ------------------------- Luca stand schon seit einer geschlagenen halben Stunde am Straßenrand und starrte auf die Einfahrt, die zum Haus seines leiblichen Vaters führte. Obwohl er die Bezeichnung ‚Haus‘ etwas untertrieben fand. ‚Villa‘ traf es schon eher. Die Einfahrt mündete in einen gut gepflegten Vorgarten, in dem im Frühling und Sommer sicher viele Blumen blühten. Doch so spät im Herbst war davon nichts mehr zu sehen. Außer den Beeten. Sie waren unförmig und unregelmäßig angeordnet und zwischen ihnen verliefen Wege aus weißem Kies. Vor dem Haus befand ich ein kleiner Parkplatz, auf dem zwei Autos standen und locker Platz für noch drei weitere war. Beide Autos sahen sehr neu aus und waren bestimmt extrem teuer gewesen. wie der Rest wohl auch. Das Haus war in einem dunklen Rotton gestrichen, vier Etagen hoch und hatte eine beeindruckende Grundfläche. In der Ecke hinter den Autos konnte er eine Art Schuppen oder Garage sehen. Sein Vater musste wirklich reicht sein, wenn er sich das alles leisten konnte. Kein Wunder, dass es ihn nicht störte, monatlich die Dreitausend Euro zu überweisen. Das Haus zu finden, war leichter gewesen, als er gedacht hatte. Er hatte nur im Telefonbuch nachschlagen müssen. Es gab nur einen Peter Mertens in der Stadt. Dort hatte auch eine Telefonnummer gestanden, die er sich neben der Adresse in sein Handy gespeichert hatte, nur für alle Fälle. Vielleicht brauchte er sie mal. Der Blondhaarige warf einen Blick auf den Briefkasten, der an dem prunkvollen Zaun, der das Grundstück umgab, angebracht war. Das dazugehörige Tor vor der Einfahrt war verschlossen und ließ sich auch nicht öffnen. Dafür war eine Klingel neben dem Briefkasten angebracht. Über ihr befand sich eine Sprachanlage und eine kleine Lise, die wohl zu einer Kamera gehörte. Auf dem Klingelschild und dem Briefkasten stand der Name seines Vaters, daneben der einer Frau: ‚Nina Wagner‘. Sie war wohl die Freundin oder Lebensgefährtin seines Vaters. Die Nachbarhäuser sahen ähnlich prachtvoll aus. Luca vermutete in einer Art Villenviertel gelandet zu sein, obwohl er noch nie davon gehört hatte. Und noch eine Sache hatte er festgestellt: Nicholas wohnte nur zwei Straßen weiter. Da waren die Häuser und Gärten immer noch gut gepflegt, aber nicht mehr so prunkvoll. Trotzdem war es wohl eine Gegend für Reiche. Ganz anders, als die Gegend, in der Luca wohnte. Die meisten Häuser dort konnten einen neuen Anstrich vertragen oder waren sogar baufällig und die Garten waren meist eine einfache Grünfläche. Luca gehörte nicht hier her, das wusste er. Er wollte es aber auch gar nicht. In dieser verkorksten Welt der reichen Leute würde er sich niemals wohlfühlen können. Er wollte nur, dass sein Vater ihm half. Wie genau, wusste er nicht. Es war ihm auch egal. Er wollte nur weg von dem Ort, den er sein Zuhause schimpfte, weg von Jochen und weg von Sonja. Etwas anderes interessierte ihn nicht. Es begann zu dämmern und Luca stand immer noch, wie bestellt und nicht abgeholt vor dem Grundstück. Er konnte nicht den Mut aufbringen, auf die Klinge zu drücken. Was, wenn sein Vater ihm nicht half? Wenn er ihn wieder fortschickte? Oder wenn er gar leugnete, mit ihm verwandt zu sein? Dann wäre alles vorbei. Er hatte kein Einkommen und die paar Euros, die er gespart hatte, würden weder reichen, um ihn zu ernähren, bis er das Abitur beendet hatte, noch konnte er sich davon Kleidung oder ein Dach über dem Kopf leisten. Selbst wenn er in allen verbleibenden Ferien jobbte, würde er nicht genug Geld aufbringen können. Allein kam er nicht von Jochen weg, das wusste er. Er brauchte die Hilfe anderer Menschen. Zur Polizei konnte er nicht gehen. Jochen würde alles abstreiten, Sonja ihm zustimmen und Luca am Ende wie ein Lügner dastehen. So war es das letzte Mal gewesen, als er vor ein paar Jahren einer seiner Lehrerin von den Misshandlungen erzählt hatte. Sie hatte ihm danach kein Wort mehr geglaubt und Jochen hatte ihn krankenhausreif geprügelt. Seitdem hatte er mit keinem mehr darüber gesprochen und wenn er ehrlich war, wollte er das auch nicht mehr. Er wollte vor den anderen, vor seinen Freunden, nicht noch schwächer dastehen, als er ohnehin schon war. Wobei er wieder bei seinem Ausgangspunkt angekommen war: Er brauchte die Hilfe seines Vaters. Nur war der Blondhaarige sich nicht sicher, ob dieser ihm helfen würde. Denn obwohl sie miteinander verwandt waren, waren sie doch Fremde. Wenn Peter das, was er in seinen Briefen an Sonja geschrieben hatte, ernst gemeint hatte, würde er Luca die Tür vor der Nase zuschlagen und das wäre es gewesen. Aber er konnte inzwischen auch seine Meinung geändert haben, immerhin war das Ganze nun schon fast Siebzehn Jahre her. Trotzdem fürchtete der Siebzahnjährige sich davor, was passieren würde, wenn er jetzt den Klingelknopf drücken würde. Es gab nur zwei Möglichkeiten: entweder sein Vater würde ihm helfen oder er warf ihn wieder raus und zerstörte damit alle seine Hoffnungen. Ohne die Hoffnung, dass es vielleicht besser werden könnte, dass es vielleicht jemanden gab, der ihn da rausholte, würde Luca es nicht bis zu seinem Abitur dort aushalten, wahrscheinlich nicht einmal bis zu seinem Achtzehnten Geburtstag in knapp einem Jahr. Deshalb wollte er sich diese Hoffnung nicht zerstören. Er brauchte sie, um am Leben zu bleiben. Natürlich gab es noch die Möglichkeit, dass Peter nicht zu hause war, doch dass würde die beiden Möglichkeiten nur zeitlich etwas weiter nach hinten verschieben und an der Situation nichts ändern. Am liebsten hätte der Blondhaarige sich geohrfeigt. Warum war er überhaupt hergekommen, wenn er sich nicht mal traute, zu klingeln? Dann hätte er das Ganze auch sein lassen können. Er zog sich die Kapuze seines Sweatshirts, das er unter seiner Jacke trug, wieder ins Gesicht, um sicher zu gehen, dass niemand ihn erkannte. Wenn sie schon über ihn redeten, und das würden sie bestimmt, dann sollten sie wenigstens nicht wissen, wer er war. Er sah seinem Vater viel zu ähnlich, als dass sie die Verwandtschaft nicht bemerken würden und selbst wenn er behauptete, ein entfernter Cousin zu sein, konnte er es nicht ganz abstreiten. Langsam wurde ihm kalt, was nicht weiter verwunderlich war, schließlich war es bereits Mitte November und dauerte sicher nicht mehr lange, bis es beginnen würde, zu schneien. Er vergrub seine Hände in den Jackentaschen, was allerdings nicht viel brachte, da sie schon durchgefroren waren. Es war wohl besser, wenn er ging und ein andermal wiederkam. Er würde es heute doch eh nicht mehr fertigbringen, auf die Klingel zu drücken. Er hatte sich gerade zum Gehen umgewandt und war ein paar Schritte gegengen , als ein Auto die Straße entlangfuhr und vor dem Haus seines Vater hielt. Luca beobachtete, wie sich das Tor in der Einfahrt automatisch öffnete und das Auto auf den Parkplatz fuhr. Das Tor schloss sich wieder. Ein älterer Mann stieg aus, Luca stellte verwundert fest, dass das nicht sein Vater war. Doch dann öffnete der Mann die Hintertüren und verneigte sich etwas. Ein zweiter Mann stieg aus, gefolgt von einer Frau. Obwohl es schon relativ dunkel war, erkannte Luca den zweiten Mann als Peter Mertens, seinen Vater. Die Frau hinter ihm musste dann wohl diese Nina sein, vermutete er. Sogar einen Chauffeur hatte sein Vater. Er musste wirklich sehr reich sein. Der Blondhaarige musste sich ihnen unbewusst genähert haben, denn auf einmal stand er direkt in der Einfahrt. Sie schienen ihn ebenfalls bemerkt zu haben, denn plötzlich schauten sie ihn alle drei an. Der Chauffeur kam mit zügigen Schritten auf ihn zugelaufen. Luca wich zurück, ehe er sich umwandte und wegrannte. Er rannte so schnell, wie ihn seine durchgefrorenen Beine trugen. Die kalte Luft brannte in seinen Lungen, doch er ignorierte sie. Er wusste nicht, warum er rannte, nur, dass er nicht von seinem Vater entdeckt werden wollte. Er wusste ja noch nicht einmal, wie er ihn ansprechen, oder gar gegenübertreten sollte. Erst als er an der Bushaltestelle angekommen war, hielt er an. Erschöpft ließ er sich auf einen der dort angebrachten Sitze fallen, hoffend, dass der Bus bald einfuhr. Kapitel 51: Jochens Rückkehr ---------------------------- In den drauf folgenden Tagen war Luca noch öfter beim Haus seines Vaters gewesen. Aber nie hatte er sich getraut, die Klingel zu betätigen. Seinen Freunden hatte er davon auch nichts erzählt, obwohl er in den letzten zwei Wochen oft mit ihnen unterwegs gewesen war. Gerade saß der Blondhaarige auf dem Fensterstock in seinem Zimmer und beobachtete die Einfahrt. Vor einigen Stunden hatte es begonnen, zu schneien und der Schneefall war seitdem kontinuierlich stärker geworden. Luca mochte den Schnee. Ihm gefiel, wie die weiße Schicht alles zudeckte. Heute war Sonntag, das hieß gleich würde Jochen wiederkommen. Aber bis jetzt war nichts von dem Mann zu sehen. Draußen dämmerte es und Luca hatte extra das Licht nicht angemacht, damit sein Stiefvater ihn nicht sah. Mit etwas Glück war der Mann so müde, dass er ins Bett fiel und bis morgen durchschlief. Dann hätte er seine Ruhe und müsste morgen nicht mit neuen blauen Flecken in die Schule gehen. Seine Winterjacke hatte er in den Kleiderschrank gehängt. Falls Jochen ihn heute wieder einsperrte, hatte er sie wenigstens noch, wenn er aus dem Fenster kletterte und musste nicht ohne in die Schule gehen. Die Schulsachen hatte er ebenfalls bereits gepackt, falls er nach Jochens Ankunft nicht mehr dazu in der Lage war. Außerdem hatte er das Geld aus dem Versteck in der Matratze genommen und in seinen Rucksack gepackt, für den Fall, dass er überstürzt flüchten musste. Das war schon ein paar Mal vorgekommen und er wollte lieber vorbereitet sein. Dann, endlich, fuhr das verhasste Auto in die Einfahrt und blieb vor dem Haus stehen. Luca sah, wie sein Stiefvater ausstieg, das Fahrzeug mit der Fernbedienung abschloss und zielstrebig auf die Haustür zulief. Bitte lass ihn müde sein, flehte der Blondhaarige in Gedanken. Er schien Glück zu haben, denn im Haus blieb es ruhig. Allerdings hörte er auch nicht, wie Jochen die Treppe heraufkam. Er aß also wahrscheinlich noch mit Sonja zu Abend. Luca kletterte vom Fensterstock und schlurfte zu seinem Bett. Vielleicht ignorierte Jochen ihn auch einfach. Vielleicht hatte er in den letzten zwei Wochen vergessen, dass er existierte. Eine Weile blieb es still, dann hörte er, wie Jochen die Treppe heraufkam. Bereits an den Schritten erkannte Luca, dass der Mann wütend war. Er brauchte nicht lange zum überlegen, um zu wissen, aus wen. Hatte Sonja ihm etwas erzählt? Sonst interessierte es sie doch auch nicht, was Luca trieb, solange er ihr perfektes Leben mit Jochen nicht zerstörte. Die Tür wurde mit einem Ruck aufgerissen und der Mann stürmte ins Zimmer. „Was bildest du dir eigentlich ein?“, brüllte er. Er packte Luca grob am Kragen, zerrte ihn vom Bett und stieß ihn gegen den Schrank. Der Blondhaarige spürte, wie er den Griff in den Rücken bekam. Vor Schmerz stöhnte er leise. „Da bin ich einmal weg, und was tust du?“, schrie Jochen und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht, „Du hast nichts besseres zu tun, als deiner Mutter auf der Nase herumzutanzen und dich in der Stadt herumzutreiben! Wo bist du gewesen?“ Luca schmeckte Blut, ihm war wohl die Lippe aufgeplatzt. Jedenfalls fühlte es sich so an. Jochen packte ihn erneut am Kragen und stieß ihn mehrmals gegen den Schrank. „Rede endlich!“ Die Stöße waren so stark, dass dem Blondhaarigen die Luft wegblieb, doch sein Stiefvater hörte nicht auf. Immer wieder stieß er ihn gegen den Schrank. Als Jochen ihn nach einer gefühlten Ewigkeit losließ, sank er keuchend zu Boden, wo er regungslos liegen blieb. „Antworte gefälligst, wenn ich mit dir rede!“, tobte der Mann und trat ihn in die Seite. Doch Luca schwieg. Dem einen Tritt folgten weitere, doch auch diese stoppten irgendwann. Der Blondhaarige wollte schon erleichtert ausatmen, weil er glaubte, dass Jochen die Lust vergangen war, aber er hatte sich getäuscht. Zum dritten Map packte der Mann ihn am Kragen und stieß ihn gegen den Schrank. „Ich sollte dich abmurksen, du widerliche Kakerlake“, zischte Jochen. Kalte Hände legten sich um den Hals des Siebzehnjährigen und begannen, zuzudrücken. Luca bekam Angst. so weit war der Mann noch nie gegangen! Verzweifelt versuchte er, gegen den Griff anzukämpfen, doch er konnte nicht die nötige Kraft aufbringen. Seine Bewegungen begannen, schwächer zu werden. Er musste etwas tun. Jochen würde ihn umbringen, das wusste Luca. Mit letzter Kraft holte er aus und stieß dem Mann so kräftig er konnte sein Knie zwischen die Beine. Jochen Keuchte vor Schmerzen auf. Der Griff lockerte sich etwas. Luca drehte seinen Kopf und biss ihm kräftig in die Hand. Gleichzeitig stieß er den Mann von sich. „Na warte“, schrie Jochen, „Das wirst du mir büßen! Wenn ich dich in die Finger kriege. Jetzt kannst du etwas erleben!“ Seine Augen blitzten vor Wut. Erst jetzt begriff Luca, was er gerade getan hatte. Scheiße, dachte er. Er musste hier weg, und zwar sofort. sonst würde er aus der Sache nicht mehr lebend herauskommen. Er stieß sich vom Kleiderschrank ab, öffnete ihn und griff nach seiner Winterjacke, danach nach den Winterstiefeln. Dann griff er sich seinen Rucksack, froh darüber, dass er vorhin noch das gesamte Geld aus dem Versteck in der Matratze in ihn gepackt hatte. So schnell er konnte, sprintete er zum Fenster, riss es auf und sprang hinaus. Im Augenwinkel sah er, wie Jochen nach ihm griff, ihn aber knapp verfehlte. Unsanft landete er vor dem Haus. Seine Verletzungen schmerzten bei dem Aufprall. Aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Jochen würde bald die Treppe heruntergestürmt sein und ihn eingeholt haben. Luca begann, zu rennen. Er rannte, so schnell er konnte. Schneller, als er jemals gerannt war. Die Angst trieb seinen Körper zu Höchstleistungen. Seine Lungen brannten von der kalten Luft, die er einatmete, doch auch darauf nahm er keine Rücksicht. Durch den starken Schneefall konnte er keine zehn Meter weit schauen, doch das war jetzt ein Vorteil. Es bedeutete, dass Jochen es schwer haben würde, ihm zu folgen. Hinter sich hörte er Jochens wütende Schreie. Noch war der Mann weit genug von ihm entfernt, um ihn nicht sehen zu können, aber er würde ihn bald eingeholt haben. Als der Blondhaarige an der Bushaltestelle vorbeistürmte, konnte er seinen Augen kaum glauben. Dort stand ein Bus, die Türen geöffnet. Schnell drehte Luca sich um, um zu überprüfen, ob Jochen noch weit genug entfernt war. Der Mann war noch hinter der Wegbiegung verschwunden. Luca rannte auf den Bus zu, sprintete die drei Stufen hinauf, zog gleichzeitig seine Monatskarte aus einem der Winterstiefel, die er immer noch in den Armen trug und hielt sie dem Busfahrer unter die Nase. Er ließ dem Mann gerade genug Zeit, zu erkennen, dass die Karte gültig war, dann stürmte er weiter, ehe er sich auf der Beifahrerseite vor einen leeren Sitz kauerte. In dieser Position wartete, bis der Bus wenig später losfuhr. Sicherheitshalber blieb er auch noch bis zur nächsten Haltestelle so. Dann erst kletterte er auf den Sitz. Er atmete einige Male ruhig ein und wieder aus, um sich zu beruhigen. Als das endlich den gewünschten Erfolg brachte, stellte er seinen Rucksack neben sich und schlüpfte in seine Winterjacke. Glücklicherweise hatte er die Angewohnheit Mütze, Schal und Handschuhe immer im Ärmel zu verstauen, weswegen er sie auch jetzt bei sich hatte. Mit zitternden Fingern zog er sich an. Er tauschte noch seine Hausschuhe gegen die Stiefel und verstaute die Hausschuhe in seinem Rücksack. Erschöpft ließ er sich in den Sitz sinken. Er hatte sich gegen Jochen gewehrt. Er war vor Jochen geflohen. Er war von Zuhause ausgerissen. Nicht, dass er es jemals als Zuhause betrachtet hatte, aber jetzt hatte er keinen Platz mehr zum Schlafen. Wo sollte er also hin. Plötzlich fiel ihm sein schwarzhaariger Klassenkamerad ein. Nicholas hatte gesagt, er solle zu ihm kommen, wenn er Hilfe brauche. Vielleicht konnte er ihm helfen. Nicholas‘ Vater war Anwalt. Wenn er ihnen alles erzählte, könnten sie ihm vielleicht weiterhelfen. Und selbst wenn nicht, hatte er wenigstens ein warmes Bett für die Nacht. Nicholas würde ihn nicht im Stich lassen. Mit neuem Mut stieg Luca an der Haltestelle, die dem Haus seines Klassenkameraden am nähendsten war, aus und lief in die Richtung, in des Hauses. Umfrage --> http://animexx.onlinewelten.com/fanfiction/autor/389611/322139/   Kapitel 52: Eskalation ---------------------- Samuel öffnete die Tür. Zuerst schaute er den Blondhaarigen verwundert an, dann zeigte sich ein Lächeln in seinem Gesicht. „Nicholas ist oben“, sagte er freundlich, „Sheila macht ihm gerade die Haare.“ Er trat zur Seite und deutete Luca an, hereinzukommen. Das tat Luca auch, denn er wollte nicht länger als nötig draußen in dem Schneesturm stehen bleiben. Er zog seine Stiefel aus und stellte sie auf die dafür vorgesehenen Gummimatten im Flur, damit er nicht den Boden versaute. Seine Jacke hängte er an die Garderobe, Mütze und Handschuhe stopfte er, wie er es immer tat, in den Ärmel. Sie waren glücklicherweise nicht so durchnässt, dass er sie hätte auf eine Heizung legen müssen. Den Schal behielt er an, er war noch trocken und wärmte seinen halb durchgefrorenen Körper. „Ist etwas passiert?“, fragte Samuel. Besorgt musterte er den Blondhaarigen. Er schien die Verletzungen bemerkt zu haben, denn er zog den Siebzehnjährigen in die Küche, wo er ihn auf einen Stuhl drückte. Wenig später kam er mit einem Erste-Hilfe-Set zurück. „Das brennt ein bisschen“, meinte er, ehe er begann, Lucas aufgeplatzte Lippe zu desinfizieren. Dann lächelte er, scheinbar erleichtert. „Es sieht nicht so schlimm aus. In ein paar Tagen ist das wieder heil.“ Luca nickte, nicht wissend, was er sagen sollte. „Danke.“ „Nicholas ist im Bad“, meinte Samuel, während er den Verbandskasten wieder wegräumte, „die Treppe hoch die zweite Tür links.“ Dankbar nickte der Blondhaarige, ehe er zu besagter Tür lief. Leise klopfte er. Als sich drinnen nichts tat, öffnete er sie. Zwei Augenpaare blickten ihn überrascht an und auch Luca war etwas überrascht von dem Abblick, der sich ihm bot. Nicholas saß oben ohne auf einem Hocker in der Mitte des Raumes. Um seine Schultern hing ein altes Handtuch, das schon mehrere Farbflecke zu haben schien. Schräg hinter ihm stand Sheila. In der linken Hand hielt sie ein Fläschchen schwarze Haarfarbe, in der rechten einen Kamm. „Hallo“, flüsterte Luca unsicher. Irgendwie kam er sich vor, als würde er stören. Doch Sheila lächelte nur. „Geh doch schon einmal zu Nicholas ins Zimmer. Ich bin gleich mit ihm fertig.“ Da der Schwarzhaarige nichts dagegen sagte, tat Luca, was sie von ihm verlangte. Er wusste vom letzten Mal noch, wo sich das Zimmer seines Klassenkameraden befand und hatte es dementsprechend schnell gefunden. Erschöpft ließ er sich auf das dort stehende Doppelbett fallen. Nicholas würde schon nichts dagegen haben. Er ließ seinen Blick durch das Zimmer wanderte. Es sah richtig gemütlich aus, fand er, auch wenn der grüne Teppich es etwas kalt wirken ließ. Dafür war er aber schön flauschig. Obwohl sein Körper erschöpft war, konnte der Blondhaarige nicht zur Ruhe kommen, weshalb er sich wenig später wieder aus dem Bett erhob und unruhig im Zimmer auf und ab lief, hoffend, dass Nicholas bald kommen würde. Er musste mit seinem Freund sprechen, und das schnell, bevor er es sich noch anders überlegte. Aber konnte er das denn noch? Schließlich hatte er kein Zuhause mehr, wohin er zurückkehren konnte. Er musste mit Nicholas sprechen, eine andere Wahl hatte er nicht. Irgendwann blieb Luca dann vor dem Schreibtisch stehen und besah ihn sich genauer. In der Ecke stand ein eingerahmtes Foto. Es zeigte eine Familie, die glücklich in die Kamera lächelte. Als Luca es näher betrachtete, fiel ihm auf, dass es Nicholas‘ Familie war. Er hatte seinen Klassenkameraden nicht sofort erkannt, da er auf diesem Foto noch keine schwarzen Haare hatte. Vorsichtig nahm Luca das Foto in die Hand. Der Rahmen sah aus, als sei er teuer gewesen und er wollte ihn auf keinen Fall beschädigen. Mit dem Fingern strich er über Nicholas‘ Gesicht. So wie hier auf diesem Foto hatte er seinen Klassenkameraden noch nie lächeln sehen. Es war ein offenes, ehrliches Lächeln. Als die Tür hinter ihm aufging und Nicholas hereintrat, drehte der Blondhaarige sich zu ihm um, das Bild noch immer in der Hand haltend. Jetzt fiel es auch dem Schwarzhaarigen auf. Sein Blick verfinsterte sich. In seinen Haaren befand sich die Farbe, die Sheila eben aufgetragen hatte und die jetzt wohl einwirken musste. Außerdem hatte die Frau ihm die Haare hochgesteckt. „Leg das weg!“, zischte er aufgebracht. Erschrocken zuckte Luca zusammen. So hatte sein Klassenkamerad seit Beginn des Schuljahres nicht mehr mit ihm gesprochen. Er fühlte sich, als sei er geschlagen worden. „Entschuldige“, flüsterte er und legte das Foto schnell auf den Schreibtisch hinter sich. Er hätte es nicht anschauen sollen. Nicholas‘ Gesicht zeigte keine Regung. Irgendwie war er anders als sonst, bemerkte Luca. Etwas stimmte nicht mit ihm, er verhielt sich seltsam. Das konnte doch nicht nur daran liegen, dass er sich das Foto angesehen hatte. Nicholas konnte unmöglich nur deswegen so wütend sein. „Weshalb bist du hergekommen?“, verlangte der Schwarzhaarige zu wissen. „Ich-“ Luca brach ab. Er konnte es nicht sagen, nicht, solange Nicholas ihn so ansah. In seinem Hals bildete sich ein unangenehmer Klos, den er auch nach mehrmaligem Schlucken nicht loswurde. Hätte er vielleicht besser bis morgen gewartet und seinen Freund dann in der Schule darauf angesprochen? Aber Nicholas hatte gesagt, er solle zu ihm kommen, egal wann. Trotzdem fühlte er sich, als störe er. Verzweifelt schüttelte der Blondhaarige seinen Kopf und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Er würde jetzt nicht weinen! Der Schwarzhaarige kam einige Schritte auf ihn zu. „Jetzt sag schon endlich, was du willst. Du bist doch nicht grundlos mitten in der Nacht hergekommen!“ Luca wich zurück. Nicholas machte ihm Angst. Dieser Blick, wie er ihn ansah, war der gleiche wie der von Jochen, bevor er ihn verprügelte. Als der Schwarzhaarige dann auch noch die Hand nach ihm ausstreckte, stieß Luca gegen den Schreibtisch. Mit den Händen hielt er sich an der Kante fest, um sein Gleichgewicht nicht zu verlieren. Dabei stieß er mit einer Hand gegen den Bilderrahmen. Dieser rutschte zur Seite, über die Tischkante hinaus und fiel auf den Boden. Mit einem leisen Klappern kam er auf dem Boden auf und zerbrach, trotz des flauschigen Teppichs. Geschockt starrte Luca zuerst auf den Riss, der sich jetzt quer über das Foto zog, dann zu Nicholas. „Es tut mir leid“, schluchzte er. Das hatte er nicht gewollt. „Verschwinde“, fauchte der Schwarzhaarige. Ein stich zog sich durch Lucas Herz. Als der Blondhaarige nicht sofort reagierte, packte er ihn an den Schultern und stieß ihn in Richtung der Tür. Den Rucksack warf er ihm hinterher. Dabei fiel sein Handy aus der Seitentasche, in der er es immer verstaute. Es landete direkt vor Nicholas‘ Füßen. Mit zitternden Fingern griff Luca nach seinem Rücksack und hastete aus dem Zimmer. Das Handy ließ er liegen. Um es aufzuheben, hätte er Nicholas näher kommen müssen und das traute er sich im Moment nicht. Außerdem war es nicht weiter wichtig. Er hatte seit Monaten kein Geld mehr drauf und seine Nummer hatte auch keiner. Der Blondhaarige rannte die Treppe hinunter, sprang in seine Stiefel, warf sich die Jacke um und stürmte aus dem Haus. Erst als er wieder draußen im Schneesturm stand, ließ er seine Tränen fallen. Ungehemmt flossen sie ihm über das Gesicht. Er zog Jacke, Mütze und Handschuhe wieder an und schloss den Reißverschluss seiner Jacke. Noch immer begriff er nicht, was gerade passiert war. Nicholas hatte ihn rausgeworfen. Dabei hatte er es versprochen! Er hatte versprochen, für ihn da zu sein, ihn nicht allein zu lassen! Waren das nur leere Worte gewesen? Mit einem Schlag wurde ihm klar, dass er wieder allein war. Er hatte niemanden mehr, an den er sich wenden konnte. Nicholas wollte ihn nicht mehr. Keiner interessierte sich für ihn. Keiner wollte ihn. Es war wieder alles so, wie es gewesen war, bevor Nicholas die Hand nach ihm ausgestreckt hatte. Doch warum tat es dann so weh? Warum zog sein Herz sich so schmerzhaft zusammen, dass er kaum noch Luft bekam? Er war es doch gewohnt, schließlich war er schon immer allein gewesen. Nicholas war der erste, der sich um ihn gekümmert hatte, der erste, der ihn menschliche Nähe hatte fühlen lassen. Der erste, der ihn getröstet hatte, wenn er geweint hatte, und umarmt hatte, wenn er Schutz suchte. Ohne ihn fühlte Luca sich seltsam leer. Als hätte man ein Stück aus ihm herausgerissen und ihn mit einer blutenden Wunde zurückgelassen. Was stimmte mit ihm nicht, dass ihn keiner wollte? Was hatte er getan, um das zu verdienen? War sein Wunsch so unmöglich zu erfüllen? Er wollte doch nur, dass ihn jemand liebte! Kapitel 53: Wieder allein ------------------------- Lucas Beine schienen ihn unbewusst zum Haus seines Vaters getragen zu haben, denn er stand plötzlich vor dem prunkvollen Tor, das die Einfahrt versperrte. Schlimmer kann es nicht mehr werden, dachte sich der Blondhaarige und drückte auf den Klingelknopf. Dann wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht. Mehr als wieder rauswerfen konnte sein Vater ihn nicht. „Hallo?“, vernahm er wenig später eine verschlafen klingende Frauenstimme aus der Sprechanlage. Am liebsten hätte Luca sich geohrfeigt. Es war mitten in der Nacht! Die meisten Menschen schliefen um diese Uhrzeit! Wie es aussah hatte er seinen Vater und dessen Freundin wohl geweckt. Einen Rückzieher konnte er jetzt nicht mehr machen, weshalb er sich zwang, mit ruhiger Stimme zu sprechen: „Ist Peter Mertens da?“ „Einen Moment“, sagte die Frau, „Ich lasse Sie herein. Das ist ja kein Wetter da draußen.“ Ein Surren ertönte und das Tor öffnete sich. Kurz zögerte der Blondhaarige, dann betrat er das Grundstück und lief zur Haustür. Sie befand sich unter einem Vordach, das ihn einigermaßen gut vor dem Schnee schützte. Aber viel brachte es nicht, der Siebzehnjährige war bereits voller Schnee. Wenig später wurde die Tür vor ihm geöffnet und die junge Frau, die ihn eben auch auf das Grundstück gelassen hatte, winkte ihn eilig ins Haus. Das ließ sich Luca natürlich nicht zweimal sagen. Da im Flur das Licht brannte, konnte er die Frau jetzt auch genauer sehen. Er vermutete, es war die, die er letztens mit seinem Vater aus dem Luxuswagen hatte steigen sehen. Sie hatte kurzes, naturblondes Haar, graue Augen und war nur ein kleinwenig größer als Luca. Er schätzte sie auf Ende Zwanzig, was ihn etwas verwunderte. Hatte sein Vater eine so junge Freundin? Hübsch war sie ja, das gab Luca neidlos zu, auch wenn er absolut nichts mit Frauen anfangen konnte. „Peter ist gleich da“, sagte sie. Ihre Stimme hatte einen leicht beruhigenden Klang. „Es tut mir leid, dass ich so spät noch störe“, entschuldigte Luca sich, wie es sich gehörte, ehe er sich die Mütze vom Kopf zog. Er bemerkte seinen Fehler erst, als sich die Augen der Frau weiteten und sie ihn ungläubig anstarrte. „Wie genau stehst du zu Peter“, verlangte sie, plötzlich nicht mehr so freundlich, von ihm zu wissen. „Den genauen Verwandtschaftsgrad weiß ich nicht“, log Luca, „Ich weiß nur, dass wir über ein paar Ecken relativ weit entfernt miteinander sind.“ Die Frau schien sich wieder etwas zu beruhigen. Sie wollte gerade etwas erwidern, als sie Schritte hörten. „Wer ist es denn, Nina?“, erklang eine Männerstimme, sie war also wirklich die Freundin seines Vaters. Gleichzeitig kam Peter Mertens um die Ecke gehastet. „Der Junge möchte dich sprechen. Es scheint dringend zu sein“, meinte die Frau, ehe sie den Flur entlanglief und Luca mit seinem Vater allein ließ, wohl um nicht zu stören. Erst jetzt wagte Luca es, seine Vater genauer zu betrachten. Jetzt, wo er ihn vor sich sah, war die Ähnlichkeit noch größer. Er sah seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Die einzigen Unterschiede in ihrem Aussehen waren das Alter und die leichten Locken im Haar des Siebzehnjährigen. Der Blondhaarige blickte seinen Vater an, wollte ihm erklären, weswegen er ihn aufgesucht hatte. doch kein Wort kam über seine Lippen. Mit Nina hatte er sich eben noch problemlos unterhalten können, doch jetzt war sein Mund wie ausgetrocknet. Peters Augen hatten sich geweitet, als er seinen Sohn erblickt hatte. Der Siebzehnjährige zweifelte keine Sekunde daran, dass er ihn erkannt hatte, obwohl sie sich seit fast siebzehn Jahren nicht mehr gesehen hatten. aber bei ihrer Ähnlichkeit war es auch einfach, die richtigen Schlüsse zu ziehen. „Was willst du?“, fragte Peter mit unterkühlter Stimme. „Ich-“ Luca brach ab. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Dabei war er so oft durchgegangen, was er seinem Vater sagen wollte. Doch sein Kopf schien wie leer gefegt. „Ich hätte es wissen müssen“, schnaubte Peter, „Diese Schlampe hat es noch nie geschafft, ihren Mund zu halten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis du hier auftauchen würdest. Jetzt sag schon endlich, was du von mir willst!“ Unbewusst war Luca einen Schritt zurückgewichen. Das aufbrausende Verhalten seines Vaters machte ihm angst. Für einen Augenblick hatte er sogar geglaubt, Jochen vor sich zu haben, obwohl die beiden Männer sich kein Bisschen ähnelten „Sonja hat mir nichts gesagt. Sie weiß auch nicht, dass ich hier bin“, versuchte Luca, die Situation zu entschärfen. Wenn er mit seiner Vermutung richtig lag, dass sein Vater damals nur seine Mutter hatte loswerden wollen, müsste es funktionieren. Sein Vater hob eine Augenbraue, sagte aber nichts. Er schien darauf zu warten, dass der Siebzehnjährige weitersprach. „Sie sind mein Vater, nicht wahr?“, flüsterte Luca. Peter sah ihn abwartend an. Er machte keine Anstalten, die Frage zu beantworten, also fuhr der Siebzehnjährige fort: „Es tut mir leid, dass ich Sie so spät störe. Mir ist kein anderer eingefallen, an den ich mich sonst hätte wenden können. Ich brauche Ihre Hilfe.“ Peters Blick verfinsterte sich. „Willst du Geld? Bist du deswegen hier? Zahle ich noch nicht genug?“, brauste er auf. „Nein“, stotterte Luca, „Ich…“ „Raus!“ Peter schrie nicht. Seine Stimme war ruhig, aber autoritär. Er machte deutlich, dass er keine Widerworte duldete. „Warten Sie“, sagte Luca erschrocken. Er konnte ihn doch nicht einfach rauswerfen. Doch der Mann schien nicht weiter mit ihm sprechen zu wollen. Er ging an ihm vorbei, öffnete die Tür und deutete nach draußen. „Geh“, verlangte er. Als Luca sich nicht rührte, packte er ihn grob am Oberarm und stieß ihn durch die Tür. „Das ist ein Missverständnis“, rief der Siebzehnjährige. „Jetzt hör mir mal gut zu, Junge“, schimpfte Peter und stieß ihn gegen die Wand, auf die das Vordach gestützt war, „Ich will weder mit dir noch mit deiner Mutter etwas zu tun haben!“ Luca versuchte, sich loszureißen, doch sein Vater hielt ihn nur noch kräftiger Fest. Mit einer Hand packte er die Handgelenke des Siebzehnjährigen und presste sie gegen die Mauer. Luca kämpfte weiter gegen ihn an. „Lassen Sie mich los!“, verlangte er. Peter presste seine Handgelenke noch fester gegen die Wand. „Lass dich hier nie wieder blicken! Hast du verstanden?“ Zögerlich nickte Luca. Er wusste, wann er verloren hatte. Als Peter ihn wieder losließ, rannte er an dem Mann vorbei und flog durch das offene Tor vom Grundstück. Er bemerkte nicht, dass sein Armband fehlte. Tränen der Verzweiflung liefen ihm über das Gesicht. Er hatte gehofft, dass wenigstens sein Vater ihm helfen würde. Doch der Mann schien seine Einstellung in den letzten siebzehn Jahren nicht geändert zu haben. Er wollte immer noch nichts von ihm wissen. Ziellos rannte Luca durch die Stadt. Nach einer Weile verlangsamte er sein Tempo, doch er hielt nicht an. Alles in ihm schrie danach, zu fliehen. Er wollte nur noch weg von hier. Weg aus dieser Stadt, in der er niemals glücklich werden konnte. Weg aus seinem Leben. Als er an dem Haus, in dem sich Julians Wohnung befand, vorbeikam, hielt er kurz an. Kurz spielte er mit dem Gedanken, zu klingeln und den Mann zu fragen, ob er bei ihm übernachten könne. Doch so schnell ihm dieser Gedanke gekommen war, so schnell verwarf er ihn wieder. Er kannte Julian nicht. Außerdem war er Nicholas‘ Freund. Schon ein Gedanke an den Schwarzhaarigen genügte und Lucas Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Warum hatte Nicholas das getan? Nicholas hatte ihm die Kraft gegeben, um wieder leben zu wollen. Luca hatte ernsthaft geglaubt, er bedeute dem Schwarzhaarigen etwas. Auch, wenn dieser nie seine Gefühle erwidert hätte, hatte Luca gedacht, dass er ihn wenigstens mochte. Wie hatte er sich nur so in ihm täuschen können? Kapitel 54: Der Bilderrahmen ---------------------------- Die Nacht und den darauf folgenden Morgen verbrachte Luca damit, durch die Stadt zu irren. Er wusste, er durfte nicht schlafen, sonst würde er wahrscheinlich nicht wieder aufwachen. Außerdem war ihm kalt. Sein Hände und Füße spürte er bereits seit Stunden nicht mehr. Deshalb war er froh, als am nächsten Tag die Läden öffneten und er sich in ihnen aufwärmen konnte. Um nicht unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, blieb er nie lange in einem Geschäft. Trotzdem schauten ihn einige Leute skeptisch an, wohl wegen seiner aufgeplatzten Lippe. Es konnte aber auch daran liegen, dass er ein Schüler war und Montagvormittag durch die Läden zog. Ob sie glaubten, dass er schwänzte? Recht hätten sie damit. Aber Luca glaubte nicht, dass er in der Lage gewesen wäre, Nicholas unter die Augen zu treten. Er wäre nur wieder im Tränen ausgebrochen oder weggelaufen. Es war besser, wenn er jetzt Abstand zu dem Schwarzhaarigen hielt. Er wollte nicht noch mehr verletzt werden. Lucas Blick fiel auf das Schaufenster eines Fotografen. Die Bilderrahmen, die hier ausgestellt wurden, sahen fast so aus, wie der, den er kaputt gemacht hatte. Ob Nicholas ihm verzieh, wenn er ihm einen neuen kaufte? Ohne zu realisieren, was er tat, betrat Luca den kleinen Laden und fand sich wenig später vor einem Regal gefüllt mit den verschiedensten Bilderrahmen wieder. Es dauerte nicht lange, dann fand er den gleichen Rahmen, wie ihn Nicholas besaß. Als er jedoch auf das Preisschild sah, musste er schlucken. So teuer hätte er den Bilderrahmen nicht geschätzt. Hatte er überhaupt so viel Geld? Er holte es aus dem Rucksack und zählte. Es war knapp, aber es reichte. Also nahm er den Rahmen und ging zur Kasse, wo er bezahlte. Zufrieden verließ er das Geschäft. Jetzt fühlte er sich nicht mehr ganz so schlecht, weil er Nicholas‘ Rahmen kaputt gemacht hatte. Lucas Magen knurrte, allerdings hatte er jetzt nicht mehr genug Geld, um sich etwas zu Essen zu kaufen. Die wenigen Cent, die er als Wechselgeld zurückbekommen hatte, reichten nicht einmal für ein Brötchen. Aber das störte ihn nicht weiter. Er war es schließlich gewohnt, ab und an zu hungern. Jetzt musste er den Bilderrahmen nur noch zu Nicholas bringen. Allerdings wäre es wohl besser, wenn der Schwarzhaarige ihn nicht sah. Also sollte er es besser tun, solange er noch in der Schule war. Vielleicht konnte er den Rahmen Samuel oder Sheila geben. Er würde dann schon bei Nicholas ankommen. Da es noch Vormittag war, musste er sich keine Sorgen machen, seinem Klassenkameraden zu begegnen. Dieser saß gerade in der Schule. Vielleicht wunderte er sich auch über Lucas Abwesenheit. Ob er sich Sorgen machte? Entschlossen schüttelte der Blondhaarige den Kopf. Sicher nicht. Er war Nicholas egal, das hatte er gestern bemerkt. Hätte der Schwarzhaarige sich auch nur ein kleinwenig für ihn interessiert, hätte er ihn nicht so behandelt. Trotzdem fühlte er sich, als schulde er seinem Klassenkameraden etwas, egal aus welchen Gründen. Als er bemerkte, dass er auf der Brücke stand, von der er sich zu Beginn des Schuljahres hatte stürzen wollen, hielt er an. Das Wasser floss friedlich und leise plätschernd unter ihr hindurch. Damals hatte er sich nicht getraut. Er hatte sich entschlossen, es noch einmal zu versuchen. Dann hatte Nicholas ihm geholfen und er war nicht mehr hierher zurückgekehrt. Er hatte wieder Freude an seinem Leben gefunden. Zum ersten Mal seit er denken konnte, war er wirklich glücklich gewesen und er wollte diese Erfahrung um nichts missen. Er hatte Freunde gefunden, auch wenn es nur die von Nicholas waren und nicht seine eigenen. Trotzdem waren sie nett zu ihm gewesen und hatten ihn in ihre Gruppe aufgenommen. Und er hatte sich verliebt, in Nicholas. Auch, wenn Luca verletzt worden war und jetzt wieder allein dastand, so bereute er es doch nicht, sich damals für das Leben entschieden zu haben. Die letzten Monate waren die schönsten seines Lebens gewesen. Mit einer Hand fuhr er über sein Handgelenk, an dem er immer das Armband trug, das er zu seinem Geburtstag geschenkt bekommen hatte, und hielt erschrocken inne. Das Armband war weg. Er musste es verloren haben. Doch wo? Es konnte überall liegen und er konnte sich nicht mehr erinnern, wo er alles entlanggelaufen war. Hatte er es überhaupt noch dran gehabt, als er vor Jochen geflohen war? Leise schluchzte Luca. Das Armband war ihm wichtig gewesen. Es war das erste richtige Geburtstagsgeschenk, was er jemals bekommen hatte. Und jetzt war es weg. Genau wie sein Leben. Es war innerhalb weniger Stunden ineinander zusammengefallen. Nur noch ein Haufen Scherben war übrig. Machte es überhaupt noch einen Sinn, weiterzuleben? War es nicht egal, ob er jetzt starb? Es interessierte doch eh keinen. Nicht einmal Nicholas. Er musste sich bedanken, fiel ihm ein. Doch wie sollte er das tun, wenn er sich nicht traute, Nicholas noch einmal unter die Augen zu treten? Sein Blick fiel auf den Bilderrahmen. Das könnte gehen. Vorsichtig holte Luca den zerbrechlichen Gegenstand aus seiner Schachtel. Er war in Folie eingewickelt, die ihn wohl daran hindern sollte, zu schnell zu zerbrechen. Der Blondhaarige holte einen Zettel und einen Stift aus seinem Rucksack. Dann überlegte er, was er schreiben sollte. Würde Nicholas es überhaupt lesen? Eigentlich konnte es ihm egal sein. Nicholas war es schließlich auch egal. Er nahm den Stift und begann, zu schreiben: Danke. Für alles, was du für mich getan hast. Ich werde dich nicht länger belästigen. Er faltete den Zettel und steckte ihn gemeinsam mit dem Bilderrahmen zurück in dessen Verpackung. Um sicher zu gehen, dass der Rahmen auch wirklich bei seinem schwarzhaarigen Klassenkameraden ankam, schrieb er noch dessen Namen auf die Schachtel. Danach machte er sich auf den Weg zum Haus des Schwarzhaarigen. Es war gar nicht so weit von hier entfernt, hatte Luca festgestellt. Obwohl er sehr langsam lief, dauerte es nicht lange, dann stand er wieder vor der Tür. Zuerst wollte er klingeln. Doch dann fiel ihm ein, dass er dann erklären müsste, warum er nicht in der Schule war. außerdem hatte es bereits begonnen, zu dämmern, also war Nicholas vielleicht schon wieder zu Hause. Entschlossen drehte der Siebzehnjährige sich wieder um und steckte den Bilderrahmen samt Verpackung vorsichtig in den Briefkasten. Er ging, ohne einen Blick zurückzuwerfen, zurück zu der Brücke. Als er sie erreichte, war auch das letzte Tageslicht verschwunden. Es gab kein zurück mehr. Es gab nichts mehr, das ihn noch hier hielt. Er kletterte auf das Geländer und lehnte sich nach vorn. „Hey, du!“, schrie plötzlich eine Stimme. Erschrocken zuckte Luca zusammen und sah in die Richtung, aus der er sie gehört hatte. Ein Polizist, das erkannte Luca im Licht der Straßenlampe an der Uniform, kam mit schnellen Schritten auf ihn zugerannt. Konnte man ihn nicht einmal in Ruhe streben lassen, wenn man ihm schon das ganze Leben nahm? Der Blondhaarige sprang vom Geländer. Es jetzt zu tun, hatte keinen Sinn. Der Polizist hätte ihn schneller aus dem Wasser gefischt, wie er ertrinken oder erfrieren konnte. So würde das nicht funktionieren. Man durfte ihn erst finden, wenn er auch tot war. Nur so war sichergestellt, dass man ihn nicht zu Jochen zurückbrachte. Der Gedanke an seinen Stiefvater und was dieser mit ihm anstellen würde, wenn er ihn in die Finger bekam, verlieh Luca neue Kräfte. Er sprang vom Geländer und rannte den Weg entlang, in die Richtung, aus der er vorhin gekommen war. Der Polizist durfte ihn nicht erwischen. Er wollte nicht zurück! Luca bog auf die Hautstraße ein, ohne auf den Verkehr zu achten. Er sah zwar die Lichter der an ihm vorbeifahrenden Autos, doch schenkte er ihnen keine Beachtung. Seine Aufmerksamkeit gehörte einzig und allein dem Polizisten, der ihn immer noch verfolgte. Er hatte ihn beinahe eingeholt. Es war nicht einmal noch ein halber Meter zwischen ihnen. „Hiergeblieben!“, rief der Polizist und griff nach seinem Rucksack. Der Siebzehnjährige wich der Hand aus, indem er sich duckte und auf die Straße rannte. Zuerst hörte er ein Hupen, dann sah er Lichter, die auf ihn zurasten. Es folgten Schmerzen und ein seltsames Gefühl, fast so, als würde er fliegen. Danach wurde alles schwarz. Kapitel 55: Reue * ------------------ Nicholas starrte auf das Handy, das Luca am Sonntag liegen lassen hatte. Eigentlich hatte er vorgehabt, es dem Blondhaarigen am Montag zu geben, doch der war nicht in der Schule gewesen. Ob er krank war? Besonders gut hatte er am Sonntag nicht ausgesehen. Und heute hatte er ebenfalls gefehlt. Seinen Freunden hatte Nicholas noch nichts erzählt. Rebecka würde ihm nur wieder die Leviten lesen und auch die anderen schienen Luca inzwischen sehr gern gewonnen haben. Seufzend ließ der Schwarzhaarige sich auf sein Doppelbett fallen. Er hätte Luca nicht so anfahren dürfen. Der Blondhaarige konnte nichts für seine schlechte Laune und er hätte sie nicht an ihm auslassen dürfen. Sein Vater war es, auf den er wütend gewesen war, auf den er immer noch wütend war, weil er der Meinung gewesen war, am Todestag seiner ersten Frau in den Urlaub fahren zu müssen. Dann hatte er noch die Nerven gehabt, Nicholas zu fragen, ob er mitwolle. Natürlich war der Schwarzhaarige mehr als nur ein kleinwenig verärger darüber gewesen. Aber das gab ihm noch lange nicht das Recht, Luca so zu behandeln. Luca hatte nichts getan. Er hatte das nicht verdient. Es war ihm gegenüber nicht fair gewesen. Er musste sich entschuldigen! Doch wie, wenn Luca nicht in die Schule kam? Sollte er ihn vielleicht besuchen? Er wusste schließlich, wo sein Klassenkamerad wohnte. Aber wollte Luca ihn überhaupt sehen? Der Blondhaarige hatte schließlich jedes recht, wütend auf ihn zu sein. Jetzt, wo Nicholas das Geschehene objektiv betrachtete, bemerkte er, dass er sich Luca gegenüber völlig unmöglich verhalten hatte. Es war noch nicht lange her, da hatte Luca ihn ein taktloses Rindvieh und einen ignoranten Mistkerl genannt. Der Schwarzhaarige war ihm deswegen nicht böse, er wusste schließlich, dass er einen Fehler gemacht hatte. Die Ohrfeige hatte er verdient gehabt, auch wenn er so etwas Luca nicht zugetraut hatte. Er musste daran denken, wie er den Blondhaarigen später im Bad als Wiedergutmachung geküsst hatte. Es hatte ihm gefallen und er würde es jederzeit wieder tun, was ihn etwas beunruhigte. Es war nicht so, dass er Luca unattraktiv fand oder so. Aber ihn deswegen gleich küssen zu wollen? Er musste sich in Zukunft unbedingt zurückhalten. Er durfte keine Gefühle für den Blondhaarigen entwickeln. Nicht, wenn es keine freundschaftlichen waren. Wäre Luca jemand anderes mit einer anderen Vergangenheit und nicht so vielen Problemen, hätte Nicholas vielleicht versucht, mit ihm eine Beziehung zu führen. Aber Luca war ihm zu wichtig, als dass er ihn durch so etwas verlieren wollte. Außerdem hatte er den Verdacht, dass der Blondhaarige einer Beziehung zustimmen würde, selbst wenn er nur freundschaftliche Gefühle für ihn hatte, nur um ihn nicht zu verlieren. Und das wollte der Schwarzhaarige vermeiden. Wenn sich also etwas zwischen ihnen ändern sollte, dann musste Luca den ersten Schritt machen. „Das Essen ist fertig“, rief Sheila laut im Flur, wie sie es immer tat, wenn kein Besuch da war. Nicholas erhob sich, legte Lucas Handy auf seinen Schreibtisch und schlenderte in die Küche. Der Tisch war bereits gedeckt, also holte er nur noch die Getränke aus dem Keller. Sheila trank Wasser, er und sein Bruder bevorzugten Eistee. Samuel hatte Fisch mit Bratkartoffeln gemacht, eines von Nicholas‘ Lieblingsgerichten. Aber wenn der Schwarzhaarige ehrlich war, mochte er alles, was sein Bruder kochte. Er hätte Koch lernen sollen, fand Nicholas, und nicht in der Kanzlei ihres Vaters anfangen. Die Mahlzeit verlief schweigsam. Sheila blätterte durch eine Modezeitschrift, für die sie gemodelt hatte und betrachtete die Bilder. Samuel tippte auf seinem Handy herum. „Für dich hat auch etwas im Briefkaste gelegen“, meinte Sheila gut gelaunt, „Ich habe es auf die Treppe gelegt. Sei doch so gut und nimm es mit, wenn du in sein Zimmer gehst.“ Der Schwarzhaarige nickte, wenn auch etwas verwirrt. Er hatte nichts bestellt und einen Brief erwartete er auch nicht. Was es wohl war? Er beeilte sich, aufzuessen und zog sich in sein Zimmer zurück. Auf der Treppe stand ein kleines Päckchen. Sein Vorname war handschriftlich in einer ihm bekannt vorkommenden Schrift darauf geschrieben worden, nichts weiter. Keine Adresse, kein Aufkleber von der Post. Von wem auch immer das Päckchen kam, er hatte er persönlich in den Briefkasten gesteckt. Aber warum hatte er es ihm nicht gleich gegeben? Hatte das irgendwelche tieferen Gründe oder war er einfach nur nicht zu Hause gewesen? Nicholas nahm das Päckchen mit in sein Zimmer, wo er es auf den Schreibtisch neben Lucas Handy legte. Dann öffnete er vorsichtig den Karton. Zum Vorschein kam ein in Folie eingewickelter Bilderrahmen und als Nicholas ihn auspackte, erkannte er, dass es der gleiche war, wie der, der am Sonntag kaputt gegangen war. Von Luca, schoss es ihm durch den Kopf. Luca musste ihm einen neuen Rahmen gekauft haben. Er sollte sich wirklich bei seinem Klassenkameraden entschuldigen. Wenn er morgen wieder nicht in die Schule kam, würde er bei ihm zu Hause nachsehen, beschloss Nicholas, hoffend, dass Luca oder dessen Familie ihn nicht gleich wieder rauswarf. Er wollte den Bilderrahmen gerade zurück in den Karton stecken, als ihm auffiel, dass dieser nicht leer war. Ein zusammengefalteter Zettel befand sich noch darin. Zuerst wollte er den Rahmen einfach wieder zurückstecken, da er den Zettel für Werbung hielt, bis ihm auffiel, dass das Papier liniert war. Keiner druckte Werbung auf einen linierten Zettel. Also legte er den Rahmen zur Seite, nahm er ihn heraus und entfaltete ihn. Als er den Inhalt erblickte, blieb sein Herz beinahe stehen. Dort stand in Lucas feiner, sauberer Schrift: Danke. Für alles, was du für mich getan hast. Ich werde dich nicht länger belästigen. Plötzlich hatte Nicholas Schwierigkeiten, zu atmen. Sein Herz begann, zu rasen und ihm brach der kalte Angstschweiß aus. Das klang sehr nach einem Abschiedsbrief, zu sehr. Der Blondhaarige hatte doch nicht etwa vor- Er wagte nicht, den Gedanken zu beenden. Seine Hände begannen, zu zittern. Der Zettel entglitt seinen Fingern. Seine Knie gaben nach und er sackte zusammen, fiel auf die Knie. „Das ist ein schlechter Scherz“, flüsterte er, hoffend, sich davon überzeugen zu können. Aber es brachte nichts, „Bitte, Luca!“ Das konnte er ihm nicht antun! Der Schwarzhaarige sprang auf. So schnell er konnte, stürmte er die Treppe hinunter ind Wohnzimmer, wissend, dass sein Bruder zu dieser Zeit immer fernsah. „Du musst mich wo hinfahren!“, rief er. Samuel schaute ihn verwirrt an. „Jetzt?“, fragte er. Doch sein Bruder war bereits weitergestürmt. Er riss Samuels Jacke und Schuhe von der Garderobe, warf sie ihm zu, ehe er sich selbst anzog. „Beeil dich!“, schimpfte er. Samuel grummelte etwas, was sich verdächtig nach „Ich mach ja schon“ anhörte. Dann stockte er. Erschrocken blickte er seinen jüngeren Bruder an. „Weinst du?“ Nicholas führte eine Hand zu seiner Wange. Tatsächlich! Sie war nass. Er weinte. Wie lange war es her, dass er das letzte Mal geweint hatte? Es musste kurz nach dem Tod seiner Mutter gewesen sein. „Was ist passiert?“ Besorgt musterte Samuel seinen Bruder. „Fahr mich zu Luca, bitte“, verlangte Nicholas. Samuel nickte. Er stellte keine weiteren Fragen, sondern stieg schweigend in sein Auto. Nicholas nahm auf dem Beifahrersitz platz. Vor Lucas haus hielt Samuel dann. Nicholas wartete nicht, bis er eingeparkt hatte. Sobald das Auto nur noch Schrittgeschwindigkeit fuhr, riss er die Tür auf und sprang aus dem Wagen. Samuels wütende Rufe ignorierte er. So schnell er konnte, rannte der Schwarzhaarige zur Haustür und drückte auf den Klingelknopf. Durch ein geöffnetes Fenster in ersten Stock hörte er es draußen klingeln. Als sich nichts tat, klingelte er erneut, diesmal länger. Samuel, der sein Auto inzwischen geparkt hatte, beobachtete ihn mit skeptischem Blick, sagte aber nichts. Im Haus blieb es immer noch still. Nicholas verlor die Nerven. Er hielt die Klingel dedrückt, so dass ein extrem nerviger Dauerton durch das Haus hallte. Dann, endlich, hörte er, wie sich schnelle Schritte der Tür näherten. Sie wurde aufgerissen und ein Mann mitte Vierzig starrte die Brüder wütend an. Er stank nach Zigarettenrauch und Alkohol. „Wo ist Luca?“, fragte Nicholas den Mann. Kapitel 56: Ein schrecklicher Verdacht * ---------------------------------------- Der Mann wollte ihm die Tür vor der Nase wieder zuschlagen, doch Nicholas reagierte schnell. Er stemmte seinen Fuß dazwischen, ehe er sie wieder aufriss, den Mann unsanft nach hinten schubste und das Haus betrat. „Ich wiederhole mich nur ungern“, sagte er, den bedrohlichen Klang seiner stimme und die Reaktion seiner Mitmenschen darauf wissend, „Wo ist Luca?“ „Was weiß ich, wo dieser Nichtsnutz sich wieder herumtreibt“, brummte der Mann. Nicholas schnaubte. „Sie werden doch wohl wissen, wo Ihr Sohn ist!“ „Er ist nicht mein Sohn!“, bellte der Mann. „Oh, entschuldigen Sie. Ich meinte natürlich Stiefsohn“, sagte der schwarzhaarige in einem Ton, dem man anhörte, dass es ihm kein bisschen leid tat. Wieso auch? Inzwischen hatte sich auch Lucas Mutter dazugesellt. Sichtbar verwirrt sah sie zwischen den beiden hin und her. „Jochen? Ist etwas passiert?“, fragte sie leise. Der Mann schnaubte. Dann deutete er auf Nicholas uns Samuel. „Die wollen zu deinem Sohn.“ „Was hat er diesmal angestellt?“, fragte Lucas Mutter. Sie schien resigniert. Der Schwarzhaarige beäugte sie skeptisch. Er bekam das Gefühl, dass irgendetwas hier nicht stimmte. „Diesmal?“, hakte er nach. Die Frau nickte. „Macht nur Ärger, dieser Junge. Ständig bekommt Jochen Anrufe, in denen sich über ihn beschwert wird. Ich weiß nicht mehr, was ich mit ihm tun soll und Jochen hat auch schon alles versucht.“ Nicholas schluckte. Ein schrecklicher Verdacht kann in ihm auf. Eigentlich hatte er den Verdacht schon eine Weile gehabt, nur hatte es nie genügend Beweise gegeben. Dazu kamen einige Ungereimtheiten. Deswegen hatte er bis jetzt noch nichts unternommen. Aber die Aussage von Lucas Mutter verstärkte seinen Verdacht. Ihm kam die Idee, vielleicht ein Geständnis provozieren zu können. Jochen schien ziemlich betrunken zu sein, da war er bestimmt redefreudiger. „Ich möchte mit Luca sprechen“, sagte der Schwarzhaarige deshalb, in einem Ton der keinerlei Widerspruch duldete. „Der ist nicht da!“, bellte der Stiefvater des Blondhaarigen. Wenn Nicholas ihn genauer betrachtete, konnte er es sich durchaus vorstellen, dass er derjenige war, der seinen Freund schlug. „Und wo ist er dann?“, bohrte Nicholas im selben Tonfall nach. Jochen schnaubte. „Als ob ich wüsste, wo sich diese Missgeburt überall herumtreibt!“ Samuel schaute verwirrt zwischen den beiden hin und her, sagte aber nichts, wofür Nicholas seinem Bruder dankbar war. Er hätte seinen Versucht, mehr über Lucas Misshandlungen herauszufinden, sonst vielleicht zerstört. „Ich muss heute unbedingt noch bei Renés Onkel in der Firma anrufen“, versuchte er seinem Bruder deutlich zu machen, was dieser zu tun hatte, ohne den anderen dabei etwas zu verraten, „Eigentlich wollte ich das vorher mit Luca absprechen, aber wenn er nicht da ist…“ Die Eltern des Blondhaarigen schaute ihn leicht irritiert an, schienen sich aber nichts weiter daraus zu machen. Samuel dagegen hatte ihn verstanden. „Bist du sicher?“, wollte er wissen. Nicholas nickte. „Eine Viertelstunde. Mehr Zeit gebe ich ihm nicht. Die Leute haben schließlich auch irgendwann Feierabend.“ Dann wandte er sich an Lucas Mutter. „Wo ist sein Zimmer?“ Zu seiner Überraschung führte die Frau ihn durch das Haus, vor eine geschlossene Tür, die sie auch gleich öffnete. „Er hat vor ein paar Tagen ziemlich gewütet“, meinte sie. Doch der Schwarzhaarige glaubte ihr nicht. Es passte nicht zu seinem Klassenkameraden. Als er das Zimmer betrat, erschrak er. Sämtliche Möbel waren zertreten. Dem Schrank fehlten die Türen, das Fenster war eingeschlagen, die Matratze mit einem Messer zerstochen und der Lattenrost im Bett hatte keine Latten mehr. Diese lagen zerbrochen auf dem Boden, zwischen zerrissenen Kleidungsstücken, Büchern und Heften. Selbst der Schreibtisch war hinüber, obwohl er noch am besten aussah, ihm fehlten lediglich zwei Beine. Nicholas bückte sich und hob eines der zerflederten Hefte auf. Auf der Vorderseite stand Lucas Name. Er war also im richtigen Zimmer. Aber Luca hatte diese Verwüstung niemals angerichtet, das wusste er. Der Blondhaarige konnte keiner Fliege etwas zuleide tun, und erst recht keine solche Verwüstung anrichten. Es musste also jemand anderes gewesen sein und da Lucas Mutter körperlich wohl nicht zu einer solchen Zerstörung fähig war, blieb nur noch Jochen übrig. Der Schwarzhaarige warf das Heft wieder auf den Boden und lief zügig zu seinem Bruder zurück. „Ich habe genug gesehen“, sagte er, „Ruf an!“ Samuel nickte und holte sein Handy aus der Hosentasche. Er tippte kurz darauf herum, dann hielt er es sich as Ohr. Was genau er sagte, hörte Nicholas nicht. Er war mit etwas Anderem beschäftigt. Er hatte endlich seine Antwort gefunden. Er wusste jetzt, wer es war, der Luca das alles angetan hatte. Doch war er nicht erleichtert über diese Erkenntnis. Im Gegenteil: Ein schrecklicher Klos hatte sich in seinem Hals gebildet. Luca war am Sonntagabend zu ihm gekommen. Was, wenn etwas vorgefallen war? Wenn er sich richtig erinnerte, dann hatte der Blondhaarige schrecklich ausgesehen. Ob er vorher wieder von Jochen verprügelt worden war? Nicholas fühlte sich gleich fiel mieser, als er es in den letzten Tagen getan hatte. Luca hatte Zuflucht bei ihm gesucht! Und was hatte er getan? Ihn einfach wieder rausgeworfen! Was, wenn Luca sich etwas angetan hatte? Nicholas wusste, dass er sich das nie verzeihen würde. Er wollte nicht noch eine Person verlieren, die er liebte. Der Tod seiner Mutter hatte ihn in ein tiefes Loch gerissen, in das er nicht mehr fallen wollte. „Was ist eigentlich los?“, riss ihn sein Bruder aus den Gedanken. „Luca ist verschwunden!“, schrie Nicholas, lauter als beabsichtigt. Er wusste, Samuel konnte nichts dafür, trotzdem fuhr er ihn so an. „Er hat mir einen Abschiedsbrief geschrieben und jetzt ist er verschwunden! Das ist los!“ Als die Polizei eintraf, unterhielt sich Samuel kurz mit ihnen, erklärte ihnen kurz die Lage. Nicholas versuchte inzwischen, seine Emotionen wieder unter Kontrolle zu bringen. Er war kein kleines Kind mehr, er musste sich zusammenreißen. „Wann haben Sieh Ihren Sohn das letzte Mal gesehen?“, hörte er einen der beiden Polizisten Jochen fragen. Er bekam nicht mit, was der Mann antwortete, denn Renés Onkel stellte ihm gerade die gleiche Frage. „Lass dir Lucas Zimmer zeigen“, verlangte er leise. Erst danach beantwortete er die eigentliche Frage. „Luca ist Sonntagabend zu mir gekommen. Wir haben uns gestritten und ich habe ihn rausgeworfen. Er war weder gestern noch heute in der Schule. Vorhin hat ein Abschiedsbrief im Briefkasten gesteckt.“ „Was willst du damit sagen?“, fragte Renés Onkel. Nicholas wusste, er meinte die Aussage mit dem Zimmer. Also begann er, zu erzählen, was er wusste. „Er kam fast jeden Tag mit neuen blauen Flecken in die Schule. Egal, wie warm es war, er hat immer lange Kleidung getragen. Bei ruckartigen Bewegungen oder wenn jemand lauter geworden ist, ist er jedes Mal zusammengezuckt. Er ist zurückgewichen, wenn ihm jemand zu nahe kam und er hat sich nur widerwillig anfassen lassen. Ich habe mehrfach darauf angesprochen, aber er hat nie darüber gesprochen. Ich hab seine Verletzungen manchmal behandelt, wenn er mich ran gelassen hat.“ Sein Gegenüber schaute ihn ungläubig an. „Willst du damit sagen, dass-“ „Genau das will ich damit sagen“, antwortete Nicholas, „Aber da ist noch mehr. Nach den Herbstferien lag Luca kurz im Krankenhaus, weil er wegen Unterernährung zusammengebrochen ist. Er war schon immer sehr dünn, fast zu dünn. Trotzdem ist er total in Süßigkeiten vernarrt. Das passt nicht zusammen.“ „Du hast nicht zufällig ein Foto von ihm?“, wollte der Mann plötzlich wissen. Verwundert nahm Nicholas sein Handy und blätterte durch seine aufgenommenen Fotos. Es dauerte nicht lange, dann hatte er ein Foto gefunden. Es war von Lucas Geburtstagsfeier, kurz nachdem er sein Geschenk geöffnet hatte. Er zeigte es seinem Gegenüber. „Für was brauchst du es?“ Renés Onkel zog ihn zur Seite und legte ihm die Hand auf die Schulter, ehe er leise begann, zu erzählen. „Gestern Abend wurde ein Jugendlicher, der in einen Verkehrsunfall verwickelt war, ins Krankenhaus eingeliefert. Sie konnten ihn noch nicht identifizieren, weil er keine Papiere oder so bei sich hatte. Er ist bewusstlos und bis jetzt hat ihn auch noch keiner als vermisst gemeldet. Einer der Ärzte hat Spuren von Misshandlungen gefunden, weswegen bis jetzt noch nichts bekannt gegeben wurde. Wenn du nichts dagegen hast, würde ich gern das Foto mitnehmen und es mit dem Jungen im Krankenhaus vergleichen.“ Kapitel 57: Das Armband * ------------------------- Am nächsten Morgen hatte René ihm dann mitgeteilt, dass es tatsächlich Luca war, der im Krankenhaus lag. Ein Polizist hatte ihn auf einer Brücke gesehen und geglaubt, er wolle springen. Als er ihn rief, rannte Luca weg, in ein Auto hinein. Der Blondhaarige war allerdings immer noch nicht bei Bewusstsein und die Ärzte meinten, es könnte auch noch ein paar Tage dauern, bis er aufwachte. Falls er überhaupt aufwachte. Dazu kam, dass er nicht beweisen konnte, dass die vielen blauen Flecke von Jochen kamen, weswegen die Polizei nichts unternehmen konnte. Sie hatten sogar noch andere verdächtigt, einige von ihnen sogar Nicholas. Erst Renés Aussagen hatten ihn wieder entlastet. Außerdem war auch Lucas leiblicher Vater einbestellt worden, nachdem Nicholas verkündet hatte, dass Luca von ihm wisse und auch vor hatte, ihn zu besuchen. Peter Mertens war nicht sonderlich begeistert gewesen und hatte das auch sehr deutlich gezeigt. Nicholas hatte am Ende noch mal mit Renés Onkel gesprochen und wusste jetzt, dass sie ohne Lucas Aussage nichts gegen Jochen unternehmen könnten. Und selbst damit, sah es nicht besonders gut aus, denn Jochen und Lucas Mutter stritten alles ab. Die Sache würde wohl vor Gericht gehen und dann kam es darauf an, wem der Richter glaubte. Da konnte man Glück, aber auch Pech haben. Außerdem wusste der Schwarzhaarige, dass sein Klassenkamerad nicht reden würde, zumindest nicht freiwillig. Auf konkrete Fragen, die nur mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden konnten, antwortete er wahrscheinlich besser, zumal der Blondhaarige nicht besonders gut lügen konnte. Deshalb hatte er sich selbst auf den Weg gemacht. Er wollte noch einmal mit Lucas Vater sprechen. Wenn er ihn dazu bringen konnte, das Sorgerecht für Luca einzuklagen, sähe es viel besser für seinem Freund aus. Das hatte auch sein Vater gemeint, als er ihn angerufen hatte. Der Schwarzhaarige zögerte nicht lange, dann betätigte er die Klingel. Lucas Handy wog schwer in seiner Hosentasche. Er hatte versucht, den Blondhaarigen im Krankenhaus zu besuchen, aber im Moment durften nur seine Eltern zu ihm. „Ja bitte?“, erklang wenig später eine Frauenstimme aus der Sprechanlage. Der Siebzehnjährige straffte die Schultern. „Hier ist Nicholas Lemke. Ich möchte mit Peter Mertens sprechen.“ Kurz war es still, dann wurde das Tor vor der Einfahrt geöffnet. Zielsicher lief der Schwarzhaarige auf die Haustür zu, wo ihn Peters Freundin bereits an der Tür erwartete. Doch sie war nicht allein. Hinter ihr stand Lucas Vater, der ihn argwöhnisch musterte. „Was willst du?“, fragte der Mann relativ unfreundlich. Doch Nicholas ließ sich davon nicht einschüchtern. Er wartete auch nicht auf eine Einladung, sondern hängte seine Jacke einfach an die Garderobe. Seine Schuhe zog er ebenfalls aus. „Wo können wir hier ungestört reden?“, fragte er. „Ich wüsste nicht, was es zu besprechen gäbe“, meinte Peter gespielt unwissend. Nicholas hob die Brauen und schaute ihn abwartend an, ehe er ernst erwiderte: „Es geht um Ihren Sohn.“ „Was soll das? Ich habe keinen Sohn“, behauptete Peter sofort. „So?“ Nicholas holte Lucas Handy aus seiner Hosentasche. „Da sagen Ihre Briefe aber etwas anderes aus.“ Er tippte darauf herum, bis er die Fotos von den Briefen gefunden hatte. Dann begann er, laut, ein Stück vorzulesen: „Ich wiederhole mich nur ungern. Ich möchte nicht, dass du mich noch einmal kontaktierst. Ich will weder mit dir noch mit deinem Kind etwas zu tun haben! Das zwischen uns war ein Fehler, mehr nicht. Ich werde dir den Unterhalt für dein Kind zahlen, da es nachweislich von mir ist, aber mehr nicht. 3000€ im Monat sind mehr als genug, um es zu versorgen. Ich werde den Betrag bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres überweisen. Dafür verlange ich, nie wieder etwas von dir oder dem Kind zu hören. Erzähl ihm, was du willst. Aber lass mich aus dem Spiel“ Peter erblasste. „Wie kommst du an die Briefe?“, verlangte er zu wissen. „Sind Sie jetzt bereit, mit mir zu sprechen?“, stellte Nicholas die Gegenfrage. Der Mann seufzte. „Also gut“ Er lief den Flur entlang und deutete dem Schwarzhaarigen an, ihm zu folgen. „Einen Moment“, rief Peters Freundin, ehe sie auf den Mann zulief und sich vor ihm aufbaute. „Du hast ein Kind? Einen Sohn? Wann hattest du vor, mir davon zu erzählen?“ „Gar nicht“, antwortete Nicholas ihr, bevor Lucas Vater die Chance hatte, etwas zu sagen, „Zumindest geht das aus den Briefen hervor.“ „Nina“, ergriff jetzt auch Peter das Wort, doch die Frau ließ ihn nicht aussprechen. „Wie heißt sie?“, schrie sie, „Die Frau, mit der du mich betrogen hast!“ Nicholas hob beschwichtigend die Hände. „Luca ist Siebzehn.“ Nina schaute zuerst Nicholas, dann Peter abwartend an und als der Mann nickte, schien sie sich wieder etwas zu beruhigen. „Das war lange bevor wir uns kennengelernt haben“, redete Peter beschwichtigend auf deine Freundin ein. Dann forderte er Nicholas ein zweites Mal dazu auf, ihm zu folgen. Er führte den Siebzehnjährigen in ein Wohnzimmer mit einer großen, gemütlichen Couch und zwei ebenso gemütlichen Sesseln. Nicholas ließ sich in einen der Sessel fallen, während Peter und Nina sich ihm gegenüber auf die Couch setzten. „Also“, fragte Peter, „Was gibt es jetzt so wichtiges?“ Nicholas öffnete im Handy das erste Foto, das mit Peter zu tun hatte, es zeigte einen Kontoauszug, und reichte dem Mann das Mobiltelefon. „Das ist Lucas Handy“, erklärte er leise. Peters Augen weiteten sich. „Schauen Sie auf das Datum, an dem die Fotos aufgenommen wurden“, forderte der Siebzehnjährige, „Das von dem Kontoauszug wurde eher aufgenommen, als der Rest. Wie er an den Kontoauszug gekommen ist, hat Luca nicht gesagt. Aber ich weiß, dass er alles andere aus dem Safe hat.“ Der Mann schluckte. Es schien, als wisse er nicht, was er sagen sollte. „Bis vor ein paar Monaten wusste Luca nicht, wer sein Vater ist. Ich gehe davon aus, dass er den Kontoauszug zufällig gesehen hat und dann begann, gezielt zu suchen. Weder seine Mutter noch ihr Mann wissen, dass Luca von Ihnen weiß und ich möchte das auch so lassen.“ „Ich verstehe immer noch nicht, was du von mir willst.“ Peter reichte ihm das Handy zurück. Der schwarzhaarige seufzte. „Eigentlich habe ich Luca versprochen, mich nicht einzumischen, aber ich kann dieses Versprechen nicht länger halten. Er braucht Ihre Hilfe. Dringend. Ich weiß nicht, wie lange er es ohne noch aushält, bevor er irgendwelche Dummheiten macht. Ich weiß, das ist viel verlangt, aber bitte sprechen Sie mit ihm. Er liegt momentan im Krankenhaus. Sie lassen nur seine Familie zu ihm, aber Sie sollten als sein Vater problemlos reinkommen.“ Sowohl Peter als auch Nina starrten ihn ungläubig an. „Was genau ist mir ihm los?“, fragte Nina. „Das kann ich nicht sagen. Ich habe schon viel zu viel gesagt.“ Nicholas schüttelte den Kopf, ehe er sich zum Gehen wandte. Er wollte das Wohnzimmer gerade verlassen, als sein Blick auf einen kleinen Goldenen Gegenstand auf dem Schrank fiel. Er ging darauf zu und seine Augen weiteten sich, als er erkannte, um was er sich handelte. „Wo haben sie das her?“ Es kostete ihm einiges an Mühe, nicht zu streiten, als er das Armband in die Hand nahm. „Das hat vor der Tür gelegen. Ich habe es heute morgen gefunden“, antwortete Nina sofort, „Warum? Kennst du es? Dann könntest du es vielleicht dem Eigentümer zurückgeben.“ Der Schwarzhaarige nickte. Und wie er dieses Armband kannte. Luca war hier gewesen. Mit schnellen Schritten lief er auf Peter zu und baute sich vor dem Mann auf. „Wann genau war Luca hier?“, verlangte er zu wissen. Der Mann zuckte zusammen. „Was-“ Nicholas unterbrach ihn. „Verkaufen Sie mich nicht für dumm. Ich weiß genau, dass Luca hier gewesen ist! Das ist sein Armband!“ „Bist du sicher?“, wollte Nina wissen. „Todsicher“, antwortete der Siebzehnjährige, „Dieses Armband gibt es nur einmal. Ich habe es gemeinsam mit einigen Freunden Luca zum Geburtstag geschenkt. Jeder hat seinen Namen auf eines der Plättchen geschrieben!“ Peter fuhr sich mit der Hand durch sein blondes Haar. „Er war in der Nacht von Sonntag zu Montag hier. Es muss so zwischen Ein und Zwei Uhr nachts gewesen sein“, sagte er leise, „Ich habe ihn rausgeworfen.“ Nicholas erstarrte. Es dauerte, bis sein Gehirn das eben gesagte verarbeitet hatte. Doch seine Reaktion war umso heftiger. Er packte dem Mann am Kragen und stieß ihn gegen sie Lehne seines Sesseln. „Haben Sie auch nur den Hauch einer Ahnung, was Sie damit angerichtet haben?“, fuhr er dem Mann an, „Ich hatte einen Abschiedsbrief im Briefkasten. Er wollte sich umbringen. Sie können von Glück reden, dass das Auto ihn erwischt hat, bevor er seinen Pläne in die Tat umsetzen konnte, oder Sie hätten jetzt keinen Sohn mehr!“ Nicholas ließ den Mann los. Am liebsten hätte er ihn weiter angeschrien und auch das ein oder andere Schimpfwort an den Kopf geworfen, doch dazu hatte er kein recht, schließlich war er derjenige gewesen, der Luca zuerst weggestoßen hatte. Kapitel 58: Böses Erwachen -------------------------- Das erste, was Luca sag, als er aufwachte, war eine weiße Decke. Dann kamen die Schränke und Wände ebenfalls in weiß. Erst danach bemerkte er, dass er in einem Bett lag. Krankenhaus, schlussfolgerte er, was nicht sonderlich schwer war. Doch wie war er hier hergekommen? Das letzte, an das er sich erinnerte, war der Bilderrahmen, den er Nicholas in den Briefkasten gesteckt hatte. Danach hatte er von der Brücke springen wollen, nur war ihm ein Polizist dazwischengekommen. Er war weggerannt. Luca erinnerte sich noch an zwei Lichter, die schnell näher kamen, dann nichts mehr. Ob er in ein Auto gerannt war? Mit seinem Glück war das sehr wahrscheinlich. Erst jetzt bemerkte er, dass er an einen Tropf und noch zwei weitere Automaten angeschlossen war. Wie lange die wohl blieben? Am liebsten hätte er sofort die Nadel aus seinem Arm gezogen, doch damit würde er sich nur unnötigen Ärger machen, also ließ er sie, wo sie war. „Wie ich sehe, bist du aufgewacht“, sagte die Krankenschwester, die gerade das Zimmer betreten hatte, erfreut, „Wie geht es dir?“ Luca schaute auf, wollte gerade etwas antworten, als die Tür aufgerissen wurde und Jochen in das Zimmer stürmte. Ihm folgten Sonja und ein Arzt, jedenfalls trug der Mann den typischen Kittel. Obwohl Luca noch etwas benommen war, war er zusammengezuckt, als die Tür so heftig aufgestoßen worden war. Er versteckte seine Hände unter der Decke, um das Zittern zu verbergen. Der Arzt lächelte ihn freundlich an. "Du hast uns einen ziemlichen Schrecken eingejagt", meinte er. Die Situation kam Luca falsch vor. Normalerweise erkundigen sich die Eltern, wie es ihren Kindern geht, nicht der Arzt. „Wann können wir ihn wieder mit nach Hause nehmen?“, wollte Jochen vom Arzt wissen. „Immer mit der Ruhe", erwiderte der Mann im Kittel grinsend, „Ihr Sohn ist gerade erst aufgewacht. Ein bis Zwei Wochen werden wir ihn mindestens noch hierbehalten. Aber mit etwas Glück kann er Weihnachten wieder nach Hause.“ Beinahe hätte Luca erleichtert ausgeatmet. Er konnte es sich gerade noch verkneifen. Er hatte noch etwas Zeit, bevor er in diese Hölle zurück musste. „Wir lassen Sie mal kurz allein“, sagte der Arzt, „Dann können Sie kurz mit Ihrem Sohn sprechen. Aber nicht länger als zehn Minuten. Er braucht Ruhe und die Besuchszeit ist auch schon um.“ Gemeinsam mit der Krankenschwester verließ er das Zimmer. Er hatte die Tür kaum hinter sich geschlossen, da stand Jochen schon an Lucas Bett. Er beugte sich etwas über den Blondhaarigen und griff mit einer Hand nach seiner Kehle, die er auch sogleich zudrückte. „Das wird noch ein Nachspiel haben“, zischte der Mann leise, „Du hast doch nicht ernsthaft geglaubt, dass du damit durchkommst?“ Er ließ den Siebzahnjährigen wieder los und spazierte aus dem Zimmer als sei nichts gewesen. Sonja folgte ihm. Es dauerte nicht lange, dann kam der Arzt zurück. Doch anstatt ihn zu untersuchen, was man normalerweise von ihm erwarten würde, setzte er sich zu Luca auf die Bettkante. „Ich habe bei deiner Behandlung einige Verletzungen gefunden, die nicht von dem Unfall stammen, darunter die aufgeplatzte Lippe. Woher hast du sie?“ Der Blondhaarige schüttelte seinen Kopf. Er wollte nicht darüber sprechen. Es brachte doch eh nichts. Spätestens zu Weihnachten schickte man ihn zu Jochen zurück und nach Lucas Flucht letztens, würde ihm sonst was blühen. Es würde nicht bei den üblichen Prügel bleiben. Wenn er doch nur den Unfall nicht überlebt hätte. Der Arzt seufzte. „So kann ich dir nicht helfen. Sag bescheid, wenn du deine Meinung geändert hast und doch darüber sprechen möchtest.“ Dann ging er wieder. Luca starrte an die Decke. Er wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Auf keinen Fall konnte er zurück. Jochen würde ihn umbringen, da war er sich sicher, und zuvor wahrscheinlich noch ordentlich foltern. Sonja würde, wie immer, nur danebenstehen. Doch wo sollte er sonst hin? Nicholas hatte ihn rausgeworfen, ohne ihn überhaupt zu Wort kommen zu lassen und Peter, sein leiblicher Vater, wollte nichts von ihm wissen. Er wäre besser dran, wenn er tot wäre. Dann müsste er wenigstens nicht mehr in dieser ständigen Angst leben. Außerdem interessierte es doch eh keinen, warum sollte er sich also noch weiter abkämpfen? Es hatte keinen Sinn mehr, hatte wahrscheinlich noch nie einen gehabt. Der Blondhaarige zuckte zusammen, als er plötzlich laute Stimmen im Flur vernahm, gefolgt von schnellen Schritten. „Sie können da nicht rein“, hörte er eine Frauenstimme rufen, „Nur seine Familie darf zu ihm!“ „Ich bin Familie!“, antwortete eine Männerstimme, die Luca seltsam bekannt vorkam, laut. Dann wurde die Tür erneut geöffnet und der Mann, gefolgt von einer Krankenschwester, trat herein. „Machen Sie Ihre Augen auf“, schimpfte er, „Es sieht doch ein Blinder mit Krückstock, dass wir verwandt sind!“ Erschrocken, aber auch verwirrt, starrte Luca zur Tür. Dort stand kein anderer als Peter Mertens. Die Krankenschwester schaute zwischen ihm und seinem Vater hin und her, ehe sie leise seufzte. „Und wie genau stehen Sie zueinander?“, wollte sie wissen. Peter schnaubte: „Er ist mein Sohn!“ „Das kann nicht sein. Seine Eltern sind eben hier gewesen“, sagte die Krankenschwester verwundert. „Jochen ist nicht mein Vater“, antwortete Luca leise, womit er die Aufmerksamkeit der beiden anderen auf sich zog, „Sonja hat ihn nur vor zehn Jahren geheiratet.“ Die Krankenschwester gab nach. „Bleiben Sie nicht zu lange, Ihr Sohn ist vorhin erst aufgewacht.“ Dann verschwand sie wieder aus dem Zimmer. Peter schaute sich kurz in dem Zimmer um, dann ließ er sich auf den Stuhl, der neben Lucas Bett stand, fallen. „Warum bist du am Sonntag zu mir gekommen?“, fragte er sogleich. Kein „Wie geht es dir“, keine Begrüßung, nur diese Frage. Der Siebzehnjährige hatte nicht bemerkt, dass er wieder begonnen hatte, zu hoffen, bis seine Hoffnung erneut zerplatzte. Wann lernte er es endlich? Luca wandte den Blick ab und sah aus dem Fenster. Er war in einem der oberen Stockwerke, stellte er fest, denn es ging ziemlich weit nach unten. Auf die Frage antwortete er nicht. Was hätte er auch sagen sollen? Peter hatte ihm schon letztes Mal nicht zugehört, warum sollte das heute anders sein. Allerdings schien der Mann so leicht nicht aufzugeben. „Es muss wichtig gewesen sein, sonst hättest du bis zum nächsten Tag gewartet und nicht mitten in der Nacht geklingelt.“ Jetzt schaute Luca ihn doch an. „Was würde es bringen, es Ihnen zu sagen?“, fragte er. Er gab sich keine Mühe den resignierten Klang seiner Stimme zu verbergen, dazu hatte er keine Kraft mehr. „Ich weiß nicht, was zwischen Ihnen und Sonja in der Vergangenheit vorgefallen ist, aber Ihren Briefen und Ihrer Reaktion am Sonntag zufolge, muss es eine Menge sein.“ Er hielt kurz inne, überlegte, wie er seine Worte am besten formulierte, bevor er weitersprach: „Ich habe Ihnen nichts getan, bis vor wenigen Wochen kannte ich noch nicht einmal Ihren Namen. Trotzdem haben Sie mich rausgeworfen, ohne mir die Chance zu geben, mich zu erklären. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich glaube nicht, dass Sie gewillt sind, mir zu helfen.“ Luca war erstaunt, wie ruhig und sachlich er gesprochen hatte. Normalerweise konnte er seine Gefühle nicht so gut beherrschen. Aber vielleicht lag es auch daran, dass er bereits aufgegeben hatte. Er fühlte sich, als würde nicht er diese Worte sprechen, sondern jemand anderes. „Jetzt sag es schon endlich, bevor die Krankenschwester wiederkommt und mich rauswirft“, verlangte Peter. Kurz zögerte Luca. Sollte er wirklich? Warum nicht? Er hatte schließlich nichts mehr zu verlieren. Mehr als ablehnen konnte Peter nicht. Es konnte nur noch besser werden. „Hol mich da raus“, flüsterte er leise, dennoch verständlich. „Was?“, fragte Peter. Er schien ihm nicht folgen zu können. „Du bist mein Vater, richtig? Dann solltest du auch etwas ausrichten können“, erklärte Luca, „Hol mich von diesen Leuten weg.“ Kapitel 59: Verzweiflungstat ---------------------------- Eine Weile war es still. Peter starrte Luca sichtbar geschockt an. Er schien mit vielem gerechnet zu haben, aber nicht damit. „Du bist verletzt. Ich kann dich doch nicht einfach-“ Er brach ab. Jetzt war Luca derjenige, der verwirrt war. Hatte er gerade richtig gehört? Dachte Peter etwa, er wolle aus dem Krankenhaus raus? Wie kam er denn darauf? Der Siebzehnjährige überlegte. Hatte der Mann seine Aussage eben falsch verstanden? Scheinbar. Hatte Luca sich so missverständlich ausgedrückt oder wollte der Mann ihn nicht verstehen? „Es ist sicher möglich, dich mit Einverständnis deiner Eltern ein paar Tage früher auf eigene Gefahr zu entlassen, aber solltest du das nicht mit ihnen besprechen?“ Der Siebzehnjährige seufzte: „Nicht aus dem Krankenhaus. Weg von Jochen und Sonja!“ Peter seufzte. Diesmal schien er verstanden zu haben, was Luca wollte. „Weißt du, was du da verlangst?“, fragte er. Der Siebzehnjährige senkte seinen Blick. Das hatte er befürchtet. Peter fuhr sich mit der Hand durch das Haar. „Ich kann dich doch nicht einfach deiner Mutter wegnehmen“, empörte er sich, „Außerdem: Wie sieht es aus, wenn ich nach siebzehn Jahren auf einmal das Sorgerecht für dich verlange. Es weiß ja noch nicht einmal jemand, dass ich überhaupt einen Sohn habe. Außerdem glaube ich nicht, dass deine Mutter einfach so zustimmt.“ „Dann stell die Zahlungen ein!“, verlangte Luca, „Wenn sie die Dreitausend Euro im Monat nicht mehr bekommen, stimmen sie eher zu, als dir lieb ist.“ „Trotzdem kann ich nicht einfach-“ Peter brach ab, als sich die Tür erneut öffnete und der Arzt von vorhin das Zimmer betrat. „Ich möchte Sie bitten, zu gehen“, verlangte er, an Lucas Vater gewandt, „Sie könne Ihren Sohn gern morgen wieder besuchen.“ Wortlos erhob sich Peter und verließ das Zimmer. Am liebsten hätte Luca ihn aufgehalten oder ihm hinterhergerufen, aber er konnte sich nicht rühren. Er konnte nur zusehen, wie sein Vater ihm wieder den Rücken zukehrte. Ob er wohl wiederkam? Sonderlich begeistert schien er von Lucas Forderung ja nicht zu sein. Der Siebzehnjährige konnte verstehen, wenn er sich nicht mehr blicken ließe. „Wir hatten vorhin nicht die Gelegenheit, miteinander zu sprechen“, sagte der Arzt während er Peters Platz einnahm. Luca beachtete ihn nicht weiter. Er war wütend, dass er Peter einfach so rausgeworfen hatte. Was, wenn sein Vater nicht mehr wiederkam? „Wie fühlst du dich? Hast du Kopfschmerzen oder Schwindelgefühl?“, wollte der Mediziner wissen. „Etwas“, antwortete Luca ihm leise. Der Arzt nickte. „Ich habe schon mit deinen Eltern gesprochen. Du hast wirklich Glück gehabt. Deine Verletzungen sind nicht weiter schlimm“, begann der Arzt, „Du hast ein gebrochenes Bein, den Gips hast du sicher schon bemerkt.“ Der Blondhaarige sah an sich herunter. Tatsächlich! Sein linkes Bein war eingegipst. Das war ihm bis jetzt noch gar nicht aufgefallen. „Dazu kommen einige Prellungen. Dein Hinterkopf hat bei dem Unfall einen ganz schönen Treffer abbekommen, aber bis jetzt sind keine Komplikationen aufgetreten. Zur Sicherheit möchten wir dich trotzdem gern noch eine Weile hierbehalten. Wenn alles gut heilt, sehe ich allerdings keinen Grund, dich über Weihnachten hier zu behalten. Das Bein kannst du auch zu Hause auskurieren.“ Luca schaute aus dem Fenster. Er wollte, dass der Arzt ging. Doch der Mann schien das nicht zu wollen. „Kommen wir jetzt zu einer anderen Sache: Als ich dich untersucht habe, sind mir einige Verletzungen aufgefallen, die nicht von dem Unfall stammen, darunter eine aufgeplatzte Lippe und Würgemale am Hals. Wo hast du die her.“ Der Blondhaarige zwang sich zu einem leichten Lächeln. Er wusste, er musste gut lügen, wenn er nicht auffallen wollte. Er könnte zwar auch die Wahrheit sagen, aber das würde nichts bringen. Jochen und Sonja würden es beide abstreiten und wenn er am Ende trotzdem zurückmusste, würde Jochen sich sicher rächen. Besser, er sagte nichts. „Ich bin Sontag Abend in jemanden reingelaufen, der das nicht so toll fand und irgendwie ist das Ganze dann eskaliert“, behauptete er. Der Arzt betrachtete ihn skeptisch, er schien ihm nicht wirklich zu glauben. „Kannst du die Person beschreiben?“ „Leider nicht“, antwortete Luca, „Es war dunkel und die Person hat eine Kapuze getragen. Ich kann Ihnen nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob es ein Mann oder eine Frau gewesen ist.“ Er schnitt eine Grimasse, dann wechselte er das Thema: „Wann komm ich von den Maschinen weg?“ „Den Tropf macht gleich eine Schwester ab. Das Monitoring würde ich gern noch ein paar Tage laufen lassen, nur zur Sicherheit“, meinte der Arzt. Fürs Erste schien er sich mit seiner Aussage zufrieden zu geben. Fragte sich nur für wie lange. Luca erwiderte nichts. Er hätte auch nicht gewusst, was er sagen sollte. Es war, wie der Arzt gesagt hatte. Der Tropf kam noch am selben Tag ab, dafür musste er jetzt aber essen. Die anderen Maschinen wurden erst am nächsten Tag entfernt, wobei eine auch nur durch eine andere ersetzt wurde. Sein Puls wurde nach wie vor überwacht. Allerdings geschah das jetzt über eine Art Fingerhut, den man über seinen Mittelfinger gestülpt hatte. Das Kabel war sehr lang, weswegen er sich frei bewegen konnte, auch wenn er das Bett nicht verlassen durfte. Die Besuchszeit war seit einer Stunde vorbei. Luca lag in seinem Bett. Peter war nicht wiedergekommen. Das hieß wohl, er würde ihm nicht helfen. Von Jochen und Sonja hatte er auch nichts gehört, glücklicherweise. Jede freie Minute verbrachte er damit, nachzudenken, wie er von den beiden weg kam und immer wieder endeten seine Gedanken bei seinem Vater oder Nicholas. Als eine Krankenschwester ihm sein Tablett brachte, musste er sich zwingen, zumindest die Hälfte zu essen, damit man ihn nicht wieder an den Tropf hängte. Er war es weder gewohnt, in regelmäßigen Abständen noch so viel zu Essen. Doch er wollte nicht weiter auffallen, weshalb er sich zum Essen zwang. Er nahm eine der beiden Scheiben Brot und belegte sie großzügig mit Wurst und Käse, ehe er sie hinunter zwang. Danach trank er seinen Tee. Im Nebenzimmer wurde die Tür zugeschlagen. Es folgten schnelle Schritte. Durch den Schlag hatte Luca sich so sehr erschrocken, dass ihm die leere Teetasse aus der Hand glitt. Sie fiel auf den Boden, wo sie zersprang. Luca bückte sich, um die Scherben aufzuheben und zurück auf das Tablett zu legen. Aber er schien nicht richtig aufgepasst zu haben, denn er schnitt sich in den Finger. Er ließ die Scherben auf das Tablett fallen und nahm seinen Finger in den Mund, um nicht seine Kleidung oder das Bett voll zu bluten. Dann stellte er es auf den Nachttisch. Aus irgendeinem Grund konnte er seinen Blick nicht von den Scherben lösen. Er nahm eine besonders große in die Hand, drehte sie und betrachtete sie von allen Seiten. Wie in Trance zog er sich das Messgerät vom Finger. So schnell würde das nicht auffallen. Als er es heute Morgen versehentlich abgestreift hatte, hatten die Ärzte es erst Stunden später bemerkt. Langsam kletterte er aus dem Bett. Ihm war etwas schwindelig, aber er schaffte es problemlos ins Bad. Dort ließ er sich neben der Dusche auf den Boden sinken. Der kurze Weg hatte ihn mehr angestrengt, als er geglaubt hatte, vor allem mit dem eingegipsten Bein. Er schaute nicht in den Spiegel, wollte sein Gesicht nicht sehen. Wie gerne würde er sich jetzt an Nicholas kuscheln, sich von dem Schwarzhaarigen umarmen lassen, und die Welt um sich herum vergessen. Aber das ging nicht mehr. Nicholas hatte sich von ihm abgewandt, wie es bis jetzt jeder getan hatte. Was stimmte nur mit ihm nicht? Keiner wollte ihn, auch nicht sein Vater. Warum? Warum konnte er nicht glücklich werden. Er ballte seine Hand zur Faust. Erst als er einen kurzen Schmerz spürte, bemerkte er, dass er noch immer die Scherbe in ihr hielt. Vorsichtig nahm er sie und zog sie über seinen Unterarm, an der Stelle, wo sich die Pulsadern befanden, und hinterließ eine dünne, rote Linie.. Es hatte doch eh keinen Sinn. Nicholas wollte ihn nicht mehr, keiner wollte ihn. Er drückte stärker zu, zuerst am linken Arm, dann am rechten. Kapitel 60: Eine schreckliche Entdeckung * ------------------------------------------ Nicholas betrachtete das Armband in seiner Hand. Er hatte es gerade von der Reparatur abgeholt. Der Verschluss war kaputt gewesen, deswegen hatte Luca es wahrscheinlich auch verloren. Wie jeden Nachmittag war er auf dem Weg zum Krankenhaus. Ob man ihm diesmal zu seinem Klassenkameraden lassen würde? Bis jetzt hatte man ihn jedes Mal mehr oder weniger freundlich gebeten, wieder zu gehen. Der Schwarzhaarige hatte nicht vor, sich heute wieder an der Rezeption abspeisen zu lassen. Wenn sie ihn heute nicht freiwillig zu Luca ließen, würde er es sich erzwingen. Notfalls schlich er sich eben hinein. Mehr als rauswerfen, falls sie ihn entdeckten, konnten sie eh nicht, nicht bei seinem Vater. Zwar hasste er es, sich auf den Ruf seines Vaters verlassen zu müssen, aber es ging hier nicht um ihn, nicht ausschließlich. Es ging auch um Luca, seinen Freund, bei dem er sich entschuldigen musste. Im Krankenhaus angekommen, bemerkte er, dass die Rezeption gerade nicht besetzt war. Da er dort eh nichts erfahren würde, lief er zielstrebig daran vorbei durch die Cafeteria, zu den Zimmern der Patienten. Und wenn er jedes Türschild lesen musste, er würde Luca finden! Gesagt, getan. Nur hatte das Krankenhaus sehr viele Zimmer und er kam nicht besonders schnell voran, da er immer wieder dem Personal ausweichen musste. Um nicht den Überblick zu verlieren, begann er im Erdgeschoss und arbeitete sich nach oben durch. Draußen wurde es inzwischen dunkel, das sah er durch die Fenster im Flur. In der vierten Etage hörte er dann Stimmen. Normalerweise hätte er sie ignoriert und seine Suche fortgesetzt, doch eine der Stimmen kam ihm bekannt vor. Leise, um nicht gehört zu werden, näherte er sich den sprechenden Personen und war erstaunt, als er Peter Mertens erblickte. Er unterhielt sich gerade mit einem der Ärzte. „Bitte verstehen Sie, dass ich die Informationen nicht einfach jedem geben kann“, versuchte der Arzt gerade zu erklären, während er mit seinen Händen wild gestikulierte. Peter schien verärgert zu sein. „Ich bin nicht irgendwer! Ich bin sein Vater!“, schimpfte er. Nicholas schlich an den beiden vorbei. Glücklicherweise waren sie so sehr miteinander beschäftigt, dass sie ihn nicht bemerkten. Er kontrollierte auch in diesem Gang die Namensschilder, bis er endlich das von Luca fand. Sicherheitshalter warf er noch mal einen Blick in den Gang, um zu überprüfen, ob ihn auch wirklich keiner sah, dann öffnete er leise die Tür und trat ein. Das Zimmer war dunkel. Durch den Lichtstrahl, der durch die geöffnete Tür fiel, konnte Nicholas erkennen, dass das Bett leer war. Er wusste sofort, dass hier etwas nicht stimmte. Luca durfte das Bett noch nicht wieder verlassen! Ein ungutes Gefühl kam in ihm auf. Schnell schaltete er das Licht an, nur um festzustellen, dass Luca nicht im Zimmer war. Was er vielleicht verlegt worden? Der Schwarzhaarige wollte das Zimmer gerade wieder verlassen und seine Suche fortsetzen, als sein Blick auf die Tür zum Bad fiel. Sie stand einen Spalt offen und im Bad brannte Licht. Mit schnellen Schritten durchquerte er das Zimmer und riss die Tür zum Badezimmer auf. Doch was er dort erblickte, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren und seinen Körper erstarren. Luca lag auf dem Boden, die Knie angezogen und mit dem Rücke zur Dusche. Um ihn herum befand sich eine dunkelrote Pfütze. Blut, schoss es Nicholas durch den Kopf. Erst danach sah er den Schnitt kurz über Lucas Handgelenk. Obwohl er wusste, dass er etwas tun sollte, dass er Hilfe holen müsste, dauerte es, bis er sich aus der Starre löste. Ohne auf seine Kleidung zu achten kniete er sich neben Luca auf den Boden und fasste ihm mit zwei Fingern an den Hals, prüfte den Puls, wie er es im Erste-Hilfe-Kurs für den Führerschein gelernt hatte. Er war noch da, fühlte sich aber schwächer an, als Nicholas es gewohnt war. Er sah die Male an Lucas Hals, beachtete sie aber nicht weiter. Der Blondhaarige brauchte Hilfe, und zwar schnell. Nicholas sprang auf und stürmte aus dem Zimmer in den Flur, wo er laut rief: „Hilfe! Ein Arzt! Schnell!“ Die Sekunden, die es dauerte, bis jemand auf seinen Hilferuf reagierte, fühlten sich endlos lang an. Dann, endlich, kam er Arzt den Gang entlanggeeilt. Bei genauerem Hinsehen erkannte der Schwarzhaarigen ihn als denjenigen, der zuvor mit Lucas Vater diskutiert hatte. Peter Mertens folgte ihm mit einigen Schritten Abstand. „Schneller!“, rief Nicholas. Er wartete nicht, bis die Männer bei ihm waren, sondern eilte ins Zimmer zurück. Die Tür ließ er offen. Er kniete sich neben Luca auf den Boden, packte den Blondhaarigen vorsichtig an und hob ihn dann in die Mitte es kleines Badezimmers, damit der Arzt ihn gleich besser behandeln konnte. Er war kaum damit fertig, da kam er Mediziner schon ins Zimmer gestürmt. „Was ist pas-“ Der Arzt brach an. Scheinbar hatte er Luca entdeckt. Er kniete sich neben den Blondhaarigen auf den Boden und überprüfte ebenfalls den Puls, eher er sowohl Nicholas als auch Peter aus dem Zimmer scheuchte. Vom Flur aus beobachtete Nicholas, wie einige Krankenschwester und Ärzte in das Zimmer eilten und es auch wieder verließen. Die ganze Zeit über hatte er Angst um Luca. Peter versuchte, das Personal anzusprechen, um von ihm Informationen bezüglich seines Sohnes zu erfahren, doch er wurde einfach ignoriert. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, verließ er Arzt, der als erstes erschienen war, endlich das Zimmer und kam auf sie zu. „Wie geht es ihm?“, rief Peter mit besorgt klingender Stimme noch bevor der Mann sie erreicht hatte. „Wir haben ihn soweit stabilisieren können. Er braucht noch eine Bluttransfusion, dann können Sie zu ihm.“ Der Arzt wandte sich an Nicholas. „Und du erklärst mir jetzt mal, was du in dem Zimmer des Patienten zu suchen hattest?“ „Luca ist mein Freund. Ich musste mit ihm sprechen“, antwortete der Schwarzhaarige, „Bevor er etwas Dummes tut. Aber wie es aussieht, war ich zu spät.“ „Du weißt etwas, habe ich recht?“, verlangte der Arzt zu wissen. Nicholas nickte, fügte aber gleich hinzu: „Was wollen Sie wissen? Was ich beobachtet habe oder meine Vermutung?“ Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, etwas zu sagen, aber die Situation ließ ihm keine andere Wahl. Er konnte nicht länger schweigen, nicht, wenn er Luca helfen wollte. „Beides“, antwortete Peter und schaute ihm ernst an. „Alles, was du mir Vorgestern verschwiegen hast.“ Der Schwarzhaarige seufzte, dann deutete er auf Lucas Zimmer. „Können wir reingehen? Ich will nicht, dass jemand mithört.“ Außerdem wollte er Luca sehen. Der Arzt hob die Schultern und führte sie in das Zimmer. Sowohl Nicholas als auch Peter gingen auf das Bett zu und sahen nach dem blondhaarigen Jungen, der friedlich darin lag, die Decke bis zum Hals gezogen, und zu schlafen schien. Wäre er nur nicht so blass und hinge er nur nicht an einer Blutkonserve. Nicholas nahm das obere Ende der Decke und schlug sie ein Stück zurück, genau so viel, dass die Würgemale an Lucas Hals sichtbar waren. „Sie haben bestimmt schon eine Vermutung“, meinte er an den Arzt gewandt. Peter, der neben ihm stand, schnappte erschrocken nach Luft. Er hatte sie wohl noch nicht bemerkt. „Rede“, fuhr er Nicholas an, „Was wird hier gespielt?“ Der Schwarzhaarige deckte Lucas Hals wieder zu, ehe er ihm vorsichtig mit einer Hand durchs Haar fuhr. Die beiden Männer beäugten ihn skeptisch, unternehmen aber nichts. „Ich weiß nicht, ob Sie es wissen, aber Luca und ich gehen seit Sommer in die selbe Klasse. Er kam fast jeden Tag mit neuen blauen Flecken in die Schule. Er hat zwar versucht, sie zu verdecken und nie kurze Sachen angezogen, egal, wie warm es war, er hat immer lange Kleidung getragen, aber ich habe es trotzdem gesehen. Außerdem zuckt er jedes Mal, wenn sich jemand in seiner Nähe ruckartig bewegt hat oder es etwas lauter geworden ist, zusammen. Wenn ihm jemand zu nahe kommt, weicht er zurück und anfassen lässt er sich nur widerwillig. Ich habe mehrmals versucht, ihn darauf anzusprechen, ihn irgendwie zum Reden zu bringen, aber er weigert sich, darüber zu sprechen. Das einzige, was ich erreicht habe, ist, dass er mich nicht mehr anlügt und dass er mich manchmal die Verletzungen behandeln lässt.“ Kapitel 61: Lucas Geständnis * ------------------------------ „Ich habe es befürchtet.“ Der Arzt sah betreten zu Boden und auch Peter schien bedrückt zu sein. „Das ist noch nicht alles“, fuhr Nicholas fort, „Nach den Herbstferien lag Luca eine Woche im Krankenhaus. Er ist wegen Unterernährung zusammengebrochen. Dem Arzt hat er irgendetwas von einer Diät erzählt, aber ich glaube das nicht. Er hat es nicht nötig, eine Diät zu machen. Außerdem liebt er Süßes. Sie hätten ihn sehen sollen, als wir ihn zum Geburtstag mit einer Torte überrascht haben. Er konnte gar nicht genug bekommen. Ein andermal hat er mehr Sahne als Torte gegessen. Das passt nicht zusammen!“ Peter ließ sich auf den Stuhl fallen. Er stützte seine Ellenbogen auf den Oberschenkeln und den Kopf auf den Händen. „Ich glaube, ich habe einen riesigen Fehler gemacht“, murmelte er. In diesem Augenblick begannen Lucas Augenlider zu zucken. Sofort galt Nicholas‘ Aufmerksamkeit dem Blondhaarigen. Er zog eine Hand zurück und nahm etwas Abstand. „Egal, was passiert“, sagte er leise zu den beiden Männern, „Machen Sie keine ruckartigen Bewegungen, bleiben Sie in seinem Sichtfeld, schreien Sie nicht und fassen Sie ihn auf keinen Fall ohne sein Einverständnis an.“ Luca blinzelte ein paar Mal, dann begann sein Blick durch den Raum zu wandern. Als er Nicholas entdeckte, hielt er inne. Er hob seine Hand und streckte sie nach dem Schwarzhaarigen aus, wie als wolle er überprüfe, ob er wirklich da war. Als Nicholas nicht gleich reagierte, versuchte er, sich aufzusetzen. Sofort ging Nicholas auf ihn zu und ergriff die Hand. Erst jetzt bemerkte er, dass sie zitterte. Sein Blick fiel auf den Verband, der um Lucas Handgelenk gewickelt war. „Du Idiot“, schimpfte er, „Hast du auch nur den Hauch einer Ahnung, was du mir für einen Schrecken eingejagt hast? Tu sowas nie wieder! Hörst du?“ Er spürte, wie Luca sich in der Umarmung verspannte, doch er ließ ihn nicht los, sondern wartete, bis der Blondhaarige sich an die Nähe gewöhnt hatte. Es dauerte nicht lange, da spürte er, wie Luca sich an ihn schmiegte. „Es tut mir so leid“, schluchzte Nicholas, „Wenn ich mich Sonntag nicht so unmöglich benommen hätte… Wenn ich dir nur zugehört hätte… Es tut mir so leid.“ Er bemerkte erst, dass er weinte, als er spürte, dass Lucas Krankenhaushemd an der Schulter nass wurde. Beschämt löste er sich etwas von seinem Klassenkameraden und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht, aber sie wollten nicht stoppen. So ganz schien Luca seine Umwelt noch nicht wahrzunehmen, denn er blickte Nicholas sichtbar verwirrt an. „Was ist passiert?“, fragte er mit schwacher Stimme. Er hatte kaum zu Ende gesprochen, da schien es ihm wieder einzufallen, denn seine Augen weiteten sich und er schaute auf seine Handgelenke. Danach sah er wieder zu Nicholas, so als könne er sich nicht erklären, warum der Schwarzhaarige hier war. Nicholas zog ihn vorsichtig wieder in seine Arme, so dass er sich bequem an ihn lehnte und kletterte zu Luca ins Bett. Dann begann er, ihm beruhigend mit der Hand über den Rücken zu streichen. Er spürte, wie Luca sich regelrecht an ihn klammerte. „Geh nicht weg“, murmelte der Blondhaarige leise gegen sein Oberteil, „Lass mich nicht wieder allein. Bitte.“ So sehr wie in diesem Moment hatte Nicholas sich seit Jahren nicht mehr gehasst. Hätte er es gekonnt, hätte er seinen Kopf gegen die Wand geschlagen. Wie hatte er so blöd sein können? Was, wenn er Luca durch seine Blödheit verloren hätte. „Es tut mir so leid“, wiederholte er, „Ich lass dich nie wieder im Stich, versprochen.“ „Heißt das-“ Luca brach ab, so als sei er sich nicht sicher, ob er zu Ende sprechen sollte. „Heißt das, du willst mich noch? Ich bin dir nicht zu lästig geworden?“ Der Schwarzhaarige war entsetzt. „Natürlich will ich dich noch! Wie kommst du auf diesen Blödsinn?“ Erst danach fiel ihm auf, dass man seine Aussage auch anders auslegen konnte, als er es gemeint hatte, und dass sie nicht allein in dem Zimmer waren. Die beiden Männer starrten ihn mit einer Mischung aus Unglauben und Entsetzen an, doch er ging nicht weiter darauf ein. Sollten sie denken, was sie wollten. Nicholas wartete, bis Luca wieder völlig ruhig war, ehe er weitersprach: „Warum hast du das getan?“ Es war allen klar, worüber er sprach, also konnte Luca sich nicht herausreden. Aber eine Antwort bekam er trotzdem nicht, weswegen er sich vorsichtig von Luca löste und so weit entfernte, dass er ihm in die Augen sehen konnte. Mit den Fingern fuhr er über die Würgemale und die inzwischen wieder halb verheilte aufgeplatzte Lippe. „Ist es deswegen?“ Zuerst wollte Luca den Kopf abwenden. Nicholas legte vorsichtig ihm die Hand an das Kinn und zwang ihn, Blickkontakt zu halten. Gleichzeitig hinderte er ihn daran, zu nicken oder den Kopf zu schütteln. „Antworte“, forderte der Schwarzhaarige ruhig, aber mit Nachdruck. „Ich“, stotterte der Blondhaarige, „Ich dachte, du- Und-“ Nicholas seufzte. So würde er keine vernünftige Antwort bekommen, weswegen er mit der nächsten Frage fortfuhr: „Wer misshandelt dich?“ Er spürte, wie Luca erstarrte und sich gleich drauf versuchte, aus seinem Griff zu befreien, aber Nicholas ließ nicht locker. „Bitte“, flehte der Blondhaarige, „Zwing mich nicht.“ Bis jetzt hatte Nicholas immer an diesem Punkt abgebrochen, aber so konnte es nicht weitergehen. Er brauchte Antworten, bevor es zu spät war. „Es ist dein Stiefvater, dieser Jochen, oder?“, sprach er seine Vermutung aus. Tränen standen in Lucas Augen und er kämpfte noch stärker gegen Nicholas‘ Griff an, so stark, dass Nicholas gezwungen war, seinen Oberkörper zurück auf das Bett zu drücken. Der Schwarzhaarige kniete sich über Luca, packte mit einer Hand dessen Handgelenke, darauf achtend, die verbundenen Stellen nicht zu berühren, und drückte sie über Lucas Kopf auf das Kissen. Mit der anderen fixierte er das Kinn des Blondhaarigen. „Beantworte meine Frage. Ich will entweder ein ‚Ja‘ oder ein ‚Nein‘ von dir hören, eher lasse ich dich nicht los. Und wage es nicht, mich anzulügen“, forderte er, „Ist Jochen derjenige, der dich misshandelt?“ „Ja“, schluchzte Luca, ehe er begann, hemmungslos zu weinen. Nicholas ließ sich neben ihn auf das Bett fallen und zog ihn in seine Arme. Wie schon vorhin streichelte er ihm über Kopf und Rücken, während er ihm beruhigende Worte zuflüsterte. „Shhh“, tröstete er den Blondhaarigen, „Es ist alles gut.“ Den beiden Männern machte er mit einer Geste deutlich, dass sie still sein sollten. Der Schreck über Lucas Aussage stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Der Arzt hielt sich eine Hand vor den Mund, flüsterte Peter kurz etwas zu und verließ leise das Zimmer. Peter hatte seine Hände zu Fäusten geballt und seine Gesichtszüge zeigten eine Mischung aus Wut und Fassungslosigkeit. Es schien ihm schwer zu fallen, still zu sein. „Bitte“, flüsterte Luca leise, so leise, dass Nicholas es beinahe nicht gehört hätte. Er musste sich anstrengen, um die folgenden Worte zu verstehen. „Ich tu alles, aber lass mich nicht wieder allein. Bitte. Ich will nicht wieder allein sein.“ Der Schwarzhaarige zog seinen Klassenkameraden noch ein Stück näher an sich heran. „Ich geh nicht weg, ich bin für dich da, versprochen.“ Es dauerte lange, bis Luca sich soweit beruhigt hatte, dass er wieder einschlief. Die ganze Zeit über hatte er sich an Nicholas geklammert, wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring. Durch Lucas Verhalten war ihm etwas klar geworden, was er schon viel früher hätte bemerken müssen. Dann wäre es nicht so weit gekommen. Wäre er nicht so blind gewesen, hätte der Blondhaarige nicht so sehr leiden müssen. Im Nachhinein fragte Nicholas sich, wie er es so lange übersehen konnte. Luca hatte es ihm gesagt. Er hatte ihm gesagt, dass er der erste war, der die Hand nach ihm ausgestreckt und ihm wirklich geholfen hatte. Er war zu einer Art Rettungsanker für den Blondhaarigen geworden. Luca musste sich, bewusst oder unbewusst, an ihn geklammert haben. Doch so gern, wie Nicholas seinen Freund hatte, beunruhigte ihn diese Tatsache, denn sie stellte Lucas gesamtes Verhalten infrage. Konnte Luca zwischen der Dankbarkeit, die er zweifellos für ihn empfand, und eventuellen anderen Gefühlen unterscheiden? Oder mochte er ihn nur, weil er ihm geholfen hatte? Dieser Gedanke versetzte Nicholas einen Stich ins Herz. Er wollte, dass Luca ihn als Person mochte, und nicht, weil er ihm geholfen hatte. Doch konnte er das überhaupt verlangen? Hatte er nach seinem Verhalten am Sonntag überhaupt noch das Recht dazu?  Kapitel 62: Peter und Sonja * ----------------------------- „Du schuldest mir eine Erklärung.“ Peter sprach leise, um seinen Sohn, der gerade erst eingeschlafen war, nicht zu wecken. Nicholas nickte. Er wusste, er würde nicht darum herum kommen. „Was wollen Sie wissen?“ „In welcher Beziehung stehst du zu meinem Sohn?“, verlangte der Mann sofort zu wissen. „Wir sind Freunde“, antwortete der Schwarzhaarige wahrheitsgemäß. Peter seufzte: „Jetzt verstehe ich, warum du wolltest, dass ich Luca unbedingt besuchte. Ich muss dir danken. Ohne dich hätte ich den Fehler, den ich vor siebzehn Jahren begangen habe, nie bemerkt.“ „Heißt das-?“ Hieß das, er half Luca? Der Vater des Blondhaarigen nickte. „Ich werde noch heute meine besten Anwälte darauf ansetzen. Es wäre doch gelacht, wenn ich nicht das Sorgerecht für meinen Sohn bekomme.“ Der Schwarzhaarige wusste, dass der Mann sich zurückhielt, seine wahren Gefühle unterdrückte. Das hier war nur die Ruhe vor dem Sturm. Einem gefährlichen Sturm, der jeden Moment losbrechen konnte. Die Tür wurde geöffnet und eine Krankenschwester, gefolgt von Jochen und Sonja, betrat das Zimmer. Sie hatte die Tür noch nicht wieder hinter sich geschlossen, da war Peter schon auf Lucas Stiefvater losgegangen. Allerdings wurde er nicht handgreiflich und fuhr ihn auch nicht an. Mit einem aufgesetzten Lächeln und Augen so kalt, dass sogar Nicholas einen Schritt zurückwich, reichte er Jochen die Hand. „Peter“, stellte er sich vor, „Ich bin der Vater.“ Beim anschließenden Händedruck drückte er so fest zu, dass Jochen vor Schmerz das Gesicht verzog. „Jochen“, antwortete Lucas Stiefvater. Peter drückte noch etwas kräftiger zu. „Sie sind also derjenige, der sich so liebreizend um meinen Sohn gekümmert hat.“ Das hätte er nicht besser gekonnt, gestand ihm Nicholas neidlos zu. Er war nie sonderlich gut darin gewesen, seine Wut zu unterdrücken. Das brauchte er jetzt aber auch nicht mehr, immerhin musste er nicht mehr geheim halten, dass er etwas wusste. Wütend blitzte er Jochen an. Am liebsten wäre er auf den Mann losgegangen, doch Luca zuliebe ließ er es bleiben. Er wollte seinen Freund nicht wecken. Er hatte schon genug durchgemacht, da brauchte er nicht auch noch zu beobachten, wie Nicholas sich mit seinem Stiefvater anlegte. Lucas Vater wandte sich unterdessen an Sonja, auch sie begrüßte er übertrieben kalt und distanziert. „Lange nicht mehr gesehen“, sagte er, „Und wenn es nach mir gegangen wäre, hätte es ruhig noch länger sein können.“ Die Frau schluckte. „Was tust du hier, Peter?“ „Mich um meinen Sohn kümmern.“ Mit einem Kopfnicken deutete er auf den schlafenden Luca. „Und jetzt geht, bevor ich euch gewaltsam entfernen lasse!“ Jochen schnaubte. „Als ob sie seine Familie einfach so rauswerfen!“ „Luca hat geredet“, mischte sich jetzt auch Nicholas in das Gespräch ein, „Du weißt, was das für dich bedeutet?“ Er weigerte sich, dem Mann gegenüber respektvolles Verhalten auch nur vorheucheln. Das hatte er nicht verdient. „Dieser miese, kleine-“ Jochen wollte auf das Bett zustürmen, doch Nicholas versperrte ihm den Weg. „Du wirst ihn nie wieder anfassen“, sprach er mit einer Mischung aus Autorität und Drohung, die die meisten Menschen vor ihm zurückweichen ließ, so auch Sonja und Peter. Nur Jochen schien unbeeindruckt. Er versuchte, Nicholas aus dem Weg zu stoßen, doch der Schwarzhaarige ließ das nicht zu. Er fing die Hand des Mannes ab, so dass dieser das Gleichgewicht verlor, und baute sich vor ihm auf. Jochen war etwas größer als er, aber er ließ sich davon nicht beeindrucken. „Ich wiederhole mich nur ungern“, zischte er, „Ich werde mich nicht länger zurückhalten. Wenn du auch nur noch einmal versuchst, Luca etwas anzutun, breche ich die jeden einzelnen Knochen! Und glaube mir, ich werde es genießen!“ „An Ihrer Stelle würde ich auf den Jungen hören“, drang eine fremde Stimme von der Tür aus ins Zimmer und der Arzt, der vorhin das Zimmer verlassen hatte, betrat es wieder, gefolgt von zwei Polizisten. Einer von ihnen hatte gesprochen. Nur an seinem Grinsen erkannte Nicholas, dass er das Gesagte nicht wirklich ernst nahm. „Ich spreche aus Erfahrung“, fuhr der Polizist fort, „Seine letzten Opfer durften das Krankenhaus erst nach Monaten wieder verlassen.“ Peter Mertens nickte zustimmend. „Ich hab es damals in der Zeitung gelesen. Du hast für ziemlich großes Aufsehen gesorgt: Vierzehnjähriger verprügelt drei Sechzehnjährige. Ich habe gehört, die armen Jungs haben sich bis heute nicht davon erholt.“ „Ich hab meine Sozialstunden geleistet“, brummte Nicholas. Er mochte es nicht, an den Vorfall erinnert zu werden. Denn auch wenn die drei Jungs das eine oder andere blaue Auge sicher verdient hatten, war er zu weit gegangen. Inzwischen bereute er seine Tat. Doch das hielt ihn nicht davon ab, Jochen zu bedrohen. Sollte es nötig werden, würde er seine Drohung auch in die Tat umsetzen. Jochen schluckte. Wie es schien, hatte er ebenfalls davon gehört. Die Polizisten widmeten ihre Aufmerksamkeit dem Mann. Auf Nicholas‘ Drohung gingen sie nicht weiter ein. Sie taten so, als hätten sie sie nicht mitbekommen. „Sie sind vorläufig festgenommen“, sagte einer von beiden, ehe sie Jochen aus dem Zimmer führten. „Was soll das?“, rief Lucas Mutter ihnen hinterher, „Sie können doch nicht einfach- Jochen hat nichts getan! Das ist alles die Schuld dieses Bengels!“ Am liebsten hätte Nicholas die Frau geschlagen. Das konnte nicht ihr Ernst sein! So blind konnte man doch nicht sein! „Du wirst deinem Mann noch früh genug Gesellschaft leisten.“ Peter baute sich drohend vor der Frau auf. „Wenn ich mit dir durch bin, wirst du dir wünschen, mir nie begegnet zu sein. Ich werden deinen Namen so sehr durch den Dreck ziehen, dass dich keiner mehr einstellt und man sich sogar in den Geschäften weigert, dich zu bedienen! Die Leute werden mit den Fingern auf dich und deine Entschuldigung von einem Mann zeigen! Glaub ja nicht, dass ich dich auch nur noch in die Nähe meines Sohnes lasse!“ Er deutete auf die Tür. „Und jetzt geh! Wir sehen uns vor Gericht!“ Eingeschüchtert nickte die Frau, ehe sie übereilt aus dem Zimmer stürzte. Nicholas sah zu Luca und war überrascht, als er die vor Verblüffung geweiteten Augen bemerkte. „Du bist wach…“, saget er leise. Er schritt auf das Bett zu uns setzte sich neben seinem Freund auf die Matratze. „Kein Traum“, flüsterte der Blondhaarige ungläubig, „Du bist noch da.“ „Kein Traum“, bestätigte Nicholas während er ihm eine Strähne des blonden Haares aus dem Gesicht strich. Er holte das Armband aus seiner Hosentasche und legte es Luca in die Hand. „Der Verschluss war kaputt. Deswegen hast du es wohl verloren.“ Lucas Finger schlossen sich um das Schmuckstück und er lächelte den Schwarzhaarigen dankbar an. Seine Augen strahlten beinahe so sehr vor Freude, wie zu seinem Geburtstag, als er das Armband geschenkt bekommen hatte. „Danke“, murmelte er. „Ich weiß nicht, ob du es mitbekommen hast“, begann Nicholas, „Aber Jochen wurde eben von der Polizei mitgenommen.“ Der Blondhaarige nickte, schnitt aber gleich darauf eine Grimasse. Seine Kopfverletzung schien ihm die Bewegung übel genommen zu haben. Lucas Blick wanderte zu Peter und nach kurzem Zögern streckte der die Hand ihm aus. Der Mann kam auf ihn zu, setzte sich wieder auf den neben dem Bett stehenden Stuhl. Dann ergriff er die Hand seines Sohnes. „Hast du irgendwelche Sachen bei Sonja, die du gern mitnehmen möchtest, wenn du zu mir ziehst?“, fragte er. Luca klappte der Mund auf. Völlig überrumpelt starrte er seinen Vater an. „Das wolltest du doch, oder?“, hakte er Mann nach. „Meinst du das ernst?“ Ungläubig starrte Luca ihn an. „Ich muss nicht mehr zurück?“ Peter lachte leise und auch Nicholas musste lächeln. Lucas Reaktion war einfach nur niedlich. „Ich deute das mal als ein ‚Ja‘“, meinte der Mann. „Da gibt es noch etwas, das du wissen solltest“, versuchte Nicholas ihn möglichst schonend auf sein zerstörtes Zimmer vorzubereiten. „Als ich deinen Brief gefunden habe, war ich bei dir zu Hause. Jochen scheint randaliert zu haben. Dein Zimmer sieht nicht gut aus. Um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass du irgendwas von deinen Sachen noch verwenden kannst.“ „Oh.“ Betreten senkte Luca seinen Blick. „War irgendetwas wichtiges dabei?“, wollte Nicholas wissen. Vielleicht ließ es sich das eine oder andere ja doch irgendwie reparieren. „Nein“, antwortete der Blondhaarige leise. „Ich kaufe dir neue Sachen. Das ist doch kein Problem“, versicherte ihm Peter sofort, „Eine Sache muss ich dir allerdings beichten. Ich habe es in den letzten Tagen nicht geschafft habe, ein Zimmer für dich einzurichten.“ Er lächelte seinen Sohn aufmunternd an. „Aber keine Angst, das Haus hat genügend Zimmer. Was hältst du davon, wenn du dir eines der Gästezimmer aussuchst und wir es, sobald es dir wieder besser geht, gemeinsam einrichten?“ Kapitel 63: Neues Zuhause ------------------------- Ungeduldig wartete Luca darauf, dass der Arzt endlich mit seiner letzten Untersuchung fertig war. Sein Vater und dessen Lebensgefährtin, die sich als Nina Wagner vorgestellt hatte, saßen daneben und beobachteten ihn. Heute durfte er endlich nach Hause gehen und zum ersten Mal seit er denken konnte, freute er sich darauf, aus dem Krankenhaus entlassen zu werden. In den letzten Tagen hatten sowohl Peter und Nina als auch Nicholas ihn immer wieder besucht. Je besser er seinen Vater kennengelernt hatte, desto sympathischer wurde dieser ihm. Er war so ganz anders wie Jochen. Er hatte ihm sogar neue Klamotten mitgebracht, damit er heute etwas zum anziehen hatte, da Jochen seine gesamten Sachen zerstört hatte. Luca wusste nicht, wie Peter es in dieser kurzen Zeit hinbekommen hatte, aber er hatte dafür gesorgt, dass er ihn aus dem Krankenhaus gleich mit zu sich nach Hause mitnehmen durfte. Zwar hatte er momentan noch nicht das Sorgerecht, aber es würde es innerhalb der nächsten Wochen bekommen. Da Luca bereits siebzehn war, durfte er mitentscheiden, bei wem er wohnen wollte, was die Sache einfacher machte. Gestern war auch jemand vom Jugendamt da gewesen. Sonja war das Sorgerecht für ihn entzogen worden und sie leistete ihrem Mann inzwischen Gesellschaft. Zwar hatte sie nichts mit Jochens Misshandlungen zu tun, aber sie hatte ihn genauso vernachlässigt und ihm nicht geholfen. Auch das war strafbar, wie die Frau vom Jugendamt erzählt hatte. Sie hatten sich noch etwas unterhalten, ehe sie schließlich zugestimmt hatte und ihn zu Peter ziehen ließ. Sie hatte noch ein Paar Besuche angekündigt, um zu sehen, wie Luca sich einlebte, aber von ihr schienen sie nichts zu befürchten zu haben. Endlich war auch der Arzt fertig. Er lächelte ihm noch einmal aufmunternd zu und reichte dem Siebzehnjährigen seine Krücken. „Ich wünsch dir eine gute Besserung und halte dich in Zukunft von fahrenden Autos fern“, scherzte er. Dann wandte er sich an Peter und sprach mit ihm die Termine ab, an denen er Luca zu Untersuchungen wiedersehen wollte. Bis Weihnachten war der Blondhaarige noch vom Unterricht befreit, da er sich erst einmal richtig auskurieren sollte, aber im neuen Jahr musste er dann wieder in die Schule gehen. Der Blondhaarige hörte den beiden Männern nicht weiter zu. Er war so froh, aus diesem weißen, sterilen Zimmer herauszukommen, dass er kaum noch still sitzen konnte. Natürlich war er auch aufgeregt, immerhin würde er gleich sein neues Zuhause zum ersten mal so richtig sehen. Er hoffte nur, dass er sich gut mit Peter und Nina verstand und ihnen nicht zu sehr zur Last fiel. „Können wir los?“, fragte Peter. Luca nickte. Es war schwierig mit den Krücken durch den Raum zu kommen, aber sein Vater hielt ihm die Tür auf, was die Sache sehr erleichterte. Außerdem war das Krankenhaus mit einem Fahrstuhl ausgestattet, weswegen er keine Treppe steigen musste. Vor dem Ausgang wartete eine Limousine. Als der Fahrer sie erblickte, sprang er aus dem Fahrzeug und hielt die Türen auf. „Das ist Sebastian“, stellte Peter ihn vor, „Mein Sekretär und persönlicher Assistent.“ Er legte dem Siebzehnjährigen die Hand auf die Schulter. Luca zuckte kurz zusammen, weil er damit nicht gerechnet hatte, ließ sie aber, wo sie war, schließlich wollte Peter ihm nichts tun. „Und das ist Luca, mein Sohn.“ Dann half er Luca in die Limousine und deutete dem Fahrer an, wieder einzusteigen. Peter und Nina nahmen Luca in die Mitte und auf Peters Zeichen hin, startete Sebastian den Luxuswagen. Sie fuhren einige Straßen entlang, bis sie vor einer Luca sehr bekannt vorkommenden Einfahrt hielten. Das Tor öffnete sich und der Fahrer lenkte den Wagen auf den kleinen Parkplatz neben der Tür. Wie schon vorhin stieg Sebastian aus dem Auto und hielt ihnen die Tür auf. Luca war das etwas unangenehm, doch er bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen, als er aus dem Wagen kletterte. Peter reichte ihm wieder seine Krücken und führte ihn zur Haustür, die er auch gleich aufschloss. Nina folgte ihnen, war aber, nachdem sie ihre Jacke an die Garderobe gehängt hatte, verschwunden. In der Küche wurden sie von zwei weiteren Personen erwartet, einer älteren Frau mit grauen, zu einem Dutt gebundenem Haar, Lachfalten und einer geblumten Schürze und einem Mann in abgetragener, fleckiger Jeans und verfärbtem Hemd. „Das sind Ute und Hans“, stellte Peter auch diese beiden Personen vor, „Ute ist meine Haushälterin und die gute Seele des Hauses, Hans der Gärtner und Hausmeister. Wenn du Fragen hast oder Hilfe brauchst, zögere nicht, die beiden anzusprechen.“ Der Siebzehnjährige nickte. Das erklärte die Kleidung des Mannes. Vermutlich hatte er nur kurz seine Arbeit unterbrochen, als er die Limousine durch die Einfahrt hatte fahren sehen. „Das ist mein Sohn Luca“, stellte er ihn vor. So langsam wurde ihm die Situation unheimlich. Wie reich war sein Vater eigentlich, dass er sich das leisten konnte? Das Haus, wobei Villa wohl eine bessere Bezeichnung dafür wäre, sah nicht nur von außen teuer aus. Auch die Einrichtung schien nicht billig gewesen zu sein. Er hatte je gewusst, dass Peter Geld hatte, aber das es so viel Geld war… Kein Wunder, dass er es sich leisten konnte, jedem Monat die Dreitausend Euro Unterhalt für ihn zu zahlen. „Ich habe noch einen Termin“, riss Peter ihn aus seinen Gedanken, „Zum Abendessen bin ich wieder da.“ Er wandte sich an seine Angestellten: „Seid doch so gut und zeigt meinem Sohn die Gästezimmer. Er soll sich eins aussuchen, was dann sein Zimmer wird.“ „Selbstverständlich“, antwortete Ute, während sie den Siebzehnjährigen in Augenschein nahm. „Dann komm mal mit.“ Sie und Hans warteten geduldig, bis er ihnen hinterhergehumpelt war, während sie ihn durch das Haus führten. Zwar wäre Luca lieber bei Peter geblieben, aber wenn sein Vater einen wichtigen Termin hatte, konnte er ihn nicht davon abhalten. Außerdem hatte er sich in den letzten Tagen wirklich viel Zeit für ihn genommen und ihn jeden Tag eine Stunde oder länger besucht. Er konnte nicht erwarten, dass Peter immer da war und sich um ihn kümmerte, das hatte Sonja auch nie getan. Die insgesamt vier Gästezimmer, wofür man so viele brauchte, war Luca schleierhaft, waren alle sehr elegant eingerichtet, so dass ihm die Entscheidung wirklich schwer fiel. Aber da er sich für eins entscheiden musste, fiel seine Wahl am Ende auf eines der beiden im dritten Stock, das sich gegenüber dem Schlafzimmer von Peter und Nina befand. Wenn er aus dem Fenster schaute, sah er das Dach der Garage, auf dem sich eine Art Balkon gebaut war, und den Garten hinter dem Haus. Der Balkon befand sich genau unter dem Fenster. Er öffnete es und beugte sich hinaus. Auf dem Balkon, direkt an der Hauswand, waren Roden eingepflanzt, und das Gerüst, an dem sie im Sommer hochkletterten war an die Hauswand geschraubt. Im Frühling und Sommer sah der Balkon sicher prächtig aus. Aber auch jetzt, wo alles von einer dünnen Schneeschicht bedeckt war, gefiel es Luca. Mit der Zeit konnte er sicher lernen, sich hier zuhause zu fühlen, zumindest hoffte er das. Er schloss das Fenster wieder und setzte sich auf das Bett. Das Zimmer war fast doppelt so groß, wie es sein bisheriges gewesen war. Er wusste gar nicht, was er mit dem ganzen Platz tun sollte, aber die anderen waren genauso groß gewesen. Momentan war es eher spärlich eingerichtet. An der Wand stand das Bett, gegenüber ein großer Kleiderschrank und in der Ecke ein Tisch mit zwei Stühlen. Dann war da noch eine Tür, die in ein angeschlossenes Badezimmer führte. Er hatte nur einen kurzen Blick hineingeworfen. Aber die anderen Gästezimmer waren ähnlich aufgebaut gewesen. „Eine gute Wahl“, meinte Ute während sie sich den Stuhl nahm und sich Luca gegenüber auf diesen setzte. Hans tat es ihr gleich. Er setzte sich auf den anderen Stuhl. „Als Peter letzte Woche gemeint hat, sein Sohn würde in ein paar Tagen zu ihm ziehen, habe ich zuerst gedacht, er macht einen Scherz“, erzählte die Frau gut gelaunt, „Ich arbeite schon seit vielen Jahren für ihn, aber von dir habe ich letzte Woche zum ersten Mal gehört.“ Luca lächelte höflich. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Die Frau schien das nicht weiter zu stören. Fröhlich quatschte sie weiter. „Darf ich fragen, was der Name deiner Mutter ist?“ „Sonja“, antwortete der Siebzehnjährige. Utes Blick verfinsterte sich. „Ich erinnere mich“, sagte sie, „Eine wirklich unangenehme Frau.“ Dann schien sie sich zu besinnen, dass sie gerade über seine Mutter sprach. „Entschuldige, ich habe es nicht so gemeint.“ Der Blondhaarige schüttelte seinen Kopf. „Ist schon okay. Ich bin froh, endlich von ihr weg zu sein.“ Kapitel 64: Neuanfang --------------------- Luca unterhielt sich noch eine Weile mit Ute und Hans, wobei er die ältere Frau wirklich nett fand. Sie kam ihm ein bisschen wie eine Großmutter vor. Was er von Hans halten sollte, wusste er nicht. Es war nicht so, dass der Mann unfreundlich war oder so, aber sein Verhalten machte Luca irgendwie Angst. Dazu kam seine Laute stimme und sein wildes Gestikulieren. Mit beidem konnte Luca nicht wirklich umgehen. Ihm war bewusst, dass es dem Mann gegenüber ungerecht war, immerhin hatte er nichts getan, doch der Siebzehnjährige konnte nicht anders. Als Ute verkündete, in die Küche zu gehen und das Abendessen zuzubereiten, gab er vor, erschöpft zu sein und sich noch etwas ausruhen zu wollen, damit Hans ebenfalls ging. Trotzdem hoffte, dass diese Angst, die er in der Gegenwart des Mannes verspürte, bald verschwand. Nun, wo er allein in diesem fremden Zimmer war, kam es ihm plötzlich riesengroß und kalt vor. Er kuschelte sich in die Bettdecke, so gut er es mit seinem gebrochenen Bein konnte. Aber das half auch nicht wirklich. Letztendlich kletterte er samt Decke aus dem Bett und humpelte zum Heizkörper. Diesen drehte er auf, ehe er sich gegen ihn sinken ließ und sich in die Decke einwickelte. Es half nicht ganz gegen die Kälte, die das Zimmer ausstrahlte, aber er fühlte sich schon etwas besser. Es war nicht so angenehm, wie die Wärme, die Nicholas ausstrahlte, wenn er sich an ihn kuschelte, aber es war besser als nichts. Er schloss die Augen und versuchte, sich etwas zu entspannen. So fand ihn auch sein Vater, als er, nachdem er leise geklopft hatte, das Zimmer betrat. Als er sah, dass Luca nicht im Bett lag, schaltete er das Licht ein. Kurz musste Luca blinzeln, um sich an die plötzliche Helligkeit zu gewöhnen, trotzdem sah er den überraschten Blick, mit dem Peter ihn musterte. „Geht es dir nicht gut?“, fragte der Mann besorgt und kniete sich neben ihm auf den Boden. Er streckte die Hand aus und fühlte seine Stirn. Luca zuckte erschrocken zurück und kniff seine Augen zusammen. Doch dann erinnerte er sich, dass das vor ihm nicht Jochen war und er keine Schmerzen zu befürchten hatte. Zaghaft öffnete er die Augen wieder und schaute seinen Vater an. Peter seufzte gequält. „Was hat dieses Monster nur mit dir gemacht?“, flüsterte er. Es schien ihm wirklich nahe zu gehen. „Es tut mir leid“, murmelte Luca. Das tat es wirklich. Peter hatte ihm nichts getan. Im Gegenteil: Er kümmerte sich jetzt sogar um ihn. Es war nicht fair, dass er vor ihm zurückschreckte. Trotzdem konnte er seine Reflexe nicht kontrollieren. „Was entschuldigst du dich?“, fragte der Mann, „Du kannst nichts dafür. Wenn sich jemand entschuldigen muss, dann bin ich das. Ich hätte meinen Hass auf Sonja nicht an dir auslassen dürfen. Ich hätte nach dir sehen müssen. Dann hätte ich bemerkt, dass etwas nicht stimmt und dich schon früher da wegholen können. Wegen meiner Sturheit musstest du Jahre bei diesen Leuten leben.“ Der Siebzehnjährige schüttelte leicht seinen Kopf. „Du konntest es nicht wissen“, versuchte er, seinen Vater zu beruhigen. Es war keinem aufgefallen, nicht den Nachbarn, nicht den Lehrers, nicht seinen Mitschülern. „Ich wollte dich eigentlich zum Essen holen“, lenkte Peter von dem unangenehmen Thema ab, „Es ist bestimmt gleich fertig.“ Luca nickte. Er kämpfte sich wieder auf sie Beine. Zwar hatte er sich langsam daran gewöhnt, das gebrochene Bein nicht zu sehr zu belasten, aber es fiel ihm immer noch sehr schwer. Sein Vater reichte ihm leicht lächelnd seine Krücken und hielt ihm die Tür auf, als er aus dem Zimmer humpelte. Er führte ihn die Treppe hinunter in die Küche. Dort deckten Nina und Ute gerade fröhlich miteinander scherzend den Tisch. Peter half ihm, sich auf einen der Stühle zu setzen und nahm ihm die Krücken ab, damit sie ihn beim Essen nicht störten. Er lehnte sie neben Luca an den Schrank, damit der Siebzehnjährige noch an sie herankam. Als Ute da Essen auftrug, war Luca vollends verblüfft. Es bestand aus einer Vorsuppe, einem Hauptgang und einem Dessert. Wie sollte er das alles nur essen? Zum Glück musste er sich keine Sorgen um das Besteck machen. Er hatte in der Realschule in einem Projekt gelernt, dass man von außen nach innen aß, außerdem war die Auswahl noch recht anschaulich. Ute begann, die Suppe auszuteilen. Dann nahm sie gemeinsam mit Hand ebenfalls am Tisch platz. Trotz seines Krankenhausaufenthalt schaffte Luca es nicht, größere Mengen auf einmal zu verspeisen. Es war zwar besser geworden, aber dennoch weit von der Normalität entfernt. Schon nach der Vorsuppe merkte er, dass er unmöglich alles schaffen konnte. Eigentlich war er schon jetzt satt. Doch er hatte noch zwei Gänge vor sich. Zu allem Überfluss lud Ute ihm auch noch seinen ganzen Teller voll. „Du musst mehr essen, Junge“, begründete sie ihr Handeln, „Du bist viel zu dünn.“ Luca versuchte es, aber schon nach wenigen Bissen musste er es sich hinunterzwingen. „Schmeckt es dir nicht?“, fragte Peter. Ihm schien sein Kampf mit dem Essen aufgefallen zu sein. Schnell schüttelte Luca den Kopf. „Es ist wirklich lecker“, lobte er Utes Kochkünste, er wollte es sich schließlich nicht mit der Frau verscherzen, „Ich bin es nur nicht gewohnt, so viel zu essen. Ich hatte schon im Krankenhaus so viel und jetzt das-“ „Schon gut“, unterbrach Peter ihn leise, „Du musst es dir nicht reinzwingen. Vielleicht lässt du dir lieber noch etwas Platz für das Dessert. Ute hat Sahnetorte gebacken.“ Der Siebzehnjährige schaute ihn dankbar an. „Willst du damit sagen, dass deine Mutter dich nicht vernünftig versorgt hat? Dass sie dir nichts zu essen gegeben hat?“, wollte Ute geschockt wissen. Luca fuhr zusammen und schaute seinen Vater Hilfe suchend an. Peter seufzte. „Die Tatsache, dass ihr das Sorgerecht entzogen wurde, sollte für sich sprechen“, beendete er das Thema. Doch Ute ließ nicht locker. Mit einem bösen Blick brachte sie den Mann zum Schweigen, dann wandte sie sich wieder an seinen Sohn. „Sie hat dir doch zu essen gegeben, oder?“ „Jetzt lass ihn sich doch erstmal einleben“, versuchte Nina, die Sache irgendwie zu beruhigen, „Der Arme Junge ist gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen worden.“ Am liebsten wäre Luca weggerannt und hätte er es gekonnt, hätte er es vermutlich auch getan. Er mochte es nicht, so bedrängt zu werden. Seine Hände begannen, zu zittern. Die Gabel, die er eben noch gehalten hatte, fiel mit einem klirrenden Geräusch auf den Boden. Sofort beugte Luca sich, um sie wieder aufzuheben. Dabei verrutschte sein Ärmel und gab die Sicht auf sein verbundenes Handgelenk frei. Er hatte sich noch nicht wieder richtig hingesetzt, da war Ute schon aufgestanden, zu ihm geeilt und hatte auch das andere freigelegt. Es brauchte nicht viel, um sich zusammenreimen zu können, was sich unter den Verbänden befand. Der Siebzehnjährige konnte an ihrem Blick ablesen, dass sie verstanden hatte. Alles in ihm drängte ihn zur Flucht. Die Gabel rutschte ein zweites Mal aus seinen zitternden Händen. Er schob seinen Stuhl zurück und wollte aufstehen, vergaß aber sein gebrochenes Bein und stürzte, kaum dass er es auf dem Boden aufgesetzt hatte. „Luca!“, rief Peter erschrocken, was ihn erneut zusammenzucken ließ. Der Mann sprang auf und kniete sich neben ihn. „Was hast du?“ Luca versuchte, ihn wegzustoßen, als er ihn anfasste, doch er hatte seinen immer stärker zitternden Körper nicht mehr unter Kontrolle. Er kannte dieses Gefühl und es machte ihm Angst. Es fühlte sich schrecklich an, anderen so ausgeliefert zu sein. „Sag doch etwas“, drang Peters Stimme zu ihm durch. Er klang verzweifelt. „Hol-“ Es war anstrengend, zu sprechen. Jedes Wort musste er mit einer Genauigkeit formen, die er nicht gewohnt war. „Hol Nicholas.“ Kapitel 65: Ein unerwarteter Anruf * ------------------------------------ Nicholas war gerade dabei, eine Liste der Unterrichtsmaterialien, die Luca brauchte, zu erstellen, damit sein Vater ihm die Sachen schnell nachkaufen konnte. Rebecka hatte ihm heute in der Schule aufgeschrieben, was sie seit Lucas Abwesenheit alles behandelt hatten, mit Buchseiten, Themen und allen Übungsaufgaben, die sie gelöst hatten. Sogar die Hausaufgaben hatte sie aufgeschrieben. Morgen war Samstag, der Schwarzhaarige hatte vor, Luca zu besuchen, zum einen, um ihm die Sachen für die Schule vorbeizubringen und zum anderen, um zu sehen, wie er sich bis jetzt eingelebt hatte. Außerdem musste er noch einmal mit Peter sprechen. Der Mann hatte ihn während Lucas Krankenhausaufenthaltes das ‚Du‘ angeboten und machte auf Nicholas einen sehr guten Eindruck. Er schien sich wirklich um seinen Sohn zu sorgen. Als sein Handy klingelte, wollte er es einen Augenblick lang einfach ignorieren, weil es ihn bei seiner Arbeit störte. Doch dann fiel ihm ein, dass es auch wichtig sein könnte, und er hob ab. „Hallo?“ „Spreche ich mit Nicholas?“, fragte eine Frauenstimme am anderen Ende der Leitung. „Ja“, antwortete der Schwarzhaarige leicht verwirrt, da er die Stimme nicht kannte. „Hier ist Nina“, stellte sie sich vor, „Es geht um Luca. Er scheint eine Panikattacke zu haben. Peter ist bei ihm, aber er kann ihn nicht beruhigen. Luca hat nach dir verlangt.“ Sie hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da war der Schwarzhaarige bereits aufgesprungen und aus dem Zimmer gestürmt. Er riss seine Winterjacke von der Garderobe und sprang in seine Stiefel. Dann stürmte er aus dem Haus. „Ich bin gleich da“, rief er, ehe er auflegte. Er machte sich nicht die Mühe, seine Jacke erst anzuziehen, immerhin war der Weg nicht weit. Nina erwartete ihn schon. Das Tor stand offen, ebenso wie die Haustür, an der die Frau wartete. „Sie sind in der Küche“, sagte sie. Seine Jacke achtlos auf den Boden werfend, stürmte Nicholas durch das Haus. Erst als er Luca erblickte, verlangsamte er sein Tempo. Der Blondhaarige saß auf dem Boden, die Arme um seinen Oberkörper geschlungen und die Beine in einem Winkel aufgestellt, dass ihm sein gebrochenes Bein wehtun musste. Peter kniete neben ihm und versuchte, ihn anzusprechen. Aber Luca schien ihn nicht einmal mehr zu bemerken. „Raus“, sagte Nicholas leise zu den Angestellten des Mannes und Nina, die ihm gefolgt waren. Er kniete sich neben seinen Klassenkameraden und zog diesen vorsichtig an sich heran. Sofort begann Luca, sich gegen ihn zu wehren. Doch Nicholas ließ nicht locker. Er begann, dem Blondhaarigen langsam über den Rücken zu streicheln. „Shhh“, flüsterte er, „Es ist alles gut.“ Es dauerte lange, bis der Blondhaarige sich wieder beruhigte und mehr als einmal musste Nicholas seine Arme festhalten, damit er sich nicht verletzte. Aber nach einer gefühlten Ewigkeit hörte Luca endlich auf, zu zappeln und kuschelte sich an ihn heran. Da er immer noch zitterte, hörte Nicholas nicht auf, ihn zu streicheln. Er fuhr durch das weiche, blonde Haar und flüsterte immer wieder beruhigende Worte in Lucas Ohr. Dann, endlich, war der Blondhaarige wieder ruhig. Er kuschelte sich noch mehr an Nicholas heran, was der Schwarzhaarige mit einem leichten Lachen quittierte. „Da ist aber heute jemand verschmust…“ Luca brummte etwas Unverständliches und vergrub sein Gesicht in Nicholas‘ Pullover. „Was ist passiert?“, wandte Nicholas sich an Peter, da er aus dessen Sohn wahrscheinlich nichts rausbekommen würde. „Ute hat die Verbände um seine Handgelenke entdeckt“, antwortete der Mann, „Und ihn dann so lange bedrängt, bis er eine Panikattacke bekommen hat.“ Nicholas schnaubte. „Es wäre schön, wenn du deine Angestellten in Zukunft von ihm fernhalten würdest! Sie sollen ihn auf keinen Fall bedrängen. Wenn er nicht reden will, dann bekommt ihn auch keiner dazu. Du hast doch gesehen, was ich im Krankenhaus für eine Nummer auffahren musste.“ Peter nickte. „Aber irgendwann wird er darüber sprechen müssen, spätestens, wenn er gegen Jochen und Sonja aussagen muss.“ Der Schwarzhaarige spürte, wie Luca erstarrte, weswegen er ihm weiter mit der Hand über den Rücken fuhr. „Aber noch nicht jetzt! Luca ist gerade erst von ihnen weg. Gib ihm etwas Zeit.“ „Ich weiß“, sagte Peter leise. Jetzt betrat auch Nina wieder die Küche. Sie schien an der Tür gelauscht und den richtigen Moment abgewartet zu haben. „Wie geht es ihm?“, wollte sie wissen. „Er hat sich wieder beruhigt“, antwortete Nicholas. „Schick bitte Ute und Hans nach Hause. Sag ihnen, ich werde morgen mit ihnen sprechen und ihnen alles erklären. Bis dahin sollen sie sich von meinem Sohn fernhalten“, sagte Peter. Nina nickte und verließ die Küche wieder. Nicholas hob inzwischen Luca auf seine Arme. „Wo ist sein Zimmer? Ich bring ihn hin“ „Ich zeig es dir“, meinte Peter und schnappte sich Lucas Krücken. Er führte den Schwarzhaarigen die Treppe hinauf. Lucas Zimmer war eher spärlich eingerichtet, aber er bewohnte es ja auch erst seit wenigen Stunden. Außerdem hatte er momentan keine Sachen, mit denen er es hätte bewohnter aussehen lassen können. Aber das würde schon noch werden, hoffte Nicholas. Er legte den Blondhaarigen auf sein Bett, während Peter die Decke, die neben der Heizung lag, holte. Der Schwarzhaarige wollte wieder aufstehen. Doch Luca ließ ihn nicht los. „Geh nicht weg“, flüsterte der Blondhaarige leise. Also streifte Nicholas seine Stiefel ab und legte sich mit zu ihm ins Bett, ehe er Luca an sich zog. „Keine Angst“, meinte er leise, „Ich geh nicht weg.“ Peter beobachtete das Ganze mit sichtbarer Missbilligung, wartete aber, bis Luca eingeschlafen war, bevor er etwas sagte: „Willst du mir immer noch sagen, dass ihr nur Freunde seid? Ich hab mich über dich schlau gemacht. Ich weiß von deinen Neigungen.“ Wollte er damit auf sein Schwul sein anspielen? Da er nichts von Luca gesagt hatte, ging er davon aus, dass er nicht wusste, dass sein Sohn ebenfalls auf Kerle stand. Besser, er klärte Peters Meinung ab, bevor er ihn auf die sexuelle Ausrichtung seines Sohnes hinwies. „Dann steh ich eben auf Kerle“, entgegnete er locker, „Und?“ Der Mann war sprachlos. Er öffnete seinen Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn jedoch wieder, ohne dass ihn ein Wort verlassen hatte. „Hör mal“, begann Nicholas deshalb, „Ich weiß, dass du dir Sorgen um Luca machst, aber von mir hat er nichts zu befürchten. Nur weil ich schwul bin, heißt das noch lange nicht, dass ich jeden Kerl, den ich sehe, gleich anspringe. Du bist doch auch hetero und steigst nicht gleich mit jeder Frau in die Kiste.“ Diese Aussage brachte Peter zum schmunzeln. „Da hast du wohl Recht.“ „Kann es sein, dass es dich stört, dass ich Luca so nahe bin?“, sprach Nicholas aus, was ihm gerade durch den Kopf ging. Es würde das Verhalten des Mannes erklären. Er schien ins Schwarze getroffen zu haben, denn Peter senkte betreten den Blick. Der Siebzehnjährige seufzte. „Luca wurde jahrelang misshandelt. Es fällt ihm schwer, Vertrauen zu fassen. Glaubst du, mir hat er von Anfang an vertraut? Es hat Wochen gedauert, bis er nicht mehr zurückgewichen ist, wenn ich ihm etwas zu nahe gekommen bin! Wenn ich ihn berühre, zuckt er immer noch zusammen und wenn ich ihn umarme, versteift er sich erst einmal! Ich lasse ihn nur nicht gleich wieder los, sondern warte, bis er sich daran gewöhnt hat. Ich habe gelernt, mit ihm umzugehen.“ Er bedachte Peter mit einem durchdringenden Blick. „Luca braucht Zeit, um sich an dich zu gewöhnen. Auch wenn du sein Vater bist, bist du ein Fremder für ihn. Fang langsam an. Wenn er auf eine Berührung vorbereitet ist, reagiert es besser, als wenn sie unerwartet kommt. Und zuck nicht zurück, nur weil er sich vielleicht erschrickt, damit machst du alles nur noch schlimmer. Bleib ruhig und warte ab. Dass er zurückzuckt heißt nicht automatisch, dass er in Ruhe gelassen will. Du siehst doch, wie anhänglich er bei mir ist. Wenn er einmal mit Schmusen angefangen hat, lässt er gar nicht mehr los.“ Peter seufzte. „Ob er jemals ein normales Leben führen kann?“ „Luca führt ein normales Leben“, widersprach der Schwarzhaarige ihm, „Es ist vielleicht nicht ganz optimal und die Berührungsängste werden wahrscheinlich auch nie ganz verschwinden, aber ich glaube nicht, dass sein Leben dadurch eingeschränkt ist.“ „Und wenn er sich verliebt“, wollte Peter wissen, „Wird er in der Lage sein, eine normale Beziehung zu führen Der Gedanke, Luca mit jemand anderem zu sehen, gefiel Nicholas nicht. Er löste ein seltsames Unwohlsein in ihm aus. Doch er ließ es sich nicht anmerken. „Wenn diese Person Luca wirklich liebt, wird sie die Geduld aufbringen, die es braucht, bis er in der Lage ist, ihr zu vertrauen.“ Dem hatte Peter nichts mehr entgegenzusetzen. Kapitel 66: Morgendliche Überraschungen --------------------------------------- Als Luca aufwachte, begann es gerade, zu dämmern. Er konnte das schwache Licht des beginnenden Tages durch seine geschlossenen Lider sehen, machte sich aber nicht die Mühe, sie zu öffnen. Dazu war er noch zu müde. Er schlief ja noch halb. Eine Weile rätselte er, wo er war. Das Bett, in dem er lag, war weich, viel weicher als es das im Krankenhaus gewesen war. Dazu kam, dass er von einer wohligen Wärme umgeben war, wie sie nur ein menschlicher Körper ausstrahlte. Ein beruhigender Duft lag ihm in der Nase und starke Arme waren um ihn geschlungen. Am liebsten hätte er sich einfach wieder an den warmen Körper neben sich gekuschelt und weitergeschlafen, doch auf die Dauer war seine Position schrecklich unbequem. Mit einer Hand tastete er sich herunter und fand auch gleich den Grund dafür. Er trug noch Jeans und Pullover von gestern. Umständlich schälte er sich aus seiner Jeans. Mit einem gebrochenen Bein und Armen, die sich um seinen Oberkörper schlangen, war das gar nicht so einfach. Den Pullover musste er anlassen, aus dem kam er jetzt nicht heraus. Aber zumindest war er die unbequeme Jeans los. Müde kuschelte er sich wieder an die Wärmequelle in seinem Bett. Dann zuckte er alarmiert zurück. Der morgendliche Nebel hatte sich aus seinem Gehirn gelöst und ihm war aufgefallen, dass in seinem Bett keine Wärmequelle sein dürfte. Erschrocken öffnete er seine Augen und blickte in das Gesicht des noch immer schlafenden Nicholas‘. Sein Klassenkameras hatte die Arme um ihn geschlungen und ihn an sich gezogen. Die schwarzen Harre waren vom Schlaf zerwühlt und ihm hingen einige Strähnen ins Gesicht. Wie Luca trug er auch noch Jeans und Pullover. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, strich der Blonde ihm die Haare aus dem Gesicht, ehe er sich wieder an ihn kuschelte. Es fühlte sich gut an, so von Nicholas gehalten zu werden. Er fühlte sich behütet und beschützt, als könne kein Leid der Welt ihn erreichen. Natürlich war es nicht wirklich so, doch Luca erlaubte es sich, kurz zu träumen, bevor ihn die Realität wieder einholte. Langsam kamen auch die Erinnerungen an den vergangenen Tag wieder zurück. Er hatte mit Peter, Nina, Hans und Ute zu Abend gegessen. Ute hatte seine Handgelenke, oder besser gesagt die Verbände darüber, gesehen und Antworten verlangt. Was danach passiert war, wusste er nicht mehr. Jetzt rührte sich auch Nicholas. Seine Augenlider zuckten, ehe sich die leuchtend grünen Augen öffneten. Luca fand die Augen faszinierend. Er hatte noch nie jemanden mit so grünen Augen gesehen. „Morgen“, nuschelte Nicholas, offenbar noch im Halbschlaf, „Wie geht es dir?“ Luca bemerkte, dass seine Fingerspitzen immer noch sie Stirn des Schwarzhaarigen berührten, weswegen er schnell seine Hand zurückzog. „Was machst du hier?“, fragte er. Nicholas schien verwundert. „Kannst du dich nicht mehr erinnern?“ Der Blonde schüttelte seinen Kopf. „Du hattest eine Panikattacke. Nina hat mich angerufen. Es hat gedauert, bis du wieder ruhig warst“, erklärte er ruhig. Früher hätte er das nie getan, fiel Luca auf. Früher war Nicholas immer unfreundlich zu ihm gewesen. Er wusste nicht, wann es sich geändert hatte, aber der Schwarzhaarige war mit der Zeit netter geworden. Luca mochte seinen Klassenkameraden, so wie er jetzt war, aber er hatte ihn auch schon vorher toll gefunden. „Und warum bist du noch hier?“, versuchte er, sich auf andere Gedanken zu bringen. „Du hast mich nicht mehr gehen lassen“, schmunzelte Nicholas, „Ich sollte wohl für die Zukunft ein paar von meinen Sachen bei dir lassen, damit ich was zum Anziehen habe, wenn es wieder passiert.“ Betreten senkte Luca seinen Blick. „Tut mir leid“, murmelte er undeutlich. Sicher hatte er Nicholas bedrängt. Was, wenn er schon etwas anderes vorgehabt hatte? Sein Klassenkamerad fuhr ihm mit der Hand durch seine blonden Locken. „Mach dir keine Gedanken. Ich hab es gern gemacht.“ „Warum?“ Luca wollte den Grund wissen. Meinte Nicholas das ernst oder hatte er nur ein schlechtes Gewissen wegen der Sache im Krankenhaus. Er wollte kein Mitleid und erst recht nicht von Nicholas! „Du bist mir wichtig“, flüsterte der Schwarzhaarige, ehe er ihn wieder in seine Arme zog und sie beide zudeckte. Eigentlich war Luca nicht mehr müde. Der Schreck, Nicholas in seinem Bett vorzufinden, hatte ihn erstaunlich munter gemacht. Trotzdem kuschelte er sich wieder an seinen Freund. Er platzierte seinen Kopf auf Nicholas‘ Brust und lauschte dem Herzschlag des Schwarzhaarigen. Ohne etwas dagegen tun zu können, fielen ihm die Augen wieder zu und Nicholas‘ Hand, die ihm wieder durch sein Haar fuhr, machte ihn nur noch schläfriger. Eine Weile versuchte er noch, wach zu bleiben, dann gab er auf und ergab sich dem Schlaf. Das nächste Mal wachte Luca auf, als es fast Mittag war. Im Haus duftete es lecker nach Essen. Nicholas lag neben ihm auf den Rücken und schaute an die Decke. Als er bemerkte, dass Luca wieder wach war, lächelte er leicht. Wie es wohl wäre, ich jetzt zu küssen, überlegte Luca, verdrängte den Gedanken aber so schnell wieder, wie er gekommen war. Er wollte ihre Freundschaft nicht zerstören. Nicholas war ihm zu wichtig, als dass er es riskieren wollte, ihn zu verlieren. Es klopfte an der Tür. Während Luca erschrocken zusammenzuckte, nahm Nicholas es nur schweigend zur Kenntnis. Der Blonde kletterte aus dem Bett und fuhr wieder in seine Jeans. Er hatte sie gerade angezogen, da wurde die Tür auch schon geöffnet und Peter lugte ins Zimmer. „Habt ihr noch geschlafen?“, fragte er. „Wir waren schon wach“, antwortete Luca ihm leise. Peter lächelte. „In einer Viertelstunde gibt es Essen.“ Dann wandte er sich an Nicholas. „Du isst doch bestimmt mit, oder?“ Der Schwarzhaarige hob die Schultern, ehe er nickte. Peter nahm es zur Kenntnis und war gleich darauf wieder verschwunden. Da Luca nichts Besseres zu tun hatte, begann er, sich fertig zu machen. Er zog sich neue Klamotten an, obwohl er eben erst in die Jeans geschlüpft war, was Nicholas mit einem Grinsen quittierte, und kämmte sich die Haare. Dann schnappte er sich seine Krücken und humpelte ins Bad, wo er die Zähne putzte und das Gesicht wusch, um den letzten Schlaf loszuwerden. Nicholas tat es ihm gleich, mit der Ausnahme, dass er keine Wechselklamotten hatte. Eine Viertelstunde später schienen sie, Nicholas im vom Schlaf zerknitterten Pullover, zum Essen. Wie schon gestern Abend saßen Ute und Hans ebenfalls mit am Tisch. Als die beiden Siebzehnjährigen eintraten, senkte die Frau betreten ihren Blick. Anscheinend hatte ein Schlechtes Gewissen. Ob sie diejenige war, die seine Panikattacke, wie Nicholas es beschrieben hatte, ausgelöst hatte. Er konnte sich noch immer nicht an alles erinnern. „Morgen“, grüßte der Blonde seine neue Familie, woraufhin Nina ihn frech angrinste und auf die große, an der Wand angebrachte Küchenuhr deutete. „Wohl eher ‚Mittag‘“, scherzte sie. Es war schon nach Zwölf Uhr. Die beiden Junge hatten sich kaum gesetzt, da begann Ute schon, das Essen zu verteilen. Diesmal gab es Braten mit Kartoffeln und einen Salat. Luca beobachtete, wie Nicholas seinen Salat musterte, als würde dieser ihn gleich anspringen, ehe er vorsichtig eines der Salatblätter auf seine Gabel lud und in den Mund schob. Er kaute etwas darauf herum, bevor er den restlichen Salat ebenfalls aufaß. Danach widmete er sich dem Hauptgang, von dem er sich dreimal Nachschlag holte. Ute beobachtete ihn argwöhnisch, es schien fast, als mochte sie Nicholas nicht, sagte aber nichts. „Wo isst du das alles hin“, fragte Nina ungläubig als der Schwarzhaarige zum vierten Mal nachholte. „Ich muss so viel essen, sonst nehme ich ab“, antwortete Nicholas. auf ihren verwunderten Blick hin, ergänzte er: „Ich mache viermal die Woche Kampfsport.“ „Und was machst du da genau?“,wollte Nina wissen. Sie schien sich um ein Gespräch zu bemühen. „Karate und Kickboxen“, meinte Nicholas. Nach dem fünften Teller war auch er satt. Ute trug den Nachtisch auf. Es gab die Torte, von dem Peter gestern gesprochen hatte. Dazu kam eine Flasche Sprühsahne, die die Frau vor Luca abstellte. „Du musst zunehmen, Junge“, sagte sie bestimmt. Ungeduldig wartete der Blonde, bis jeder sein kleines Stück Torte hatte, dann begann er, es genüsslich zu verspeisen. Dabei tat er, als hätte er nicht bemerkt, dass sie ihm das größte Stück zugeschoben hatte. Wen er hier immer so gemästet wurde, würde er bald Gewichtsprobleme bekommen. Kapitel 67: Allmähliche Genesung -------------------------------- Es vergingen einige Tage, in denen Luca sich relativ gut in seinem neuen Zimmer einlebte. Peter gab sich wirklich Mühe, es ihm so leicht wie möglich zu machen und auch Nina war sehr nett. Sie hatten ihm einige Kataloge von verschienenen Möbelhäusern gegeben, doch bis jetzt hatte Luca sich nicht entscheiden können. Das war auch der Grund, warum er gerade gemeinsam mit Nina und seinem Vater in seinem Zimmer saß und sie zu dritt durch die Kataloge blätterten. Es war Samstag Nachmittag, deshalb mussten sie nicht arbeiten, obwohl Peter auch ab und zu am Wochenende arbeitete. In ein paar Stunden würde Nicholas ihn abholen kommen. Die Zwillinge wollten eine Party schmeißen, diesmal ganz groß, und hatten ihn ebenfalls eingeladen. Da er nicht wirklich krank war, sonder nur verletzt, sollte es in Ordnung gehen, auch wenn er erst im neuen Jahr wieder in die Schule gehen würde, weswegen Luca zugesagt hatte. Außerdem wollte er die anderen wiedersehen. Nicholas war der einzige, der ihn in letzter Zeit immer besuchte. Er brachte ihm die Hausaufgaben, inzwischen hatte Peter ihm die von Jochen vernichteten Unterrichtsmaterialien besorgt, und erzählte ein bisschen von dem, was in der Schule passiert war. Aber Nicholas war kein gesprächiger Mensch und sie verbrachten auch viele Nachmittage und Abende damit, schweigend nebeneinander zu lieben, im Bett oder auf dem Boden. Irgendwann würde Nicholas beginnen, mit der Hand durch seine blonden Locken zu fahren oder ihn zu streicheln. Luca genoss diese Zärtlichkeiten, weswegen er sich dann meist an den Schwarzhaarigen kuschelte. „Hast du noch gar keine Vorstellung?“, wollte Nina ungläubig wissen, da er sich bis jetzt zu nichts geäußert hatte, und riss ihn aus seinen Gedanken. „Doch schon“, meinte Luca und blätterte, bis er die richtige Seite gefunden hatte, „Ich hätte gern so ein breites Bett.“ Er deutete auf ein Bett, was genauso groß war, wie das von Nicholas. Im Gegensatz zu normalen Betten war es nicht nur einen Meter breit, sondern fast einen anderthalben Meter. Es hatte ihm gefallen, seit er es zum ersten Mal bei seinem Klassenkameraden gesehen hatte. Obwohl Peter ihm in den letzten Tagen immer wieder gesagt hatte, das Geld keine Rolle spiele und er sich aussuchen sollte, was ihm gefiel, ohne auf den Preis zu sehen, war ihm noch etwas unwohl dabei. Doch er versuchte, es zu verstecken, um seinen Vater nicht zu kränken. „Das ist doch schon einmal etwas“, freute sich Peter. „Und welche Farbe sagt dir em meisten zu“, fragte Nina, „Es muss dir schließlich auch gefallen.“ „Ich finde weiß sehr schön“, antwortetet Luca. Weiß passte zu Allem und war nicht zu aufdringlich. Außerdem hellte es den Raum auf. So konnte er Teppich und Wände bunt machen, um das Sterile loszuwerden und es würde immer noch alles passen. „Bettkästen wären auch vorteilhaft.“ Nina schien das gleiche zu denken, denn sie grinste ihn an. „Und dazu einen schön bunten, flauschigen Teppich“, schwärmte sie. Begeistert nickte Luca. Sie hatten scheinbar den gleichen Geschmack. „Dann wissen wir ja, wonach wir suchen müssen“, sagte Peter, „Was hältst du davon, wenn wir nächste Woche in das Möbelhaus fahren und du dir die Betten in natura anschaust?“ Luca nickte. „Das wäre toll, aber geht das auch in Ordnung? Musst du nicht arbeiten?“ Peter lächelte. „Natürlich. Ich werde Sebastian meine Termine so legen lasse, dass ich an einem der Nachmittage frei habe. Allerdings kann sich dir noch nicht sagen, welcher Tag es werden wird.“ „Das macht nichts“, antwortete Luca sofort. Der Tag war egal. Was zählte, war, dass Peter sich Zeit für ihm nahm. Er schien dem Mann wirklich etwas zu bedeuten. Wie oft hatte Luca sich genau das gewünscht? Eine Familie, die ihn mochte, wie er war, die ihn trotz seiner Fehler liebte und sich um ihn kümmerte. Es war, als sei ein Traum wahr geworden, an dessen Erfüllung der Blonde schon lange nicht mehr geglaubt hatte. „Willst du dich nicht langsam fertig machen?“, riss Nina ihn aus seinen Gedanken. Grinsend hielt sie ihm ihre Armbanduhr unter die Nase. „In einer Viertelstunde kommt dein Abholservice.“ „Oh“, stellte Luca überrascht fest. Er hatte gar nicht bemerkt, dass es schon so spät geworden war. Schnell, wobei er immer noch länger brauchte als normal, schlüpfte er in eine neue Jeans. Peter hatte ihm einige Klamotten von der Arbeit mitgebracht, war den Siebzehnjährigen nicht weiter verwunderte, schließlich besaß sein Vater eine Menge Boutiquen. Die Preisschilder waren bereits entfernt gewesen, trotzdem wusste Luca, dass sie Klamotten sicher mehr als nur teuer gewesen waren. Aber wenigstens besaß er jetzt wieder Klamotten, die ihm passten. Zur Jeans zog er ein dunkelblaues Sweatshirt mit langen Ärmeln an. Er hatte es kaum über den Kopf gezogen, da klingelte es bereits. Wenig später stand Nicholas in seinem Zimmer. „Fertig?“, fragte der Schwarzhaarige. „Gleich“, entgegnete der Blonde, „Nur noch Schuhe und Jacke.“ Nicholas nickte und hielt ihm die Türen auf, damit er es schneller durch den Flur schaffte. Luca nahm seine Winterjacke, auch diese hatte Peter ihm gekauft, von der Garderobe und stieg in seine Stiefel. Vor dem Haus stand Bennis roter Passat, dessen Besitzer den Motor startete, kaum dass sie das Haus verlassen hatten. Der Schwarzhaarige halt ihm, in den Wagen zu steigen und Benni wartete, bis sie beide angeschnallt waren, ehe er losfuhr. „Na“, scherzte er, während er durch die verschneite Stadt fuhr „Wieder unter den Lebenden?“ Luca nickte. „Ja, irgendwie.“ „Du hast uns einen tierischen Schrecken eingejagt. Einfach so in ein Auto zu rennen“, plapperte Benni weiter und Luca bekam den Verdacht, dass er gar nichts von seinem Selbstmordversuch wusste. Ein Blick zu Nicholas bestätigte das, denn der Schwarzhaarige lächelte ihm beruhigend zu. Benni hielt vor dem Haus der Zwillinge, direkt vor der Haustür. Erst als seine beiden Fahrgäste ausgestiegen waren, fuhr er zurück, um sein Auto zu parken. An der Tür wurden sie von Fabian begrüßt, der sich dieses Mal auch nicht als sein Zwillingsbruder ausgab. Mit einem breiten Grinsen fiel er dem Blonden um den Hals. „Du weißt gar nicht, wie schrecklich es ohne dich in der Schule war. Ich hab Florians Mathetest bekommen und er meinen! Und die Lehrer haben mich ständig mit dem falschen Namen angesprochen.“ Nicholas schnaubte, sagte aber nichts. Das übernahm René, der hinter dem Zwilling aufgetaucht war: „Jetzt übertreib mal nicht. So schlimm war es auch wieder nicht, außerdem seid ihr selbst Schuld, dass euch keiner auseinanderhalten kann!“ Sie warteten noch, bis Benni sie eingeholt hatte, dann betraten sie das haus und ließen sich von Fabian ins Wohnzimmer führen, wo die anderen schon warteten. „Wir haben das Wochenende sturmfrei“, verkündete Florian fröhlich, „Unsere Eltern sind mit Chrissie ausgeflogen.“ Neben Rebecke und René, die Luca aus der Schule kannte, waren viele Leute hier, die der Blonde noch nie gesehen hatte. Er wollte sich gerade nach einer ruhigen Ecke umschauen, da wurde er auch schon von den Zwillingen gepackt und in die Mitte des Raumes gezogen. Er stolperte und hätte beinahe seine Krücken verloren. „Jetzt macht aber mal halblang“, rief Rebecka den Zwillingen wütend zu, „Luca ist verletzt! Nehmt gefälligst etwas Rücksicht!“ „Sorry“, nuschelte Florian, grinste aber im nächsten Augenblick wieder, weswegen Luca nicht glaubte, dass die Entschuldigung ernst gemeint war. „Alle mal herhören“, rief Fabian, wodurch alle Gäste zu ihm schauten, „Jetzt, da unser Ehrengast da ist, kann es losgehen. Seid bitte nett zu ihm, er ist momentan etwas verkrüppelt, weil er letztens ein Auto geknutscht hat. Aber das wird schon wieder.“ „Idiot“, kommentierte Becky die Rede, woraufhin einige lachten. Luca dagegen schaute leicht panisch durch den Raum. So viele Menschen machten ihn nervös. Als er Nicholas erblickte, der sich am anderen Ende des Raumes gerade auf eines der Sofas setzte, humpelte er quer durch das Zimmer und ließ sich auf den Platz neben ihm fallen, ehe er den Kopf auf seiner Schulter bettete. Der Schwarzhaare hob, wohl aufgrund des anhänglichen Verhaltend, die Brauen, unternahm aber nichts, um Luca von sich zu stoßen. Kapitel 68: Erzwungenes Geständnis ---------------------------------- Die Musik war laut und es waren viele Leute hier, die Luca noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Es waren wohl alles Freunde der Zwillinge, denn die beiden schienen sich super mit ihren Gästen zu verstehen. Ein paar Mal hatte einer von ihnen versucht, Luca anzusprechen. Der Blonde hatte sich jedoch hinter Nicholas versteckt, da er schnell gemerkt hatte, dass sie gehörigen Respekt vor dem Schwarzhaarigen hatten. Aber bei dem Mörderblick, den er den anderen zuwarf, war das wahrscheinlich auch kein Wunder. So hatte Luca seine Ruhe. Zwar wurde er immer noch von vielen beobachtet, wohl auch weil er vor Nicholas nicht zurückwich, aber keiner kam ihm mehr zu nahe, zum Glück. Vor einer Weile hatten sich René und Rebecka zu ihnen gesetzt. „Wie geht es dir?“, hatte das Mädchen versucht, ein Gespräch zu beginnen. „Ganz gut“, antwortete Luca. Wegen der lauten Musik musste er fast schreien, um noch verstanden zu werden. Auf Dauer war das bestimmt sehr unangenehm. „Was ist eigentlich genau passiert?“, wollte jetzt auch René wissen, „Ich hab nur irgendwelche wilden Gerüchte gehört.“ „Was hast du denn gehört?“, stellte Luca die Gegenfrage, um etwas Zeit zu gewinnen. René hob die Schultern. „Dass du einen Autounfall hattest, weiß ich. Da du schon wieder draußen bist, kann es auch nicht so schlimm sein, wie einige behauptet haben. Darum geht es jetzt aber auch nicht. Ich habe gehört, deine Eltern wurden verhaftet. Stimmt das?“ Luca fuhr erschrocken zusammen. Hatte es sich etwa schon bis hier her durchgesprochen. Zaghaft nickte er. Abstreiten würde nichts bringen, früher und später würde es eh herauskommen, also konnte er es auch gleich zugeben. Das würde ihm einiges an Ärger ersparen. „Wo wohnst du jetzt?“, fragte Rebecka. Mit dieser Frage hatte er gerechnet, weswegen es ihm nicht schwer fiel, zu antworten. „Bei meinem Vater.“ „Stimmt, deine Eltern haben ja nicht zusammen gelebt“, meinte Rebecka etwas nachdenklich. Doch anstatt weiter nachzubohren, lächelte sie nur freundlich, packte René am Handgelenk und zog ihn auf die Tanzfläche. Manchmal schien sie förmlich zu spüren, wenn ihm etwas unangenehm war. Fabian brachte ihnen Getränke. ein Bier für Nicholas und ein Mixgetränk für Luca, welches der Blonde misstrauisch begutachtete. „Wie viel Alkohol ist da drin?“ „Fast nichts. Das meiste ist Saft“, meinte der Zwilling grinsend. Der Blonde nahm einen Schluck und stelle überrascht fest, dass das Getränk gar nicht mal so schlecht schmeckte. Trotzdem würde er darauf achten müssen, was er trank. Bei seinem Gewicht und seiner sehr niedrigen Toleranz, brauchte er sicher nur halb so viel wie die anderen. Besser, er stieg danach erst einmal auf Saft oder Cola um. Dadurch, dass sowohl die Zwillinge als auch René und Rebecka normal mit ihm und Nicholas sprachen, hatten die anderen wohl einen Teil ihres Respektes verloren und rutschten ihnen jetzt auch näher auf die Pelle. Zwar hielten sie immer noch einen Mindestabstand, dennoch stellten sie Luca die eine oder andere Frage. Irgendwann wurde es dem Blonden zu viel und er floh unter dem Vorwand, sich ein neues Getränk zu holen, in die Küche. Dort angekommen, ließ er sich erst einmal auf einen der Stühle fallen. Seine Krücken lehnte er gegen den Tisch. Er atmete ein paar Mal tief durch, um sich wieder etwas zu beruhigen. Hier war die Musik deutlich leiser, was es ihm etwas erleichterte. „Hier bist du!“ Erschrocken fuhr Luca zusammen. Er drehte sich zur Tür und blickte in die Gesichter von Julian und Benni. Breit grinsend ließen die zwei sich ihm gegenüber auf freie Stühle fallen. „Wir haben dich gesucht“, meinte Julian, „Du warst plötzlich verschwunden.“ Der Angesprochene wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Deshalb bleib er still und wartete, bis die beiden weitersprachen, was sie nach einer Weile auch taten. „Du verstehst dich in letzter Zeit sehr gut mit Nicholas, kann das sein?“, wollte Benni wissen. Deutlicher musste r nicht wissen, Luca wusste auch so, worauf er anspielte. Irgendetwas sagte dem Siebzehnjährigen, dass es besser wäre, jetzt einen taktischen Rückzug anzutreten, doch als er gerade noch seinen Krücken greifen wollte, kam Julian ihm zuvor. Er packte sie und legte sie, außerhalb Lucas Reichweite, auf den Küchenschrank. „Wir unterhalten uns jetzt mal in aller Ruhe“, erklärte er sein Handeln. Luca kam sich bedrängt vor. Instinktiv wich er ein Stück zurück. Ob er es auch ohne seine Krücken zurück ins Wohnzimmer schaffen würde? Es tat weh, wenn er mit seinem gebrochenen Bein auftrat und er konnte es noch nicht wieder richtig belasten. Aber einbeinig springen sollte funktionieren. Außerdem könnte er sich ja an den Schränken abstützen. Er wollte seinen Fluchtplan gerade in die Tat umsetzen, als er an den Schultern gepackt und zurück in den Stuhl gedrückt wurde. „Hiergeblieben“, bestimmte Julian. Der Blonde schluckte. Das sah nicht gut aus. Ohne Hilfe würde er hier nicht wieder rauskommen. Ob die anderen schon bemerkt hatten, dass er viel zu lange brauchte und ihn suchten? Zumindest Nicholas musste doch aufgefallen sein, dass er niemals so lange brauchte, nur um sich ein neues Getränk zu holen. „Ihr habt vorhin echt süß geschmust“, riss Benni ihn aus seinen Gedanken, „Und auch schon vor deinem Unfall ward ihr sehr nahe. Läuft da etwas, von dem wir nichts wissen?“ „Wir sind nur Freunde“, versuchte Luca, sich irgendwie zu retten. Außerdem log er nicht. Es war die Wahrheit. Nicholas und er waren nur Freunde, nicht mehr, egal wie sehr es sich manchmal wünschte. „So?“ Julian klang nicht, als ob er ihm glauben würde. Um seine Aussage zu bekräftigen, nickte Luca. Er wollte hier weg, bevor die beiden noch mehr unangenehme Fragen stellten. Er wollte zurück zu Nicholas und sich an ihn kuscheln. „Da läuft also rein gar nichts zwischen euch?“, hakte Benni jetzt ebenfalls nach, „willst du uns für dumm verkaufen? Wir kennen Nicholas schon seit Jahren! Seit er dich kennt, hat er sich verändert! Zum Positiven!“ „Da ist nichts“, beharrte Luca. Das stimmte nicht ganz, da er ja Gefühle für den Schwarzhaarigen hatte. Aber das musste keiner wissen, erst recht nicht die beiden. „Warum gibst du nicht zu, dass du in ihn verliebt bist?“, fragte Benni. Luca erstarrte. „Nein“, schluchzte er. Seine Hände begannen, zu zittern. Er ballte seine Hände zu Fäusten. Krampfhaft versuchte er, sich unter Kontrolle zu halten. „Du hast es nicht abgestritten“, stellte Julian fest, schien allerdings nicht wirklich überrascht zu sein. „Lasst mich in Ruhe“, verlangte Luca. Seine Stimme zitterte und er war sich sicher, dass er ein jämmerliches Bild abgab. Nicht mehr lange und er würde in Tränen ausbrechen. „Gib es zu“, entgegnete Benni, „Gib zu, dass du dich in Nicholas verliebt hast!“ „Was würde da bringen?“ Luca hatte nicht länger die Kraft, gegen die zwei zu kämpfen. Sie würden doch eh nicht aufgeben, bis sie ein Geständnis aus ihm herausgepresst hatten. Ein wenig wunderte es ihn, dass sie es nicht schon viel früher versucht hatten. „Es würde nur alles verkomplizieren. Er erwidert meine Gefühle nicht, also ist es besser, wenn er nichts von ihnen weiß.“ Das war es zumindest, was er sich seit Wochen einredete. Aber in Wirklichkeit hatte er Angst vor Nicholas Reaktion. Er hatte Angst, dass der Schwarzhaarige ihn abwies, nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Er konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Still liefen sie ihm über das Gesicht. „Du gibst es also zu?“, bohrte Julian mit einem seltsamen Grinsen im Gesicht nach. Es hätte ihn misstrauisch machen müssen, immerhin hatten sie ihr Geständnis bereits. Ihm hätte auffallen müssen, dass er mit dem Rücken zur Tür saß und jederzeit jemand die Küche betreten könnte. Aber er war gerade nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, weswegen er wiederholte: „Ja, ich liebe Nicholas. Schon seit einer Weile. Seid ihr jetzt zufrieden?“ Hinter ihm zersplitterte ein Gegenstand. Erschrocken drehte Luca sich um und blickte in ein Paar geweiteter grüner Augen. Kapitel 69: Nicholas‘ Antwort ----------------------------- Nicholas‘ Gesicht war seltsam gefasst. Mit keiner Miene zeigte er, was er gerade fühlte. Einzig seine geweiteten Augen zeugten davon, wie geschockt er über Lucas Geständnis war. Zu seinen Füßen lag ein zersplittertes Cocktailglas. Es war das, was Luca vorhin von Fabian bekommen hatte. Luca wusste nicht, was er tun sollte. Hätte er gekonnt, wäre er weggerannt, doch er konnte sich nicht rühren. Sein Körper war wie versteinert. Wie hatte er nur so dumm sein können? Er hätte wissen müssen, dass Julian und Benni etwas planten. Warum war er nur so leichtfertig in ihre Falle getappt? Nicholas schaute inzwischen mit starrer Miene zwischen ihm und den beiden anderen hin und her. Leise schluchzte der Blonde auf. Mit dem Ärmel versuchte er, sein Gesicht von den Tränen zu befreien, was nicht viel brachte, da immer wieder neue nachliefen. Schon bald war sein Ärmel durchnässt. Der Blick des Schwarzhaarigen wurde kalt. Seine Augen blitzten gefährlich und es schien, als sei die Temperatur in der Küche um ein paar Grad gesunken. Trotzdem strich er Luca mit einer Zärtlichkeit, die der Blonde ihm in dieser Situation nicht zugetraut hatte, eine Träne aus dem Gesicht. „Ihr wagt es?“, zischte er. Seine Stimme klang so bedrohlich, dass Luca erschrocken vor ihm zurückwich. Im nächsten Augenblick hatte der Schwarzhaarige schon ausgeholt und Julian mit der Faust ins Gesicht geschlagen. „Wir hatten einen Deal!“, schrie er als er zum nächsten Schlag ausholte, „Ich hab euch vertraut, ihr verfickten Arschlöcher!“ Der nächste Schlag traf Benni. „Sonst hätte ich euch niemals in Lucas Nähe gelassen!“ „Wir haben doch nur-“, begann Julian, wurde aber von Nicholas unterbrochen. „Ich will eure Ausreden nicht hören! Ihr solltet ihn in Ruhe lassen! Er hat schon genug Probleme, da braucht er eure Scheiße nicht noch zusätzlich!“, tobte der Schwarzhaarige. Er schien rasend vor Wut. „Jetzt komm mal wieder runter“, schimpfte Benni, „Wir haben nur-“ Auch ihn ließ Nicholas nicht zu Wort kommen. „Raus“, verlangte er. Seine Stimme war zwar wieder ruhiger, doch er hatte sich noch lange nicht wieder gefasst. „Verschwindet, bevor ich mich vergesse!“ Das ließen sich Benni und Julian nicht zweimal sagen. So schnell sie konnten, stürmten sie aus der Küche. Der Schwarzhaarige schloss die Tür hinter ihnen, ehe er sich Luca gegenüber auf einen der jetzt frei gewordenen Stühle fallen ließ. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Er schien wirklich wütend zu sein. „Ich glaube, wir müssen reden“, sagte er leise. Luca zuckte zusammen. Jetzt kam es. Jetzt würde Nicholas ihn zurückweisen. Gleich würde er ihm sagen, dass es ihm leid tat, aber er seine Gefühle nicht erwiderte. Doch nichts passierte. „Hast du das eben ernst gemeint?“, fragte Nicholas stattdessen, „Liebst du mich wirklich?“ Der Blonde wollte antworten, doch sein Hals war so ausgetrocknet, dass er kein Wort herausbrachte. Stumm nickte er. Nicholas seufzte gequält und fuhr sich mit der Hand durch sein schulterlanges, schwarzes Haar. „Ich bin kein Beziehungsmensch“, murmelte er, „Bis jetzt hatte ich noch nichts, was länger als ein paar Wochen gehalten hat.“ Er stand auf und füllte Luca ein Glas mit Wasser. Dabei fiel sein Blick auf die Krücken, die Julian ihm vorhin abgenommen hatte. Wortlos stellte er sie ihm wieder hin. Dankbar nahm der Blonde das Glas an und trank einen Schluck. Danach fühlte er sich etwas besser. „Versteh mich nicht falsch. Ich bin generell nicht abgeneigt, aber bist du sicher, dass du mich liebst?“, hakte der Schwarzhaarige nach. Der Blonde nickte, auch wenn ihn die Frage etwas verwirrte. Worauf wollte sein Gegenüber hinaus? „Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass du vielleicht Dankbarkeit mit Liebe verwechselst?“, fuhr Nicholas fort. Luca schluchzte auf. „Wieso sagst du so etwas?“ Er verstand nicht, wie er auf diese Idee kommen konnte. „Ich will sicher gehen, dass deine Gefühle für mich auch wirklich echt sind“, erklärte der Schwarzhaarige. Alles in ihm schrie danach, zu lügen, zu sagen, dass es vielleicht nur die Dankbarkeit war, die ihn dazu verleitet hatte, doch Luca tat es nicht. Nach allem, was Nicholas für ihn getan hatte, hatte er eine ehrliche Antwort verdient, selbst wenn er seine Gefühle nicht erwiderte. Aber hatte er nicht eben gesagt, dass er nicht abgeneigt war? Oder hatte er sich das nur eingebildet? „Ich habe dich schon faszinierend gefunden, als wir uns das erste Mal gesehen haben“, begann Luca, leise, aber deutlich, zu sprechen, „Aber ich hab mich nicht in deine Nähe getraut. Du schienst mich nicht zu mögen und ich habe Gerüchte über deine Vergangenheit gehört.“ Er wusste nicht, woher er die Kraft nahm, seinem Gegenüber in die Augen zu sehen, er wusste nur, dass er es tat. „Versteh mich nicht falsch, natürlich bin ich dir dankbar. Aber da ist so viel mehr. Wenn du mich so anschaust, wie gerade, dann fängt mein Herz an, zu rasen, und will nicht mehr aufhören. Ich habe Schmetterlinge im Bauch. Jedes Mal freu ich mich riesig, wenn ich dich sehe, mehr als bei allen anderen zusammen. Ich will dir nahe sein, dich k- dich küssen.“ Am Ende schluchzte er wieder auf. Nicholas blickte ihn mit einer Mischung aus Unglauben und Fassungslosigkeit an. „Seit wann?“ Er brauchte die Frage nicht zu Ende zu sprechen, Luca wusste auch so, was er meinte. Seit wann liebst du mich? „Ich hab an meinem Geburtstag gemerkt, dass da mehr ist, wie nur Freundschaft. Als ich dir damals gesagt habe, dass ich nicht in dich verliebt bin, hat es sich falsch angefühlt.“ „Du schleppst das seit da mit dir herum?“, wollte Nicholas wissen, „Warum hast du mir nichts gesagt?“ „Ich wollte dich nicht verlieren“, flüsterte Luca, „Wenn du von meinen Gefühlen gewusst hättest, hättest du dich mir gegenüber anders verhalten. Das wollte ich nicht. Ich wollte nicht, dass sich etwas ändert.“ Der Schwarzhaarige stand auf. Zuerst vermutete Luca, er würde gehen, doch das tat er nicht. Vor dem Blonden blieb er stehen. Vorsichtig, als könnte er ihn zerbrechen, legte er seine Arme um ihn und zog ihn in eine Umarmung. „Bitte verlass mich nicht. Lass mich nicht allein“, flehte Luca. Nicholas verstärkte die Umarmung. „Als ob ich dir etwas ausschlagen könnte.“ Der Blonde riss sich von ihm los. Ungläubig starrte er ihn an. „Meinst du damit- ?“ Der Schwarzhaarige nickte. „Lass es uns versuchen.“ „Meinst du das wirklich? Du willst mit jemandem wie mir-“ Luca konnte sein Glück noch gar nicht fassen. Nicholas wies ihn nicht ab. Er wollte es mit ihm versuchen. „Jemand wie dir?“, schmunzelte der Schwarzhaarige, „Du bist der, den ich will.“ Noch bevor der Blonde etwas erwider konnte, hatte er sich vorgebeugt und ihn geküsst, zuerst vorsichtig, dann etwas fordernder. Lucas Herz setzte einen Schlag aus, bevor es gefühlte drei Takte schneller schlug. Die Schmetterlinge in seinem Bauch schienen Loopings zu fliegen. Sein ganzer Körper begann, zu kribbeln. Halt suchend schlang er seine Arme um Nicholas. Er war sicher, hätte der Schwarzhaarige ihn nicht festgehalten, wäre er vom Stuhl gefallen. Als Nicholas sich wieder von ihm löste, merkte er, dass sich auch sein Atem beschleunigt hatte. Dem Schwarzhaarigen erging es jedoch nicht anders. Auch er atmete schneller, als normal. „Ich bin froh“, flüsterte er, während er seine Stirn gegen Lucas legte, „Ich weiß nicht, ob ich in der Lage gewesen wäre, dich einem anderen zu überlassen.“ Dann küsste er ihn erneut. „Du weißt schon, dass ich dich jetzt nicht mehr hergebe, oder? Ich bin sehr besitzergreifend“, murmelte Nicholas nach einer Weile. Der Blonde lächelte. „Damit kann ich leben.“ Und wie er das konnte. Solange er Nicholas hatte, würde er alles durchstehen. Kapitel 70: Gratulationen ------------------------- „Lass und zurückgehen“, sagte Nicholas nach einer Weile, „Die anderen suchen uns sicher schon.“ Er bückte sich und klaubte die Überreste des Cocktailglases auf und warf sie in den Müll. Aber einige Scherben waren so klein, dass sie wohl weggefegt werden mussten. Widerwillig löste Luca sich von ihm und griff nach seinen Krücken. Der Schwarzhaarige hielt ihm die Tür auf, als sie gemeinsam die Küche verließen. „Sieht aus, als hast du ihn gefunden“, wurden sie von René im Flur begrüßt. Nicholas nickte seinem besten Freund zu, ehe er gemeinsam mit Luca zurück ins Wohnzimmer ging. Dort setzten sie sich auf die Couch, auf der sie vorhin schon gesessen hatten. Luca schaute sich im Raum um, doch er konnte weder Julian noch Benni erkennen. Die zwei wahren wohl nach Hause gegangen. Kein Wunder, so wie Nicholas ausgerastet war. Der Blonde konnte sein Glück immer noch nicht fassen. Er war mit Nicholas zusammen. Nie hätte er gedacht, dass es jemals dazu kommen würde. Ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht und er kuschelte sich an seinen Freund. Der Schwarzhaarige schmunzelte und legte einen Arm um ihn, zog ihn näher an sich heran. „Sagt mal“, fragte eines der Mädchen, das ebenfalls zu den Gästen gehörte. Luca kannte sie nicht. „Seid ihr zusammen oder so?“ Ein leichter Rotschimmer breitete sich auf den Wangen des Blonden aus und er wich seinem Blick aus. Nicholas dagegen nahm das locker. Er packte den Blonden an der Hüfte und hob ihn auf seinen Schoß. Lucas erschrockenen Aufschrei ignorierte er. „Sieht man doch“, brummte er und schien das Gespräch damit zu beenden. Das Mädchen schaute ihn verdutzt an, ehe es den Rückzug antrat. Langsam wurde Luca wieder ruhiger und begann, die ungewohnte Nähe zu genießen. Er lehnte sich gegen seinen Freund, woraufhin dieser die Arme um ihn schlang. René, der sie bis eben beobachtet hatte, ließ sich breit grinsend neben Nicholas auf die Couch fallen, auf den Platz, auf dem vorhin gesessen hatte. „Gibt es zufällig etwas, was ihr mir mitteilen wollt?" Sein Blick verriet, dass er es bereits wusste, oder zumindest erahnte. „Als ob du das noch nicht wüsstest“, entgegnete Nicholas und zog Luca noch ein Stück näher an sich heran. Renés Grinsen wurde breiter. „Dann ist wohl eine Gratulation angebracht. Hat auch nur drei Monate gedauert. Ich hätte erwartet, dass ihr länger braucht, drei Jahre oder so, vielleicht auch vier.“ Er fing sich eine Kopfnuss von seinem besten Freund. Dazu musste Nicholas Luca kurz loslassen, doch er legte seine Arme schnell wieder um ihn. Inzwischen waren auch die anderen auf sie aufmerksam geworden. Rebecka lächelte Nicholas kurz zu, dann zog sie Luca in eine Umarmung, die für den Blonden so überraschen kam, dass er sich nicht dagegen wehren konnte. „Ihr seid so süß zusammen“, freute sie sich. „René, deine Freundin geht fremd-“ „Nicholas, dein Freund geht fremd!-“, sagten die Zwillinge gleichzeitig. Sie grinsten sich an, bevor sie sich wieder an ihre Freund wandten. Sie zerwühlten das Haar des Blonden, Florian die linke und Fabian die rechte Hälfte. Nicholas richtete es wieder und warf den Zwillingen einen bösen Blick zu, Luca konnte es sehen, weil sie sich in einem der Fenster spiegelten. Je später es wurde, desto wohler fühlte sich Luca auf Nicholas‘ Schoß, denn der Schwarzhaarige ließ ihn nicht mehr los. Im Gegenteil, nach einiger Zeit begann er zuerst, Mit Lucas Haaren zu spielen. Es folgten der Kragen seines Pullovers und der Saum an der Hüfte. Damit konnte Luca noch leben. Auch, als Nicholas‘ Hände unter dem Pullover über seinen Bauch fuhren, unternahm er noch nichts. Erst, als sie begannen, in höhere und tiefere Regionen zu wandern, setzte Luca dem Ganzen ein Ende. Er packte die Hände, zog sie unter dem Pullover hervor, richtete den Pullover und platzierte sie wieder auf die Stelle, an der sie ganz zu Beginn gelegen hatten. Um zu verhindern, dass sie wieder auf Wanderschaft gingen, hielt er sie fest. Der Schwarzhaarige quittierte das mit einem leisen Lachen. Er beugte sich nach vorn und küsste ihn kurz auf den Mund, dann ließ er seinen Kopf gegen Luca sinken, so dass seine Stirn im Nacken des Blonden lag und sein Pony ihn kitzelte. Kurz verspannte sich Luca, doch er gewöhnte sich schnell daran. Es war nicht viel anders, als wenn Nicholas ihn streichelte und das hatte er schon oft getan und Luca hatte es jedes Mal genossen. Später brachte Nicholas ihn nach Hause. Da Julian und Benni sich nicht mehr hatten blicken lassen, nahmen sie den Linienverkehr. In die Richtung, in der der Blonde jetzt wohnte, fuhren mehr Busse, auch noch mitten in der Nacht. Er brauchte nur etwas Hilfe beim Einsteigen, weil die Stufen sehr hoch war. Der Busfahrer musterte sie argwöhnisch, als sie ihm ihre Monatskarten unter sie Nase hielten, doch er war freundlich genug, zu warten, bis Luca sich gesetzt hatte. Aber vielleicht lag das auch an dem Blick, mit dem der Schwarzhaarige ihn betrachtete. Während der Fahrt, hielt Nicholas die Krücken, damit sie nicht umfielen, in einer Hand. Die andere hatte er um Lucas Schulter geschlungen. „Irgendwie ist es nicht viel anders, wie sonst auch“, stellte Luca irgendwann fest, „Bis auf das Küssen und so haben wir den Rest schon mehr oder weniger gemacht.“ Nicholas antwortete nicht, sondern zog ihn nur näher an sich heran und küsste ihn auf die Stirn, an die Stelle, an der die Haare begannen. Er brauchte nichts sagen, Luca verstand ihn auch ohne Worte. Gemeinsam stiegen sie an der nächsten Haltestelle aus. Zum Haus von Lucas Vater war es noch ein kurzer Fußmarsch, der sich durch die Tatsache, dass Luca mit den Krücken nicht so schnell laufen konnte und den Schnell in die Länge zog. Es war weit nach Mitternacht, als sie endlich das Grundstück erreichten. Aber im Wohnzimmer brannte noch Licht, also waren Nina und Peter wohl noch nicht zu Bett gegangen. Ob sie auf ihn warteten? Es war doch schon so spät und sein Vater hatte ihm extra einen Schlüssel gegeben, damit er immer ins Haus konnte. Trotzdem freute sich Luca darüber, obwohl es eigentlich völlig unnötig war. zum ersten Mal, seit er denken konnte, blieb jemand wach und wartete auf ihn. „Wir sehen uns“, verabschiedete Nicholas, nachdem er den Blonden bis zur Haustür gebracht und für ihn aufgeschlossen hatte, und wandte sich zum Gehen. Luca sah ihm hinterher. Er zögerte kurz, dann griff er nach dem Arm des Schwarzhaarigen. Seine Krücken fielen ihm aus der Hand, als er sich zu ihm beugte, weswegen er sich an Nicholas‘ Armen festhielt, um nicht umzufallen. Erst, als er sicher auf seinem ungebrochenen Bein stand, schlang er dem sichtbar verwirrten Nicholas die Arme um den Hals. Der Schwarzhaarige verstand, was er wollte und kam ihm ein Stück entgegen. Ihre Lippen hatten sich kaum getroffen, da vertiefte Nicholas den Kuss schon. Luca ging mit. Er vertraute dem Schwarzhaarigen. Er wusste, Nicholas würde ihm nicht wehtun. Aus dem einen Kuss wurden mehrere. Nicholas wollte gar nicht mehr von ihm ablassen, was Luca nicht im Geringsten störte. Er mochte es, seinen Freund zu küssen. Erst als im Flur das Licht anging und Schritte an den Wänden entlanghallten, lösten sie sich schwer atmend wieder voneinander. Nicholas reichte Luca seine Krücken. Das war es auch, was Nina und Peter sahen, als sie die beiden erreichten. „Bis nächste Woche“, verabschiedete sich Nicholas, „Ich bring dir wieder die Hausaufgaben vorbei.“ „Danke, das ist nett von dir“, antwortete Luca. Irgendwie fühlte sich diese Aussage plötzlich sehr reserviert an. Der Schwarzhaarige schien das ähnlich zu sehen, denn er schnaubte: „Ich bin dein Freund! Natürlich bring ich dir die Sachen vorbei!“ Der Blonde musste schmunzeln. Ihm war die Zweideutigkeit dieser Aussage nicht entgangen. Trotzdem wollt er den Abschied nicht unnötig in die Länge ziehen, weswegen er einfach nur „tschüss“, sagte. Nicholas hob noch einmal die Hand, dann verließ er das Haus und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Luca wandte sich an seinen Vater und dessen Freundin, die ihn freundlich begrüßten. „Na, wie war die Party?“, fragte Peter. Ob er wusste, dass sein Sohn schwul war und seit wenigen Stunden einen festen Freund hatte? Besser, er brachte es ihm schonend bei, dachte sich Luca, und nicht mehr heute. Kapitel 71: Shoppingausflug --------------------------- Fünf Tage vor Weihnachten ging Luca dann mit seinem Vater, der sich extra dafür freigenommen hatte, einkaufen. Nina begleitete sie, würde aber eher zurückkehren, da sie sich am Abend mit ein paar Freundinnen auf dem Weihnachtsmarkt treffen wollte. Glühwein trinken und Waffeln essen, hatte sie gemeint. Sebastian, der ständig in Peters Nähe war, fuhr sie zum Möbelhaus. Glücklicherweise bestand Peter dann darauf, dass sich Sebastian ein paar Stunden frei nehmen konnte. Er würde ihn anrufen, wenn er sie wieder abholen sollte. Der Mann verschwand in Richtung Weihnachtsmarkt. Als Luca das Möbelhaus betrat, wäre er am liebsten wieder umgekehrt. Das lag aber keinesfalls an einer schlechten Atmosphäre oder so, er hatte nur die Preisschilder bemerkt. Bis jetzt war ihm noch nicht klar gewesen, wie viel Geld man für Möbel ausgeben konnte. Die Kataloge, die ihm sein Vater gegeben hatte, enthielten keine Preisangaben. Nina schien sein Unwohlsein bemerkt zu haben, denn sie lächelte ihn freundlich an. „Mach dir keinen Kopf. Dein Vater kann sich das locker leisten. Außerdem möchte er nicht, dass du minderwertige Sachen bekommst.“ Sie hatte leicht reden. „Ikeamöbel hätten es auch getan“, murmelte er leise, was Nina zum Lachen brachte. „Jetzt sei doch nicht so“, mischte sich auch Peter in ihr Gespräch ein, „Du weißt, dass es mich nicht stört, Geld für dich auszugeben. Dein Zimmer soll dir am Ende ja gefallen und hier ist die Auswahl einfach größer. Außerdem ist die Qualität nicht mit Ikea zu vergleichen. Dort gibt es nur Massenware.“ Darauf erwiderte Luca nichts mehr. Er wusste auch nicht, was er sagen sollte. Es wäre unhöflich, noch weiter auf Billigmöbel zu bestehen. Aber er fühlte sich zwischen dem vielen teuren Zeug auch nicht wirklich wohl. Zwar hatte er sich langsam an Peters Haus gewöhnt, aber jetzt, wo er die Preise sah, wurde ihm erst klar, wie teuer die ganze Einrichtung wirklich gewesen sein musste. „Was wird eigentlich aus den Sachen, die jetzt in dem Zimmer stehen?“, fragte er nach einer Weile. „Die teilt Hans auf die anderen Gästezimmer auf“, antwortete Peter. Der Siebzehnjährige war erleichtert. Wenigstens wurden sie nicht weggeworfen oder so. Das wäre wirklich Schade um die Möbel gewesen. Sie waren noch so gut wie neu. In der Abteilung für Schlafzimmer hielten sie an und begannen, sich die Möbel genauer zu besehen. Luca fand auch recht schnell ein Bett, das ihm gefiel. Es hatte die gleiche Größe wie das von Nicholas, war wegen der Bettkästen etwas höher und hatte die gewünschte weiße Farbe. An Kopf- und Fußenden war es mit grünem Plexiglas besetzt. Aber es war nicht irgendein grün. Es war die Farbe von Nicholas‘ Augen. Durch den weißen Untergrund wirkte es allerdings ein ganzes Stück heller. Der Nachttisch war ebenfalls bereits zum Bett, was Luca sehr praktisch fand. Er hatte die gleiche Höhe wie die Kästen und konnte unter das Bett geschoben werden, wenn er nicht gebraucht wurde. Als er um das Bett herumlief, fiel ihm allerdings auf, dass sich Kästen und Nachttisch an beiden Seiten befanden. Er würde es also nicht in die Ecke stellen können, aber das war nicht weiter tragisch. Peter freute sich. „Das ging aber schnell. Nina braucht immer Stunden, bis sie etwas findet, was ihr gefällt.“ Sofort kam einer der Verkäufer auf sie zu. „Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“ „Wir hätten gerne dieses Bett hier und passende Möbel dazu“, sagte Peter. Der Verkäufer deutete auf die umstehenden Möbel. „Diese hier gibt es in mehreren Farben, wie sie an der Tafel sehen können. Schauen Sie sich ruhig um. Wir haben nicht von jeder Farbe alles hier, können es aber problemlos nachbestellen. Das würde dann aber so zwischen drei und fünf Wochen dauern.“ Nina bedankte sich höflich, ehe sie Luca zu den Kleiderschränken zog. Da er sich mit dem Bett schon für einen bestimmten Stil und eine Farbe entschieden hatte, war die Auswahl begrenzt und er hatte schnell die passenden Möbel gefunden. Nina begann, zu planen, was er noch alles brauchte und da sie einen sehr ähnlichen Geschmack hatten, waren sie sich fast sofort einig. Innerhalb weniger Stunden wurde seine ganze Zimmereinrichtung ausgesucht, sogar die meisten Einrichtungsgegenstände bekamen sie hier. Es würde ihnen in den nächsten Arbeitstagen geliefert werden. Da Weihnachten war, dauerte das aber etwas länger, doch das störte nicht. Nur für Teppich und Farbe für die Wände mussten sie in einen Baumarkt fahren. Nina verabschiedete sich, da sie ihre Freundinnen nicht warten lassen wollte und Luca fuhr nur mit seinem Vater und Sebastian, der sie bereits an der Tür erwartete, weiter zu einem Baumarkt. Auch hier wurde er schnell fündig. Er entschied sich für einen dunkelgrün gemusterten, extrem flauschigen Teppich und hellorange Farbe, die laut der Verkäuferin gut zu dem Teppich passte. Sie hatte sie ihm sogar dazu empfohlen. Peter ließ auch das liefern, allerdings noch vor Weihnachten. Er bestellte sogar eine Firma, die kurzfristig den Teppich auslegen sollte. „Die Wände wird Hans dir vorher streichen“, meinte er. Luca nickte nur. Er war überwältigt von dem ganzen Geld, dass Peter ohne mit der Wimper zu zucken für ihn ausgab. „Lass uns noch essen gehen“, wechselte sein Vater das Thema, als sie wieder zu Sebastian, der diesmal auf sie gewartet hatte, in das Auto stiegen, „Ute hat heute ihren freien Tag.“ „Ok“, sagte Luca. Er wunderte sich, was Peter getan hätte, hätte er nicht mit gewollt. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass Ute heute nicht da gewesen war, Klar, der Frühstückstisch war weniger üppig gedeckt, es hatte nur Aufbackbrötchen mit Nutella und Marmelade gegeben, aber das war für sein Verständnis immer noch ein Festessen. „Halt hier am Straßenrand“, wies Peter Sebastian an, „Dann kannst du für heute Schluss machen. Wir nehmen dann ein Taxi.“ Der Fahrer hielt ihnen noch die Tür auf, dann verabschiedete er sich. Der Siebzehnjährige kletterte mehr schlecht als recht aus dem Auto, aber zumindest brauchte er keine Hilfe mehr. Als er es endlich geschafft hatte, reichte ihm sein Vater die Krücken. Luca sah sich um. Er wusste, wo er war, immerhin war hier früher sein Schulbus vorbeigefahren. Die Haltestelle war auch nicht besonders weit entfernt, er konnte sie sogar sehen. Sie standen vor einem Restaurant, dass, wenn man nach der Einrichtung ging, sehr teuer war. Hätte Sebastian nicht vor einem McDonalds oder so halten können? Andererseits konnte Luca sich seinen Vater absolut nicht in einem Fast-Food-Restaurant vorstellen und das lag nicht nur an dem Designeranzug. Sie hatten es kaum betreten, da wurden sie auch schon begrüßt. Allerdings schienen sie nicht die einzigen zu sein, denn vor ihnen stand eine Familie, stehend aus Eltern, Sohn und Tochter. Jedenfalls ging er davon aus, dass es sich um eine Familie handelte. Irgendwie kam ihm der Sohn seltsam bekannt vor. „Peter“, wurde sein Vater von dem Vater freudig begrüßt, „Mit dir habe ich ja gar nicht gerechnet. Was treibt dich hier her?“ „Johann“, grüßte Peter zurück, „Nun, ich würde mal sagen, das gleiche wie dich: der Hunger.“ Der Blick Johanns, zumindest ging Luca davon aus, dass das sein Name war, fiel auf ihn. „Ah“, meinte Peter und lächelte den Mann entschuldigend an. „Ihr kennt euch ja noch gar nicht. Johann und ich arbeiten seit ein paar Jahren zusammen. Sein Unternehmen stellt Schuhe und Taschen zu den Klamotten meines Unternehmens her.“ Er legte Luca die Hand auf die Schulter. Der Siebzehnjährige versteifte sich kurz, schaffte es aber, nicht zusammenzuzucken. Trotzdem war ihm die Situation leicht unangenehm. „Das ist mein Sohn, Luca“, stellte Peter ihn vor. „Du hast einen Sohn?“ Johann schien überrascht, doch Luca achtete nicht weiter auf ihn. Inzwischen hatte sich auch der Rest der Familie zu ihnen umgedreht und als der Blonde das Gesicht des Sohnes sah, hätte er am liebsten die Flucht ergriffen. „Thomas?“, Erschrocken starrte er seinen Mitschüler an. Kapitel 72: Schreck am frühen Abend ----------------------------------- Thomas war nicht minder geschockt. Seine Augen waren leicht geweitet und ihm war der Mund aufgeklappt. „Das ist ein schlechter Scherz“, murmelte er. „Ihr kennt euch?“, fragten ihre Väter synchron. Luca nickte, während Thomas antwortete: „Selbe Klasse.“ Ihre Väter waren kurz darauf in ein Gespräch vertieft, von dem Luca einen Großteil nicht verstand. Es schien um geschäftliche Dinge zu gehen. Sie hatten auch spontan beschlossen, alle an einem Tisch zu sitzen. Luca war zwischen seinem Vater und Thomas Schwester gelandet. Sein Klassenkamerad saß ihm gegenüber zwischen seinen Eltern. Etwas stimmte mit dieser Sitzordnung nicht, stallte Luca fest. Hätte er nicht neben Thomas sitzen müssen, wenn sie sich kennen? Die Schwester kannte er nicht. Er hatte sie zwar ein paar Mal gesehen, wusste aber weder ihr Alter noch ihren Namen und es interessierte ihn auch nicht. Die Speisekarten wurden ausgeteilt. Luca wagte erst nicht, auf die Preise zu schauen, und als er es dann doch getan hatte, bereute er es sofort. Ein Großteil der Gerichte sagte ihm überhaupt nichts. Dazu kam, dass die Speisen nach Menüs gegliedert waren. Bestellte man da jetzt ein ganzes Menü oder gab es sie auch einzeln? Den Gedecken zufolge aß man wohl mehr als ein Gericht, denn es lagen drei Messer, drei Gabel, großer und kleiner Löffel und noch eine kleine Gabel auf dem Tisch. Die Stoffservietten waren zu kleinen Kunstwerken gefaltet. Hilflos sah er zu seinem Vater, doch der quatschte immer noch und schien ihn gar nicht zu bemerken. Hätte er doch nur auf McDonalds bestanden. Dann würde sein Vater jetzt dumm schauen und er hätte dieses Problem nicht. Leise seufzte er. Ob es wohl auffiel, wenn er heimlich verschwand? Thomas schien seine Überforderung mit der Situation ausgefallen zu sein. Er grinste ihn vielsagen an. „Bist du zum ersten Mal hier?“ Luca nickte. Abstreiten konnte er es ja eh nicht. Jetzt musste sein Klassenkamerad sich nur noch über ihn lustig machen und der Abend wäre perfekt. Allerdings schien dieser das nicht vorzuhaben. „Sara, lass uns Plätze tauschen“, wandte er sich an seine Schwester und ließ sich wenig später auf den Platz neben Luca fallen. Er schlug seine Speisekarte auf und begann Luca, den Aufbau leise zu erklären. Sie waren gerade durch, da kam die Bedienung und fragte nach ihren Wünschen. So schaffte Luca es, zu bestellen, ohne aufzufallen, worüber er sehr erleichter war. „Danke“, flüsterte er Thomas leise zu. „Keine Ursache“, antwortete dieser. Dann deutete er unauffällig auf Peter. „Und er ist echt dein Vater?“ Der Blonde nickte. „Ist er. Ich hab bis jetzt nur nicht bei ihm gewohnt.“ Es wunderte ihn, dass Thomas plötzlich so nett war. Sie hatten zwar Frieden geschlossen, waren aber keine Freunde oder so. „Und wieso jetzt auf einmal?“, wollte Thomas wissen, „Bist du mit deiner Mutter und ihrem Mann nicht mehr klar gekommen?“ Auf seinen verdutzten Blick hin, ergänzte er, „Ich weiß, dass dieser Jürgen, oder wie auch immer er heißt, nicht dein Vater ist.“ „Jochen“, murmelte Luca, verwirrt, dass er mit seinem Klassenkameraden ein normales Gespräch führen konnte. Zwar fühlte er sich noch etwas unwohl, direkt neben ihm zu sitzen, aber es ließ sich aushalten, solange sein Klassenkamerad keine ruckartigen Bewegungen machte. Thomas brummte. „Ist doch egal.“ Der erste Gang, ein Salat wurde gebracht. Ein kurzer Blick über den Tisch verriet ihm, dass Peter und Johann ein anderes Gericht hatten. Auf ihren Tellern lag etwas, was sehr stark nach rohem Fleisch aussah, und hauchdünn geschnitten war. Schweigend begann der Blonde zu essen, froh darüber, von der Frage abgelenkt zu werden. Vielleicht vergaß Thomas sie ja. So viel Glück schien er allerdings nicht zu haben. Sein Gesprächspartner ließ nicht locker. „In der Schule gehen ein paar Gerüchte um“, sagte er, „Es heißt, deine Eltern sitzen im Knast. Weswegen auch immer. Da ist sich die Gerüchteküche nicht ganz einig.“ Beinahe hätte Luca sich an seinem Salat verschluckt. Der Schreck musste ihm am Gesicht abzulesen gewesen sein, denn Thomas meinte grinsend: „Bingo.“ Luca seufzte. „Können wir das Thema lassen? Ich bin froh, wenn ich sie nur noch einmal sehen muss, und das wird vor dem Gericht sein.“ „Du musst gegen sie aussagen?“ Thomas schien geschockt. Auch seine Stimme wurde lauter. „Das können sie doch nicht von dir verlangen!“ Erschrocken fuhr Luca zusammen und das Besteck rutschte ihm aus den Händen. Laut klirrend kam es auf dem Steinboden auf. Augenblicklich waren alle Augenpaare auf ihn gerichtet, auch die von den benachbarten Tischen. Er begann zu zittern und konnte regelrecht spüren, wie er errötete. „Ist alles okay?“, fragte Peter leise, während Thomas betreten zu Boden blickte. Sein Klassenkamerad schien sich die Schuld daran zu geben. Luca versuchte, sich wieder zu beruhigen. Mehrmals atmete er tief ein und wieder aus. Er schloss die Augen und versuchte, auszublenden, wo er sich befand. Doch dann spürte er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter. Er erschrak sich fürchterlich, schlug die Hand weg und sprang auf. Sein Stuhl fiel um. Er hielt sich am Tisch fest, um nicht umzufallen. Dann schnappte er sich seine Krücken und floh humpelnd aus dem Raum. Im Flur ließ er sich auf den Boden sinken und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Warum ausgerechnet jetzt, dachte er, warum, wenn so viele Menschen anwesend waren? Er wollte nicht, dass ihn jemand so sah! Und dann musste es ausgerechnet Thomas sehen. Er würde ihn sicher damit fertigmachen. Hier, in dem menschenleeren Flur, gelang es ihm dann, sich wieder zu beruhigen. Seine Atmung wurde gleichmäßiger und das Zittern ließ nach. Langsam rappelte er sich wieder auf und kehrte zum Tisch zurück. Einer der Kellner hatte inzwischen den nächsten Gang gebracht, auf jedem Platz stand ein Suppenteller. Außerdem war sein Stuhl wieder aufgestellt und das runtergefallene Besteck weggeräumt. „Geht es wieder?“, fragte Peter besorgt. Der Siebzehnjährige nickte und setzte sich zurück auf seinen Platz. „Entschuldigt die Unterbrechung.“ „Sorry wegen eben“, murmelte Thomas. Er schien ein schlechtes Gewissen zu haben. Luca schüttelte den Kopf. „Nicht deine Schuld“, antwortete er ebenso leise. Johann schaute zwischen ihm und seinem Vater hin und her. „Was wird hier gespielt?“ Einen Augenblick lang befürchtete Luca, Peter würde die Frage beantworten, doch der Mann schüttelte nur seinen Kopf. „Das ist weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt dafür.“ Sie setzten das Essen schweigend fort, zumindest bis der dritte Gang, bei allen ein Fischgericht, gebracht wurde. Dann wandte Johann sich an Luca: „Was hältst du eigentlich von Sara?“ Der Blonde war spürbar irritiert durch diese Frage. Unsicher, ob er das richtige tat, hob er seine Schultern. „Ich kenne sie nicht wirklich, also kann ich mir auch kein Bild von ihr machen.“ „Möchtest du sie denn kennen lernen?“, bohrte Thomas‘ Vater weiter. „Ich weiß nicht. Sie scheint ganz nett zu sein.“ Luca gefiel nicht, in welche Richtung das Gespräch lief. Dazu kam die seltsame Sitzordnung von vorhin. Er war fast schon froh, dass Thomas diese aufgehoben hatte. „Ihr würdet bestimmt gut zusammenpassen“, fuhr Johann munter fort, „Außerdem wäre es für unsere Firmen vorteilhaft.“ Darum ging es ihm also. Am liebsten wäre Luca aufgesprungen und gegangen, doch er zwang sich, ruhig zu bleiben. Sein Vater würde dem sicher nicht zustimmen. Doch Peter schien begeistert von der Idee. „Das hört sich toll an“, erklärte er. Thomas neben ihm seufzte laut. „Vater“, unterbrach er die Männer, bevor sie weitere Pläne schmieden konnten, „Luca ist vergeben! Vergeben!Du weißt schon, in einer Beziehung, mit jemandem zusammen, nicht mehr zu haben.“ Der Blonde war ihm noch nie so dankbar gewesen, wie in diesem Moment. Jetzt würden die Männer sicher aufhören, Pläne zu schmieden. Erst viel später fiel ihm auf, dass Thomas etwas gesagt hatte, von dem er eigentlich nichts wissen durfte. „Woher?“, fragte er ungläubig. Kapitel 73: Ungewolltes Outing ------------------------------ „Jetzt hör aber mal“, maulte Thomas, „So wie ihr immer rumgeturtelt habt, ist das wirklich schwer zu übersehen. Und die Umarmung an deinem Geburtstag… So umarmt man keinen guten Kumpel!“ „Aber da waren wir noch gar nicht zusammen“, murmelte Luca verwundert und hätte sich am liebsten geohrfeigt. Musste er denn alles ausplaudern? „Nicht?“ Thomas hob überrascht die Brauen. „Aber ihr seid zusammen, oder?“ „Ja“, antwortete Luca leise, „Seit Samstag.“ Thomas verschluckte sich an seinem Getränk und hustete los. „Nicht dein Ernst!“ Verblüfft starrte er ihn an. Seine Augen waren geweitet und er öffnete den Mund ein paar Mal, um noch etwas zu sagen, schloss ihn aber jedes Mal wieder, ohne dass er ein Wort von sich gegeben hatte. Jetzt konnte Luca nicht mehr anders und lachte leise. „Nicht du auch noch! Es reicht schon, dass die anderen Wetten am Laufen hatten, wie lange wir noch brauchen!“ Peter räusperte sich und schaute seinen Sohn abwartend an. „Wann hattest du vor, mir von deiner Freundin zu erzählen?“ Luca straffte seine Schultern und erwiderte den Blick. „Du warst die ganze Zeit arbeiten. Ich wollte es dir in Ruhe sagen, nicht irgendwo zwischen Tür und Angel.“ Zu spät fiel ihm auf, dass sein Vater von einer Freundin gesprochen hatte. „Jetzt komm mal wieder runter, Peter“, meinte Johann, „Dein Sohn ist fast erwachsen. Außerdem wird er bestimmt bald feststellen, dass Sara viel besser für ihn geeignet ist. Du musst dir also keine Sorgen machen.“ Hätte er es gekonnt, hätte er Johann sein Getränk über den Kopf geschüttet, so wütend war er. Was bildete sich dieser Mann eigentlich ein, sich in sein Leben einzumischen? Es war sein Leben und ging niemandem außer ihm, und vielleicht auch Nicholas, etwas an. Peter nickte. „Du hast recht. Aber vielleicht ist das Mädchen gar nicht so übel. Sie könnte ja auch ganz nett sein.“ Hilflos sah Luca zwischen den beiden Männern hin und her. Warum ging jeder automatisch davon aus, dass er mit einem Mädchen zusammen war? Thomas schien ähnliche Gedanken zu haben, denn er tippte ihn vorsichtig an, woraufhin Luca zwar kurz zusammenzuckte, sich aber schnell wieder gefangen hatte. „Kann es zufällig sein, dass dein Vater es nicht weiß?“, fragte sein Klassenkamerad leise. Zuerst wusste Luca nicht, wovon sein Klassenkamerad sprach, doch er verstand es schneller, als ihm lieb war. Leider ging es auch den anderen so, denn während Thomas‘ Familie ihn skeptisch betrachtete, schien Peter empört über diese Aussage. „Gibt es da etwas, was du mir beichten möchtest?“ „Deswegen wollte ich es dir in Ruhe sagen.“ Luca hatte keine Lust, hier noch länger zu bleiben. Er schob seinen zur Hälfte aufgegessenen Teller von sich, schnappte seine Krücken und stand auf. Humpelte lief er zur Garderobe und nahm sich seine Jacke. „Was tust du da?“, rief Peter. Er sprang auf, rannte ihm hinterher und stellte sich ihm in den Weg. „Ich gehe“, sagte Luca, was offensichtlich war. „Nein, das tust du nicht“, widersprach ihm sein Vater sofort, „Wir sind noch nicht fertig. Du sagst mir augenblicklich, was du dir dabei gedacht hast! Mit einem Jungen… Das ist doch nicht normal! Ich verbiete dir, mit dieser Abartig fortzufahren!“ Luca wurde wütend, richtig wütend. Es war, als hätte man in ihm einen Schalter umgelegt. Die Enttäuschung über die Abweisung seines Vaters, die definitiv da war, rückte immer mehr in den Hintergrund, bis er nur noch die Wut spürte. „Was willst du dagegen tun?“, fragte er ruhig, „Mich einsperren? Rauswerfen? Es aus mir rausprügeln? Nur zu, du wärst nicht der erste.“ Er zog seine Jacke an, schloss den Reißverschluss und humpelte an seinem Vater, der ihn nur geschockt anstarrte, vorbei. „Jochen wusste es?“, fragte Peter, als der Siebzehnjährige gerade den Raum verlassen wollte. „Natürlich nicht“, antwortete Luca aufgebracht, „Ich bin doch nicht lebensmüde! Er hätte mich totgeprügelt!“ Dann ging er, den Kellner, der gerade den nächsten Gang brachte, ignorierend. Draußen ließ er sich erst einmal gegen die Wand des Restaurants fallen. Ihm wurde plötzlich klar, was er da eben getan hatte. Was, wenn Peter ihn jetzt wirklich rauswarf? Er hatte keinen Ort, an den er gehen konnte. Blieb er nicht bei seinem Vater, kam er wahrscheinlich in ein Heim und das bedeutete, weit weg von Nicholas. „Hier bist du“, riss ihn Thomas‘ Stimme aus den Gedanken. Sein Klassenkamerad war ihm gefolgt. Auch er hatte seine Jacke angezogen. Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen lehnte er sich neben Luca an die Wand. „Da drinnen ist gerade die Hölle los.“ Luca seufzte. Unauffällig wich er etwas zurück. Drinnen hatte ihn Thomas‘ Nähe nicht so sehr gestört, aber da waren sie auch nicht allein gewesen. Hier war er sich nicht mehr so sicher, dass er ihm nichts tun würde. Ob er schon einmal seine Sachen packen sollte? Andererseits besaß er nichts, was er würde mitnehmen können. Die Sachen hatte ihm alle Peter gekauft und es fühle sich falsch an, sie als seins zu bezeichnen. „Bekommst du jetzt Ärger?“, fragte Thomas vorsichtig. Er hatte bemerkt, dass Luca zurückgewichen war, dass sah der Blonde, aber er kommentierte es nicht. Der Blonde hob die Schultern. „Keine Ahnung.“ Er kannte seinen Vater nicht gut genug, um einschätzen zu können, wie es jetzt weiterging. „Das tut mir leid“, sagte Thomas leise. Es klang echt. „Warum bist du auf einmal so nett zu mir?“ Diese Frage stellte Luca sich schon seit einer Weile. Am Tisch vorhin hatte er es noch auf die Anwesenheit ihrer Familien schieben können, aber es war trotzdem seltsam gewesen. „Weil ich ein Idiot gewesen bin“, antwortete Thomas, „Ich wollte Leonie beeindrucken. Deshalb habe ich getan, was sie von mir verlangte, ohne darüber nachzudenken. Wie sagt man so schön? Liebe macht blind. Ich bin zusätzlich noch an ihr verblödet, und zwar richtig. Ich weiß, was ich getan habe, ist unverzeihlich. Aber-“ Er streckte die Hand nach dem Blonden aus, wollte ihn an der Schulter berühren. Luca, der mit dieser plötzlichen Bewegung nicht gerechnet hatte, fuhr zusammen. Als hätte er sich verbrannt, zog Thomas seine Hand wieder zurück. „Es tut mir leid“, flüsterte er. Seine Stimme bebte. „Scheiße! Es tut mir so leid.“ Luca erstarrte. Wie sollte er darauf reagieren? Er wusste, dass es Thomas leid tat, so gut konnte kein Mensch schauspielern. Er schien es aufrichtig zu bereuen, weswegen sich der Blonde entschloss, ihm einen Teil der Last abzunehmen. Er wusste nicht, warum er es tat, nur dass es das Richtige war. Thomas sollte sich keine Schuld für Dinge geben, die Jochen getan hatte. Leise begann er zu sprechen. „Es ist nicht deine Schuld.“ Einen Augenblick lang starrte Thomas ihn verwirrt an, dann legte er ihm die Hand auf die Schulter. Diesmal hatte Luca damit gerechnet, weswegen er nur kurz zusammenzuckte und sich schnell wieder gefangen hatte. „Red keinen Müll“, schluchzte Thomas, den Tränen nahe, „Natürlich ist das meine Schuld. Ich kann dich ja nicht einmal anfassen, ohne dass du Angst bekommst.“ Er wollte seine Hand zurückziehen. Doch Luca hinderte ihn daran. Er hielt die Hand fest und schaute seinem Gegenüber in die Augen. „Was du getan hast, war nicht okay. Du hast mir sehr weh getan und auch wenn ich es dir vielleicht irgendwann verzeihen kann, werde ich es wohl nie vergessen. Ich weiß, dass der Großteil von Leonie ausging. Wenn sie nicht dabei war, hast du nur ein paar dumme Sprüche geklopft und mich sonst in Ruhe gelassen.“ Thomas hatte inzwischen den Blick gesenkt und starrte betreten zu Boden. Nie hätte Luca geglaubt, dass er das mal tun würde, aber es war die einzige Möglichkeit, wie er verhindern konnte, dass Thomas sich weiterhin die Schuld dafür gab. Es wäre nicht richtig. Auch wenn er es wahrscheinlich bereuen würde, er konnte nicht anders. „Jochen hat mich misshandelt.“ Kapitel 74: Flucht ------------------ Erschrocken schnappte Thomas nach Luft. „Das ist ein schlechter Scherz“, murmelte er, „Sag, dass das nicht wahr ist!“ Wenn Luca anfangs noch befürchtet hatte, sein Mitschüler würde ihn auslachen, brauchte er sich darüber jetzt keine Gedanken zu machen. Thomas schien echt getroffen zu sein. „Es ist wahr. Was glaubst du, woher die ganzen blauen Flecken kamen? Die langen Sachen hab ich auch nicht getragen, weil mir kalt war.“ „Scheiße!“, schimpfte Thomas und schlug mit der Faust gegen die Mauer, nur um sie sich gleich darauf zu halten. „Autsch, tat das weh!“ Eine Weile war es still. Luca starrte auf seine Füße. Er begann, den Schnee mit einer seiner Krücken wegzuschieben. Ob sich sein Vater inzwischen wieder etwas beruhigt hatte. Vielleicht war es besser, wenn er erst einmal nach Hause ging und später noch mal mit ihm sprach. Sein Blick fiel auf die Bushaltestelle. „Das erklärt einiges“, meinte Thomas, der den Blonden eindringlich ansah, „Aber wieso sagst du mir das? Soll ich mich jetzt besser fühlen? Das macht das, was ich getan habe, doch noch schlimmer!“ „Du sollst dir nicht die Schuld für alles geben“, erklärte Luca. Thomas seufzte. „Versteh einer deine Logik...“ Dann deutete er auf die Bushaltestelle. „Was hältst du davon, wenn ich dich nach Hause bringe und du mir unterwegs erzählst, was in den letzten Wochen so passiert ist? Also das, was du erzählen willst.“ Luca nickte. Etwas besseres hatte er momentan eh nicht zu tun. Außerdem musste er seinem Klassenkameraden ja nicht alles erzählen. „Die Sache ist eskaliert. Ich hab Jochen zwischen die Beine getreten und bin abgehauen.“ „Echt jetzt?“, fragte Thomas. Sie hatten die Haltestelle erreicht und warteten auf den nächsten Bus, der nach Plan in ein paar Minuten eintreffen musste. Bei Schnee und Glätte verspäteten sich die Linienfahrzeuge aber auch gerne mal. „Blöd, wie ich bin, musste ich natürlich in ein Auto rennen“, fuhr Luca fort. Von dem, was dazwischen passiert war, erwähnte er nichts. „Offiziell hatte ich nur einen Autounfall.“ „Davon habe ich gehört“, entgegnete Thomas. Des Bus hielt pünktlich an der Haltestelle. Die beiden Jungen stiegen ein und setzten sich in die hinteren Reihen, so dass sie nicht direkt nebeneinandersaßen, sondern der Gang noch zwischen ihnen war. „Ich war ein paar Tage bewusstlos. Nicholas hat in der Zwischenzeit meinen Vater kontaktiert, der sich dann um alles gekümmert hat“, beendete der Blonde die sehr kurze Zusammenfassung. „Nicholas wusste also davon“, überlegte Thomas, „Seit wann eigentlich?“ Luca hob die Schultern. „Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er den Verdacht schon eine Weile hatte.“ Den Rest der Fahrt schwiegen sie. Thomas brachte Luca noch bis zur Haustür, bevor er sich von ihm verabschiedete und ebenfalls nach Hause ging. Er wohnte ebenfalls in der Nähe, allerdings ein Stück weiter weg als Nicholas, weswegen er zu Fuß ging. Luca hängte seine Jacke an die Garderobe, zog seine Hausschuhe an und humpelte in sein Zimmer. Dort ließ er sich auf das Bett fallen und wartete, bis sein Vater zurückkam. Eine halbe Stunde später hielt dann ein Auto vor der Einfahrt, allerdings stieg Nina aus, nicht Peter. Kurz spielte Luca mit dem Gedanken, zuerst mit ihr und dann mit seinem Vater zu sprechen, doch er verwarf ihn schnell wieder. Er kannte Ninas Meinung nicht, am Ende war sie die gleiche wie Peters und er würde dadurch nur alles noch schlimmer machen. Der Siebzehnjährige wartete noch eine weitere Stunde, ehe das nächste Auto hielt und sein Vater ausstieg. Er beobachtete, wie Peter den Weg zum Haus lief und aus seinem Blickfeld verschwand. Luca schnappte sich seine Krücken und humpelte zur Tür, die er leise öffnete. Schon im Flur hörte er stimmen, die sich leise unterhielten und je länger das Gespräch andauerte, desto lauter wurden sie. Er legte seine Hand auf den Griff und öffnete die Tür einen Spalt. „... verstehe nicht, was dein Problem ist“, erklang Ninas aufgebrachte Stimme. „Was gibt es da nicht zu verstehen?“, brauchte Peter aus, woraufhin Luca erschrocken zusammenzuckte. So wütend hatte er seinen Vater noch nie gehört. „Mein Sohn ist schwul, das ist das Problem!“ „Das steht noch nicht mit Sicherheit fest!“, erwiderte Nina hitzig, „Er könnte genauso gut bi sein!“ Der Siebzehnjährige schluckte. Er löste seine Hand von dem Griff. Das klang nicht gut. Das klang gar nicht gut. Luca bemerkte erst, dass er weinte, als es ihm immer schwerer fiel, zu atmen. Er biss sich auf die Unterlippe, um ein Schluchzen zu unterdrücken. „Das ist ja fast noch schlimmer“, schrie Peter. „Jetzt beruhig dich mal wieder!“ Langsam schien auch Nina gereizt zu sein. „Du hast ihn angeschleppt, also mach jetzt gefälligst keinen Rückzieher!“ „Ich soll mich beruhigen? Mein Sohn ist schwul! Wenn ich das gewusst hätte-“ Leise schloss er die Tür wieder. Er hatte genug gehört. Peter wollte ihn nicht länger hier haben. Er hatte es befürchtet. Es war zu schön gewesen, um wahr zu sein. Plötzlich fühlte er sich erdrückt von den ganzen teuren Dingen. Er flüchtete in sein Zimmer, aber das half nicht wirklich. Immer noch hatte er das Gefühl, hier raus zu müssen, sonst würde er erdrückt werden. Aber Peter und Nina stritten im Flur und er konnte jetzt unmöglich an ihnen vorbei. Sein Blick fiel auf das Fenster und den darunter liegenden Balkon. Das könnte gehen. Entschlossen öffnete er es und warf seine Krücken hinaus. Dann kletterte er hinterher, so gut er es mit dem gebrochenen Bein konnte. Es dauerte länger als er es von seinem alten Zimmer gewohnt war, allerdings gab es hier auch mehr Stockwerke. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte er erschöpft und mit vor Kälte steifen Fingern den Boden. Es hatte zu schneien begonnen, wodurch seine Finger noch schneller ausgekühlt waren. Er hob seine Krücken auf und humpelte vom Grundstück. Hier hielt er es keine Sekunde länger aus. Dicke, weiße Flocken rieselten zu Boden als er die Straße entlanglief. Er hatte so sehr gehofft, es geschafft zu haben, endlich glücklich werden zu können. Doch nun stand er wieder allein da. Seine Füße trugen ihn zu Nicholas‘ Haus. Der Weg war nicht besonders lang, trotzdem fühlte Luca sich, als sei er ewig gegangen. Der Siebzehnjährige betrachtete die Klingel und wollte sie gerade drücken, da erinnerte er sich, was passiert war, als er das letzte Mal unangemeldet hier aufgetaucht war. Er zog seine Hand wieder zurück. Er konnte nicht die Kraft ausbringen, die er brauchte, um auf den Klingelknopf zu drücken, zu groß war die Angst, wieder von Nicholas verstoßen zu werden. Aber gehen wollte er auch nicht, er konnte eh nirgendwo hin. Also kauerte er sich vor der Tür auf den Boden zusammen, um sich etwas vor der Kälte zu schützen. Wie es jetzt wohl mit ihm weiterging? Er bemerkte nicht, wie die Tür hinter ihm leise geöffnet wurde und Nicholas sich neben ihn hockte. Erst als der Schwarzhaarige ihm mit der Hand durch das Haar fuhr, zuckte er zusammen und schaute ihn erschrocken an. „Lass uns reingehen“, sagte Nicholas leise, mehr nicht. Er fragte nicht, was Luca hier tat oder wieso er vor der Tür gesessen hatte. Er stellte nicht eine Frage. Der Blonde versuchte, wieder aufzustehen, doch sein durchgefrorener Körper wollte sich nicht bewegen. Nicholas schien das zu bemerken, denn er beugte sich zu ihm herunter und hob ihn vorsichtig auf seine Arme. Die Krücken beförderte er mit einem Fußtritt in den Flur, ehe er die Tür wieder schloss. Dann trug er Luca durch das halte Haus bis in sein Zimmer, wo er ihn auf das Bett setzte. Langsam begann er, Luca aus den nassen und an den Rändern inzwischen auch teilweise gefrorenen Klamotten zu schälen, was der Blonde widerstandslos über sich ergehen ließ. Er nahm es noch nicht einmal richtig wahr. Seine Wahrnehmung spielte verrückt. Er fühlte sich, als würde er schweben. Kapitel 75: Wut und Unverständnis * ----------------------------------- Es war schon spät, als Nicholas vom Kickboxen zurückkam. René hatte darauf bestanden, dass sie sich danach noch ein paar Bürger genehmigten. Da er seinen Haustürschlüssel vergessen hatte, lief er durch den Garten zur Hintertür. Unter dem Gartenzwerg auf dem Fensterstock befand sich der Ersatzschlüssel. Diesen nahm er dann, um die Hintertür aufzuschließen und legte ihn wieder an seinen Platz zurück, falls er ihn wieder benötigte. Als er die Jacke aufgehängt hatte und durch den Flur an der Vordertür vorbeilief, bereute er es, nicht früher gegangen zu sein. Vor der Tür kauerte Luca, die Arme um den Oberkörper geschlungen und sichtbar frierend. Zuerst hatte er geglaubt, es sich einzubilden, aber der Blonde war wirklich hier. Er trug keine Jacke und die Hausschuhe waren durch den Schnee vollkommen durchnässt. Er öffnete die Tür und wollte Luca hereinlassen, aber der Blonde rührte sich nicht. Er schien ihn nicht einmal zu bemerken. Vorsichtig, um ihn nicht zu erschrecken, kniete der Schwarzhaarige sich neben ihn. Er streckte die Hand nach seinem Freund aus und fuhr ihm vorsichtig durch das Haar. Luca zuckte erschrocken zusammen. Dann, endlich, schaute er Nicholas an. „Lass uns reingehen“, sagte der Schwarzhaarige leise, mehr nicht. Er fragte nicht, was Luca hier tat oder wieso er vor der Tür gesessen hatte. Er würde eh keine Antwort erhalten. Er beobachtete, wie Luca versuchte, aufzustehen, es aber nicht schaffte. Nicholas wunderte das nicht weiter. Dem Zustand der Kleidung Lucas und dessen blauen Lippen zufolge, saß er hier schon eine Weile. An einigen Stellen war die Klamotten sogar gefroren. Vorsichtig hob Nicholas ihn auf seine Arme und trug ihn in das Haus in sein Zimmer, wo er ihn auf das Bett setzte. Langsam begann er, Luca aus den Klamotten zu schälen, was der Blonde widerstandslos über sich ergehen ließ. Er schien es noch nicht einmal richtig wahrzunehmen. Nicholas musste sich zwingen, ruhig zu bleiben und sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr er sich darüber erschrocken hatte. Er wollte Luca nicht verunsichern. Am liebsten wäre er zum Vater des Blonden gestürmt und hätte ihn zur Rede gestellt, doch das musste warten. Luca brauchte ihn. Er konnte ihn nicht allein lassen, nicht jetzt. Sheila, sie musste ihn beobachtet haben, brachte ihm eine Wärmeflasche und eine warme Decke. Dankbar nahm Nicholas sie entgegen und wickelte seinen Freund in die Decke. Er legte ihn auf das Bett, direkt neben die zuvor aufgedrehte Heizung und stopfte die Wärmeflasche auf der anderen Seite in die Decke. Das musste erst einmal reichen, um den Blonden wieder warm zu bekommen. Luca ließ das alles widerstandslos über sich ergehen. Das einzige, was darauf hindeutete, dass er Nicholas erkannt hatte, war die Anhänglichkeit. Immer wieder versuchte er, sich an den Schwarzhaarigen zu kuscheln und die Augen zu schließen. Als es nichts mehr zu tun gab, ließ Nicholas es dann zu. Er legte sich neben seinen Freund auf das Bett und fuhr ihm in regelmäßigen Abständen mit der Hand durch das Haar. Nur langsam wurde Luca wärmer. Ansprechbar war er immer noch nicht, aber er befand sich nicht mehr in diesem tranceähnlichen Zustand, sondern war eingeschlafen, was den Schwarzhaarigen etwas beruhigte. In seinem Zimmer war es inzwischen so heiß, dass er sich bis auf T-Shirt und Unterhose auszog. Trotzdem waren Lucas Finger noch kalt. Aber seine Haut hatte wieder eine normale Farbe. Erst jetzt traute Nicholas sich, den Blonden kurz aus den Augen zu lassen. Er schnappte sich sein Handy und kletterte wieder in das Bett. Eigentlich hatte er das schon früher tun wollen, es nur nicht gekonnt. Auch jetzt wagte er nicht, seinen Freund allein zu lassen. Aber er konnte es nicht länger hinauszögern. Er wollte Antworten, weswegen er die Nummer von Lucas Vater wählte und auf den grünen Hörer drückte. „Mertens hier“, antwortete der Mann, nachdem es kurz getutet hatte. Nicholas atmete noch einmal durch, um nicht zu schreien, er wollte seinen Freund schließlich nicht wecken, ehe er leise, aber deutlich sagte: „Du hast genau fünf Minuten, um zu erklären, warum Luca zu dieser Uhrzeit halb erfroren, ohne Jacke, nur mit Hausschuhen und nicht mehr ansprechbar vor meiner Haustür saß.“ Auf der anderen Seite der Leitung war es still. „Ich warte“, fuhr er deswegen fort. Er schaute auf seinen Funkwecker. „Noch vier Minuten.“ „Das kann nicht sein“, kam es gebrochen vom anderen Ende der Leitung, „Als ich wiedergekommen bin, hing seine Jacke an der Garderobe und ich hätte gehört, wenn er das Haus verlassen hätte.“ Nicholas schnaubte. „Natürlich hängt die Jacke noch dort. Sonst hätte Luca sie schließlich angehabt. Und jetzt sag mir endlich, was du getan hast, um ihn in diesen Zustand zu versetzen!“ Wieder war es kurz still. Diesmal antwortete Peter ihm allerdings: „Wusstest du, dass Luca schwul ist? Dass er einen Freund hat?“ „Natürlich“, antwortete Nicholas. So langsam begann er, zu erahnen, was passiert war, und das gefiel ihm ganz und gar nicht. Hätte Peter vor ihm gestanden, wäre er sich nicht sicher gewesen, ob er nicht handgreiflich geworden wäre. Allein durch Luca, der neben ihm schlief, konnte er die nötige Selbstkontrolle aufbringen, nicht zu schreien. Auch seine Wortwahl kontrollierte er. „Ich hätte dich nicht für ein homophobes Arschloch gehalten!“ „Das bin ich auch nicht“, empörte sich der Mann, „Ich habe kein Problem, wenn andere homosexuell sind!“ „Aber wenn Luca es ist, oder was?“, bohrte Nicholas nach. Das Peter es nicht abstritt, war ihm Antwort genug. „Jetzt hör mir mal gut zu: Entweder du akzeptierst Luca so wie er ist, oder du verschwindest wieder aus seinem Leben! Er hat es schwer genug, auch ohne deinen Scheiß!“ „Das kannst du nicht machen! Luca ist mein Sohn!“, rief Peter. „Dann behandle ihn auch so“, verlangte Nicholas, „Dann ist er eben schwul, na und? Macht ihn das zu einem anderen Menschen?“ „Nein“, gab Peter betreten zurück, „Aber warum hat er es mir nicht gesagt? Warum musste ich während eines Essens mit einem Kollegen vom Sohn des besagten Kollegen erfahren, dass mein Sohn nicht nur schwul, sondern auch mit einem Jungen zusammen, den ich nicht kenne?“ Hätte Peter vor ihm gestanden, hätte er ihm spätestens jetzt geohrfeigt. „Das ist jetzt nicht dein Ernst!“, brauste er auf, sprach danach aber leiser weiter, „Hast du schon einmal daran gedacht, dass er dir noch nicht genug vertraut? Er kennt dich noch nicht einmal einen Monat! Außerdem wollte er dir das sicher in Ruhe sagen und so wie ich dich kenne, hast du wieder einen Großteil deiner Freizeit mit Arbeiten verbracht. Natürlich hat er es dir nicht gesagt!“ „Weißt du, wer sein Freund ist?“, fragte Peter. Einen Augenblick spielte Nicholas mit dem Gedanken, dem Mann von seiner und Lucas Beziehung zu erzählen, hielt es allerdings für keine gute Idee. „Was lässt dich glauben, dass ich dir das sage, wenn Luca es dir nicht gesagt hat? Ich werde ihn nicht hintergehen.“ Er hörte, wie Peter seufzte. Der Mann schien eingesehen zu haben, dass er von ihm keine Informationen bekommen würde. Aber er hatte Nicholas' Frage auch noch nicht vollständig beantwortet. „Mit wem warst du essen?“, wollte der Schwarzhaarige deswegen wissen. Vielleicht kam er dadurch an mehr Informationen. „Mit meinem Geschäftspartner Johann Lange. Sein Sohn geht in eure Klasse“, antwortete Peter. Beinahe hätte Nicholas das Handy fallen gelassen. Luca war mit Thomas Essen gewesen? Hoffentlich war da nichts passiert. Es lag noch nicht lange zurück, da war der Blonde das Opfer von Thomas und dessen Freunden gewesen. „Ich werde Luca erst einmal ein paar Tage hier behalten. Du freundest dich inzwischen mit dem Gedanken an, dass er schwul ist und kommst dann vorbei und sprichst noch einmal mit ihm. Dann kann er entscheiden, ob er mit dir mitkommen möchte oder nicht“, schlug er Peter vor. Der Mann schien zwar nicht besonders begeistert, stimmte aber zu. „Ich komme in drei Tagen vorbei. Bis dann.“ Danach legte er auf. Nicholas wählte unterdessen die Nummer seines besten Freundes. „Wo brennt's?“, flötete René so gut gelaunt in das Telefon, dass Nicholas beinahe wieder aufgelegt hätte. Ein paar Mal hatte er das auch schon getan. „Ich brauch die Nummer von Thomas“, sagte er nur. Kapitel 76: Telefongespräche * ------------------------------ „Was hat der Mistkerl jetzt schon wieder angestellt?“, wollte René sofort wissen. „Gib mir einfach die Nummer“, meinte Nicholas, „Du hast sie doch, oder?“ René lachte. „Wieso gehst du automatisch davon aus, dass ich sie habe? Was, wenn ich sie nicht habe?“ „Dann wirst du sie dir spätestens in zwanzig Minuten besorgt haben. Ich kenne dich und deine Art, dir Informationen zu beschaffen“, antwortete Nicholas. Kurz ah er zu Luca, um sich zu vergewissern, dass der Blonde immer noch schlief. Er sollte so wenig von den Gesprächen mitbekommen, wie möglich. „Du hast Glück gehabt“, scherzte René, „Ich hab sie wirklich. Warte kurz, dann sende ich sie dir per SMS.“ Er gab Nicholas nicht die Chance, etwas zu erwidern, sondern legte einfach auf. Aber der Schwarzhaarige nahm das nicht übel, weil keine halbe Minute später besagte Kurznachricht bei ihm einging. Er speicherte die Nummer in sein Adressbuch, für den Fall, dass er sie später noch einmal brauchte, dann rief er sie an. Dabei ignorierte, dass es inzwischen kurz vorn Mitternacht war und die meisten keine Nachtmenschen waren, im Gegensatz zu René, der selbst zu dieser Uhrzeit noch putzmunter war. Wie er das schaffte, war ihm ein zweifel. Thomas schien schon geschlafen zu haben, denn er murmelte etwas unverständliches in sein Handy. „Thomas Lange?“, fragte Nicholas, nur um sicher zu gehen, dass er die richtige Nummer hatte. Bis jetzt hatte René ihm zwar noch nie falsche Informationen gegeben, aber auch er konnte sich mal irren. „Ja?“, erklang es immer noch reichlich verschlafen am anderen Ende der Leitung, „Und wer bist du?“ „Nicholas“, sagte der Schwarzhaarige sofort, „Ich rufe wegen Luca an.“ „Was ist mit ihm?“ Thomas schien augenblicklich hellwach. Skeptisch zog Nicholas die Brauen nach oben. Hörte er da etwa Besorgnis? „Was interessiert dich das?“, provozierte er seinen Mitschüler deshalb. Es schien zu funktionieren. Thomas sprang darauf an. „Hör mal, es tut mir wirklich leid, was ich mit ihm gemacht habe. Es war nicht richtig. Ich bin ein Idiot gewesen, mich von Leonie einlullen zu lassen und nicht früher bemerkt zu haben, was ich angestellt habe. Das hab ich auch schon Luca gesagt.“ „So?“, bohrte Nicholas weiter, „Und was hat er dazu gesagt?“ „Wir haben uns normal unterhalten. Er hat zwar etwas Abstand gehalten, schien sich aber nicht unwohl zu fühlen. Er hat es die ganze Zeit gewusst. Dass Leonie mich angestiftet hat, meine ich“, erzählte Thomas. Nicholas schnaubte. „Natürlich hat er das! Hast du ihn schon einmal genau beobachtet? Seine Beobachtungsgabe ist beinahe schon furchterregend! Du glaubst gar nicht, was er alles mitbekommt! Er konnte die Zwillinge von Anfang an auseinanderhalten, wo selbst ihr Vater beide sehen muss, um sagen zu können, wer von ihnen wer ist!“ Darauf erwiderte Thomas nichts. Nicholas hörte ihn nur leise am anderen Ende der Leitung seufzen. „Geht es ihm gut?“, fragte Thomas stattdessen. „Ihr wart heute mit euren Familien gemeinsam essen“, sprach der Schwarzhaarige jetzt dem eigentlichen Grund seines Anrufes an, „Was genau ist zwischen Luca und Peter vorgefallen? Ich möchte jedes noch so kleine Detail, an das du dich noch erinnern kannst, wissen!“ Thomas seufzte erneut, diesmal lauter. „Hätte ich mir auch denken können, dass du deswegen anrufst“, murmelte er leise, wohl eher zu sich selbst, „Wir sind uns zufällig über den Weg gelaufen und unsere Väter haben beschlossen, dass wir auch zusammen essen gehen können. Sie haben dann angefangen, scherzhaft zu versuchen, ihn mit meiner Schwester zu verkuppeln. Zuerst saßen sie nur nebeneinander. Aber Luca war mit der Speisekarte so überfordert, dass ich das als Vorwand genommen habe, um mit meiner Schwester die Plätze zu tauschen, damit ich sie ihm besser erklären konnte. Dann beim essen, sind sie etwas direkter geworden. Luca hast mir leid getan, also hab ich eingeworfen, dass er vergeben ist, was ja auch stimmt. Nur bin ich davon ausgegangen, dass ihr schon länger zusammen seit, nicht erst seit Samstag. Jedenfalls wollte sein Vater dann gleich wissen, wer das Mädchen war.“ Thomas Stimme klang gequält, als er weitersprach. „Ich hab mich verplappert und Luca gefragt, ob es sein kann, dass sein Vater es nicht wisse. Zwar leise, aber Peter muss es trotzdem gehört und die richtigen Schlüsse gezogen haben. Er ist wütend geworden und hat Luca zur Rede gestellt, aber Luca ist es wohl zu viel geworden, er ist aufgestanden und wollte gehen. Peter ist ihm hinterher und hat geschimpft, er sei abartig und er würde es ihm verbieten. Luca hat ihm ein paar fiese Dinge an den Kopf geworfen und ist gegangen. Ich bin ihm hinterher und hab ihn nach Hause gebracht.“ Als er geendet hatte, war es erst einmal kurz ruhig. Nicholas dachte über das eben erfahrene nach. So etwas in der Art hatte er bereits vermutet. Aber da musste noch mehr gewesen sein, sonst wäre Luca niemals so aufgelöst zu ihm gekommen. Das würde ihm aber nur Luca selbst sagen können. „Eine Sache solltest du vielleicht noch wissen“, meinte Thomas dann, „Ich weiß nicht, ob Luca es dir gesagt hat, aber ich vermute eher nicht, weil es schon lange zurückliegt. Es gab eine Zeit, in der er und Leonie richtig gute Freunde waren.“ „Willst du mich verarschen?“, entgegnete Nicholas, der sich das gar nicht vorstellen konnte. „Wir sind auf die gleiche Realschule gegangen und waren auch in einer Klasse“, fuhr Thomas fort, „Sie waren jahrelang richtig gute Freunde. Aber dann in der siebten Klasse wollte Leonie von einem Tag auf den anderen nichts mehr mit ihm zu tun haben. Sie hat begonnen, Lügen über ihn zu erzählen und so. Vor einer Weile hab ich dann zufällig den Grund für ihr Verhalten erfahren: Sie hatte ein Problem damit, dass er schwul ist.“ Das klang schon denkbarer. Aber trotzdem würde er Thomas nicht alles glauben, ohne es vorher überprüft zu haben. „Warum erzählst du mir das?“, fragte er. „Es könnte wichtig sein“, antwortete Thomas, „Luca hat schon einmal jemanden verloren, der ihm wichtig war, nur weil dieser nicht mit seiner Sexualität umgehen konnte. Es könnte Gemeinsamkeiten zu seinem Vater geben. Sagst du mir jetzt endlich, was mit ihm los ist? Mich würde auch interessieren, wie du an meine Nummer gekommen bist, ich hab sie dir nämlich definitiv nicht gegeben.“ „René hatte sie. Er hat die Angewohnheit, von jedem, mit denen er zu tun hat, Informationen zu sammeln“, beantwortete Nicholas die zweite Frage. Es war schließlich kein Geheimnis, dass René diese Sachen bunkerte. Nur bei der ersten Frage zögerte er. Wie viel konnte er Thomas sagen, ohne zu viel zu verraten. Thomas schien sein Zögern bemerkt zu haben, denn er nahm ihm die Entscheidung ab: „Ich will nur wissen, wie es ihm geht, nicht mehr.“ „Er schläft“, sagte Nicholas, „Wie es ihm geht, kann ich erst morgen sagen, wenn er wieder aufgewacht ist. Aber die Sache mit seinem Vater scheint ihn ziemlich mitgenommen zu haben, sonst wäre er nicht zu dieser Uhrzeit zu mir gekommen.“ „Kann ich euch morgen Vormittag besuchen kommen?“, kam es nach kurzem Zögern von Thomas. Nicholas schnaubte. „Nur weil du plötzlich beschlossen hast, Luca nichts mehr zu tun, heißt das noch lange nicht, dass er sofort darüber hinweg ist! Du hast schon genug angerichtet!“ „Schon gut“, unterbrach Thomas ihn, „Aber schreib mir wenigstens eine SMS. Ich mache mir hier ernsthaft Sorgen!“ Dem hatte Nicholas nichts mehr entgegenzusetzen, weswegen er zustimmte. Allerdings würde er das nur tun, wenn Luca damit einverstanden war. Hatte sein Freund etwas dagegen, konnte Thomas lange auf seine Nachricht warten. „Ich mach dann Schluss, wenn du sonst nichts mehr willst. Es ist schon spät“, meinte Thomas. „Ok“, sagte Nicholas und legte auf. Er warf sein Handy auf den flauschigen Teppich, suchte sich eine bequeme Position zum Schlafen und schloss die Augen. Wenig später war er eingeschlafen. Kapitel 77: Fieber ------------------ Am nächsten Morgen erwachte Luca, weil ihm zu warm war. Zuerst konnte er sich nicht erinnern, wie er hier her gekommen war, doch die Erinnerungen kamen schneller zurück, als ihm lieb war. Er erinnerte sich an den Ausflug mit seinem Vater. Sie waren Essen gewesen und hatten Thomas' Familie getroffen. Thomas war nett zu ihm gewesen. Peter hatte herausgefunden, dass er schwul war und war ausgerastet. Daraufhin war der Blonde geflohen und zu Nicholas gehumpelt. Nur wie er in das Bett seines Freundes kam, wusste er nicht. Er konnte sich nur noch daran erinnern, dass er sich nicht getraut hatte, zu klingeln und deshalb vor die Tür gesetzt hatte. Nicholas musste ihn gefunden haben. Das war die einzig logische Erklärung. Doch warum konnte er sich nicht daran erinnern? Vorsichtig schob Luca die Decke zurück und streckte sich, damit er die Heizung , die sich praktischerweise neben dem Bett befand, sich abdrehen konnte. Diese Hitze war je nicht auszuhalten! Warum war es hier überhaupt so warm? Als nächstes fand er die Wärmeflasche, die er vorsichtig auf den Boden legte. Außerdem war er bis auf seine Unterhose ausgezogen. So langsam begann er zu erahnen, wieso es hier so warm war. Ein leichter Rotschimmer bildete sich auf seinen Wangen, als er daran dachte, dass Nicholas ihn wohl aus seinen nassen Klamotten geschält hatte. Doch wieso konnte er sich nicht daran erinnern? „Du bist wach“, riss ihn die Stimme seines Freundes aus den Gedanken. Der Schwarzhaarige neben ihm hatte sich auf seine Unterarme gestützt und schaute ihn besorgt an. „Wie geht es dir?“ Der Blonde wollte etwas erwidern, sagen, dass es ihm gut ging, doch es kam nur ein Kratzen aus seinem Hals. Betreten senkte er seinen Blick. „Ich sehe“, murmelte Nicholas, „Erkältet.“ Luca nickte nur. Was hätte er auch sonst tun können? Abstreiten würde nichts bringen. Er konnte ja nicht einmal mehr sprechen. „Weißt du was?“, fragte Nicholas leicht grinsend, „Ich geh jetzt unser Frühstück und eine Kanne Tee holen. Du schnappst dir inzwischen ein paar von meinen Klamotten.“ Er stieg aus dem Bett und öffnete einige seiner Schränke, wohl, damit Luca die Kleidungsstücke auch fand. Dann öffnete er das Fenster und ging, nur in T-Shirt und Boxer bekleidet aus dem Zimmer. Der Blonde kletterte aus dem Bett und begann, sich die Klamotten zusammenzusuchen. Ihm war etwas schwindelig und er fühlte sich geschwächt, aber es ließ sich aushalten. Er entschied sich für eine Jogginghose, die man am Bund schnüren konnte, ein bei Nicholas wahrscheinlich eng anliegendes T-Shirt und ein dunkelblaues Sweatshirt. Bei den Socken war die Auswahl nicht besonders groß. Nicholas besaß nur Schwarze. Also schnappte er sich ein beliebiges Paar. Er hatte es gerade angezogen und sich auf die Bettkante gesetzt, da kam sein Freund zurück. Er trug ein Tablett beladen mit Brötchen und verschiedenen Brotaufstrichen, eine Kanne und zwei Tassen, das er auf dem Nachttisch abstellte. Der Schwarzhaarige goss Tee in eine der Tassen ehe er sie seinem Freund reichte. Luca nahm einen großen Schluck und verbrannte sich gleich die Zunge. Aber er fühlte, wie sein Hals wieder freier wurde. „Danke“, krächzte er, froh, nicht mehr stumm zu sein. Er hatte sich gerade eines der Brötchen und die Nutella genommen, als Sheila das Zimmer betrat. „Guten Morgen“, grüßte die junge Frau ihn fröhlich, „Nicholas hat gemeint, du seist erkältet. Ich leg dir hier mal ein paar Medikamente hin. Hustenbonbons sind auch dabei.“ Der Blonde lächelte sie dankbar an. „Dann lass ich euch mal alleine“, meinte sie, ehe sie Nicholas frech angrinste, „Samuel und ich fahren dann noch einmal einkaufen. Macht keine unanständigen Dinge.“ Der Schwarzhaarige warf ihr einen gespielt beleidigten Blick zu. „Ich glaube nicht, dass Luca heute in der Verfassung sein wird, das Bett zu verlassen!“ Sheila prustete los, die Zweideutigkeit der Aussage verstehend, während Luca spürte, wie er errötete. „Du weißt genau, dass das so nicht gemeint war“, brummte Nicholas, musste aber ebenfalls lächeln. „Viel Spaß euch beiden“, flötete die junge Frau und verließ das Zimmer wieder. Nicholas seufzte. „Warum muss sie ausgerechnet heute so gute Laune haben?“ Dann biss er in sein Brötchen. Luca tat es ihm gleich. Schweigend frühstückten sie, wobei Luca sehr viel trank. Der Tee tat gut und jetzt, wo er etwas abgekühlt war, musste er auch keine Angst mehr haben, sich die Zunge ein zweites Mal zu verbrennen. Nach dem einen Brötchen und drei Tassen Tee krabbelte er zurück ins Bett und zog sich die Decke bis zum Kinn. Vorhin war ihm noch heiß gewesen und jetzt fror er. Nicholas beobachtete das mit einem besorgten Blick, ehe er das Fenster wieder schloss. Er wühlte durch die Sachen, die Sheila ihnen gebracht hatte, bis er ein Fieberthermometer fand. Widerstandslos ließ Luca das Messen der Körpertemperatur über sich ergehen. Er hätte auch nicht die Kraft gehabt, sich zu wehren. Als das Thermometer begann, zu piepen, nahm Nicholas es wieder an sich. „39,7“, murmelte er und widmete sich den Medikamenten. Diesmal schien er schnell gefunden zu haben, was er suchte. Er drückte eine Tablette aus der Packung und reichte sie Luca, gemeinsam mit einer neuen Tasse Tee. „Hier, nimm das.“ Wortlos schluckte der Blonde die Tablette, bevor er sich wieder zurück auf das Bett fallen ließ. Aber schlafen konnte er nicht mehr. Er war zwar erschöpft, aber nicht müde. Nicholas schien das zu bemerken, denn er begann, zu erzählen: „Ich habe gestern Abend mit deinem Vater telefoniert. Du wirst erst einmal ein paar Tage hier bleiben.“ Auf Lucas erschrockenen Blick hin, ergänzte er: „Keine Angst, ich habe ihm nichts gesagt. Ich lasse dich entscheiden, was du ihm wann sagen willst. Außerdem habe ich mit Thomas telefoniert. Du hast ihn gestern getroffen. Er schien besorgt um dich zu sein. Ist es ok, wenn ich ihn kurz informiere, dass es dir soweit gut geht?“ Luca hatte Schwierigkeiten, dem Schwarzhaarigen zu folgen. Hätte er nicht so langsam gesprochen, hätte er ihm sicher nicht folgen können. So hatte er es gerade noch verstanden. „Ok“, flüsterte er. Der Schwarzhaarige tippte kurz auf seinem Handy herum, dann legte er es wieder zurück auf den Teppich. Dort lag es keine fünf Minuten auf dem Boden, da begann es, zu klingeln. „Ja?“Nicholas hob ab, klang aber genervt. Sein zuerst noch relativ neutraler Gesichtsausdruck wurde wütend und er wurde laut. „Was hast du gerade gesagt?“ Sein Gesprächspartner antwortete ihm, doch Luca konnte nicht verstehen, was er sagte. „Halte dich da besser raus“, meinte Nicholas dann, „Ich kümmere mich schon darum. Es reicht, wenn du Bescheid sagst, falls du etwas Neues rausbekommen hast.“ Er legte auf und wandte sich wieder dem Blonden zu. Luca drehte seinen Kopf zur Seite, um seinen Freund ansehen zu können. „Wer war das?“, fragte er. Nicholas grinste gequält. „Thomas. Mich würde mal interessieren, was gestern vorgefallen ist. Er scheint sich ja regelrecht einen Narren an dir gefressen zu haben, allerdings im positiven Sinne. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du hast ihn einer Gehirnwäsche unterzogen.“ Der Blonde war verwirrt. Wovon sprach Nicholas da? „Wir haben uns nur unterhalten“, murmelte er. Klar, er hatte es etwas seltsam gefunden, dass Thomas auf einmal nett zu ihm war, aber wenn ihre Väter befreundet waren, mussten sie sich schließlich auch verstehen. „Und sonst ist nichts seltsames vorgefallen?“, wollte Nicholas wissen. Immer noch deutlich verwirrt, allerdings war sein Gehirn auch momentan nicht zu besonderer Leistung fähig, schüttelte Luca den Kopf. „Er hat sich entschuldigt. Ich hab ihm von Jochen erzählt.“ „Bitte, was?“, rief Nicholas erschrocken, „Bist du von allen guten Geistern verlassen?“ Luca wandte seinen Blick ab. „Ihm schien es wirklich leid zu tun. Er hat sich die Schuld für alles gegeben, auch das was Jochen getan hat. Ich konnte ihn nicht in dem Glauben lassen, dass er für alles verantwortlich ist.“ Der Schwarzhaarige seufzte. „Wenn du nicht eine so gute Beobachtungsgabe hättest, würde ich dich jetzt naiv nennen, oder leichtgläubig. Aber wenn du sagst, es hat ihm leid getan, dann wird es wahrscheinlich stimmen.“ Ein leichtes Lächeln bildete sich auf Lucas Gesicht. Nicholas vertraute seiner Entscheidung. Er streckte die Hand nach seinem Freund aus und wartete, bis sein Freund sich zu ihm auf das Bett gesetzt hatte, damit er sich an ihn kuscheln konnte. Zufrieden schloss er seine Augen und war wenig später eingeschlafen. Kapitel 78: Unerwarteter Besuch * --------------------------------- Nicholas fuhr Luca durch die blonden Locken, während es das Gesicht seines Freundes betrachtete. Obwohl es vielleicht falsch war, Lucas Haare als lockig zu bezeichnen, denn sie waren nur ein bisschen gewellt. Vorhin hatte er noch einmal seine Temperatur gemessen. Die Tablette hatte angeschlagen. Das Fieber war etwas zurückgegangen. Jetzt galt es, sich um die Sache zu kümmern, wegen der Thomas angerufen hatte, also angelte er sich sein Handy und wählte die Nummer von Lucas Vater. Zum Glück hatte er eine Flat, sonst wäre sein Guthaben in den letzten Tagen deutlich geschrumpft. Er wollte gerade auf den grünen Hörer drücken, als es an seiner Tür klopfte. Sie wurde vorsichtig geöffnet und Sheila lugte ins Zimmer. „Lucas Vater ist unten. Er möchte euch sprechen.“ „Ich bin gleich unten“, antwortete Nicholas uns stieg aus dem Bett. Dan Handy legte er auf den Nachttisch. Schon im Flur hörte er die Stimmen Peters und seines Vaters. Er folgte ihnen ins Wohnzimmer, wo er sich den beiden Männern gegenüber auf die Couch fallen ließ. „Hallo Nicholas“, grüßten sie Vater ihn einstimmig. „Luca geht es den Umständen entsprechend“, sagte der Schwarzhaarige, „Er hat sich eine ordentliche Erkältung eingefangen und wird wohl die nächsten Tage im Bett liegen, aber es scheint nichts Ernstes zu sein. Er ist oben.“ Sein Vater hob fragend die Brauen. „In deinem Bett?“ „Wo denn sonst?“, entgegnete Nicholas, „Du weißt, dass wir hier kein Gästezimmer oder so haben. Außerdem ist das Bett groß genug und es ist ja auch nicht so, als hätten wir nicht schon zusammen geschlafen.“ Karl Brauen wanderten noch ein Stück weiter nach oben, woraufhin der Schwarzhaarige genervt seufzte. „Zusammen! Nicht miteinander!“ Allerdings musste über die Andeutungen seines Vaters schmunzeln. „Kann ich Luca sprechen?“, drängte Peter jetzt. Er schien es eilig zu haben. „Er schläft“, sagte Nicholas in einem Ton, der klar vermittelte, dass das sein letztes Wort war, „Außerdem glaube ich nicht, dass er schon dazu bereit ist. Deine Reaktion hat ihn ziemlich mitgenommen.“ Karl warf seinem Sohn einen fragenden Blick zu, wohl auf eine Erklärung wartend, die ihm sein Sohn auch lieferte, zumindest den groben Überblick, da er mehr selbst noch nicht wusste. „Peter hat ein Problem mit der Sexualität seines Sohnes. Ich hab Luca gestern Abend halb erfroren vor der Tür gefunden.“ Daraufhin warf Karl seinem Kollegen einen vielsagenden Blick zu. Vielleicht konnten die zwei miteinander reden. Aber vorher gab es noch etwas zu besprechen: „Thomas hat eben angerufen“, fuhr Nicholas, an Peter gewandt, fort, „Was hast du dir dabei gedacht? Du kannst doch nicht einfach so bestimmen, dass er sich jetzt mit dieser Sara treffen soll! Hast du auch nur eine Sekunde daran gedacht, wie es Luca bei der ganzen Sache geht? Du kannst ihm nicht vorschreiben, in wen er sich zu verlieben hat!“ Karls Augen wurden größer, aber er schwieg, ließ seinen Sohn die Sache regeln, zumindest vorerst. „Aber“, widersprach ihm Peter, doch Nicholas ließ ihn nicht zu Ende sprechen. „Ich sage es nur noch dieses eine Mal, also hör mir gut zu: Entweder du akzeptierst Luca wie er ist, oder du wirst ihn nie wieder zu Gesicht bekommen. Du magst zwar sein Erzeuger sein, aber noch hast du nicht das Sorgerecht und ohne seine Zustimmung wirst du es auch nie bekommen!“ „Die Leute werden reden“, warf Peter ein. „Dann lass sie reden“, schimpfte Nicholas, „Das werden sie so oder so! Mach nicht den Fehler, Luca vor die Wahl zu stellen. In nicht einmal einem Jahr ist er Achtzehn! Wenn du ihm nicht endlich zeigst, dass er dir wichtig ist, wichtiger als irgendwelche dummen, homophoben Nachbarn oder Kollegen, wirst du ihn danach nie wieder sehen!“ Karl nickte. „Ich muss meinem Sohn zustimmen, auch wenn er es vielleicht nicht auf die richtige Art ausgedrückt hat. Wenn du so weitermachst, wird Luca nicht bei dir bleiben wollen. Ich spreche aus Erfahrung, wenn ich sage, dass es ein Schock ist, zu erfahren, dass der Sohn schwul ist. Aber es ist nicht der Untergang der Welt.“ Er deutete auf Nicholas. Kurz war Peter still, es schien, als hätten sie ihn endlich wachgerüttelt, dann fragte er: „Wie kannst du das so locker sehen?“ Karl lachte. „Ich habe vielleicht nicht so extrem reagiert, wie du, aber auch für mich war es ein Schock.“ „Nachdem du endlich verstanden hattest, dass ich es ernst meine und keine Scherze mache“, warf Nicholas ein. Die Männer lachten. „Aber ihr wohnt doch getrennt“, meinte Peter. „Das hat einen anderen Grund“, erklärte Karl, „Nicholas hat es nach dem Tod seiner Mutter nicht mehr zu Hause ausgehalten. Dazu kam, dass Samuel ausgelernt hatte und ausgezogen ist. Er wäre also allein im Haus gewesen, weil ich sehr oft arbeitsbedingt unterwegs bin. Also haben wir uns darauf geeinigt, dass er mit zu seinem Bruder zieht und ich Samuel Unterhalt zahle.“ Der Siebzehnjährige stimmte zu. „Wir sind nicht zerstritten oder so. Eigentlich verstehen wir uns sogar sehr gut.“ Dem schien Peter nichts mehr beizusteuern zu haben. „Ich habe mich nur gewundert“, murmelte er. „Wie willst du mit Luca weiter verfahren?“, fragte Nicholas ihn. Der Mann hob die Schultern. „Wenn ich ehrlich bin, habe ich keine Ahnung, wie ich jetzt mit ihm umgehen soll.“ „Stört es dich so sehr?“, erklang Lucas leise Stimme hinter Nicholas. Der Schwarzhaarige drehte sich um. Sein Freund stand in der geöffneten Tür und hatte ihnen wohl schon eine Weile zugehört. In den zu großen Sachen und sich die Augen reibend kann er langsam auf sie zu. So sah er richtig süß aus, fand Nicholas. Luca setzte sich neben Nicholas auf die Couch, woraufhin dieser ihn sofort in eine Decke wickelte. Luca kuschelte sich an ihn und schloss die Augen, allerdings verriet seine Körperhaltung, dass er dem Gespräch weiter folgte. Karl beobachtete das mit skeptischem Blick. „Du lässt ihn ziemlich nah an dich heran.“ „Hat sich so ergeben“, meinte Nicholas ausweichend. Dann wandte er sich an seinen Freund. „Was machst du eigentlich hier unten? Solltest du nicht schlafen?“ Der blonde bettete seinen ‚Kopf in Nicholas‘ Schoß und vergrub das Gesicht im Pullover des Schwarzhaarigen. „Du warst weg“, nuschelte er, „Wollte nicht allein sein.“ Nicholas lächelte leicht und furch ihm durch sein blondes Haar. Das war inzwischen zur Gewohnheit für ihn geworden und er nahm nicht einmal mehr war, wenn er es tat. Nur am verdutzten Blick der beiden Männer sah er, dass es eben nicht normal war. „Willst du mir immer noch verkaufen, dass da nichts zwischen euch läuft?“, fragte sein Vater, „Du bist schon mit einigen Personen zusammen gewesen. aber keinen hast du so nah an dich heran gelassen, wie Luca. Du hast es gehasst, wenn sie dir zu nahe gekommen sind!“ Peter sah zwischen dem Anwalt und Nicholas hin und her. Kurz schien er zu überlegen, dann verstand er, worauf Karl hinauswollte. Ungläubig starrte er den Schwarzhaarigen an. „Du und Luca?“ Der Blonde versteifte sich in seinem Schoß. Seine Arme schlangen sich um Nicholas‘ Oberkörper und hielten sich fast schon krampfhaft an ihm fest. Der Schwarzhaarige nickte. „Ja, wir sind zusammen.“ Peter seufzte und vergrub sein Gesicht in den Händen. „Warum ausgerechnet du? Warum müsst ihr es mir so schwer machen?“, fragte er. Seine Stimme klang verzweifelt, aber auch resigniert. „Von jedem anderen hätte ich Luca mit den richtigen Mitteln trenne können, aber von dir… Du bist der einzige, den er wirklich an sich heran lässt. Wenn ich dich ihm wegnehme, das würde er nicht überstehen. Er würde daran zerbrechen.“ Kapitel 79: Aussprache ---------------------- Luca wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Einerseits war er erleichtert, dass sein Vater ihn nicht von Nicholas trennen würde. Andererseits gefiel ihm der Grund nicht, warum Peter der Beziehung zustimmte. Es bedeutete nämlich, dass er sie nur akzeptierte, weil er mit Nicholas zusammen war. Mit jedem anderen hätte er sie verboten. Dem Schwarzhaarigen schien es ebenso wenig zu gefallen, denn er räusperte sich. „Ist das der einzige Grund, warum du zustimmst?“ „Was soll ich sonst tun?“, seufzte Peter. Vorsichtig löste Luca sich von seinem Freund. Mit einer Geste zeigte er Nicholas, dass er sich nicht einmischen sollte, er wollte es auf seine Weise regeln, woraufhin der Schwarzhaarige widerwillig nickte. Dann stand der Blonde auf, die Decke fest um seine Schultern geschlungen, und lief zu seinem Vater. Vor dem Mann blieb er stehen. „Ist es so schlimm für dich?“, fragte er. Peter antwortete ihm nicht, er sah ihn nicht einmal an. Luca dachte nicht weiter darüber nach, was er tat. Sein Kopf schmerzte und er war erschöpft wie schon lange nicht mehr. Sogar Denken strengte an. Er ließ sich einfach fallen. „Luca!“, rief Peter besorgt. Arme schlangen sich um ihn und er wurde vorsichtig auf die Couch gelegt. Die Decke, die eben verrutscht war, wurde wieder gerichtet und eine Hand fühlte seine Stirn. Es war anstrengend, aber der Blonde schaffte es, seine Hand auf die seines Vaters zu legen und somit festzuhalten. Auch wenn nicht viel Kraft in seinem Griff steckte, würde Peter sie nicht einfach zurückziehen. „Es tut mir leid“, flüsterte er, „Ich hätte es dir von Anfang an sagen sollen. Ich hätte ehrlich zu dir sein sollen. Aber ich hatte Angst. Du hast mich schon damals nicht gewollt und ich dachte, wenn du erfährst, dass ich schwul bin, dann willst du mich nicht mehr. Seit ich denken kann, habe ich mir eine Familie gewünscht, ich hatte schon aufgegeben, und plötzlich hatte ich eine. Ich wollte das nicht wieder verlieren.“ Sein Hals schmerzte, doch er sprach weiter, wenn auch sehr leise. Im Raum war es völlig still. Nur das regelmäßige Ticken der Wanduhr und Lucas angestrengte Atmung unterbrachen die Stille. Peters Hand auf seiner Stirn hatte sich versteift und der Mann schaute ihn erschrocken an. Luca schloss seine Augen und lehnte sich leicht gegen die Hand seines Vaters. „Außerdem war ich als ich dich kennengelernt habe in keiner Beziehung. Um ehrlich zu sein, habe ich auch nicht geglaubt, dass ich jemals mit Nicholas zusammenkommen würde. Es gab keine Anzeichen, dass er Gefühle für mich hatte, die über Freundschaft hinausgingen. Ich habe es nicht als wichtig genug erachtet, dir davon zu erzählen. Zumindest am Anfang. Dann habe ich begonnen, mich zu fragen, ob du es weißt und wie ich es am besten ansprechen sollte. Und als ich dann mit Nicholas zusammengekommen bin, wollte ich es dir wirklich sagen, aber du hast die ganze Zeit gearbeitet und bist jeden Abend so erschöpft nach Hause gekommen, dass ich mich nicht getraut habe, dich anzusprechen. Ich hätte es dir sagen sollen. Dann hättest du es nicht unter diesen Umständen erfahren müssen. Es tut mir leid.“ Er wagte nicht, die Augen wieder zu öffnen, aus Angst vor Peters Reaktion. Doch sein Vater zog ihn nur vorsichtig in eine Umarmung. Zuerst versteifte Luca sich, er mochte es nicht, wenn ihm Andere so nah waren. Dann rief er sich in Erinnerung, dass es sein Vater war, der ihn gerade umarmte, und nicht irgendwer. Langsam entspannte er sich wieder. Er ließ sich in die Umarmung fallen und erwiderte sie sogar zaghaft. Er wusste nicht, was er davon halten sollte, was sein Vater von ihm dachte, doch er fühlte sich seltsam wohl in den Armen seines Vaters. „Heißt das, du schickst mich nicht weg? Ich darf bleiben?“ „Natürlich!“ Peters Stimme klang seltsam gebrochen, so als würde er weinen. „Ich werde meinen Fahler von damals nicht wiederholen. Du bist mein Sohn! Und das wirst du auch immer bleiben.“ „Auch wenn ich Männer mag?“, fragte Luca vorsichtig. Er traute sich auch wieder, seine Augen zu öffnen und seinen Vater anzusehen. Er weinte wirklich, also hatte er sich eben nicht verhört. „Auch wenn du Männer magst“, bestätigte Peter und ein Lächeln bildete sich auf seinem Gesicht. Luca erwiderte das Lächeln, ehe er zurück zu Nicholas sah. Der Schwarzhaarige nickte ihnen zu. „Das wurde auch langsam Zeit. Ich habe schon befürchtet, ihr würdet euch nie aussprechen.“ Der Blonde senkte seinen Blick. Da gab es noch etwas, was er seinem Vater mitteilen musste. Er hatte beschlossen, jetzt reinen Tisch zu machen, damit er später nicht noch einmal damit anfangen musste. „Das ist noch nicht alles“, begann er, „Ich habe eine Bitte an dich.“ Er war froh, dass Peter ihn nicht unterbrach, sondern in Ruhe aussprechen ließ. Hätte er ihn unter Druck gesetzt, hätte er es vermutlich nicht geschafft, es zu sagen. „Ich weiß nicht, wie eine Familie funktioniert.“ Das klang komisch. Schnell verbesserte er sich. „Also ein Bisschen schon, zumindest das was ich aus Erzählungen oder von Freunden mitbekommen habe. Ich weiß, dass man zusammen isst, es Regeln und Verbote gibt, man Geburtstage feiert und man miteinander spricht, wenn man Probleme hat. Aber ich kenne das alles nur aus der Beobachtung anderer Familien. Für Sonja habe ich nie existiert. Die Familie bestand nur aus Jochen und ihr, mich hat es nicht gegeben. Sie hat für zwei Mann eingekauft, für zwei Mann den Tisch gedeckt, für zwei Mann essen gekocht…“ Peter strich ihm beruhigend über den Rücken, wie es Nicholas immer tat. Das hatte er sich wohl von dem Schwarzhaarigen abgeschaut. „Und bevor sie ihn kennengelernt hat?“, fragte er leise. Luca hob die Schultern. „An alles kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß noch, dass ich öfter hungrig ins Bett gehen musste, weil sie vergessen hatte, mich zu versorgen. Aber da ich nicht verhungert bin und es auch keinem aufgefallen ist, kann es nicht zu oft gewesen sein. Als ich älter wurde, habe ich gelernt, für mich allein zu sorgen. Ich wusste, wo sie welche Lebensmittel hinräumte und wann sie mich erwischen würde, wenn ich mich in die Küche schlich. Außerdem wusste ich, wo sie ihr Portemonnaie aufbewahrte.“ Er musste nicht weitersprechen, sein Vater hatte ihn auch so verstanden. „Du hast geklaut“, schlussfolgerte er richtig. Luca nickte. „Ich war verzweifelt. Ich hatte Hunger und sie wollte mir nichts zu Essen geben.“ „Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen“, flüsterte Peter. Der Siebzehnjährige war erleichtert. Für einen Augenblick hatte er befürchtet, sein Vater würde wütend werden, wenn er davon erfuhr. Aber er schien ihn zu verstehen. „Als sie Jochen kennenlernte, wurde es noch schlimmer. Sie hatte nur noch Augen für ihn. Außerdem kontrollierte er regelmäßig ihre Ausgaben. Ich habe schnell gelernt, nur so viel zu nehmen, wie ich unbedingt brauchte. Manchmal hat er mir Geld gegeben, damit ich mir neue Klamotten kaufen oder die Haare schneiden lassen konnte, aber er hat immer die Quittungen mit dem Wechselgeld kontrolliert und wehe, es fehlte ein Cent.“ Peter zog ihn näher an sich heran. „Wie alt warst du?“ „Sie hat ihn im Sommer vor meinem ersten Schuljahr kennengelernt, also müsste ich Sechs gewesen sein.“ „Ich hätte dich nie bei ihr lassen dürfen“, schluchzte sein Vater leise, „Egal wie unvorbereitet ich gewesen bin und wie wenig Ahnung ich von Kinder hatte… Egal wie sehr ich Sonja gehasst habe, ich hätte mich nicht von dir abwenden dürfen. Aber ich habe geglaubt, sie kümmert sich um dich. Mit dem Geld, das ich ihr gezahlt habe, hätte sie euch ein schönes Leben machen können…“ So miserabel hatte Luca seinen Vater noch nie gesehen. Klar, er hatte gewusst, dass es dem Mann nahe ging, was ihm passiert war. Aber dass er weinte… „Ich habe das nicht erzählt, damit du dir Vorwürfe machst. Du hast mich da rausgeholt. Du bist jetzt für mich da. Das ist mehr als genug“, sagte er deshalb, „Ich will, dass du mich besser verstehst. Es wird Situationen geben, in denen ich überfordert bin oder seltsam reagiere. Dinge, die für dich selbstverständlich sind, können neu für mich sein. Es kann passieren, dass ich dich oder Nina verletze, ohne es zu wollen. Wenn das passiert oder du bemerkst, dass ich mich seltsam verhalte, dann sprich bitte mit mir und schweig es nicht tot. Hör auf, mich mit Samthandschuhen anzufassen. Ich bin nicht aus Glas. Ich halte mehr aus, als du mir zutraust. Du brauchst nicht auf die Gesprächsthemen zu achten, wenn wir uns unterhalten. Es wird Dinge geben, über die ich noch nicht sprechen kann, aber das sage ich dir schon. Ich will, dass wir als Familie funktionieren und das funktioniert nur, wenn du mich am Familienleben teilhaben lässt, so wie es ist und nicht alles herausfilterst, wo du denkst, dass du mich davor schützen musst.“ „Ich werde es versuchen“, versprach Peter, „Und mit Nina rede ich auch.“ „Danke, Dad“, murmelte Luca, „Hab dich lieb.“ Erst später fiel ihm auf, dass er seinen Vater gerade zum ersten Mal so genannt hatte. Peter schien es ebenfalls bemerkt zu haben, denn er strich ihm kurz durch das Haar. „Ich hab dich auch lieb, mein Sohn.“ Zufrieden seufzend schloss Luca die Augen und war wenig später eingeschlafen. Kapitel 80: Sorgen und Befürchtungen * -------------------------------------- Nicholas, der schweigend zugehört hatte, wie Luca endlich mit seinem Vater gesprochen hatte, lehnte sich zurück. Mehrmals hätte er beinahe eingegriffen, seinen Freund Dinge gefragt, aber jedes Mal hatte er sich ermahnt, dass es nicht sein Gespräch war und er sich nicht einmischen sollte. Erst jetzt, wo Luca eingeschlafen war, wandte er sich wieder an Peter. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm war“, sagte er leise. Peter nickte. „Das ist das erste Mal, dass er von sich aus darüber gesprochen hat.“ „Ich hab dir von Anfang an gesagt, dass er Zeit braucht. Wenn man ihn unter Druck setzt, stellt er sich für gewöhnlich stur. Die einzige Möglichkeit, etwas aus ihm heraus zu bekommen, ist zu warten, bis er es freiwillig erzählt“, murmelte Nicholas, „Oder du machst es so, wie ich im Krankenhaus. Aber mehr als ein 'Ja' oder ein 'Nein' wird er auch so nicht sagen.“ „Ihr zwei seid also jetzt zusammen“, wechselte Lucas Vater das unangenehme Thema. „Sind wir“, bestätigte der Schwarzhaarige. Er wusste nicht, worauf der Mann hinaus wollte, weshalb er ihn einfach machen ließ. „So richtig?“, wollte der Mann wissen, „Mit allem drum und dran?“ Daher wehte also der Wind. „Was Luca und ich tun oder nicht tun, geht nur uns etwas an“, stellte er klar, wurde dann aber wieder freundlicher. Er wusste, dass Peter sich nur Sorgen um seinen Sohn machte. „Wir sind erst seit Samstag zusammen. Mehr als Küssen und Kuscheln ist noch nicht passiert und wenn wir weitergehen, dann nur, wenn wir es auch beide wollen. Ich werde Luca zu nichts drängen.“ Das schien den Mann erst einmal zu beruhigen. „Dann werde ich Johan wohl mitteilen müssen, dass ich kein Problem mit Lucas Beziehung habe und er sich einen anderen für seine Tochter suchen muss“ Auch Karl lächelte. „Du scheinst es mit Luca richtig ernst zu meinen.“ „Natürlich!“, empörte sich Nicholas. Der Blonde war ihm zu wichtig, als dass er es riskieren wollte, ihn zu verlieren. Karl schmunzelte. „Er hat dich verändert. Seit du ihn kennengelernt hast, bist du viel ruhiger und ausgeglichener geworden und das, obwohl du dir ständig Sorgen um ihn gemacht hast.“ „Das haben mir schon einige gesagt“, entgegnete der Schwarzhaarige ruhig. Wenn er so zurückdachte, was sich seit Beginn des Schuljahres alles geändert hatte, dann musste er dem zustimmen. Luca hatte ihn verändert. „Erzähl mir von ihm“, verlangte Karl. Zuerst schaute Nicholas ihn nur verdutzt an, doch dann begann sein Vater, zu lachen. „Wenn ich schon keine Schwiegertochter bekommen, will ich wenigstens wissen, wie mein zukünftiger Schwiegersohn so ist.“ „Du hast Sheila“, antwortete der Siebzehnjährige trocken, schaffte es aber nicht, völlig ernst zu bleiben. Ein kleines Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Allerdings wollte er nicht zu viel über seinen Freund preisgeben, aus Angst, zu viel zu verraten. „Du lernst ihn schon noch früh genug kennen. Ich verrate dir nur eine Kleinigkeit: Seine Beobachtungsgabe ist beinahe schon erschreckend. Ich bin noch keinem begegnet, der so viel von seinem Umfeld mitbekommt, wie er.“ Der Schwarzhaarige stand auf und setzte sich neben seinen Freund, dann begann er, ihm vorsichtig durch das Haar zu streichen. Luca, der wohl nicht ganz so fest schlief, wie vermutet, lehnte sich in die Berührungen und als Nicholas erschrocken seine Hand zurückzog, kuschelte er sich an ihn heran. „Mach weiter“, nuschelte er schlaftrunken, „Fühlt sich gut an.“ Nicholas lachte leise und tat seinem Freund den Gefallen. Wenig später schien der blonde dann wirklich eingeschlafen zu sein. „Karl hat mir ein paar beunruhigende Dinge über eure Schule und die Zustände dort erzählt“, begann Peter nach einer Weile. „Ich glaube nicht, dass es zu weiteren Problemen kommen wird“, ergänzte Karl, „Aber die Sache sollte auf jeden Fall im Auge behalten werden.“ Der Schwarzhaarige nickte zustimmend. „Mein Vater hat sich schon darum gekümmert und ich glaube nicht, dass sich noch einmal jemand an Luca heranwagt. Nur diese Leonie macht mir etwas Sorgen. Einer ihrer ehemaligen Freunde hat mich gewarnt, dass sie etwas plant.“ „Das Mädchen, dass du in den Springbrunnen geworfen hast?“, wollte Karl wissen. Nicholas hob die Schultern. „Ich prügel mich nicht mit Mädchen. Aber wenn ich damals schon gewusst hätte, dass sie hinter dem Ganzen steckt, hätte ich vielleicht eine Ausnahme gemacht.“ „Lass das lieber“, warnte sein Vater ihn, „Ich mag zwar Anwalt sein und einen gewissen Einfluss auf manche Leute haben, aber überall kann ich dich auch nicht wieder herausboxen. Halte dich also besser zurück und tu nichts, was später gegen dich verwendet werden könnte.“ Nicholas brummte, so ganz war er mit dem, was sein Vater sagte, nicht zufrieden, aber er wusste, dass es so besser war. Deshalb stimmte er auch zu. „Von mir aus...“ „Ist das Mädchen wirklich so schlimm?“, fragte Peter. „René hat sich über sie schlau gemacht. Es kursieren einige unschöne Gerüchte über sie. Einige wurden auch schon bestätigt. Sie ist es gewesen, die in Lucas Mobbing im Hintergrund die Fäden gezogen und andere dazu angestiftet hat, teilweise sogar die Lehrer, dort aber weniger auffällig. Sie hat sich systematisch eingeschleimt, ihnen Lügen erzählt, behauptet, Luca würde nur Aufmerksamkeit wollen und so. Die Lehrer haben ihn daraufhin nicht mehr so ernst genommen und auch nicht auf die blauen Flecken reagiert oder ihn ignoriert, wenn er von seinen Mitschülern angegangen wurde. Natürlich ist das nicht nur auf Leonie zurückzuführen, einen vernünftigen Lehrer, der allen seinen Pflichten nachgeht, hätte sie damit nicht bekommen, aber sie war definitiv beteiligt.“ Karl zog seine Stirn kraus. „Du gehst also davon aus, dass sie ihn systematisch fertig gemacht hat?“ „Ich gehe nicht nur davon aus, ich kann es auch beweisen“, entgegnete Nicholas, „Du weißt, wie gründlich René bei seinen Nachforschungen ist. Außerdem haben es mehrere ehemalige Freunde von ihr unabhängig voneinander bestätigt. Luca hat es auch gewusst, allerdings bin ich mir nicht sicher, wie viel er weiß.“ „Ich werde schauen, was ich tun kann“, meinte Karl, „Aber bevor sie sich nicht wieder etwas zu Schulden kommen lässt, wird es nicht viel sein.“ „Und die anderen? Wer war noch beteiligt neben dieser Leonie?“, wollte Peter wissen. Wäre es nur nach Nicholas gegangen, hätte er ihm die Namen sofort genannt. Allerdings war er sich nicht sicher, ob Luca das auch wirklich wollte, immerhin schien er sich mit Thomas ausgesprochen und auch vertragen zu haben. Dazu kam, dass Peter eng mit Thomas' Vater zusammenarbeitete. Es war besser, wenn er die Frage nicht beantwortete. „Die Sache ist geklärt“, sagte er deshalb, „Es besteht kein Grund mehr, zu handeln. Einer hat sich inzwischen sogar bei Luca entschuldigt. Sie haben sich ausgesprochen. Wenn du Namen willst, wirst du Luca fragen müssen. Vielleicht sagt er es dir, vielleicht auch nicht. Du solltest dir allerdings im Klaren darüber sein, dass die Sache geklärt ist, und nichts mehr gegen die Personen unternehmen.“ Peter seufzte. „Was, wenn sie es wieder tun?“ „Ich habe mich deutlich ausgedrückt“, meinte Nicholas daraufhin locker. Auch wenn er es nicht in die Tat umsetzen konnte, funktionierte es immer noch gut als Drohung. „Wenn sie Luca noch einmal etwas tun, verbringen sie die nächsten Wochen im Krankenhaus.“ „Nicholas!“, ermahnte sein Vater ihn sofort. „Das ist die einzige Sprache, die sie verstehen“, verteidigte der Siebzehnjährige sich. Peter lachte leise. „Hat es denn wenigstens etwas gebracht?“ Der Schwarzhaarige nickte. „Sie haben Panik bekommen und einer nach dem anderen den Schwanz eingezogen. Inzwischen machen sie einen großen Bogen um Luca.“ Kapitel 81: Weihnachtsmarkt --------------------------- So ganz wusste Luca nicht mehr, was er sich dabei gedacht hatte, als er einen Tag vor Weihnachten allein über den Weihnachtsmarkt lief. Peter hatte ihm gestern Abend sein Taschengeld gegeben und er hatte vor, davon Geschenke zu kaufen. In einer Stunde würde er sich mit Nicholas, René, Rebecka und den Zwillingen an der Pyramide treffen. Hoffentlich hatte er bis dahin Weihnachtsgeschenke für sie gefunden. Bis jetzt sah es nicht da ach aus, als würde er fündig werden. Er wusste weder, was Nicholas mochte, noch ob er neben dem Kampfsport weitere Hobbies hatte. Warum war ihm das nicht früher aufgefallen? Warum erst jetzt? Er war so in Gedanken versunken, dass er nicht bemerkte, dass er stehen blieb. Jemand lief in ihn hinein und er fiel zu Boden. „Oh, Entschuldigung“, sagte die Person hinter ihm sofort. Die Stimme kam ihm seltsam bekannt vor. Luca traute sich erst nicht, die Person anzusehen, konnte allerdings nicht ewig auf dem Boden sitzen bleiben. Außerdem wurde es langsam kalt. Also schnappte er sich seine Krücken und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, was sich als schwerer herausstellte, als er gedacht hatte. Die Krücken fanden auf dem Glatten Boden, es war wenige Grad unter null Grad Celsius, keinen Halt und rutschten ihm immer wieder weg. Er hatte schon vorhin bemerkt, dass er aufpassen musste, wo er hintrat. Ihm wurde eine Hand hingehalten. Dankbar nahm Luca sie an und ließ sich wieder auf die Beine ziehen. Er schaute sein Gegenüber an und erstarrte, als er erkannte, wer da stand. Thomas. Beinahe wäre er wieder nach hinten gefallen, hätte Thomas gegenüber ihn nicht festgehalten. „Woha!“, rief sein Klassenkamerad erschrocken und packte ihn an beiden Oberarmen, damit er nicht wieder auf dem Boden landete, „Vorsicht!“ Luca war sich sicher, er musste ein seltsames Bild abgeben, wie er mit starr dastand und seinen Klassenkameraden ansah, als sei er das erste Auto auf dem Mond. Thomas schien ebenfalls überrascht zu sein, hatte sich aber schnell wieder gefangen. „Na, wieder auf den Beinen?“ Er reichte ihm seine Krücken. Immer noch sichtbar verwirrt, nickte der Blonde. Er war sich nicht sicher, ob er in der Lage gewesen wäre, normal zu antworten. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie nah ihm Thomas eigentlich war. Schnell befreite er sich aus seinem Griff und wich einen Schritt zurück. „Hey, ganz ruhig.“ Beschwichtigend hob Thomas die Hände, „Ich tu dir nichts.“ „Als ob das so einfach wäre“, murmelte Luca, mehr zu sich selbst, froh darüber, endlich seine Sprache wiedergefunden zu haben. Doch Thomas schien ihn verstanden zu haben. „Bist du ok?“, fragte er. „Was wird hier gespielt?“, erklang eine genervte Stimme hinter Thomas, „Seit wann bist du mit der Schwuchtel auf gute Freund?“ Luca schluckte. So war er schon lange nicht mehr genannt worden. Er brauchte die Person nicht anzusehen, um zu wissen, dass es sich um Jens, einen ehemaligen Mitschüler von ihm handelte. Er und Thomas waren auf der Realschule gute Freunde gewesen und waren es wohl immer noch. Allerdings hatte Jens nie aktiv am Mobbing teilgenommen. Zwar hatte er ihn ab und an das ein oder andere Schimpfwort an den Kopf geworfen, Thomas aber öfter gebremst, wenn dieser zu weit gegangen war. Trotzdem traute Luca ihm nicht. Fast rechnete er schon damit, dass Thomas ihn jetzt ebenfalls beschimpfen würde, doch dieser wandte sich an seine Freund. „Lass das“, verlangte er, „Nenn Luca nicht so!“ Jens hob überrascht die Brauen. „Oh? Gibt es da etwas, was du mir erzählen willst?“ Gespielt ungläubig schüttelte er seinen Kopf. Allerdings zeigte das Grinsen auf seinem Gesicht, dass er nur Spaß machte. „Und ich dachte, du stehst auf Leute mit mehr Oberweite, Leonie zum Beispiel.“ Thomas spielte mit. Er trat einen Schritt zurück und betrachtete Luca gespielt kritisch von oben bis unten. „Nimm es mir nicht übel“, sagte er dann, „Aber du bist sowas von überhaupt nicht mein Typ.“ „Das will ich dir auch geraden haben.“ Nicholas, der das Ganze wohl schon eine Weile beobachtet hatte, trat aus der Menschenmenge um sie herum heraus und schlang seine Arme von hinten um Luca. „Meiner!“ Nur kurz versteifte der Blonde sich, dann lehnte er sich vertrauensvoll gegen seinen Freund. „Was machst du schon hier? Wir wollten uns doch erst später treffen.“ „Nina hat mich angerufen“, antwortete Nicholas. Luca seufzte. „Ich hab ihr extra gesagt, dass sie das nicht tun soll.“ Wie sollte er jetzt das Weihnachtsgeschenk für seinen Freund kaufen? Er musste dringend mit der Freundin seines Vaters reden. Es konnte doch nicht sein, dass sie Nicholas hinter seinem Rücken informierte, wenn er ausdrücklich sagte, dass er das nicht wollte! „Wow, fühle ich mich willkommen“, brummte der Schwarzhaarige. Er schien es übel zu nehmen, dass Luca ohne ihn losgegangen war. Um seinen Freund etwas zu beruhigen drehte der Blonde seinen Kopf und küsste ihn kurz auf den Mund, ehe er die Hände in die Hüften stemmte, was sich mit den Krücken als nicht so leicht herausstellte. „Jetzt verrate mir mal, wie ich bitte dein Weihnachtsgeschenk kaufen soll, wenn du mir dabei über die Schulter schaust?“ „Oh...“ Die Wut war mit einem Mal verblasst. Schuldbewusst schaute er Luca an. „Daran hab ich nicht gedacht.“ „Du wirst mich heute also noch einmal kurz allein lassen müssen und wehe du spionierst mir nach“, bestimmte Luca, während er sich an seinen Freund kuschelte. Der Gesichtsausdruck mit dem Jens sie bedachte, war unglaublich. Ihm war der Mund aufgeklappt und er starrte sie ungläubig an, beinahe so, als würde er seinen Augen nicht trauen. Thomas lachte. „Darf ich vorstellen: Nicholas, Lucas Freund.“ „Freund wie Kumpel-Freund oder wie Freund-Freund, also mit einer Beziehung“, kam es von dem immer noch verwirrten Jens. Thomas' Lachen wurde lauter. Inzwischen hielt er sich sogar den Bauch und sein Oberkörper war leicht nach vorn gebeugt. „Freund-Freund“, brachte er mühsam hervor, „Die zwei sind zusammen. Hast du den Kuss eben nicht mitbekommen?“ Dann deutete er, nachdem er sich wieder gefasst hatte, auf Jens. „Das ist Jens. Wir waren in der Realschule in einer Klasse.“ „Hallo“, grüßte Jens höflich. Dann grinste er. „Wer von euch hat meinen besten Freund eigentlich einer Gehirnwäsche unterzogen? Ich habe ihn nicht so tolerant in Erinnerung.“ Wenn Luca ehrlich war, dann war Jens sehr umgänglich. Er war mit allen ausgekommen und hatte keine Feinde gehabt, obwohl er mit Thomas befreundet war. Eine Meisterleistung, fand Luca. „Hey!“, rief Thomas beleidigt, „Da sieht man sich zwei Monate nicht und du hast nichts besseres zu tun, als über mich herzuziehen! Nächstes Mal kannst du allein Weihnachtsgeschenke kaufen gehen!“ „Als ob du dich nicht über mich lustig gemacht hättest“, beschwerte sich Jens. Aber Thomas beachtete das nicht weiter. Er wandte sich stadtdessen an Luca und Nicholas. „Gut, dass ich euch hier treffe, sonst hätte ich heute Abend angerufen“, meinte er, „Eigentlich betrifft es nur Luca, aber ich schätze, dich geht es auch etwas an, Nicholas. Außerdem hätte Luca es dir eh erzählt. Ich habe Neuigkeiten von Leonie.“ Der Blonde versteifte sich kurz. Wenn Thomas das so sagte, dann bedeutete das wohl Ärger. Nicholas schien das ähnlich zu sehen, denn er zog den Blonden ein Stück näher an sich heran. „Was gibt es neues?“ „Also neu ist es jetzt nicht direkt“, druckste Thomas herum, „Es geht um Lucas Mutter und-“ „Nenn sie nicht so!“, unterbrach Luca ihn. Er wusste nicht, woher es kam, nur dass es ihn unglaublich wütend machte. „Ich will nichts mehr mit dieser Frau zu tun haben.“ „Sorry“, entschuldigte sich Thomas, „Jedenfalls scheint Leonie einiges über sie und ihren Mann zu wissen. Ich weiß nicht, bis wo es wahr ist und an welcher Stelle ihre Lügen beginnen, aber ich befürchte, der Großteil ist wahr.“ Luca nickte. „Ich weiß“, flüsterte er, „Sie hat damals eine Menge mitbekommen.“ Er wollte sich nicht erinnern. Bis jetzt hatte er es erfolgreich verdrängt, aber es schien, als hätte er keine andere Wahl mehr. Kapitel 82: Luca und Leonie --------------------------- „Was hat sie vor?“, fragte Nicholas. Er deutete der Gruppe an, ihm zu folgen. Sie verließen den Weihnachtsmarkt und blieben in einer Nebenstraße wenige Meter von ihm entfernt stehen. Sofort kuschelte Luca sich wieder an den Schwarzhaarigen. Er brauchte dessen Nähe jetzt, sonst würde er durchdrehen. Nicholas Blick blieb an Jens hängen, die unausgesprochene Frage, was er hier machte, in seinem Blick. „Jens hat mitgehört, was ich über Leonie erfahren habe. Er weiß es also schon“, erklärte Thomas. Dann erzählte er, was er erfahren hatte. „So genau weiß ich es auch nicht, aber ich befürchte, sie will es an die Öffentlichkeit bringen. Nur leider habe ich keine Ahnung, wie. Jetzt, wo wir zerstritten sind, sagt sie mir nichts mehr. Ich habe es über eine Freundin von ihr erfahren, die von unserem Streit noch nichts weiß. Wahrscheinlich werde ich diesbezüglich auch nichts mehr rausbekommen.“ „Auch das noch!“, schimpfte Nicholas, „René hat sie sich vor einer Weile unter die Lupe genommen und einige beunruhigende Dinge erfahren.“ Luca drückte sich näher an seinen Freund. Ihm war nicht wohl bei der Sache. Wenn Leonie so etwas geplant hatte, dann würde sie es auch umsetzen, das wusste er. „Wäre ich nur damals nicht so leichtgläubig gewesen“, murmelte er. „Was genau ist damals passiert?“, verlangte der Schwarzhaarige, zu wissen. Die Art, wie er es ruhig und beherrscht aussprach, verriet Luca, dass er wohl schon davon gewusst hatte, wohl aber nicht alles. „Woher? Wer hat es dir gesagt?“, kam es ihm über die Lippen, bevor er Zeit hatte, darüber nachzudenken. Zuerst schien es, als könne Nicholas ihm nicht folgen. Sein Spiegelbild in dem Fenster auf der anderen Seite der Straße schaute ihn verwirrt an, dann bildete sich ein schwaches Lächeln auf seinem Gesicht. „Wie hast du das jetzt schon wieder rausbekommen? Ich kann mich nicht erinnern, dir davon erzählt zu haben.“ Der Blonde seufzte. „Ich hasse es, wenn man mich anlügt, mir Dinge verschweigt oder man mich mit Halbwahrheiten abspeist. Das gilt auch für dich!“, stellte er klar. Jens musterte ihn mit kraus gezogener Stirn und nachdenklichem Ausdruck. Auch Thomas schien leicht überrascht, hatte sich aber schnell wieder gefasst. „Er hat sich ziemlich verändert, was?“ „Du hast zu ruhig reagiert“, antwortete Luca auf Nicholas‘ Frage, als er bemerkte, dass sein Freund wohl nichts mehr sagen würde. Nicholas fuhr ihm mit der Hand durch sein blondes Haar. „Habe ich dir schon gesagt, dass deine Beobachtungsgabe gruselig ist?“ Es war eine rhetorische Frage, die musste er nicht beantworten, weswegen er sie einfach ignorierte und mit dem eigentlichen Problem fortfuhr. „Wir waren mal Freunde, aber das ist jetzt schon Jahre her. Es begann im Kindergarten, als Leonie hier her zog. Wir haben viel Zeit miteinander verbracht, irgendwann haben wir uns dann angefreundet. Ich war oft bei ihr. Damals wusste ich noch nicht, was ich anderen Leute sagen durfte und was nicht. Was genau ich ihr alles erzählt habe, kann ich jetzt nicht mehr nachvollziehen, aber es muss eine Menge gewesen sein. Als Sonja Jochen mitgebracht hat, habe ich die blauen Flecke nicht von Anfang an vor ihr versteckt. Das habe ich erst gemacht, als sie angefangen hat, mich seltsam anzusehen und mir Fragen zu stellen.“ Nicholas drückte ihn an sich, fast so als wolle er ihn trösten. „Es ist alles gut. Er wird nie wieder seine Hand an dich legen“, flüsterte er ihm leise ins Ohr. „Das weiß ich“, sagte Luca, „Jetzt, wo ich so darüber nachdenke, ist mir schleierhaft, wie ich damals so blind sein konnte. Ich habe sie gekannt. Ich wusste, wie sie tickt, dass sie oberflächlich und voreingenommen ist. Vermutlich habe ich einfach nicht geglaubt, dass es unsere Freundschaft zerstören könnte. Als ich begonnen habe, mich für Jungs zu interessieren, wo jeder andere Junge den Mädchen hinterher sah, habe ich es ihr gesagt. Sie ist, wie nicht anders zu erwarten war, ausgerastet und hat mich beschimpft. Den Rest dürftest du kennen. Jetzt sagst du mir, woher du davon wusstest!“ Der Schwarzhaarige seufzte. „Thomas hat es mir gesagt, als du nach dem Streit mit deinem Vater bei mir geschlafen hast. Ich habe ihn angerufen, um herauszubekommen, was passiert ist.“ „Mitten in der Nacht“, ergänzte Thomas gespielt verärgert, dann lächelte er freundlich, „Hat sich dein Vater eigentlich wieder beruhigt? Ihr habt euch ja ziemlich in die Haare gekriegt.“ „Er akzeptiert es“, antwortete Luca ausweichend, „Aber nur, weil es Nicholas ist.“ Er hatte immer noch mit dem Grund für Peters plötzliche Meinungsänderung zu kämpfen. „Das ist doch gut, oder?“, erwiderte Thomas verwirrt, „Stell dir mal vor, er hätte dir den Kontakt verboten…“ „Das hätte er nicht gekonnt“, warf Nicholas ein. „Wie meinst du das? Natürlich hätte er das, er ist sein Vater!“ Thomas schien verwirrt. „Peter hat nicht das Sorgerecht für Luca. Das hat momentan das Jugendamt und ohne Lucas Zustimmung wird er es nicht bekommen. Rechtlich gesehen hätte er also nichts unternehmen können. Aber ich denke, er hat sich nur Sorgen gemacht, denn als er erfahren hat, dass Luca mit mir zusammen ist, hat er erstaunlich schnell klein beigegeben“, meinte Nicholas. Daran hatte Luca auch schon gedacht. Inzwischen war er sich sicher, dass es dazu beigetragen hatte, dass sein Vater der Beziehung zugstimmt hatte. Aber da war noch mehr. Peter wusste, wie sehr er an Nicholas hing und dass es ihn verletzen würde, wenn er ihm den Schwarzhaarigen wegnahm. Thomas grinste. „Ich geh mal davon aus, dass ihr gegen Leonie vorgehen werdet?“ Nicholas nickte. „Darauf kannst du Gift nehmen. Sie hat sich eindeutig mit den Falschen angelegt. Wenn wir mit ihr fertig sind, wird sie sich wünschen, Luca nie über den Weg gelaufen zu sein.“ „Schon praktisch, einen Anwalt zum Vater zu haben, was?“, neckte Thomas. „Tu nicht so. Du hast auch schon mit ihm Bekanntschaft gemacht“, warf Nicholas ein. „Lasst mich wissen, wenn ihr Hilfe braucht. Ich hab mit ihr auch noch ein Hühnchen zu rupfen“, wechselte Thomas das Thema. Er wandte sich zum Gehen. „Dann will ich euch mal nicht weiter stören. Ihr habt sicher noch etwas vor.“ „Warte“, rief Luca ihm hinterher. Überrascht blieb sein Klassenkamerad stehen und sah ihn an. „Ich hab ihm deinen Namen nicht gesagt“, kam es von Luca. Er wusste nicht, warum er das tat, aber er fand, Thomas hatte ein Recht darauf, es zu erfahren. „Als mein Vater mich gefragt hat, hab ich ihm nur Leonie genannt.“ Thomas, der ihn einen Augenblick lang verwirrt angesehen hatte, schien zu verstehen. Seine Augen weiteten sich und ein ungläubiger Ausdruck bildete sich auf seinem Gesicht. „Bist du sicher?“ Der Blonde nickte. „Die Sache ist abgeschlossen, oder?“ „Ja, ist sie“, meinte Thomas. Dann wandte er sich wieder seinem besten Freund zu. Wenig später waren die beiden in den Menschenmassen verschwunden. Nicholas zog ihn an sich und küsste ihn kurz auf den Mund. „Ich hoffe für dich, dass du diese Entscheidung nicht bereuen wirst. “ Luca kuschelte sich an ihn und schloss die Augen. „Danke“, flüsterte er, „dafür, dass du mir vertraust und meine Entscheidung nicht hinterfragst.“ Es bedeutete ihm eine Menge, dass der Schwarzhaarige sich nicht einmischte, obwohl er offensichtlich anderer Meinung war. „Und danke, dass du dich eben in Ruhe mit Thomas unterhalten hast. Ich weiß, du kannst ihn nicht leiden.“ „Ich hasse ihn“, stellte Nicholas richtig, „Für das, was er jahrelang mit dir gemacht hat.“ Luca löste sich von ihm, griff nach seiner Hand und zog ihn zurück auf den Weihnachtsmarkt. „Dann mal los. Ich hab noch zwanzig Minuten, um Geschenke für die anderen zu finden.“ Nicholas lachte leise und ließ sich widerstandslos mitziehen. Kapitel 83: Fröhlicher Weihnachtsbummel --------------------------------------- „Jingle bells, jingle bells, jingle all the way. Oh, what fun it is to ride in a one horse open sleigh”, trällerte Florian fröhlich das Lied auf dem Weihnachtsmarkt mit. Einige der Besucher drehten sich zu ihm um oder schauten ihm hinterher, doch den Zwilling schien das nicht weiter zu stören. Er sang munter weiter: „Jingle bells, jingle bells, jingle all the way. Oh, what fun it is to ride in a one horse open sleigh.” Luca beobachtete ihn, ohne sich zu den nicht vorhandenen Gesangstalenten zu äußern. Es würde nichts bringen. Florian wusste, dass es nicht singen konnte und es war ihm egal. Nachdem Thomas sich verabschiedet hatte, war Luca mit Nicholas in den Nebenstraßen unterwegs gewesen. Mit der Hilfe seines Freundes war es für den Blonden einfach gewesen, die restlichen Geschenke für seine Freunde zu finden. Rebecka bekam ein Parfüm, die Zwillinge T-Shirts im Partnerlook und René eine Bergmannfigur. Er sammelte diese Figuren und Nicholas hatte gemeint, dass er diese noch nicht habe. Falls doch, konnte René sie auch einfach gegen eine andere umtauschen. Auch das Geschenk für Nina war schnell gefunden, eine Schaumbad. Selbst für Nicholas hatte er schon eine Idee. Er hatte den Schwarzhaarigen in eine der in den Einkaufszentren stehenden Kabinen, wo man Passbilder von sich machen konnte, gezogen und einige Bilder von sich und ihm zusammen machen lassen. Sie waren gut gelungen und auf jedem der Bilder schauten sie anders. Jetzt brauchte er nur noch einen Bilderrahmen. Aber wo er den herbekam, wusste er schon. Nur mit seinem Vater war Luca etwas überfordert. Was schenkte man einem Mann, der schon alles hatte? Also zog er mit seinen Freunden über den Weihnachtsmarkt, in der Hoffnung, etwas zu finden. „Und, hast du dich bei deinem Vater eingelebt?“, begann Rebecka ein Gespräch mit ihm. Luca nickte. „Ja.“ Sie wusste nichts über Jochen, also erwähnte er es nicht. Es war ihm lieber, wenn seine Freunde nicht davon wussten. Nicholas und sein Vater, der es bestimmt auch Nina gesagt hatte, reichten völlig aus. Er wollte sie nicht unnötig damit belasten. Außerdem mochte er es nicht, wenn man ihn daraufhin mit Samthandschuhen anfasste. „Ich habe gehört, Nicholas sei schon bei dir eingezogen“, mischte sich jetzt auch René ein. „Er hat nur ein paar Wechselklamotten bei mir gelassen“, antwortete Luca, „Falls er mal spontan bei mir übernachtet. Er hat es zwar nicht weit bis nach Hause, aber so ist es bequemer. Wer hat schon Lust abends noch nach Hause zu laufen und Sachen für eine Übernachtung zu packen. So hat er gleich alles, was er braucht.“ „Hat dein Vater nichts dazu gemeint?“, fragte Rebecka. „Nicht wirklich. Nina hat nur gemeint, ihr Schlafzimmer liegt gleich gegenüber und sie würden hören, wenn wir unanständige Dinge tun.“ Als er das sagte, wurde Luca leicht rot um die Nase. Es war nicht so, dass er noch nicht darüber nachgedacht hatte, mit seinem Freund zu schlafen. Aber darüber zu sprechen war ihm noch unangenehm. Obwohl er noch nicht sehr lange mit Nicholas zusammen war, fühlte es sich für ihn an, als seien es bereits Monate. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie auch vorher schon Dinge getan hatten, die sonst nur Paare tun. Er konnte sich noch gut an den blick seines Vater erinnern, als Nicholas mit Reisetasche vor der Tür gestanden hatte und anschließend seine Sachen zu Lucas in den Schrank und ins Bad geräumt hatte. Erstaunlicherweise hatte Peter aber nichts dazu gesagt, sondern es einfach hingenommen. Die Zwillinge hatten inzwischen einen Stand mit Glühwein entdeckt und stellten sich dort an. Rebecka beobachtete das Ganze kopfschüttelnd. „Irgendwie war mir das klar.“ „Bist du sicher?“, neckte René sie und deutete auf das an dem stand angebrachte Schild, „Dort gibt es auch Kinderpunsch und heiße Zitrone.“ Das Mädchen kicherte. „Bleib realistisch!“ Wenig später waren Florian und Fabian mit jeweils einer Tasse des heißen, alkoholhaltigen Getränkes zurück. „Sie haben nicht einmal den Ausweis kontrolliert“, freute sich Florian. „Ihr zwei seid echt unmöglich“, beschwerte sich Rebecka. Fabian grinste. „Willst du auch einen?“ Er deutete auf den Glühweinstand. „Als ob“, schnaubte sie. „Gut, dann eben Kinderpunsch.“ Er drückte seinem Bruder die Tasse in die Hand und lief zurück zum Stand. Wenig später kam er mit einer weiteren dampfenden Tasse zurück, die er ihr reichte. „Bittschön.“ Rebecka warf ihm einen bösen Blick zu, nahm das Getränk aber entgegen und probierte einen Schluck. „So schlecht schmeckt das gar nicht. Nur ein bisschen süß“, murmelte sie. Sie reichte die Tasse ihrem Freund, der ebenfalls einen Schluck nahm. Dann sah er zu Fabian. „Das ist Glühwein, kein Kinderpunsch“, stellte er nüchtern fest. Die Zwillinge grinsten sich an und prusteten gleichzeitig los. Dabei bebten ihre Körper so sehr, dass sie etwas von ihrem Glühwein verschütteten. Rebecka ging in die Hocke und lud etwas Schnee auf ihre Handflächen, welchen sie zu einem kleinen Ball formte. Florian und Fabian waren so sehr mit Lachen beschäftigt, dass sie es erst bemerkten, als sie jeweils einen Schneeball im Gesicht hatten. Florian wischte sich den Schnee aus dem Gesicht. „Kein Buch heute?“ „Sie hat keins dabei“, belehrte sein Bruder ihn. René grinste. „Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher.“ Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da hatte Rebecka schon einen in Geschenkpapier verpackten, quaderförmigen Gegenstand aus ihrer Handtasche gefischt und den beiden über den Kopf gezogen. „Wir waren vorhin noch bei Thalia“, erklärte René, „Becky hat ein Nachschlagewerk für ihren Opa gekauft.“ „Aha“, kommentierte Nicholas das Ganze. „Das ist nicht fair“, maulte Florian, „Da hat sie einmal nicht ihre Schulsachen vorbei und dann kauft sie vorher ein Buch.“ „Ihr könntet ja auch einfach aufhören, sie zu ärgern“, warf René ein. „Keine Chance“, entgegnete Fabian, „Dazu macht das viel zu viel Spaß.“ Rebecka schnaubte und steckte ihm eine Handvoll in den Kragen. „Scheiße, ist das kalt“, rief der Zwilling erschrocken und versuchte, sich davon zu befreien, was ihm aber nicht gleich gelang. Nicholas‘ Mundwinkel zuckten und ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Auch Luca musste lachen. Er fand es einfach nur komisch, wie Rebecka und die Zwillinge sich die ganze Zeit über neckten. Ihm war klar, dass sie nur Spaß machten und nichts von dem, was sie taten, wirklich ernst gemeint war. Darum fand er es ja lustig. „Möchtest du auch etwas trinken?“, riss Nicholas ihn aus seinen Gedanken. Luca nickte. „Wenn du schon so nett fragst, einen Glühwein, bitte.“ Der Schwarzhaarige nahm das zur Kenntnis und lief zum Stand. Wenig später kam er mit zwei dampfenden Tassen zurück, von denen er eine Luca reichte. „Danke“, sagte der Blonde und nahm vorsichtig, schließlich wollte er sich nicht die Zunge verbrennen, einen Schluck, „Schmeckt gut.“ „Aber nicht zu viel trinken“, neckte Fabian ihn, „Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie du an deinem Geburtstag neben dir warst. Du hast absolut keine Toleranz, Junge.“ Augenblicklich errötete Luca. „War ich so schlimm?“ Der Zwilling grinste ihn frech an. „Du hast mit Nicholas gekuschelt, auf seinem Schoß geschlafen und zugegeben, dass du ihn gern heiraten würdest.“ „Oh.“ Verlegen senkte der Blonde seinen Blick. Jetzt, wo Fabian es sagte, konnte er sich auch wieder an den Abend erinnern, zumindest teilweise. Er wusste, dass es müde gewesen war und sich an Nicholas gelehnt hatte. Der Rest war ihm neu. Aber da die anderen Fabian nicht korrigierten, musste er wohl die Wahrheit sagen. Vielleicht war es besser, wenn er nicht so viel trank, um weitere Peinlichkeiten zu vermeiden. Kapitel 84: Ninas Familie ------------------------- „Die Klöße können geformt werden“, rief Nina, während sie durch das Haus eilte und den Tisch deckte. Da Luca nichts Besseres zu tun hatte, hatte er sich dazu entschlossen, ihr beim Essen kochen zu helfen. Ute hatte bis Silvester Urlaub genommen, um Weihnachten mit ihrer Familie zu feiern, weswegen Nina kochte. Das machte die junge Frau auch recht gut, fand der Siebzehnjährige. Nur hatte sie sich mit der Zeit etwas verschätzt, weswegen sie sich jetzt beeilen mussten, damit das Essen noch rechtzeitig fertig wurde. Glücklicherweise waren nur ihre und Peters Eltern eingeladen, weswegen es wohl nicht zu peinlich werden würde, wenn sie das Essen etwas später servierten. Auch Peter war schon zum Helfen verdonnert worden und stand jetzt gemeinsam mit seinem Sohn vor der Schüssel mit dem Kloßteig, den Nina eben nach Utes Rezept angerührt hatte. „Und wie macht man das jetzt?“, fragte Peter, während er die gelbliche Masse mit gerunzelter Stirn betrachtete. Luca seufzte. „Hast du noch nie gekocht?“ Er nahm sich etwas von der Masse und deutete seinem Vater an, es ihm nachzumachen. „Also, du nimmst den Teig, packst ein oder zwei Semmelwürfel…“ Er deutete auf die Pfanne, in der er vorhin die gewürfelte Semmel gesalzen und angebraten hatte.“ „und rollst es zu einer Kugel.“ Irgendwie kam er sich vor, als sei er im falschen Film. Oder als verarsche ihn sein Vater. Welcher erwachsene Mensch wusste denn nicht, wie man Klöße formte.? Als er allerdings das Ergebnis sah, wurde ihm klar, dass Peter wohl noch nie eine Küche von innen gesehen hatte. „Die Semmelwürfel gehören in den Kloß. In die Mitte. Sie dürfen also nicht mehr zu sehen sein.“ Peter schaute zwischen ihm und seinem Kloß hin und her, ehe er ihn ausbesserte. Der zweite Versuch klappte dann auf Anhieb und als Nina wenig später zurück in die Küche kam, waren alle geformt und Luca setzte gerade den großen Kochtopf auf den Ofen. Glücklicherweise befand sich das Waschbecken neben den Kochplatten und man konnte den Wasserhahn herausziehen, sonst hätte er es wohl nicht geschafft. Er konnte sein Bein zwar wieder etwas belasten, aber zum Laufen reichte es noch nicht aus. „Hast du das Wasser gesalzen?“, fragte Nina sofort. „Natürlich“, antwortete Luca prompt, woraufhin die junge Frau lächelte. „Wenigstens einer der Männer, in diesem Haus, kann kochen“, freute sie sich. Peter lachte. „Hast du sonst noch irgendwelche Wünsche?“ „Die Getränke müssen noch ins Speisezimmer“, erwiderte Nina keck, während sie die Klöße ins inzwischen kochende Wasser gab. Peter warf ihr einen leicht genervten Blick zu, kam der Aufforderung aber nach. Als es wenig später klingelte, hatte Luca sich gerade umgezogen. „Öffnest du bitte die Tür?“, rief Nina ihm zu, da sowohl sie als auch Peter noch nicht ganz fertig waren. „Geht klar“, antwortete er ihr in gleicher Lautstärke, ehe er in den Flur humpelte, wo er den Knopf drückte, das das Tor neben der Einfahrt öffnete. Während die Gäste über das verschneite Grundstück liefen, eilte er zur Tür. Doch als er diese öffnete, um die Gäste einzulassen, hätte er sie beinahe vor deren Nase wieder zugeschlagen. Ihm gegenüber stand sein Geschichtslehrer, Herr Wagner. Allerdings schien er nicht der einzige zu sein, der erschrocken war. Wagner erging es ähnlich. Ihm war der Mund aufgeklappt und einen Augenblick lang starrte er den Siebzehnjährigen sprachlos an. Dann hatte er sich wieder gefangen. „Willst du uns nicht rein lassen? Es ist kalt.“ Schnell trat Luca einen Schritt zur Seite und ließ Wagner und dessen Frau eintreten. Der abschätzende Blick, den sie ihm zuwarfen, entging ihm nicht, doch er tat, als hätte er es nicht bemerkt und schloss leise die Tür. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Was machte Wagner hier? Er hatte gedacht, nur die Familie sei eingeladen. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Ninas Nachname war auch Wagner. Das erklärte die Anwesenheit seines Lehrers, er war Ninas Vater. Der Blonde folgte den Beiden zurück ins Wohnzimmer, wo sie die Gäste empfangen wollten. Erst später würden sie ins Speisezimmer gehen. Auf dem Weg sah er Nina in der Küche hantieren. Sie trug jetzt ein dunkelrotes, langes Abendkleid und eine pinke Schürze, die es wohl vor Flecken schützen sollte. Jetzt wusste er auch, warum sie darauf bestanden hatte, dass er die ordentliche, schwarze Jeans und ein langärmliches Hemd anzog. Auf eine Krawatte hatte sie glücklicherweise nicht bestanden. Peter empfing ihre Eltern herzlich und bat ihnen an, sich zu setzen, was sie auch taten. Wenig später brachte Nina ihnen und Peter ein Glas Sekt zum Anstoßen. „Möchtest du auch eins?“, fragte sie Luca. Der Siebzehnjährige schüttelte den Kopf. „Lieber nicht.“ Seine Toleranz war nicht so hoch. Wagner, der hinter seiner Tochter stand, zog skeptisch die Brauen nach oben. Offenbar gefiel es ihm nicht, dass Nina Luca ein alkoholhaltiges Getränk angeboten hatte. Und obwohl er in Peters Blickfeld stand, machte er sich keine Mühe, seine persönliche Abneigung Luca gegenüber zu verbergen. Sie wollten gerade anstoßen, als es erneut klingelte. Diesmal war Peter derjenige, der die Tür öffnete. Nina verschwand zurück in die Küche, wohl um die restlichen Sektgläser zu holen, und ließ Luca mit ihren Eltern allein. Ihre Mutter, die ein schickes, dunkelblaues Kleid trug, und deren Haare Haare streng zu einem Haarknoten gebunden waren, musterte ihn von oben herab, als hielte sie sich für etwas Besseres. Dann reichte sie ihm ihren Pelzmantel. Hilflos schaute Luca zuerst auf das Kleidungsstück, dann auf seine Krücken. Erwartete die Frau gerade ernsthaft, dass er ihren Mantel an die Garderobe hängte, an der sie vorhin vorbeigelaufen war? „Willst du meiner Frau nicht helfen?“, fragte Wagner, hörbar gereizt. Wie denn, hätte Luca am liebsten gefragt, was er aber der Höflichkeit wegen ließ. Das hier waren Ninas Eltern und obwohl die zwei sich gerade aufführten wie die letzten Arschlöcher, durfte er es sich mit ihnen nicht verscherzen. Er wollte gerade den Mantel entgegennehmen, als sein Vater zurückkam und ihn Ninas Mutter abnahm. Kommentarlos hängte er ihn an die Garderobe. Hinter ihm traten seine Eltern, die ebenfalls sehr festlich gekleidet waren, ins Wohnzimmer. Auch sie musterten Luca, schienen allerdings nur neugierig zu sein. „Du bist also Luca“, begrüßte die Frau ihn freundlich, ehe sie ihrem Sohn am Ohr zog, „Wie konntest du mir nur einen so süßen Enkel verschweigen?“ Sie legte Luca die Hände auf seine Schultern und lächelte ihn freundlich an. „Ich bin Klara, du kannst mich aber gern auch Oma nennen.“ „Jetzt überfall den armen Jungen doch nicht so“, mahnte ihr Mann sie und reichte dem Siebzehnjährigen die Hand, „Ich bin Georg, aber du kannst auch gern Opa zu mir sagen.“ „Luca“, antwortete der Siebzehnjährige leicht verdutzt. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Peters Eltern so offen, ihm gegenüber, waren. So langsam begriff er auch, dass sie nicht nur die Eltern seines Vaters, sondern auch seine Großeltern waren. Der Gedanke fühlte sich seltsam an. Nicht unschön, sondern nur ungewohnt. „Hier riecht es aber lecker“, stellte Klara fest, „Wie weit seid ihr denn mit dem Essen?“ Sie verschwand mit ihrem Mann und Peter in die Küche. Wieder ließ man Luca mit seinem Geschichtslehrer allein. Er konnte gar nicht so schnell schauen, da stand der Mann ihm schon gegenüber. „Hast du denn überhaupt keinen Anstand?“, fuhr er ihn an, „Einfach deinen Vater die Dinge erledigen zu lassen!“ Erschrocken wich Luca einen Schritt vor ihm zurück. Doch das brachte nichts. Wagner folgte ihm einfach, bis er wenig später mit dem Rücken gegen die Wand stieß. „Ich rede mit dir!“ Der Mann packte ihn grob an der Schulter. Luca fuhr zusammen und bevor er wusste, was er tat, hatte er die Hand weggeschlagen. Dabei hatte er kurz eine der Krücken losgelassen, was dazu führte, dass er, aufgrund der ungünstigen Bewegung, das Gleichgewicht verlor. Er versuchte noch, sich an der Wand abzufangen, schaffte es aber nicht, seinen Sturz zu stoppen. Mit einem polternden Geräusch kamen seine Krücken auf dem Boden auf und er landete zwischen ihnen. „Was ist hier los?“ Erklang die erschrockene Stimme seines Vaters. Doch sie hörte sich seltsam entfernt an. Der Mann eilte auf ihn zu und kniete sich neben ihn. „Luca? Kannst du mich hören?“ Der Siebzehnjährige schaffte es noch, in Peters Richtung zu schauen, doch als sein Vater versuchte, ihn anzufassen, fuhr er zusammen und wich vor ihm zurück. „Nicht“, brachte er heraus, „Geht weg. Ich kann nicht…“ Neben ihm hörte er Wagner schnauben. „Der simuliert doch nur!“ Er nahm eine schnelle Bewegung aus dem Augenwinkel wahr. Danach wurde alles verschwommen. Kapitel 85: Warnungen und Drohungen * ------------------------------------- Nicholas war gerade dabei, mit Sheila die Gäste zu bewirten, damit sie auch ja nicht auf die Idee kam, in die Küche zu gehen und mit ihren nicht vorhandenen Kochküsten das Weihnachtsessen zu ruinieren, als sein Handy klingelte. Zuerst wollte er den Anruf nicht annehmen, doch dann fiel sein Blick auf die Nummer. Eine schlimme Vorahnung überkam ihn. Wenn Peter ihn zu dieser Zeit anrief, musste es wichtig sein. Er stürmte aus dem Zimmer und drückte gleichzeitig auf den grünen Hörer. „Ja?“ „Kannst du rüberkommen?“, erklang Ninas aufgeregte Stimme am anderen Ende der Leitung, „Luca ist zusammengebrochen und lässt keinen mehr an sich heran.“ „Ich bin gleich da!“, rief er. Inzwischen stand er vor der Garderobe. Schnell sprang er in seine Stiefel und zog sich seine Winterjacke über. Auf Mütze und Schal verzichtete er. Es war zwar kalt draußen, aber bis zu Luca dauerte es keine drei Minuten. Wenn er rannte, war er noch schneller da. „Wo gehst du hin?“, wollte Sheila wissen, die ihm hinterhergegangen war. „Zu Luca“, antwortete Nicholas knapp, „Kann sein, ich komm erst morgen wieder. Wartet nicht auf mich.“ So schnell er konnte, rannte er zum Haus seines Freundes. Nina erwartete ihn bereits und ließ ihn ein, ohne eine Begrüßung zu verlangen. „Er ist im Wohnzimmer“, war das einzige, was sie sagte. Der Schwarzhaarige sprang aus seinen Stiefel und ließ sie, genau wie seine Jacke, irgendwie im Flur liegen. Er würde sie auch später noch wegräumen können. Jetzt musste er erst einmal zu seinem Freund. Er fand den Blonden an der Wand sitzend, die Arme um das gesunde Bein geschlungen, am ganzen Körper zitternd. Peter kniete neben ihm und versuchte, auf ihn einzureden. Doch es schien, als würde Luca ihn nicht einmal wahrnehmen. Zu seiner Verwunderung stand Wagner, sein Geschichtslehrer, direkt neben Peter, doch darüber würde er sich später Gedanken machen. Als Peter ihn bemerkte, schaute er auf. Die Erleichterung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Nicholas nickte ihm zu, ehe er sich neben seinem Freund auf den Boden fallen ließ und ihn in seine Arme zog. Sofort versteifte Luca sich und versuchte, sich aus der Umarmung zu befreien. Aber Nicholas ließ nicht locker. Vorsichtig, aber bestimmt hielt er den Blonden fest. „Shh“, flüsterte er und strich ihm über Kopf und Rücken, „Es ist alles gut.“ Dann wandte er sich an die Gäste, die ihm mit einer Mischung aus Erstaunen und Verwirrung musterten. „Lasst uns allein.“ Er sprach nicht laut, weil er Luca nicht unnötig erschrecken wollte. Zwar wurden die Bewegungen des Blonden schwächer, aber er war noch lange nicht dabei, ruhig zu werden. Immer wieder flüsterte Nicholas ihm beruhigende Worte zu. „Ich bin hier. Alles ist gut.“ Peter, der immer noch neben ihm kniete, beobachtete ihn aufmerksam. Gegen ihn sagte der Schwarzhaarige nichts. Er wusste, Luca vertraute seinem Vater. Außerdem musste der Mann lernen, wie er seinen Sohn, im Falle einer neuen Panikattacke, beruhigte. Immer würde es nicht funktionieren, ihn anzurufen. Was, wenn er gerade nicht da war? Dann musste sich jemand anderes um seinen Freund kümmern. Langsam ließ das Zittern nach. Luca schien ihn erkannt zu haben, denn er krallte sich an seinem Pullover fest und vergrub sein Gesicht an Nicholas‘ Schulter. Der Schwarzhaarige bemerkte, dass der Stoff langsam nass wurde. Außerdem spürte er Lucas Körper beben. „Hey, es ist alles okay“, redete er ruhig auf ihn ein. Doch Luca schüttelte nur den Kopf und klammerte sich noch mehr an ihn. Nicholas sah zurück zu den Gästen, die um ihn und seinen Freund herumstanden und sie musterten, wie Schaulustige nach einem Autounfall. „Sind wir hier im Zoo?“, zischte er aufgebracht, „Seht zu, dass ihr hier rauskommt!“ Er spürte, wie Luca zusammenzuckte, sich aber sonst nicht weiter stören ließ. Zuerst schien es, als würden die Gäste sich immer noch nicht rühren, dann verließen sie leise den Raum. Bei Wagner musste Peter allerdings nachhelfen, sonst wäre der Lehrer wohl einfach stehen geblieben und hätte weiter zugeschaut. Er packte den Mann am Oberarm und schob ihn aus dem Wohnzimmer. Danach schloss er die Tür, blieb aber im Zimmer. „Was ist passiert?“, fragte der Schwarzhaarige ihn leise. „Das weiß ich auch nicht genau“, antwortete Peter, „Ich war mit meinen Eltern in der Küche. Da müsstest du schon Ninas Eltern fragen. Sie waren bei ihm.“ Nicholas schnaubte. „Die Panikattacke eben kam nicht allein. Das heißt, sie müssen irgendwas getan haben, um ihn in diesen Zustand zu versetzen. Glaubst du wirklich, dass sie die Wahrheit sagen werden?“ Auch wenn er es momentan aus Rücksicht auf Luca nicht zeigte, war er wütend. Ihm war klar, dass Wagner es auf Luca abgesehen hatte. Wenn der Mann sich noch einmal an seinem Freund verging, dazu zählte auch verbal, wusste er nicht, wozu er fähig war. Es klopfte an der Tür und Nina lugte herein. „Möchtest du mitessen?“, erkundigte sie sich leise bei Nicholas. „Wenn es keine Umstände macht“, meinte der Schwarzhaarige. „Das tut es nicht, keine Sorge. Ich habe genug gekocht.“ Die Frau lächelte. „Dann lege ich ein weiteres Gedeck auf. In zwanzig Minuten gibt es Essen.“ „Ist das in Ordnung?“, fragte Peter seinen Sohn, „Ihr könnt es auch gerne mir in Lucas Zimmer nehmen.“ „Es geht schon“, nuschelte Luca, ehe er sich von Nicholas löste. Mir der Hand wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht und zwang sich zu einem Lächeln. „Wenn du meinst“, sagte Peter. Auch Nicholas war skeptisch, aber wenn Luca es sich zutraute, würde er ihn nicht daran hindern. Wenn er genau darüber nachdachte, war es vielleicht sogar besser, wenn der Blonde nicht flüchtete, sondern sich seinen Problemen stellte. Er brachte seinen Freund ins Bad, wo dieser sich erst einmal das Gesicht wusch, um die Spuren von den Tränen zu beseitigen. Dann warteten sie, bis er nicht mehr so verweint aussah, ehe sie das Speisezimmer betraten. Nina hatte, wie versprochen, ein weiteres Gedeck auf den Tisch gelegt und die Sitzordnung außerdem so organisiert, dass Luca zwischen Nicholas und Peter saß. Der Schwarzhaarige bemerkte den erleichterten Ausdruck seines Freundes darüber, kommentierte ihn allerdings nicht. Stattdessen schaute er an sich herunter. Im Gegensatz zu den anderen trug er nur eine ausgewaschene Jeans und ein Sweatshirt. „Irgendwie komme ich mir hier gerade etwas ‚Underdressed‘ vor“, versuchte er die Stimmung aufzuheitern. Normalerweise tat er so etwas nicht, aber er wollte die anderen irgendwie von Luca ablenken. Peter lachte höflich. „Das macht nichts. Der Anruf war so kurzfristig, dass du gar keine Chance hattest, dich umzuziehen.“ „Willst du uns den Jungen nicht vorstellen?“, fragte eine Frau, die der Schwarzhaarige aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit Peter als dessen Mutter vermutete. Sie machte einen netten Eindruck. „Nicholas Lemke“, sagte er höflicher, als er sich in der Schule vorgestellt hatte, „Lucas Freund.“ Sie lächelte freundlich. „Ihr scheint ja richtig gute Freunde zu sein“, stellte sie fest. Sie bezog sich wohl darauf, dass er Luca hatte beruhigen können. „Das andere ‚Freund‘“, korrigierte Luca sie leise. Nicholas konnte beobachten, wie ihr Gehirn arbeitete und sie wenig später nur ein intelligentes „Oh“ herausbrachte. Das war es, mehr nicht. Sie schien nicht abgeneigt zu sein, nur überrascht. „Warum hast du mir nichts gesagt, Peter“, tadelte sie ihren Sohn, „Wenn ich gewusst hätte, dass mein Enkel so einen bezaubernden Freund hat, hätte ich ihm doch etwas mitgebracht!“ „Bezaubernd?“ Wagner, der sich bis eben im Hintergrund gehalten hatte, kam betont langsam auf ihn zu. Sofort zog Nicholas seinen Freund hinter sich und stellte sich zwischen ihn und den Mann. „Hast du noch nicht genug angerichtet?! Halt dich von ihm fern!“ „Wie redest du denn mit mir?“, empörte sich der Lehrer, „Zeig gefälligst etwas Respekt deinen Mitmenschen gegenüber!“ „Den hast du nicht verdient!“, gab Nicholas wütend zurück. Nur zu gut erinnerte er sich daran, wie der Mann mit Luca umgesprungen war. „Was meinst du damit?“, mischte Peter sich ein. Nicholas schaute ihn an. „Kennst du die Statue mit den drei Affen? Einer hält sich die Augen zu, ein anderer die Ohren und einer den Mund. Sie passt perfekt zu dieser homophoben Entschuldigung von einem Lehrer!“ Kapitel 86: Streit am Esstisch ------------------------------ Um Luca herum schnappten die Leute nach Luft, geschockt über Nicholas‘ Aussage. „Bitte was?“, rief Wagners Frau. Sichtbar gereizt schaute Nicholas sie an. „Spreche ich chinesisch?“ Er hatte schon angesetzt, noch mehr zu sagen, doch Luca hinderte ihn daran. Er schlang seine Arme um den Oberkörper seines Freundes und bettete seinen Kopf auf dessen Rücken. „Hör auf“, bat er ihn leise. Er wusste, wenn Nicholas so weitermachte, würde es nicht bei diesem Wortgefecht bleiben, sondern früher oder später auch zu Handgreiflichkeiten kommen. Das versuchte er, zu verhindern. Außerdem wollte er seinem Vater nicht das Weihnachtsfest ruinieren. Nicholas drehte sich zu ihm um und erwiderte die Umarmung. Allerdings machte die Art, wie er seine Arme schützend um ihn legte, Luca klar, dass er noch nicht fertig war. „Hast du keinen Anstand, Junge?“, schimpfte Wagner weiter mit dem Schwarzhaarigen. Doch diesen schien das nicht weiter zu stören. Er ignorierte den Lehrer und wandte sich an Peter. „Du tust gut daran, alles zu hinterfragen, was er dir über Luca erzählt.“ Peter seufzte. „So hatte ich mir den Abend nicht vorgestellt.“ Er sprach Wagner zwar nicht gezielt an, doch die indirekte Warnung hatte wohl jeder verstanden. Langsam löste Luca sich von seinem Freund und schaute in die Runde. Die Gäste schauten sich missmutig an, die Stimmung war ruiniert. „Du solltest besser aufpassen, mit welchen Leuten dein Sohn sich abgibt“, wandte Wagner sich an den Vater des Siebzehnjährigen. Dabei klang er so falsch, dass es Luca eiskalt dem Rücken herunterlief. „Dieser Nicholas ist kein guter Umgang.“ Außerdem hatte er Peters indirekte Bitte, die Sache doch auf sich beruhen zu lassen und den Abend zu genießen, komplett ignoriert. Luca wollte widersprechen, aber sein Vater war schneller. „Ich wäre dir dankbar, wenn du dich aus der Erziehung meines Sohnes heraushalten würdest. Ob jemand ein schlechter Umgang ist, entscheide immer noch ich und Nicholas ist das sicher nicht. Ich arbeite seit Jahren eng mit seinem Vater zusammen und kenne ihn und seine Familie.“ Damit hatte der Blonde nicht gerechnet. Natürlich hatte er gewusst, dass Peter ihm den Kontakt zu seinem Freund nicht verbieten würde. Aber dass er Nicholas so sehr verteidigte. Ihm wurde warm ums Herz und er lächelte seinen Vater dankbar an. Wagner wollte etwas erwidern, doch seine Tochter fiel ihm ins Wort: „Jetzt setz dich endlich hin, sonst wird das Essen kalt.“ Sei deutete auf den bereits seit einer Weile gedeckten Tisch. „Ich habe mir so viel Mühe beim Kochen gegeben. Es wäre wirklich schade, wenn wir es kalt werden lassen.“ Für einen Augenblick glaubte Luca, dass sie ihrem Vater damit den Wind aus den Segeln genommen hatte, doch diesen schien das gar nicht zu interessieren. Ihre Mutter warf einen skeptischen Blick auf den Tisch. „Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?“, wollte sie wissen. Nina hob ihre Schultern. „Ich weiß nicht, was du hast. Ich mag Luca. Und Nicholas auch.“ „So haben wir dich nicht erzogen!“ Ihre Mutter schien regelrecht entrüstet zu sein. Dabei hatte Nina gar nichts getan. Sie hatte noch nicht einmal wirklich Partei für Luca und Nicholas ergriffen. Der Blonde rutschte näher an seinen Freund heran, woraufhin dieser ihn noch fester umarmte. Der Schwarzhaarige seufzte. „So langsam frage ich mich, wie aus Nina eine so nette Frau werden konnte, wenn sie solche ignoranten Arschlöcher als Eltern hat.“ Wagner blickte ihn wütend an. „Und ich frage mich, ob meine Tochter so blind vor Liebe ist, dass sie nicht sieht, dass der Sohn ihres Lebenspartners nur Ärger macht und sein Freund ein Krimineller!“ Peters Eltern starrten ihn erschrocken an, während Nina empört die Hände in die Hüften stemmte. „Kannst du das auch beweisen? Oder ist das wieder nur ein Gerücht, dass du irgendwo aufgeschnappt hast?“ Es schien wohl schon ein paar ähnliche Vorfälle gegeben zu haben. „Natürlich!“, schimpfte Wagner, „Der Junge ist vorbestraft!“ Luca beobachtete, wie Klara und Georg zwischen Nicholas und seinem Lehrer hin und her sahen. Zuerst schien es noch, als glaubten sie dem Mann nicht. Doch keiner stritt es ab. Das konnten sie auch nicht, sonst würden sie lügen. Peter seufzte und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. „Ist das wahr?“, fragte Georg. „Es haben so gut wie alle Medien darüber berichtet“, antwortete Lucas Vater, „Allerding sehe ich nicht, wie das einen Einfluss auf meinen Sohn haben soll. Damals haben sie sich noch nicht einmal gekannt. Das war ein einzelner Vorfall. Nicholas hat sich danach nichts mehr zuschulden kommen lassen.“ „Und was sagst du dazu, dass die zwei sich auf dem Schulgelände mit ihren Mitschülern geprügelt haben?“ Triumphierend sah er Lucas Vater an. Nina schnaubte: „Nicholas ist ein normaler, siebzehnjähriger Junge. Natürlich prügelt er sich mal oder macht anderweitig Ärger. Das macht ihn noch lange nicht zu einem schlechten Umgang. Ich meine, welcher Junge tut das nicht?“ Sie legte sich richtig ins Zeug, wie sie den Schwarzhaarigen verteidigte. Peter zog die Stirn kraus, wie er es immer tat, wenn er nachdachte. Dann wurde sein Gesichtsausdruck wieder neutral, erweckte allerdings den Anschein, aufgesetzt zu sein. Zu spät bemerkte der Blonde, was sein Vater plante. „Und mit wem, wenn ich fragen darf?“, kam es auch schon von Peter. „Nein!“, rief der Siebzehnjährige, doch da war es schon zu spät. Wagner grinste ihn an, sicher, gewonnen zu haben. Er merkte nicht, dass Peter ihm eine Falle gestellt hatte, in die er geradezu hineingesprungen war, und vorher noch ordentlich Anlauf genommen hatte. Sein Vater wollte die Namen derjenigen, die außer Leonie noch am Mobbing beteiligt gewesen waren. Luca hatte sie ihm nicht gegeben, also holte er sich woanders her. „Wenn ich mich richtig erinnere, sind das Martin Lindner, Jan Baumann, Thomas Lange und Leonie Koch gewesen“, sagte Wagner, sich seines Fehlers noch nicht bewusst, „Nicholas hat das arme Mädchen in den Springbrunnen geworfen.“ Peter nickte. „Davon habe ich gehört.“ Dann wandte er sich an seinen Sohn. „Ist die Liste jetzt vollständig?“ Während Wagner sichtbar verwirrt war, wurde Luca wütend. Nicholas schien es bemerkt zu haben, denn er strich ihm beruhigend über den Rücken und warf Peter einen warnenden Blick zu. „Ich hatte meine Gründe, warum ich sie dir nicht genannt habe!“, sagte Luca. „Indem du die Sache totschweigst?“, entgegnete sein Vater. Luca schüttelte den Kopf. „Das ist doch alles schon lange geklärt. Da gibt es nichts mehr totzuschweigen. Die Sache ist vorbei. Wir haben uns ausgesprochen.“ Entschlossen sah er seinen Vater an. „Ich werde dir weder weitere Namen nennen, noch in irgendeiner Weise bestätigen, ob Wagner dir die Wahrheit gesagt hat.“ „Jetzt werd mal nicht frech“, rief Ninas Mutter. Sie stemmte ihre Hände in die Hüften und blickte ihn belehrend an. Ihr Mann nickte zustimmend, sagte aber nichts. Peter schien erschrocken. „Vertraust du mir nicht?“ „Das hat doch nichts mit Vertrauen zu tun“, antwortete Luca, „Mir geht es darum, dass du Thomas kennst und jetzt, wo dir sein Name genannt wurde, wirst du dich ihm gegenüber anders verhalten. Egal ob er etwas getan hat, oder nicht. Das wollte ich verhindern.“ „Können wir uns jetzt bitte an den Tisch setzen und essen?“, unterbrach Nina sie, ehe sie sich an ihre Eltern wandte, „Und ihr lasst Luca in Ruhe. Es ist Weihnachten und ich will mir den Abend nicht von eurer miesen Laune verderben lassen. Entweder ihr benehmt euch, oder ihr geht.“ Wagner nickte und nahm, wenn auch widerwillig, am Tisch Platz. Die anderen taten es ihm gleich und Nina konnte endlich das Essen austeilen. Nur ihre Mutter blieb stehen. „Das kann nicht euer ernst sein“, schimpfte sie. Dabei schaute sie nicht zu ihrer Tochter, sondern zu Peter. Der Mann erwiderte ihren Blick. „Ich sehe keinen vernünftigen Grund, warum Luca nicht bei mir wohnen kann. Er ist mein Sohn. Außerdem verstehen er und Nina sich ziemlich gut. Luca bleibt. Das ist mein letztes Wort.“ Die Aussage hatte etwas finales, endgültiges. Es war eindeutig, dass die Diskussion damit beendet war und Peter nichts mehr darüber hören wollte. Kapitel 87: Der mieseste Heiratsantrag überhaupt ------------------------------------------------ Nach dem Essen gingen sie zurück ins Wohnzimmer, wo Luca sich zusammen mit Nicholas in einen der Sessel setzte und sich an seinen Freund lehnte. Er mochte Klara und Georg zwar, die beiden waren wirklich nett, aber er fühlte sich einfach wohler, wenn etwas Abstand zwischen ihm und seinen Großeltern war. Noch immer hatte er sich nicht an den Gedanken gewöhnen können, dass sie jetzt neben seinem Dad und Nina zur Familie gehörten. Aber das lag vermutlich daran, dass er vorher nichts Vergleichbares gehabt hatte und mit seinen Großeltern deshalb nichts anfangen konnte. Mit der Zeit würde es besser werden, vermutete er. Ninas Eltern hatten, kaum dass das Essen beendet war, beinahe schon fluchtartig das Haus verlassen. „Ist vielleicht auch besser so“, hatte ihre Tochter dazu gemeint, nachdem sie sie zur Tür begleitet hatte. Die junge Frau brachte ein paar Gläser und Getränke ins Wohnzimmer, ehe sie sich neben Peter auf eines der Sofas fallen ließ. Seine Eltern saßen ihm gegenüber. Eine Weile herrschte bedrücktes Schweigen, die Stimmung war immer noch von dem Streit vor dem Essen zerstört, bis Peters Vater das Wort ergriff: „Warum wohnt Luca eigentlich auf einmal bei dir? Nicht, dass ich etwas gegen ihn habe. Mich interessiert nur, warum er nach siebzehn Jahren plötzlich zu dir zieht.“ „Hatte seine Mutter Probleme mit seiner Sexualität?“, kam es jetzt auch von Klara, „Ist er deshalb ausgezogen?“ Peter schaute zu Luca, darauf wartend, ob es in Ordnung war, wenn er die Wahrheit sagte. Der Blonde überlegte. Es war unmöglich, ihnen alles zu verschweigen. Spätestens wenn Jochen und Sonja verurteilt wurden, würde ein Teil an die Öffentlichkeit treten. Keine Details, aber genug, damit sie sich ein Bild machen konnten. Da konnte sein Vater noch so sehr versuchen, die Sache geheim zu halten, es würde ihm nicht gelingen, zumindest nicht vollständig. Es war also nur fair, wenn seine Großeltern es schon vorher erfuhren. „Nur die Kurzfassung, keine Details“, flüsterte Luca leise. Ihm war klar, dass seine Großeltern es wahrscheinlich trotzdem gehört hatten, sie nur den Anstand besaßen, es nicht zu kommentieren. Sein Vater nickte. „Ich habe veranlasst, dass ihr das Sorgerecht entzogen wurde.“ „Wieso das denn?“, fragte Klara, „Was hat dich dazu gebracht?“ „Luca wollte von ihr weg und wenn ich ehrlich bin, kann ich das sehr gut nachvollziehen. Ich würde auch nicht bei Sonja wohnen wollen“, antwortete Peter. Georg runzelte die Stirn. Ein nachdenklicher Ausdruck bildete sich auf seinem Gesicht. „Einer Mutter wird nicht einfach nach siebzehn Jahren das Sorgerecht entzogen, erst recht nicht so schnell, dafür muss es schon triftige Gründe geben. Extreme Vernachlässigung, obwohl man mit siebzehn schon relativ selbstständig ist, oder Misshandlung. Aber-“ Er brach ab. Sein Blick wanderte zu Luca. Der blonde Junge konnte beinahe schon sehen, wie das Gehirn seines Großvaters arbeitete. Er war nicht dumm, dass hatte Luca bereits herausgefunden. Seine Großeltern waren beide nicht dumm. Außerdem hatte er die Panikattacke vorhin mitbekommen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er die richtigen Schlüsse zog. Luca kuschelte sich näher an Nicholas, woraufhin der Schwarzhaarige einen Arm um ihn legte. Er hatte keine Angst vor seiner Verwandtschaft, aber er fühlte sich so einfach wohler. Wenn Georg es nicht schon vorher gewusst hatte, dann hatte er es spätestens durch diese Geste herausgefunden. Sein Blick wurde ernst und er schaute zu Peter, eine Antwort erwartend. Auch Klara schien verstanden zu haben, worum es ging, denn sie schlug sich erschrocken die Hände auf den Mund. „Das ist nicht wahr“, murmelte sie, „Welches Monster würde-“ „Jochen“, sagte Luca. Seine Stimme klang sicherer, als er sich fühlte. „Für Sonja habe ich ‚nur‘ nicht existiert.“ Peter nickte, der Sache zustimmend, „Luca stand auf einmal mitten in der Nacht vor der Tür. Zuerst wollte ich ihm nicht zuhören und habe ihr wieder weggeschickt. Wenige Tage später hat Nicholas geklingelt. Von ihm habe ich erfahren, dass Luca im Krankenhaus liegt. Er hat gemeint, Luca brauche meine Hilfe. Ich solle nach ihm sehen.“ Neben ihm kicherte Nina. „Gemeint? Er hätte dich notfalls auch ins Krankenhaus geprügelt.“ Luca zweifelte keine Sekunde daran, dass die Aussage auch wörtlich genommen werden konnte. Die kleine Gruppe lachte, aufgrund der Mehrdeutigkeit der Aussage. „Als ich Luca im Krankenhaus besucht habe, hat er sich zuerst geweigert, mit mir zu reden. Es hat eine Weile gedauert, bevor er mich überhaupt angesehen hat. Dann hat er mich fast schon angefleht, ihn von seiner Mutter und ihrem Mann wegzuholen. Zuerst war ich unschlüssig, ob ich seiner Bitte nachkommen sollte und was ihn dazu bewegt hat, immerhin war ich ein Fremder für ihn. Ich habe geglaubt, dass es einen Sorgerechtsstreit hinausläuft. Aber nachdem ich von den Zuständen bei ihm zu Hause erfahren habe, hat es gereicht, das Jugendamt auf sie aufmerksam zu machen.“ Georg nickte. „Wie hast du davon erfahren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Luca es dir einfach erzählt hat.“ „Von Nicholas“, antwortete Peter, „Er hat es schon eine Weile vermutet und Luca im Krankenhaus gezielt danach gefragt.“ „Verstehe“, meinte Klara. Sie schien zu überlegen. „Wie kommt ihr miteinander zurecht. Die Situation ist ja nicht einfach.“ Zumindest bezog sie ihn mit ein, stellte Luca fest, und redete nicht nur mit seinem Vater. Auch machte sie ihm keine Vorwürfe, aber das musste sie auch nicht. Das tat Peter auch so. Wenn seine Mutter ihn kannte, dann wusste sie es auch. Und der Blick, mit dem sie ihren Sohn ansah, verriet, dass sie es wusste, nur aus Taktgefühl nicht ansprach. Genauso wie sie nicht weiter nachbohrte, was genau vorgefallen war, sondern es bei Peters Erklärung beließ. „Gut, denke ich. Wir sind ein paar Mal aneinander geraten, und ich habe den einen oder anderen verbalen Arschtritt von Nicholas erhalten, haben es aber ganz gut gemeistert“, sagte Lucas Vater. „Und du?“, wollte die Frau von Luca wissen, „Kommst du mit deinem Vater zurecht? Ich weiß, er ist nicht immer einfach und kann manchmal ein ziemlicher Trotzkopf sein.“ „Hey!“, empörte sich Peter. Nicholas lachte. „Jetzt weiß ich auch, woher mein Freund seine Sturheit hat.“ Luca drehte sich zu ihm um und küsste ihn kurz auf den Mund. „Als ob du da besser wärst“, neckte er den Schwarzhaarigen, wurde aber schnell wieder ernst. „Anfangs hatte ich Schwierigkeiten, aber nachdem wir darüber gesprochen haben, ist es besser geworden.“ „Wie sieht es mit den Regeln aus? Und was passiert, wenn Luca dagegen verstößt?“, fragte jetzt Georg, „Ich meine, du musst schließlich Rücksicht auf ihn nehmen.“ Peter hob die Schultern. „Viel haben wir nicht besprochen. An Schultagen muss er, wenn nichts anderes ausgemacht ist, vor Zehn zurück sein. Seine Freunde dürfen auch nur bis Zehn bleiben. Außer Nicholas, er darf auch hier übernachten. Allerdings will ich nach Zehn nichts mehr hören, ich brauche schließlich auch meinen Schlaf. Luca hat rechtzeitig bescheid zu sagen, wenn er zum Essen nicht da ist oder er bei Nicholas übernachtet. Bis jetzt hat Luca sich daran gehalten und um ehrlich zu sein, habe ich mir noch keine Gedanken gemacht, was ich tue, wenn er es mal nicht tut. Vermutlich das Taschengeld kürzen, Hausarrest, oder seinen Laptop wegschließen.“ Er machte eine kurze Atempause. „Luca möchte nicht mit Samthandschuhen angefasst werden und ich habe vor, ihm diesen Gefallen zu tun.“ „Wie geht es mit Nina und dir weiter. Es hat sich schließlich eine Menge verändert. Du hast jetzt einen Sohn“, fuhr Klara fort. Peter seufzte. „Was wird das hier? Ein Verhör?“ Die Frau schüttelte ihren Kopf. „Ich will nur wissen, wie sich die Dinge verändert haben. Planst du immer noch, Nina zu heiraten?“ Die junge Frau hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund, während Peter eine Grimasse schnitt und seiner Mutter einen verdutzten Blick zuwarf. „Woher weißt du das jetzt schon wieder?“ Klara deutete auf die Schublade hinter ihr. „Du bist mein Sohn. Ich kenne dich. Außerdem hast du vor ein paar Monaten einen Ring gekauft und ihn darin versteckt.“ Nina besaß den Anstand, zu erröten, während Peter sich sichtbar nervös die Haare aus dem Gesicht strich. „Es geht nicht mehr nur um mich. Ich muss auch an meinen Sohn denken.“ Oh nein, dachte Luca, so kam sein Vater ihm nicht davon. Er mochte es nicht, als Ausrede, wofür auch immer, benutzt zu werden. Dazu kam, dass er immer noch etwas wütend auf Peter war, weil er sich die Namen von Wagner geholt hatte, obwohl Luca ihn mehrfach gebeten hatte, die Sache auf sich beruhen zu lassen. „Ich habe kein Problem damit, aber „Mum“ werde ich sie nicht nennen“, warf er ein, „Versteh mich nicht falsch. Ich mag Nina, wirklich. Aber sie ist nun einmal nicht meine Mutter.“ Hätte Luca nicht gewusst, dass die beiden sich liebten, hätte er das sicher nicht getan. Aber er war ja nicht blind und die Blicke, die die beiden sich zuwarfen, mehr als eindeutig. Schon mehrfach hatte er sich gefragt, ob er Nicholas auch so ansah. War es deshalb so offensichtlich für die anderen gewesen? Schwerfällig erhob Peter sich und lief zur Kommode, wo er einen der Kästen aufzog und ein kleines Schachtelchen herausholte. Dann ging er zurück zu Nina. „Eigentlich sollte das Ganze etwas anders laufen, aber meine Mutter hat das erfolgreich ruiniert. Das wird der mieseste Heiratsantrag überhaupt.“ Er öffnete das Schachtelchen. Zum Vorschein kam ein silberner Ring, der mit einem dunkelblauem Edelstein verziert war. Luca wusste nicht, wie man ihn nannte, zweifelte aber keine Sekunde daran, dass er echt war. Peter kniete vor Nina auf den Teppich. „Willst du mich heiraten?“ „Da fragst du noch?“ Die junge Frau wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. „Natürlich will ich das.“ Kapitel 88: Ein Schreck für Peter --------------------------------- Nachdem sich die anfängliche Aufregung über den Hei-ratsantrag wieder gelegt hatte, wurden die Geschenke ausgeteilt. Dazu verschwand Nicholas noch einmal kurz nach Hause, da er seines noch zu Hause stehen hatte. Luca holte inzwischen seine aus seinem Zimmer. Für seine Großeltern hatte er schnell noch welche besorgt, als er erfahren hatte, dass sie ebenfalls kamen, genauso für Ninas Eltern. Da sie wieder gegangen waren, brauchte er sie ihnen nicht zu geben. Ein wenig ärgerte er sich, Geld für ihr Geschenk ausgegeben zu haben. Aber er musste es ihnen ja nicht schenken. Genauso gut konnte er sie jemand anderem geben. Als er wieder im Wohnzimmer war, hörte er, wie Nicholas seine Jacke an die Garderobe hängte und sich wieder neben ihm niederließ. Auch die anderen setzten sich. Seine Großeltern begannen, die Geschenke auszuteilen, danach Peter und Nina und zum Schluss Luca und Nicho-las. So viele Geschenke wie an diesem Abend hatte Luca in seinem ganzen Leben noch nie bekommen. Mehrfach stiegen ihm die Tränen in die Augen. Er bekam neue Klamotten, Süßigkeiten und von seinem Vater ein neues Handy. Aber am meisten freute der Blonde sich über Nicholas‘ Geschenk, einen Bilderrahmen, der ein Foto von ihm und dem Schwarzhaarigen enthielt. Es musste aufgenommen worden sein, als sie bei Nicholas Flaschendrehen gespielt hatten, denn Luca konnte einen Teil der Flasche auf dem Bild erkennen. Auf dem Foto hatte er seine Augen geschlossen und schlief mit dem Kopf auf Nicholas Schoß. Der Schwarzhaarige schaute ihn beinahe schon liebevoll an. Auch Nicholas betrachtete sein Geschenk, ehe er leicht lächelnd meinte. „Da hatten wir wohl dieselbe Idee.“ Luca nickte und nachdem er sich artig für alle Geschenke verpackt hatte, zog er sich mit Nicholas auf sein Zimmer zurück. Das Handy schloss er gleich ans Ladegerät an, da-mit er es gleich morgen testen konnte. Heute hatte er keine Lust mehr dazu. Danach stellte er den Bilderrahmen gut sichtbar auf den Schreibtisch. Dieser und ein Teil der anderen bestellten Möbel, darunter auch das Bett, waren in den letzten Tagen eingetroffen. Der Teppich war eben-falls bereits verlegt und die Wände hatte Luca mit Hans‘ Hilfe schon vor Tagen gestrichen. Noch sah es in dem Zimmer etwas chaotisch aus, da noch nicht alle Möbelstü-cke aufgebaut waren, aber das störte Luca nur wenig, schließlich war das kein Dauerzustand. Wenn Hans nach seinem Urlaub im neuen Jahr wiederkam, würde er sich um die restlichen Möbel kümmern, falls er sie bis dahin nicht selbst mit Nicholas aufgebaut hatte. Nicholas hatte es sich inzwischen auf dem Bett gemütlich gemacht und winkte ihn auffordernd heran. Das ließ Luca sich nicht zweimal sagen. Zügig kletterte er zu seinem Freund ins Bett und ließ sich neben ihm nieder. Allerdings blieb er nicht lange liegen, dann beugte er sich über den Schwarzhaarigen und küsste ihn. Sofort erwiderte Nicholas den Kuss und zog ihn näher an sich heran, bis Luca auf ihm lag, ohne den Kuss zu unter-brechen. Mit einer geschickten Drehung tauschte der Schwarzhaarige ihre Positionen und kniete jetzt über ihm. Er beugte sich zu Luca hinunter und küsste ihn erneut. Dabei begannen seine Hände, über den Körper des Blon-den zu wandern. Eigentlich hatte Luca das nicht im Sinn gehabt, als er Ni-cholas geküsst hatte. Aber es fühlte sich gut an, weswegen er seinen Freund weitermachen ließ. Er wusste, Nicholas würde nichts tun, was er nicht wollte. Einzig seine Unerfahrenheit und die daraus resultierende Angst, etwas falsch zu machen, machte ihn etwas nervös. Er wusste nicht, wohin mit seinen Händen. War es ok, wenn er Nicholas anfasste? Da ihm nichts Besseres einfiel, legte er dem Schwarzhaarigen die Arme um den Hals und begann, dessen Haaransatz zu kraulen. Nicholas ließ sich davon nicht stören. Die Hände, die ihn zuerst nur durch die Kleidung hindurch berührt hatten, schoben sein Oberteil ein Stück nach oben und begannen, über seine Haut zu fahren. Kurz erstarrte Luca. Es war ihm unangenehm seinem Freund so ausgeliefert zu sein. Außerdem hatte er nicht damit gerechnet. Der Schwarzhaarige hielt inne. „Alles in Ordnung?“, fragte er besorgt. Mit einer Hand strich er ihm der seiner blon-den Locken aus dem Gesicht. „Geht schon.“ Luca atmete ein paar Mal tief durch. Lang-sam beruhigte er sich wieder. Obwohl er keine Angst hatte, raste sein Herz, als wäre er einen halben Marathon gelaufen. Ihm war warm und seine Haut kribbelte an den Stellen, an denen Nicholas ihn berührt hatte. „Mach weiter“, forderte er seinen Freund auf, als dieser ihm nur weiterhin über Gesicht und Haare streichelte. Besorgt musterte der Schwarzhaarige ihn. „Bist du sicher? Wir können auch aufhören, wenn es dir nicht gefällt.“ Wenn er so weiterredete, ruinierte er noch die ganze Stimmung. Luca wollte nicht aufhören. Er wollte weiter-machen, weswegen er sich von der Matratze abdrückte und Nicholas‘ Lippen mit seinen verschloss. Es dauerte nicht lange und sie küssten sich wieder innig. Nicholas‘ Hände begannen, erneut über seinen Körper zu wandern, zuerst auf den Klamotten, dann fuhren sie da-runter. Diesmal wusste Luca, was kommen würde und war darauf vorbereitet, weswegen er besser reagierte. Der Schwarzhaarige schob sein Oberteil noch weiter nach oben, so dass sein gesamter Bauch- und Brustbereich freigelegt war. Dann nahm er Lucas Hände und legte sie gegen seinen Oberkörper. Der Blonde verstand sofort, was sein Freund von ihm wollte und begann vorsichtig, dessen Körper zu erkunden. Nach und nach wurde er mutiger. Die Bewegungen wur-den sicherer und er ließ seine Hände ebenfalls unter den Pullover seines Freundes gleiten. Als er darunter eine weitere Stoffschicht spürte, wohl ein T-Shirt, schob er dieses ebenfalls zur Seite. Nicholas‘ Haut fühlte sich warm unter seinen Fingern an. Luca fiel auf, dass praktisch sein gesamter Oberkörper, außer den Armen, freigelegt war, er von seinem Freund aber nichts sehen konnte. Entschlossen packte er den Saum von Nicholas‘ Pullover und zog daran. In den Filmen sah das so einfach aus. Aber das war es nicht. Seine Finger zitterten und er brauchte mehrere Anläufe, nur um es immer noch nicht zu schaffen. Am Ende hatte Nicholas Erbarmen mit ihm und zog sich das Kleidungsstück über den Kopf und ließ es achtlos auf den Boden fallen. „Das T-Shirt auch“, verlangte Luca. „Hast du sonst noch irgendwelche Wünsche?“ Nicholas grinste ihn keck an, kam der Aufforderung aber nach. Das T-Shirt landete neben dem Pullover auf dem Boden. Luca kam gar nicht mehr aus dem starren heraus. Er hatte gewusst, dass der Schwarzhaarige gut gebaut war, aber so gut… Er sah seinen Freund zum ersten Mal seit dem Flaschendrehen oben ohne und konnte die Augen nicht mehr von ihm nehmen. In den Sportumkleiden hatte er sich nie getraut, den Schwarzhaarigen anzusehen, aus Angst, nicht mehr mit dem starren aufhören zu können. „Gefällt dir, was du siehst?“, neckte Nicholas ihn. Stumm nickte der Blonde. Er war nicht sicher, ob er in der Lage gewesen wäre, zu sprechen. Erneut nahm Nicholas Lucas Hände. Diesmal platzierte er sie auf seiner Brust. Dann beugte er sich nach unten und küsste ihn. Zuerst auf den Mund, dann auf der Brust. Langsam küsste er sich in Richtung von Lucas Bauchnabel. Der Blonde krallte seine Finger in das lange Haar seines Freundes. Es fühlte sich so gut an. Luca hörte, wie die Tür geöffnet wurde und sein Vater zu sprechen begann: „Nina hat gerade die Bowle-“ Weiter kam der Mann nicht. Sichtbar erschrocken starrte er auf das Bild, das sich ihm bot. Mit geweiteten Augen, aufge-klapptem Mund und die Hand noch immer am Türgriff, starrte Peter die beiden an. „Wo bleibst du denn?“, rief Nina hinter ihm. Schnelle schritte näherten sich dem Mann und die junge Frau er-schien neben ihm in der Tür. „Oh…“ Erst jetzt bemerkte Luca, in welcher Situation er sich be-fand. „Dad!“, rief er erschrocken, ehe er schnell von sei-nem Freund wegruckte und seinen Pullover wieder nach unten zog. Er wusste nicht, wer roter war, er oder sein Vater. „Entschuldige“, brachte Peter nach einen Augenblick des Schweigens mühsam über die Lippen, „Ich hätte klopfen sollen.“ „Das wäre wohl besser gewesen“, antwortete Nicholas. Ihn schien das Ganze aber wenig zu stören. Neben Peter begann Nina leise zu lachen, woraufhin die anderen drei sie verdutzt anblickten. „Was ist daran so lustig?“, wollte Peter wissen, dem die Situation sichtbar peinlich war. „Jetzt stell dich mal nicht so an“, meinte die junge Frau, „Es ist doch nichts weiter passiert. Stell dir mal vor, du hättest die beiden beim Sex erwischt!“ Peter stöhnte genervt auf: „Daran will ich gar nicht den-ken!“ Luca vergrub sein Gesicht in Nicholas‘ Halsbeuge, in der Hoffnung, so verstecken zu können, wie peinlich ihm das Ganze war. Nina ließ sich nicht weiter davon stören. „Ich habe vorhin die Bowle aus dem Kühlschrank geholt, falls ihr auch ein Glas möchtet“, sagte sie, als sei nichts vorgefallen. Kapitel 89: Ein etwas anderer Weihnachtsbaum -------------------------------------------- Wenige Tage später waren Luca und Nicholas bei Rebecka zum Kekse backen eingeladen, da ihre Eltern den Tag bei Bekannten verbrachten und Rebecka die Erlaubnis be-kommen hatte, die Küche zu verwenden. René und die Zwillinge würden ebenfalls dort sein. Das Geld für die Zutaten teilten sie unter sich auf. Rebecka war einkaufen gewesen und hatte Mehl, Zucker, Eier, Butter und alles, was man sonst noch so brauchte, gekauft. Lust hatte Luca eigentlich keine dazu, aber er wollte auch nicht absagen, weswegen er einfach mitging. Außerdem würde es ihm guttun, aus dem Haus zu kom-men. Seit sein Vater ihn und Nicholas erwischt hatte, schaute der Mann ihn mit diesem seltsamen Blick an, den Luca nicht deuten konnte. Die Geschenke hatten sie bereits ausgetauscht. René und Rebecka hatten ihm und Nicholas einen Bowlinggutschein geschenkt, den er aber erst einlösen konnte, wenn sein Bein wieder verheilt war. Die zwei schienen sich wirklich Gedanken gemacht zu haben, was sie ihm schenken konnten. Auch wenn der Gutschein vielleicht nicht besonders persönlich war, hatte Luca sich sehr darüber gefreut. Aber er hätte sich wohl über alles gefreut, schließlich hatte er noch nie ein richtiges Weihnachtsgeschenk bekommen. Von dem Zwillingen hatte er eine Kette mit einem halben Herz als Anhänger bekommen, von dem Nicholas die zweite Hälfte besaß und dazu ein paar Feuerwerkskörper, die sein Vater argwöhnisch beäugt hatte, schließlich waren sie erst ab 18 zugelassen. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass er sie zwar anzünden durfte, aber nur unter Aufsicht Erwachsener. Vorhin hatte Nicholas Luca abgeholt, da der Blonde nicht wusste, wo seine Mitschülerin wohnte. Der Schwarzhaarige dagegen war schon mehrfach bei ihr gewesen, weswegen er den Weg mühelos fand. „Kommt rein!“ René öffnete ihnen die Tür und schon im Flur konnte Luca hören, wie Rebecka sich wieder mit den Zwillingen stritt. Sie waren also die letzten. Als sie am Wohnzimmer vorbeiliefen, fiel Lucas Blick kurz auf den bunt geschmückten Weihnachtsbaum. Kugeln aller Rot- und Goldtöne hingen an ihm, und verliehen ihm ein festliches Aussehen. In der Küche standen bereits alle Zutaten bereit und Rebecka hatte begonnen, den Teig anzurühren. Im Radio liefen Weihnachtslieder. „Na endlich“, grüßte Florian, der die Kleidung seines Bru-ders trug, sie freudig, „Ich dachte schon, ihr kommt gar nicht mehr.“ Rebecka holte mit dem Nudelholz nach ihm aus. „Die zwei sind pünktlich. Ich kann auch nichts dafür, wenn ihr eine Stunde zu früh kommt!“ Fabian streckte ihr die Zunge raus, kommentierte ihre Aussage aber nicht weiter. Stattdessen riss er unauffällig ein Stück von dem inzwischen fertigen Teig ab und steckte es sich in den Mund. „Wenn du zu viel davon isst, wird dir noch schlecht“, er-mahnte René ihn. Doch sein Grinsen im Gesicht verriet, dass er sich keine wirkliche Sorgen machte. Rebecka rollte den Teig mithilfe des Nudelholzes aus und die Freund begannen, mit den entsprechenden Ausstechformen kleine Figuren daraus zu stecken und sie auf ein Backblech zu legen. Am Anfang lief es noch recht gut, die Zwillinge quatschten fröhlich und naschten ab und an von dem Teig. Aber nach den vierten Blech schienen sie langsam die Geduld zu verlieren. Zuerst klauten sie sich gegenseitig die Ausstechformen, dann bewarfen sie sich mit Teig. Als Florian dann etwas später das Mehl über seinem Bruder ausschüttete und sich dabei auch selbst bekleckerte, wurde es Rebecka zu viel. „Raus“, schrie das Mädchen und deutete auf die sich hin-ter ihr befindenden Balkontür. Als die Zwillinge nicht re-agierten, riss sie dir Tür aus und schob sie hindurch. „Und jetzt macht euch sauber!“ Danach schloss sie die Tür wie-der und sperrte die beiden Chaoten somit aus. Sofort klopfte Fabian gegen die Tür. „Lass uns rein! Es ist kalt“, rief er. Rebecka ignorierte ihn einfach, während dich auf Renès Gesicht ein Grinsen bildete. „Ich wäre dafür, die beiden noch eine Weile draußen zu lassen.“ Fünf Minuten später hatten sich die Zwillinge dann von dem Mehr befreit und Rebecka ließ sie wieder in die Kü-che. Inzwischen waren die Plätzchen im Ofen, weswegen René begann, etwas aufzuräumen. Die Zwillinge verzogen sich ins Wohnzimmer, was viel-leicht auch besser so war. Sie hätten die anderen sonst nur an ihrer Arbeit gehindert. Auch zum Verzieren der Kekse kamen sie nicht mehr zu-rück. Es holte sie aber auch keiner. Luca konnte sich schon denken, warum, und dazu musste er kein Hellseher sein. Die beiden hätten den bunten Zuckerguss nämlich nicht nur auf den Keksen verteilt, wo er hingehörte sondern in der ganzen Küche und die Schokostreusel ebenfalls. Nachdem alle Plätzchen verziert waren, half Luca Rebecka noch, Tisch und Schränke abzuwischen und das benutzte Geschirr abzuwaschen, da nicht alles in den Geschirrspüler durfte. Nicholas ließ sich auf einen der Stühle fallen und beobachtete seinen Freund beim Arbeiten. René tat es ihm gleich. „Schön macht ihr das“, sagte er, als sie etwa die Hälfte geschafft hatten. Rebecka warf ihm einen bösen Blick zu, erwiderte aber nichts. Luca schaute zu Nicholas, der ihn leicht anlächelte, wie als wolle er ihn provozieren. Das ließ der Blonde sich nicht zweimal sagen. Er zog seinen Freund aus dem Stuhl an das Waschbecken und drückte ihm ein Wischtuch in die Hand. „Abtrocknen“, befahl er beinahe schon und hielt ihm ein Backblech hin. Der Schwarzhaarige brummte etwas Unverständliches, kam der Aufforderung aber nach. „Wenigstens bin ich jetzt nicht mehr der einzige Pantoffelheld“, neckte René seinen besten Freund, woraufhin dieser das Wischtuch nach ihm warf. René fing es gekonnt auf. „Und womit willst du jetzt ab-trocknen?“, fragte er mit einem breiten Grinsen. Daraufhin entriss Nicholas ihm das Wischtuch wieder. „Du könntest auch mit helfen“, ermahnte Rebecka ihren Freund, woraufhin René sich gespielt schwerfällig erhob. Zu viert dauerte es nicht lange, dann war die Küche wie-der sauber. Rebecka seufzte erschöpft und lief ins Wohnzimmer, wohl um den Zwillingen mitzuteilen, dass sie jetzt fertig waren. Weit kam sie allerdings nicht. In der Tür blieb sie stehen, schaute für einen Augenblick verdutzt in den Raum, ehe sie anfing, zu toben: „Ich glaub, ich spinne!“ Sofort eilte René zu ihr. Nicholas und Luca folgten ihm. Es dauerte nicht lange, da hatte der Blonde entdeckt, was seine Klassenkameradin so aufgeregt hatte. Die schönen, bunten Kugeln waren vom Weihnachtsbaum verschwun-den. Stattdessen hingen mehrere Dutzend Kondome, glücklicherweise alle noch originalverpackt, am Baum. Nicholas lachte und auch auf Lucas Gesicht bildete sich ein Lächeln, obwohl er das Ganze etwas peinlich fand. René schlenderte auf den Baum zu und betrachtete die kleinen Verpackungen. „Die sind noch gut“, meinte er, nahm eine Packung und deutete auf die Stelle, an der die Zwillinge mit Klebeband einen Faden befestigt hatten. „Typisch Mann“, seufzte Rebecka, „Nur das Eine im Kopf!“ „Wäre doch Verschwendung, sie nicht zu verwenden“, verteidigte René sich. Rebecka wandte sich an die Zwillinge. „Ihr bringt das jetzt sofort wieder in Ordnung. Wenn meine Eltern das se-hen…“ „Ist doch nicht weiter schlimm“, meinte Florian, „Sie wis-sen schließlich, dass du mit René Sex hast.“ „Das ist noch lange kein Grund, Kondome an den Weih-nachtsbaum zu hängen!“ „Sag bloß, du magst euer Weihnachtsgeschenk nicht.“ Fabian täuschte Traurigkeit vor und fuhr sich mit den Hän-den über die Augen, fast so als würde er weinen. Da war er mit der Kette und den Feuerwerkskörpern ja noch gut weggekommen, stellte Luca fest, wagte aber nicht, es auszusprechen. Die Zwillinge könnten das sonst als Herausforderung betrachten und das wollte er vermeiden. „Hängt es einfach wieder ab, Jungs. Ok?“, bat Rebecka Florian und Fabian. Die Beiden schauten sich kurz an, hoben synchron die Schultern und machten sich zu Lucas Überraschung tat-sächlich daran, den Baum wieder in seine Ursprungszu-stand zu versetzen. Kapitel 90: Vater-Sohn-Gespräch ------------------------------- Am folgenden Abend saß Luca vor seinem Laptop. Er war froh, im Informatikunterricht gelernt zu haben, wie man Computer verwendete. So musste er keinen fragen, wie er funktionierte, was ihm sehr peinlich gewesen wäre. Nicholas hatte ihm noch ein paar Programme installiert, von denen er gemeint hatte, Luca würde sie brauchen, unter anderem Skype. So konnten sie abends chatten, wenn sie sich nicht sahen. So richtig wusste Luca mit dem Laptop nichts anzufangen. Bis jetzt hatte er nie einen besessen. Er konnte nicht nachvollziehen, wie es manche Menschen fertig brachten, den ganzen Tag vor dem Bildschirm zu sitzen. Ihm war schon nach zwanzig Minuten langweilig. Keiner seine Freunde war online, aber er hatte momentan auch nicht viele, nur Nicholas, René und Rebecka. Er wusste, dass die Zwillinge ebenfalls Skype verwendeten, kannte ihre Benutzernamen jedoch nicht. Eine Weile begnügte er sich mit den Spielen, die sich standartmäßig auf jedem Computer befanden, dann fuhr er ihn herunter und klappte ihn zu. Dann schnappte er sich sein Handy und ließ sich damit auf das Bett fallen. Peter hatte eine andere Marke gekauft, wie er vorher besessen hatte, weswegen er etwas suchen musste, bis er die entsprechenden Funktionen fand. Aber das störte ihn nicht weiter. Sein neues Handy war um ein Vielfaches schneller als das Alte. Außerdem würde er sich schon daran gewöhnen. Die Tür wurde leise geöffnet und sein Vater lugte ins Zim-mer. „Kann ich reinkommen?“ Wollte er nach der Erfahrung zu Weihnachten nicht an-klopfen? Das galt wohl nur, wenn Nicholas zu Besuch war. Oder Peter hatte es vergessen. „Ja“, antwortete Luca und setzte sich auf. Das Handy legte er auf den Nachttisch. Peter betrat das Zimmer und ließ sich neben ihm auf das Bett nieder. „Ich möchte mit dir reden.“ „Worum geht es?“ Ein kleinwenig verunsicherte diese Aussage Luca. Hatte er etwas falsch gemacht? Ihm fiel nichts ein, aber das musste nichts bedeuten, schließlich könnte es auch sein, dass er es nicht bemerkt hatte. „Es geht um dich und Nicholas“, meinte sein Vater, nach-dem er kurz geschwiegen hatte, „besser gesagt um eure Beziehung.“ Wie sollte er diese Aussage verstehen? Was wollte Peter damit sagen? Soweit Luca wusste, hatte er sich an alle von dem Mann aufgestellten Regeln gehalten. Oder ging es um etwas anderes? War sein Vater, nachdem er ihn und Nicholas zu Weihnachten erwischt hatte, nicht mehr mit ihrer Beziehung einverstanden? Peter, der den verunsicherten Blick seines Sohnes gesehen hatte, beruhigte ihn schnell: „Versteh mich nicht falsch. Ich habe nichts gegen eure Beziehung.“ Erleichtert atmete Luca aus. Ihm kam ein Gedanke. „Ist es, weil du uns letztens unterbrochen hast?“, fragte er, „Du kannst mich seitdem nicht mehr ansehen.“ Sein Vater nickte. „Auch…“ „Mir ist das Ganze auch peinlich. Aber wie Nina gesagt hat, hätte es schlimmer kommen können, immerhin waren wir beide noch untenrum bekleidet.“ Luca war, nachdem er eine Weile darüber nachgedacht hatte, zu dem Schluss gekommen, dass seine zukünftige Stiefmutter recht hatte. Es war besser, sein Vater erwischte ihn jetzt, als später irgendwann mal, wenn er und Nicholas weiter gingen. Das würde nämlich ein ganzes Stück peinlicher werden. Peter seufzte: „Das ist dumm gelaufen, das gebe ich zu. Ich sollte in Zukunft wirklich klopfen, bevor ich dein Zimmer betrete. Aber darüber wollte ich nicht mit dir sprechen. Mir geht es um etwas anderes.“ Fragend blickte Luca den Mann an. Wenn es nicht darum ging, worum dann? Was hatte noch mit seiner Beziehung zu Nicholas zu tun, über das sein Vater sprechen wollen könnte? „Ich will mich nicht in eure Beziehung einmischen und es geht mich auch nichts an, was ihr miteinander tut oder auch nicht tut, solange ihr es beide auch wollt“, fuhr Peter fort. Ein ungutes Gefühl überkam den Siebzehnjährigen. Meinte sein Vater das, was Luca dachte, dass er meinte? Der Mann reichte ihm eine kleine, weiße Plastiktüte. Verwirrt nahm Luca sie entgegen und nachdem er festge-stellt hatte, dass nichts Zerbrechliches in ihr war, schüttete er den Inhalt auf sein Bett. Zum Vorschein kam eine kleine Pappschachtel mit einem bunten, nicht definierbaren Bild und ein Behälter, der eine durchsichtige Flüssigkeit beinhaltete und irgendwie einem Seifenspender ähnelte, aber ein ganzes Stück schlanker war. „Dad“, empörte sich Luca, nachdem er begriff, was sein Vater ihm da gegeben hatte und der erste Schock verflo-gen war. Er konnte förmlich spüren, wie er rot anlief, so peinlich war es ihm. Am liebsten wäre er im Boden ver-sunken, so peinlich war es ihm. Hatte jemand eine Schau-fel für ihn? Das Loch konnte er sich auch selbst buddeln! „Ich will noch nur sicher gehen, dass ihr euch schützt“, verteidigte sich Peter. Auch ihm schien die Sache unange-nehm zu sein. Luca wusste nicht, was er denken oder fühlen sollte. Na-türlich fand er es nett von seinem Vater, dass er sich Sor-gen um ihn machte. Aber das wäre wirklich nicht nötig gewesen. Wie sollte er seinen Vater danach je wieder in die Augen sehen können, ohne hieran denken zu müssen? Sein Schweigen schien Peter zu beunruhigen. „Oder ist es zu spät? Hast du schon mit Nicholas?“ Mit immer noch einem deutlichen Rotschimmer auf den Wangen schüttelte Luca den Kopf. Eigentlich ging das seinen Vater nichts an, aber er war momentan nicht in der Verfassung, den Mann darauf hinzuweisen, weswegen er die Frage einfach beantwortete, in der Hoffnung, dass es bald vorbei war und er sich für den Rest des Tages in seinem Bett verkriechen konnte und so tun, als sei das alles nur ein schlechter Traum gewesen. „Mit jemand anderem?“, bohrte Peter, spürbar unsensi-bel, weiter, „Willst du dich testen la-“ „Dad“, unterbrach Luca seinen Vater energisch. Ihm war klar, dass Peter nur gut mit ihm meinte, aber was zu viel war, das war zu viel. Das würde jetzt zwar peinlich werden, aber danach war die Sache hoffentlich erledigt. Leise begann er, zu erklären: „Ich bin mir ziemlich sicher, dass zum Übertragen von Geschlechtskrankheiten Sex erforderlich ist. Ein Test ist deshalb überflüssig.“ Zuerst schaute Peter ihn verwirrt an, dann verstand er, was Luca gerade versuchte, ihm zu erklären. „Oh“, mur-melte der Mann. Luca nickte. „Ich habe bis jetzt weder mit Nicholas noch mit jemand anderem Sex gehabt. Auch, wenn du uns an Weihnachten nicht unterbrochen hättest, hätten wir nicht miteinander geschlafen.“ Er schnappte sich die zwei Behälter, die auf seinem Bett lagen, und warf sie zurück in die Plastiktüte. Diese wickelte er darum, damit man den Inhalt nicht mehr erkennen konnte. Dann zog er die unterste Schublade seines Nachttisches auf und schob die Tüte in die hinterste Ecke. Dort war sie hoffentlich für die nächste Zeit sicher, bis er sie irgendwann brauchte. „Da war ich wohl etwas übereilig“, meinte Peter. Daraufhin warf Luca ihm einen genervten Blick zu, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen. Jetzt, wo er über ihre Situation nachdachte, fand er sie einfach nur noch komisch. „Wenn es dich beruhigt, dann verspreche ich, dass wir uns schützen, wenn es so weit ist.“ Es schien seinen Vater wirklich zu beruhigen, denn auf seinem Gesicht bildete sich ein Lächeln. „Ich mache mir doch nur Sorgen um dich“, erklärte er. Der Siebzehnjährige erwiderte nichts. Er hätte auch nicht gewusst, was er sagen sollte. Aber Peter schien auch keine Antwort zu erwarten. Er ließ seinen Blick durch das zur Hälfte eingerichtete Zimmer schweifen. Dann sah er auf die Uhr. „Nina wird das Essen gleich fertig haben. Es gibt Lasagne. Magst du Lasagne?“ „Keine Ahnung, ich hatte noch keine.“ Luca hob die Schul-tern. So froh er um einen Themawechsel war, das musste es auch nicht sein. „Aber vermutlich schon.“ Peters Gesichtszüge froren ein. Betroffen sah er zu Boden. Dann zog er seinen Sohn in eine Umarmung. Luca, der damit nicht gerechnet hatte, zuckte zusammen, lehnte sich aber gleich darauf gegen seinen Vater. „Es tut mir so leid“, flüsterte er, die Umarmung verstär-kend. Der Siebzehnjährige schüttelte seinen Kopf, wissend, dass sein Vater es spüren konnte. „Nicht deine Schuld. Du konntest es nicht wissen.“ Kapitel 91: Wieder in der Schule -------------------------------- Am ersten Morgen nach den Ferien wurde Luca von Nicholas abgeholt. René, der sonst immer mit Nicholas zusammen zur Schule fuhr, hatte bei Rebecka übernachtet und würde heute nicht dabei sein. Im Gegensatz zu früher hatte der Blonde Schwierigkeiten gehabt, aus dem Bett zu kommen. Das lag wahrscheinlich daran, dass er seit Ende November nicht mehr in der Schule gewesen war. Glücklicherweise hatte er seine Sachen schon am Abend fertig gemacht, weswegen es schnell ging. In der Küche wartete Ute bereits mit einer gut gefüllten Brotbüchse auf ihn. „Für den Tag“, meinte sie. „Das wäre nicht nötig gewesen“, antwortete Luca sofort. Er fühlte sich unwohl dabei, dass die Frau ihm sein Essen für die Schule angerichtete hatte. Allerdings wollte er auch nicht undankbar wirken, weswegen er die Brotbüchse entgegennahm und in seinen Rucksack stopfte. Die Flasche Wasser für den Tag hatte er bereits gestern hineingetan. Danach wollte er die Küche wieder verlassen, doch Ute stellte sich ihm mit verschränkten Armen in den Weg. „So nicht, Junge. Erst isst du etwas.“ Luca seufzte. Ihr jetzt zu widersprechen war sinnlos, weswegen er sich ein Brötchen vom Tisch nahm und es mit Nutella bestrich. Dazu trank er ein Glas Milch. Erst als er fertig war, durfte er die Küche verlassen. Zügig humpelte er durch den Flur, obwohl er sein gebrochenes Bein inzwischen wieder belasten konnte, und zog sich unter Utes wachsamen Augen Jacke, Stiefel, Mütze und Schal an. Nur auf Handschuhe durfte er verzichten. Vor der Tür wartete Nicholas bereits auf ihn. „Guten Morgen“, grüßte der Schwarzhaarige ihn und Ute, die hinter ihn in den Flur getreten war. „Morgen“, antwortete Luca, ehe er die Tür schnell hinter sich zuzog, aus Angst, der Frau könnte noch etwas einfallen, was er vergessen haben könnte. Es hatte in der Nacht etwas geschneit, weswegen die Gärten von einer schönen, weißen Schicht überzogen waren, die den alten, grauen Schnee verbarg. Der Räumdienst war bereits gefahren, weswegen die Straßen größtenteils wieder frei waren. Der Bus hatte auch nur zwei Minuten Verspätung. An der Haltestelle hatten sie Thomas getroffen, der Luca gegrüßt hatte. Dabei hatte er die ganze Zeit zu Nicholas gesehen, als habe er Angst, der Schwarzhaarige könnte ihn jede Sekunde anspringen. „Wie waren eure Ferien?“, versuchte Thomas, ein Gespräch zu beginnen. „Ganz ok“, meinte Nicholas. Von den Zwischenfällen erzählte er nichts. Luca war froh darüber, antwortete aber trotzdem wahrheitsgemäß. Thomas wusste es, also brauchte er es nicht zu verschweigen. „Ich glaube, das waren die ersten Ferien, die ich genossen habe.“ Thomas grinste. „Du hattest ja auch den ganzen Monat frei. Kein Wunder, dass es dir gefallen hat!“ „Hey“, empörte er sich der Blonde, „Die Hälfte davon habe ich im Krankenhau oder im Bett verbracht!“ Er war überrascht, wie leicht es ihm inzwischen fiel, mit seinem Klassenkameraden zu sprechen. Früher hatte er immer Angst vor ihm gehabt, nicht so viel wie vor Jochen, aber genug, um ihm nicht begegnen zu wollen. Andererseits hatte Thomas auch eine sehr große Wandlung hingelegt. Wüsste Luca nicht, dass er immer noch derselbe ist, würde er ihn für eine andere Person halten, einen verschollenen Zwilling oder so. Zwar ließ er sich immer noch nicht gerne von ihm anfassen und wich zurück, wenn Thomas ihm zu nahe kam, aber er hatte keine Angst mehr vor ihm. „Gibst du mir deine Handynummer?“, fragte Thomas. Damit hatte Luca nicht gerechnet, aber er hatte sich schnell wieder gefasst. So ungewöhnlich war die Frage dann auch wieder nicht, Nicholas hatte seine Nummer schließlich auch haben wollen, nur unerwartet. Er zog sein neues Handy aus der Hosentasche und reichte es Thomas. Das würde schneller gehen, als wenn er die Nummer selbst heraussuchte, vor allem, da er in der Bedienung noch unsicher war und sich nicht blamieren wollte. Es dauerte nicht lange, dann hatte Thomas gefunden, was er suchte. „Viele Kontakte hast du aber nicht“, stellte er fest. „Ich hab das Handy ja auch erst seit Weihnachten!“, verteidigte sich Luca, „Außerdem: Wen soll ich noch einspeichern?“ Er hatte wirklich nicht viele, nur Nicholas, René, Rebecka, die Zwillinge, seinen Vater und Nina. „Ich speicher dir meine Nummer mit ein“, meinte Thomas, woraufhin Luca nur nickte und wartete, bis sein Klassenkamerad ihm das Handy zurückgab, damit er es wieder wegpacken konnte. Auf dem Schulgelände trafen sie die Zwillinge, die sich gerade mit ein paar Mitschülern aus anderen Klassen eine Schneeballschlacht lieferten. Als sie Luca erblickten, begrüßten sie ihn stürmisch. „Lange nicht mehr gesehen“, grüßte Fabian ihn grinsend. Nicholas schnitt eine Grimasse. „Ihr habt euch doch vor einer Woche erst gesehen.“ Fabian verschränkte gespielt beleidigt die Arme vor der Brust. „Das war letztes Jahr.“ Im Klassenzimmer angekommen hängte Luca seine Jacke auf und ließ sich auf seinen Platz neben Nicholas fallen. Seine Mitschüler, die schon da waren, schauten zuerst ihn, dann seine Krücken an, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder etwas anderem widmeten. So interessant schien er dann doch nicht zu sein, was Luca freute, immerhin hatte er von den Gerüchten gehört, die umhergegangen waren. Eines der Mädchen, das oft mit Leonie abhing, kam auf Luca zu und musterte ihn. „Irgendwie hast du dich verändert.“ Luca kommentierte das nicht weiter. Was hätte er auch sagen sollen? Der Blick der Mitschülerin blieb auf seinem Pullover hängen, den sie sich genau ansah. Luca wollte schon fragen, ob er irgendwo einen Fleck hatte, da grinste sie plötzlich: „Ich war vor Weihnachten shoppen und dreimal darfst du raten, in welchem Schaufenster ich deinen Pullover gesehen habe.“ Sie seufzte und schaute ihn gespielt mitleidig an. „Nur leider waren die Klamotten in dem Geschäft so teuer, dass sie sich kein Normalsterblicher leisten kann.“ Leonie, die in den letzten Minuten das Zimmer betreten haben musste, schaute ihn zuerst überrascht an, dann härtete sich ihr Gesichtsausdruck und sie setzte ihr übliches, überlegenes Grinsen auf. „Mich würde interessieren, wie du an die Klamotten herangekommen bist. Deine Eltern verdienen bei weitem nicht gut genug, um sich solche Klamotten leisten zu können. Letztes Jahr bist du nur in billigen, abgetragenen Sachen herumgelaufen und plötzlich kannst du dir Markenklamotten leisten, da ist doch etwas faul.“ „Ich wüsste nicht, was dich das angeht“, antwortete Luca. Er versuchte, selbstsicher zu wirken, war sich aber nicht sicher, ob er es auch schaffte. „Wir sind schließlich keine Freunde.“ Für einen Augenblick war die Blondine sprachlos. Sie öffnete ihren Mund und schloss ihn wieder, ohne etwas gesagt zu haben. Allerdings hatte sie sich schnell wieder gefangen, zu schnell für Lucas Geschmack. „Da fällt mir ein, ging nicht letztes Jahr das Gerücht herum, deine Eltern säßen im Knast?“ Luca hob die Schultern. Nicholas stand neben ihm, was ihn die Kraft gab, sich Leonies Spott diesmal nicht gefallen zu lassen. Allerdings musste er gar nicht antworten, das übernahm Thomas für ihn. „Tu uns allen einen Gefallen und halt die Klappe, bevor ich nachhelfe!“ Leonie schnappte erschrocken nach Luft: „Was hast du gerade gesagt?“ Einige ihrer Mitschüler schauten zu ihnen herüber, neugierig, was wohl los war. „Ich dachte, du willst dich raushalten?“, warf René ein. Der Blonde wusste nicht, wann er gekommen war, nur dass er und Rebecka plötzlich hinter ihm gestanden hatten. Thomas schaute ihn einen Augenblick lang an, dann hob er die Schultern. „Das war, bevor ich alle Informationen hatte“, meinte er locker. Leonie schnaubte und warf Luca einen abschätzenden Blick zu. „War ja klar, dass du dich von der Schwuchtel verführen lässt…“ So schnell konnte sie gar nicht reagieren, da hatte Nicholas sie bereits am Kragen gepackt und gegen die Wand gestoßen. Dabei ging er nicht gerade behutsam mit ihr vor. „Ich sage es nur noch ein Mal: Lass Luca in Ruhe.“ „Und was, wenn nicht?“, provozierte Leonie ihn. Doch Nicholas ließ sich davon nicht weiter beeindrucken. Ruhig, beinahe schon zu ruhig, entgegnete er: „Du hast dir jemanden zum Feind gemacht, gegen den du keine Chance hast, und wenn du Luca auch nur noch einmal belästigst, wird dieser Jemand dich zur Rechenschaft ziehen.“ Kapitel 92: Ein guter Start --------------------------- Leonie schluckte, zeigte sonst aber keine Regung. „Und wer soll dieser Jemand sein?“ „Lucas Vater“, antwortete Thomas ihr, „Peter Mertens.“ Im Zimmer war es still. Einige konnten mit dem Namen nichts anfangen, das bemerkte Luca sofort. Andere hatten ihn schon einmal gehört, konnten ihn aber nicht zuordnen. Nur die wenigsten wussten, wer sein Vater war, darunter fast nur Mädchen. „Das erklärt die Klamotten“, meinte eine seiner Mitschülerinnen, ehe sie sich wieder ihren Freundinnen zuwandte. Für sie war das Thema erledigt. Leonie dagegen starrte zuerst Thomas dann Luca an. In ihrem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Unglauben und Wut. „Das kann nicht sein! Davon hätte ich gewusst!“, beharrte sie. Luca hob die Schultern, ehe er ihr gespielt gelassen in die Augen sah. Nicholas‘ Hand auf seiner Schulter gab ihm die Kraft, die er brauchte. Er war aufgeregt. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und sein Mund fühlte sich an, als hätte er seit Tagen nichts mehr getrunken. Leise, aber deutlich sagte er: „Ich wiederhole mich nur ungern. Es geht dich nichts an. Halte dich aus meinem Privatleben heraus. Ich schulde dir weder eine Erklärung, noch muss ich mich vor dir rechtfertigen. Du warst diejenige, die nichts mehr mit mir zu tun haben wollte, nur weil ich schul bin. Dann steh ich eben auf Kerle, na und? Deswegen bin ich noch lange kein anderer Mensch. Das zeigt nur, was du für eine oberflächliche, falsche Schlage bist.“ Leonie errötete. Sie öffnete den Mund, um zu widerspre-chen, brachte aber kein Wort heraus. Fassungslos starrte sie ihn an. Thomas, der ebenfalls überrascht war, sich jedoch schnell wieder gefasst hatte, lachte laut los. „Das hättest du nicht treffender ausdrücken können.“ Die Zwillinge grinsten ebenfalls, ehe sie sich ansahen und begannen, sich gegenseitig wie eine Schlange anzuzischen. „Idioten“, murmelte Rebecka, meinte es aber nicht wirk-lich so. Leonie holte aus, um Luca eine Ohrfeige zu verpassen, doch Nicholas fing ihre Hand ab, bevor sie auch nur in die Nähe des Blonden kam. „Habe ich mich eben nicht klar genug ausgedrückt?“, fragte er. Der Schwarzhaarige griff nach ihrem Handgelenk, umschloss es mit seiner Hand und drückte zu. Der Blondine stiegen die Tränen in die Augen, als sie versuchte, sich aus dem Griff zu befreien, es aber nicht schaffte. Verzweifelt riss sie an ihrem Arm, aber Nicholas‘ Hand bewegte sich nicht einen Millimeter. „Was glaubst du…“, begann er. Seine Stimme klang be-drohlich und die grünen Augen blitzten gefährlich. Einen Augenblick lang glaubte Luca, ein Raubtier stände an sei-ner Stelle. Nicholas‘ gesamte Körperhaltung hatte etwas gefährliches, raubtierhaftes. Wie eine Raubkatze, die ihre Beute betrachtete, schaute er Leonie an. „Was glaubst du, wie lange würde ich wohl brauchen, um dir jeden deiner jämmerlichen Knochen in deinem Arm zu brechen? Drei Minuten? Fünf?“ Obwohl Luca wusste, dass der Schwarzhaarige nur bluffte, lief es ihm eiskalt den Rücken herunter. Im Augenwinkel sah er, wie Thomas einen Schritt zurückwich. Er zweifelte keine Sekunde daran, dass Nicholas seine Drohung auch in die Tat umsetzen könnte, wenn er es wollte. Inzwischen liefen Leonie die Tränen ungehemmt übers Gesicht. „Bitte.“ Leise schluchzte sie auf. „Ich tu es auch nie wieder.“ Vor ein paar Wochen hätte Luca noch geglaubt, so etwas wie Genugtuung zu empfinden. Doch da war nichts. Nichts außer Lehre. Er kein Mitleid mit ihr, noch genoss er es, sie leiden zu sehen. Es war ihm schlicht und einfach egal. „Verschwinde“, sagte er leise. Nicholas ließ sie los. Nur leider hatte sie so stark an ihrem Arm gezogen, dass sie das Gleichgewicht verlor und der Länge nach auf den Boden fiel. Schnell sprang sie wieder auf und stürmte aus dem Zimmer. Danach war es still, bis Thomas das Schweigen brach. „Ge-schieht ihr recht“, meinte er leise. Keiner widersprach ihm. Die Tür wurde geöffnet und eine Frau mittleren Alters in Jeans und Bluse betrat das Zimmer. Ihre recht auffälligen, roten Locken hatte sie im Nacken zusammengebunden. Augenblicklich verstummte die Klasse und schaute die Frau an, so auch Luca. Zuerst war er verwundert, da er die Frau nicht kannte. Er beobachtete, wie sie durch das Zim-mer lief und ihre Handtasche auf den Lehrertisch stellte. Dann wandte sie sich an die Klasse: „An alle, die mich noch nicht kennen: Mein Name ist Jessica Spierling. Ich bin ab heute eure Mathelehrerin.“ „Ich habe gehört, sie ist die richtige Lehrerin“, flüsterte René leise zu Rebecka, war aber so laut, dass Luca es pro-blemlos verstehen konnte, „Sie hat ein Kind bekomme, weswegen Peters für sie eingesprungen ist.“ „Ihr hattet es nicht ganz einfach, immerhin musstet ihr schon einmal den Lehrer wechseln. Ich hoffe, das hat sich nicht allzu sehr auf den Zeitplan ausgewirkt.“ Frau Spier-ling schlug das Klassenbuch auf und nahm den Sitzplan heraus, den sie kurz studierte. „Ich bitte euch, die Sitzordnung beizubehalten, bis ich mir eure Namen gemerkt habe. Dann könnt ihr euch setzen, wie ihr wollt.“ Ein kleinwenig verwunderte Luca diese Aussage. Bis jetzt hatte jeder seiner Lehrer darauf bestanden, dass sie sich an den Sitzplan hielten, aber wenn die Frau meinte… Nachdem die Lehrerin die Anwesenheit mithilfe des Sitz-planes überprüft hatte, wandte sie sich wieder an die Klasse. „Da wir uns noch nicht kennen, habe ich eine Kleinigkeit mitgebracht.“ Sie hielt einen Stapel kleiner Kärtchen hoch. „Hier sind einige Aufgaben aus den Abiturprüfungen der letzten Jahre, die schon beherrschen müsstet, immerhin habe ihr alles schon behandelt.“ Die Klasse stöhnte auf. Einige der Mitschüler verzogen sogar ihre Gesichter. Doch das schien Frau Spierling nicht weiter zu stören. Munter und gut gelaunt schaute sie in die Klasse. „Es kommt immer ein Schüler an die Tafel und löst eine Auf-gabe. Gibt es Freiwillige?“ „Die hat wohl zu viel Kaffee getrunken“, maulte Florian, woraufhin sein Bruder lachte, „Wie kann man so früh schon so drauf sein?“ Wie erwartet meldete sich keiner. Die Frau nahm das Locker. „Wer ist der oder die Beste hier?“, fragte sie. „Luca“, riefen die Zwillinge synchron. Einige der Mitschüler nickten zustimmend. Der Blonde seufzte. Irgendwie war ihm klar gewesen, dass es dazu kommen würde. Das Glück stand schließlich nur sehr selten auf seiner Seite. Frau Spierling wies mit einem Lächeln auf die Tafel. „Dann kommt Luca jetzt vor und löst die erste Aufgabe.“ Seufzend erhob Luca sich, griff nach seinen Krücken und humpelte zur Tafel. „Was ist denn mit Ihnen passiert?“, fragte die Frau als er neben ihr stand und die Aufgabe entgegennehmen sollte. „Autounfall“, antwortete Luca knapp. Alles andere ging sie nichts an. Die Lehrerin nickte, ehe sie die Kärtchen in ihrer Hand aufreihte wie einen Fächer und ihm mit der Rückseite nach oben hinhielt. „Dann ziehen Sie mal eine Aufgabe.“ Luca tat wie geheißen und zog eines der Kärtchen, was sich mit den Krücken als gar nicht so einfach herausstellte, und warf einen kurzen Blick darauf. Frau Spierling sah es sich ebenfalls an. „Die ist ziemlich schwer. Wenn Sie wol-len, können Sie noch mal ziehen“, meinte sie. „Passt schon“, entgegnete der Blonde. So schwer war die Aufgabe auch wieder nicht. Er würde es schon irgendwie hinbekommen. Er wandte sich zur Tafel, lehnte seinen Krücken dagegen, immerhin brauchte er sie nicht mehr zu Stehen, und begann, zu schreiben. Wie die Frau schon gesagt hatte, war die Aufgabe nicht gerade leicht. Dazu kam, dass er keinen Taschenrechner benutzen durfte, also alles im Kopf machen musste. Trotzdem schaffte er es, sie zu lösen. Er brauchte zwar deutlich länger als bei den Aufgaben, di er gewohnt war, und notierte sich mehr Zwischenschritte als sonst, aber er schaffte es. Frau Spierling klatschte in die Hände. „Nicht schlecht.“ Sie reichte ihm das nächste Kärtchen. Sollten sie nicht jeder eine Aufgabe lösen, wunderte Luca sich, sagte aber nichts. Er nahm das zweite Kärtchen ent-gegen und machte sich ans Rechnen. So ging es weiter, bis es klingelte. „Sie haben nicht zufällig Interesse am Leistungskurs, oder?“, erkundigte Frau Spierling sich mit offener Neugier. Luca hob die Schultern. Darüber hatte er sich noch keine Gedanken gemacht. In letzter Zeit waren immer andere Dinge wichtiger gewesen. Er wollte gerade zurück an sei-nen Platz humpeln, da sah er im Augenwinkel, wie die Frau ihm eine Eins eintrug. Da er nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte, tat er, als hätte er es nicht bemerkt. Das war vielleicht auch besser so. Er wollte nicht, dass die Anderen unnötig neidisch auf ihn waren. Kapitel 93: Die Vorladung ------------------------- Der Rest des Tages verlief relativ unspektakulär. Im Unterricht behandelten sie nichts neues, worüber Luca recht froh war. Er hatte sich die Themen der letzten Wochen zwar erarbeitet, aber eine Wiederholung war selten falsch. Die Zwillinge machten ihre üblichen Scherze und ärgerten Rebecka, bis sie ihnen wieder eines ihrer Bücher über den Kopf zog. Nicholas brachte ihn noch bis nach Hause. Diesmal begleitete sie auch René. Die Sonne hatte fast ununterbrochen geschienen, weswegen der Schnee auf Straßen und Wegen fast vollständig getaut war. Nur noch dir Gärten waren von der weißen Schicht bedeckt. Luca war das ganz recht. So kam er schneller vorwärts, da er nicht ständig aufpassen musste, nicht auszurutschen, und behinderte die anderen nicht so sehr. Nach einer Weile verabschiedete René sich und bog in eine Einfahrt ab. „Bis morgen!“, rief er den beiden noch zu, dann stellte er seinen Rucksack vor der Haustür ab und holte einen Schlüssel heraus. Nicholas brachte den Blonden noch bis vor die Haustür, wo er ihn verabschiedete, da er noch ins Training musste. „Ich hole dich morgen früh wieder ab“, sagte er, ehe er sich zum Gehen wandte. „Tschüss, bis morgen“, antwortete Luca ihm. Eigentlich hatte er vorgehabt, auf sein Zimmer zu gehen, aber als eine schwarze Katze an ihm vorbeilief, überlegte er es sich anders. Er schloss die Tür auf und stellte seinen Rucksack in den Flur. Den Schlüssel tat er in die Jackentasche. Dann schaute er sich nach der Katze um. Im weißen Schnee hatte er die schwarze Katze schnell gefunden. Sie war inzwischen in den Garten gelaufen. Durch den hohen Schnee kam sie allerdings nur sehr schlecht voran. In der zum Haus seines Vaters gehörenden und zur Hälfte überdachten Sitzecke hinter der Garage blieb sie stehen. Sie leckte sich die Pfoten und sprang auf den an der Wand stehenden Plastiktisch. Luca nutzte das, um aufzuholen. Es dauerte nicht lange, da hatte er den Garten durchquert. Langsam lief er auf den Tisch zu und streckte die Hand nach der Katze aus. Erst jetzt bemerkte er, dass es sich um ein Kätzchen handelte. Der Größe nach musste es im Oktober geboren worden sein, war also für ein Kätzchen schon älter. Neugierig kam es auf ihn zu und schnupperte an seiner Hand. Wem es wohl gehörte? Das Kätzchen stellte sich aus sehr verschmust heraus. Kaum war Luca ihm mit der Hand über den Kopf gefahren, fing es an zu schnurren und sich an ihm zu reiben. Es war nicht ganz schwarz, wie Luca zuerst geglaubt hatte. Pfoten, Hals und Gesicht waren weiß. Außerdem hatte es einen dünnen, weißen Ring am Schwanz. Luca fuhr darüber, um sich zu vergewissern, dass er auch wirklich echt war. Als er etwas später zurück zum Haus ging, folgte das Kätzchen ihm. Am liebsten hätte er es mit in sein Zimmer genommen, aber das wäre wohl nicht so gut gewesen. Er wusste nicht, was sein Vater oder Nina von Katzen hielten, vielleicht war einer der beiden auch allergisch. Außerdem gehörte das Kätzchen sicher jemandem und würde nur vermisst werden. Trotzdem tat es ihm leid, dem Kätzchen die Tür vor der Nase zuschlagen zu müssen, vor allem, da es draußen noch relativ kalt war. Der Siebzahnjährige warf noch einen kurzen, bedauernden Blick zur Tür, dann schnappte er sich seinen Rucksack und ging in die Küche. Jacke, Mütze und Schal hängte er an die Garderobe. Auch die Stiefel zog er aus. In der Küche war es ruhig. Ute schien nicht da zu sein, denn auf dem Tisch stand ein Zettel, der ihn darauf hinwies, dass er sein Mittagessen im Kühlschrank finden würde. Luca seufzte. Es war nach Vier, für Mittagessen also zu spät. Außerdem war er von der reichlich gefüllten Brotbüchse noch immer satt. So satt, dass er heute Abend eigentlich nichts mehr brauchte. Trotzdem würde er eine Kleinigkeit essen, und wenn es nur der Höflichkeit wegen war. Da er nichts Besseres zu tun hatte, humpelte er in dein Zimmer und klappte seinen Laptop auf. Nicholas hatte ihm die Skype-Nutzernamen von Julian und Benni gegeben, also machte er sich daran, die zwei zu suchen und zu seinen Kontakten hinzuzufügen. Das ging schneller, als er gedacht hatte. Leider war keiner der beiden online, weswegen er auf die Bestätigung warten musste. Er spielte noch etwas mit den Funktionen des Laptops, um sich an ihn zu gewöhnen, bis er das Auto seines Vaters in die Einfahrt fahren hörte. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es band Essen geben würde, weshalb er den Laptop zuklappte und langsam in Richtung Küche lief. Er schaffte es bis ins Wohnzimmer. Dort saß sein Vater auf dem Sofa mit nachdenklichem Gesichtsausdruck und ein paar Unterlagen in der Hand. Als der Mann ihn bemerkte, winkte er ihn heran. Etwas verwirrt, was sein Vater von ihm wollte, kam Luca der Aufforderung nach und ließ sich neben ihm auf das Sofa nieder. Peter reichte ihm einen Briefumschlag. „Der ist für dich eingegangen. Es wird die Vorladung wegen deiner Aussagen gegen Sonja und Jochen sein.“ Luca nahm den Umschlag entgegen. Vorsichtig öffnete er ihn und faltete den Inhalt auseinander. Er überflog ihn, bis er das Datum fand. „So schnell schon?“, murmelte er, mehr zu sich selbst, da ihm vermutlich jeder Termin zu früh gewesen wäre. Wenn es nach ihm ginge, würde er sich den beiden nicht stellen, zumindest nicht in diesem Jahr. Aber er musste gegen sie Aussagen, ob er wollte oder nicht. Die Einladung war verbindend. Mit zitternden Händen reichte er den Brief seinem Vater. Peter las ihn gründlicher, als Luca es getan hatte. Als er fertig war, meinte er: „Ich werde dich für den Tag in der Schule freistellen lassen.“ Der Siebzehnjährige nickte. Das würde nötig sein, er konnte sich schließlich nicht zweiteilen. Sein Vater reichte ihm einen weiteren Zettel. „Ich habe einen meiner Anwälte auf Schmerzensgeld schreiben lassen. Es ist deine Entscheidung, ob ich ihn versende. Du solltest dir nur nicht zu viel Zeit lassen. Er muss noch vor dem Gerichtstermin eingehen.“ Luca nickte, unsicher, was er erwidern sollte. Darüber hatte er bis jetzt noch nicht nachgedacht. Er war so froh gewesen, endlich von Jochen und Sonja weg zu sein, dass er fast alles, was mit ihnen zu tun hatte, verdrängt hatte. Zwar hatte er mit seinem Vater und Nicholas darüber gesprochen, hatte aber nie tiefgründig darüber nachgedacht. „Alternativ könntest du es auch bei der Verhandlung verlangen“, fuhr Peter fort, „Aber ich glaube, so ist es besser. Du wirst dann nervös genug sein. Da brauchst du das nicht auch noch.“ Je länger Luca nachdachte, desto sicherer wurde er sich. Was hatte er schon zu verlieren? Mehr als nicht bekommen konnte er das Geld nicht. Einen Versuch war es wert. Außerdem war es nicht so, als täten ihm Sonja oder Jochen leid. „Schick es ab“, sagte er deshalb und reichte es seinem Vater zurück. Dabei fiel sein Blick auf die Unterlagen, die dieser noch in der Hand hielt. Als er die Überschrift des oben liegenden Formulars las, rutschte ihm der Zettel aus der Hand. Verblüfft starrte zuerst das Schriftstück, dann seinen Vater an. „Also“, begann Peter, „das…“ Noch nie zuvor hatte Luca seinen Vater sprachlos gesehen. Selbst als er erfahren hatte, dass er nichts mit Mädchen anfangen konnte, nicht. „Ich habe gedacht, du könntest das vielleicht wollen. Wenn Nina und ich heiraten, nimmt sie meinen Namen an und es wäre schön, wenn du das auch tun würdest“, erklärte der Mann sich, „Ich weiß, du willst nichts mehr mit Sonja und Jochen zu tun haben und auch nicht an sie erinnert werden. Da dachte ich, es wäre vielleicht besser, wenn dein Name es auch nicht mehr tut. Du bist natürlich nicht gezwungen, meinen Namen anzunehmen, und wenn du das nicht willst, ist es auch in Ord-“ Weiter kam er nicht, denn Luca war ihm stürmisch um den Hals gefallen. Der Antrag auf das Schmerzensgeld fiel ein weiteres Mal zu Boden, doch im Moment interessierte das den Siebzehnjährigen nicht. „Danke“, sagte er leise. Lachend erwiderte Peter die Umarmung. „Noch ist der Antrag nicht genehmigt, aber ich bin mir sicher, dass wir das durchbekomme werden. Du hast genügend Gründe, deinen Namen zu ändern.“ „Danke“, wiederholte Luca. Er wusste nicht, was er sonst sagen sollte, wie er sonst zum Ausdruck bringen konnte, wie viel es ihm bedeutete. Kapitel 94: Peter wird wütend ----------------------------- Die Zeit verging schneller, als es Luca lieb war. Der Gerichtstermin rückte immer näher. Inzwischen hatte sein Vater ihn für den Tag von der Schule freistellen lassen, schließlich musste er erscheinen, auch wenn er es vorgezogen hätte, an diesem Tag in die Schule zu gehen. Nicholas hatte ebenfalls eine Vorladung bekommen, was den Blonden nicht sonderlich wunderte, und René auch. Luca hatte sie darum gebeten, niemandem davon zu erzählen, und wenn sie es doch mussten, dann nur das Nötigste, woran sie sich glücklicherweise bis jetzt gehalten hatten. So wussten Rebecka und die Zwillinge zwar, dass sie eine Vorladung bekommen hatten, aber nicht, worum es ging. Es war nicht so, dass Luca seinen Freunden nicht vertraute. Er mochte es nicht, bemitleidet zu werden. Die Blicke, die ihm Thomas und René zuwarfen und die Vorsicht, mit der sie ihn behandelten, empfand er schon als störend genug. Da mussten die anderen es nicht auch noch tun. Nur Nicholas behandelte ihn normal, wofür er seinem Freund wirklich dankbar war. Vor zwei Tagen war er endlich den Gips losgeworden. Nur leider waren die Muskeln in seinem Bein inzwischen so sehr abgebaut, dass er fast nichts mehr damit anfangen konnte. Der Arzt hatte ihm wegen seiner Berührungsängste und Angst vor fremden Menschen ein Heftchen gegeben, in denen verschiedene Übungen erklärt wurden, mit denen er das Bein wieder fit bekam. Es würde anstrengend werden und er stand momentan etwas wackelig, aber er würde es wieder hinbekommen. Da er es in seinem Zimmer nicht mehr aushielt, machte er sich auf den Weg nach draußen. Ohne Krücken, denn die brauchte er nicht mehr. Im Moment trug er noch einen Stützverband, aber auch den würde er bald los sein. Gern hätte er Nicholas besucht, aber der Schwarzhaarige machte gerade seinen Führerschein, weswegen er gerade in einem Zimmer der Fahrschule saß und den Theorieteil über sich ergehen ließ. Luca hatte beschlossen, noch etwas zu warten. Er wäre momentan eh nicht in der Lage, ein Auto ordentlich zu fahren, dazu war er noch viel zu Schreckhaft. Vor der Tür blieb er kurz stehen und schaute in den Garten, um zu sehen, ob das Kätzchen, dass er in der letzten Zeit immer gestreichelt hatte, da war. Es dauerte nicht lange, dann hatte er es gefunden. Wie schon in den letzten Tagen saß es in der Sitzecke auf dem Tisch. Als es Luca erblickte, kam es auf ihn zugelaufen. Vorsichtig, schließlich wollte er sein Bein nicht gleich wieder verletzen, hockte er sich und hielt dem Kätzchen seine Hand hin. Es schnupperte kurz daran, denn begann es zu schnurren und sich an ihr zu reiben. „Der Kleine hat es dir ziemlich angetan, was?“, hörte er eine Stimme zu seiner Linken. Erschrocken fuhr Luca zusammen und schaute auf. Auf dem Nachbargrundstück, etwa zwei Meter von ihm entfernt, stand ein älterer Mann. Mit einer Hand stützte er sich an den Zaun, in der anderen hielt er einen Gehstock. „Wo hast du denn deine Gehhilfen gelassen?“, fragte der Mann. Luca erhob sich wieder, das Kätzchen, dass ihm um die Beine strich ignorierend, und schaute den Mann an. Seiner Äußerung nach hatte er ihn wohl schon das eine oder andere Mal gesehen. „Ich brauch sie nicht mehr“, beantwortete er die Frage. Dem Kätzchen schien es nicht zu gefallen, dass er es nicht mehr beachtete. Es maunzte, ehe es sich noch stärker an seinen Beinen rieb. Luca, der das aufdringliche Verhalten niedlich fand, lächelte und nahm das Kätzchen auf den Arm. Er kraulte es am Kopf, was es mit einem lauten Schnurren belohnte. „Du willst ihn nicht behalten, oder?“, wollte der Mann nach einer Weile wissen, schien das aber nicht negativ zu meinen, sondern nur neugierig zu sein. Verwirrt schaute der Siebzehnjährige den Mann an. Hatte er das gerade richtig verstanden? „Meine Minka hat letzten Herbst Junge bekommen. Alle bis auf ihn bin ich losgeworden“, erklärte der Mann schmunzelnd. Hinter Luca trat Hans, in seinen üblichen Arbeitsklamotten, aus dem Haus. So ganz wusste Luca nicht, was er tat, denn er drehte auf halber Strecke um und stürmte auf den Siebzehnjährigen zu. „Elendes Mistvieh!“, rief er, so laut, dass Luca zusammenfuhr. Das Kätzchen erschrak und sprang aus seinen Armen. Es flitzte ein paar Meter, ehe es stehen blieb und zu Hans schaute. Einen Augenblick lang wusste Luca nicht, wie ihm geschah. Er sah das Auto, das um die Ecke bog und er sah Hans, der mit erhobener Faust auf das Kätzchen zustürmte. „Nicht!“, rief Luca er erschrocken. Das Auto fuhr am Grundstück vorbei, mit Sicherheit schneller, als erlaubt war. Das Kätzchen blieb regungslos auf der Straße liegen. Luca war wie erstarrt. Nur mit Mühe konnte er sich dazu überwinden, den Blick nicht abzuwenden und auf das Kätzchen zuzugehen. Er hörte, wie die beiden Männer sich lautstark stritten, beachtete sie aber nicht weiter. Zögerlich streckte er seine Hand nach dem Kätzchen aus. Es lebte noch. Er sah, wie sein Brustkorb sich regelmäßig hob und senkte. Als der Siebzehnjährige es vorsichtig berührte, maunzte es leise. So schwer schien es nicht verletzt zu sein, zumindest äußerlich. Allerdings war Luca weder ein Arzt, noch konnte er abschätzen, welche inneren Verletzungen das Kätzchen haben könnte. „Was ist denn hier los?“ Die wütende Stimme seines Vaters riss ihn aus den Gedanken. Luca wusste nicht, wann Peter von der Arbeit gekommen war. Er wusste nur, dass er auf einmal in der Einfahrt stand. Sichtbar gereizt ging er auf Hans und den alten Mann zu. „Hast du nichts zu tun oder warum brüllst du hier so herum?“, fuhr er seinen Angestellten an. Betreten senkte Hans den Blick. „Ich- die Katze“ „Die Katze?“, wollte Peter erbost wissen, „Du machst hier so einen Aufstand wegen einer Katze?“ Luca sah zurück zu dem verletzten Kätzchen. Behutsam, er wollte ihm schließlich nicht wehtun, nahm er es auf den Arm. Dann lief er langsam zu seinem Vater. Als Peter ihn erblickte, wurden seine Gesichtszüge sanfter. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, als der alte Mann ihm ins Wort fiel. „Ihr Angestellter hat meine Katze in ein Auto gejagt!“ Hans warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Jetzt stellen Sie sich mal nicht so an. Der Katze geht es gut.“ Er streckte seine Hand nach dem Kätzchen aus. „Wag es nicht“, zischte Luca, wütend über das Verhalten des Mannes, „Du hast ihm schon genug wehgetan!“ Peters Blick verfinsterte sich. „Gut sieht anders aus! Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du die Katzen in Ruhe lassen sollst? Wenn du damit nicht klarkommst, dann such dir einen anderen Job!“ Erleichtert atmete Luca auf. Einen Augenblick lang hatte er befürchtet, Peter könnte ihm übelnehmen, dass er seinen Angestellten so angefahren hatte. Er schien sich jedoch nicht weiter an der Reaktion des Siebzehnjährigen zu stören. Oder er befand sie im Moment als unwichtig. Der Siebzehnjährige schaute zurück zum Kätzchen. Es brauchte einen Tierarzt, da war er sicher, allerdings wusste er nicht, wie es zu einem kommen sollte. Ihm blieb nur die Möglichkeit, seinen Vater um Hilfe zu bitten. Hans stritt wieder lautstark mit dem Nachbarn, Peters Mahnung ignorierend. Kurz zögerte Luca, dann griff er mit einer Hand nach dem Ärmel seines Vaters und schaute ihn bittend an. Er hoffte, dass das genügte, dass sein Vater verstand, was er wollte, ohne dass er es aussprechen musste. Er war sich nicht sicher, ob er es gekonnt hätte. Einerseits fühlte er sich unwohl dabei, seinen Vater darum zu bitten. Peter hatte schon so viel für ihn getan. Es war undankbar, noch mehr von ihm zu verlangen. Luca konnte sich jedoch auch nicht einfach abwenden, ohne dass er es später bereuen würde. Peter sah ihn an, zuerst leicht verwundert, dann wurde sein Blick wieder ernst. Es schien, als würde er die unausgesprochene Bitte seines Sohnes ablehnen, Luca rechnete schon fast damit, doch dann seufzte er leise. „Ich hole die Autoschlüssel.“ Er wandte sich an seinen Angestellten: „Und du gehst nach Hause. Ich will heute nichts mehr von die hören.“ Mit schnellen Schritten lief Peter zur Haustür. Hans sah ihm einen Augenblick lang hinterher, dann wanderte sein Blick zu Luca. Wütend starrte er den Siebzehnjährigen an, ehe er ebenfalls ins Haus marschierte. Luca nahm sich vor, ihm in den nächsten Tagen besser aus dem Weg zu gehen. Kapitel 95: Beim Tierarzt ------------------------- Es dauerte nicht lange, dann kam Peter wieder. In einer Hand hielt er die Autoschüssel, in der anderen einen Korb und eine kleine Decke. Er eilte zum Auto, wo er die Sachen achtlos auf den Beifahrersitz fallen ließ, ehe er sich hinters Steuer setzte. Luca war etwas verwundert. Bis jetzt hatte er nie gesehen, dass sein Vater selbst gefahren war, er hatte das immer von Sebastian fahren lassen. Aber er sagte nichts. So abwegig war es dann auch wieder nicht, dass er auch einen Führerschein hatte. Eigentlich war das sogar wahrscheinlicher, als dass er keinen hatte. Außerdem kannte er ihn noch nicht lange genug, um sich wirklich sicher sein zu können. Vor ihm hielt Peter den Wagen und öffnete von innen die Beifahrertür. Der Mann legte die Decke in den Korb und stellte ihn auf seine Beine. Er wartete, bis Luca auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, ehe er ihm den Korb auf die Beine stellte, damit der Siebzehnjährige das Kätz-chen hineinlegen konnte. Vorsichtig hob Luca das Kätz-chen in den Korb, er wollte ihm schließlich nicht wehtun. Dann schloss er die Tür. „Dir ist aber klar, dass es sein kann, dass er Tierarzt nichts mehr tun kann, oder?“, fragte Peter vorsichtig. Der Siebzehnjährige nickte. Damit hatte er von Anfang an gerechnet. Allerdings hoffte er, dass dem nicht so war. In den letzten Tagen und Wochen war ihm das Fellknäul ziemlich ans Herz gewachsen. Peter gab Gas und fuhr aus der Ausfahrt. Wenig später bog er nach links auf die Hauptstraße ab. Luca achtete nicht wirklich auf den Weg. Immer wieder wanderte sein Blick in den Korb auf seinen Beinen. Das Kätzchen lag darin, ohne sich zu rühren, nur manchmal hob es seinen Kopf etwas. Vorsichtig strich er ihm durch das Fell, in der Hoffnung, es würde das Kätzchen etwas beruhigen. Sein Vater hielt direkt vor der Tierarztpraxis. „Geh schon mal rein, ich komm gleich nach", meinte er. Schweigend kam Luca der Aufforderung nach. Noch bevor er sich Gedanken darüber machen konnte, wie er die Tür öffnete, ohne das Kätzchen irgendwo abzusetzen, tat es ein anderer. Ein junger Mann mit einem Dalmatiner an der Leine kam ihm entgegen. Als den Blonden und das Kätzchen erblickte, hielt er ihnen die Tür auf. „Danke", sagte Luca und trat ins Wartezimmer. Überrascht stellte er fest, dass keiner außer ihm dort war. Eine Frau mittleren Alters in weißer Kleidung begrüßte ihn freundlich und warf einen Blick in das Körbchen. „Das sieht nicht gut aus. Was ist denn passiert?" „Ins Auto gerannt", murmelte Luca leise, doch sein Gegenüber schien ihn trotzdem verstanden zu haben, denn sie lächelte ihn aufmunternd zu: „Dann wollen wir uns meinen Patienten mal ansehen. Bist du allein hier?" Luca schüttelte den Kopf. „Mein Vater kommt gleich." Als hätten sie sich abgesprochen, trat in diesem Moment Peter durch die Tür. Die Tierärztin, zumindest ging Luca davon aus, dass sie das war, schaute ihn etwas verwundert an. Anscheinend hatte sie ihn erkannt. Der Mann wechselte ein paar Worte mit ihr, auf Luca nicht weiter achtete, zu sehr hatte er seinen Blick auf das Kätzchen fixiert. „Dann gehe ich mal mit meinem Patienten ins Behand-lungszimmer. Möchten Sie mitkommen und die Behand-lung durchsprechen?", fragte die Veterinärmedizinerin. Peter schaute zu seinem Sohn, ehe er den Kopf schüttelte und antwortete: „Ich glaube, es ist besser, wenn wir draußen warten. Tun Sie, was Sie können. Geld spielt keine Rolle." Die Frau nickte. „Ich muss ihn röntgen und wahrscheinlich auch operieren. Das wird dauern. Am besten rufe ich Sie an, wann Sie ihn wieder abholen können." „Das wäre wohl das Beste", stimmte Peter zu. Er griff in die Brusttasche seines Anzughemdes und reichte ihr eine Visitenkarte, auf die er vorher noch mir Kugelschreiber seine private Telefonnummer geschrieben hatte. „Wie hoch stehen die Chancen, dass Sie ihn wieder hinbekom-men?" „Ganz gut, glaube ich", sagte die Frau, „Allerdings kann ich dazu noch nichts Genaueres sagen und versprechen möchte ich auch nichts. Sobald ich es weiß, werde ich mich bei Ihnen melden." Luca wusste nicht, ob sie alle ihre Kunden so behandelte oder ob das Geld seines Vaters sie zu einer Sonderbehandlung verleitet hatte, aber dieses Mal war es ihm egal. Hauptsache er erfuhr bald, wie es um das Kätzchen stand. Luca und sein Vater verabschiedeten sich von der Frau, ehe sie sich auf den Rückweg machten. Den Korb ließen sie bei der Tierärztin. Schweigend fuhren sie wieder nach Hause. „Ich werde mit Hans reden, damit so etwas nicht mehr vorkommt", versprach Peter, als sie an seinem Haus angekommen waren und er das Auto auf dem Grundstück parkte, „Nina hat sich auch schon ein paar Mal über dieses Verhalten beschwert. Wenn das nichts bringt, werde ich mir wohl einen neuen Gärtner und Hausmeister suchen müssen." Der Siebzehnjährige hob die Schultern. Er wusste auch nicht, wie er sich dazu äußern sollte. Einerseits freute es ihn, dass sein Vater hinter ihm stand und nicht seinem Angestellten, andererseits fühlte er sich schlecht, weil Hans sicher noch Ärger deswegen bekommen würde. Luca hatte gerade das Auto verlassen, da sah er, wie Nina das Grundstück betrat. Als die junge Frau ihn entdeckte, lächelte sie freundlich und winkte ihm zu. Peter begrüßte sie mit einem kurzen Kuss auf den Mund. „Wie war dein Tag?“, fragte er. „Eine meiner Kolleginnen ist von der Leiter gestürzt und fällt für die nächsten Tage aus“, klagte Nina, „Ich werde also ein paar Überstunden machen müssen, die ich ir-gendwann später wieder absetzen kann.“ Sie grinste ihren Verlobten an. „Was ist hier eigentlich passiert? Es ist Monate her, seit ich dich das letzte Mal selbst fahren sehen habe.“ Peter seufzte: „Hans hat es endlich geschafft, eine der Katzen in ein Auto zu jagen. Ich habe sie eben mit Luca zum Tierarzt gebracht.“ Augenblicklich verdunkelte sich Ninas Gesichtsausdruck und sie zog ihre Stirn in Falten. „Ich habe ihm doch gesagt, dass er es lassen soll. Die Tiere haben ihm nichts getan!“ „Ich habe ihn für heute nach Hause geschickt“, fuhr Peter fort, wohl um sie zu beruhigen, „Wenn es noch einmal vorkommt, kann er sich einen neuen Job suchen.“ Das heiterte die junge Frau wieder etwas auf. Zu dritt betraten sie das Haus. Im Flur roch es lecker nach Essen und Luca wusste, wenn Ute den Tisch nicht schon fertig gedeckt hatte und auf sie wartete, dann war sie gerade darüber. Er hängte also seine Jacke an die Garderobe, zog seine Hausschuhe an und ging gleich in die Küche, um zu sehen, ob er ihr noch helfen konnte. Doch kaum hatte er den Raum betreten, scheuchte sie ihn ins Esszimmer, wo der Tisch bereits vollständig gedeckt war. Allerdings nur für vier Personen, also musste sie erfahren haben, dass Hans nicht mitessen würde. Hatte sie vorhin mitbekommen, was passiert war oder hatte Hans es ihr gesagt? Vielleicht wusste sie es aber auch von Peter. Luca hätte nachfragen können, aber so wichtig erschien es ihm dann auch wieder nicht. Als Nina das Zimmer betrat, wandte sich Ute an sie. „Geht es dir wieder besser?“ Die junge Frau schnitt eine Grimasse. „Ich bin nicht krank. Ich habe mir gestern wahrscheinlich nur den Magen ver-dorben.“ Utes Blick zeigte, dass sie ihr das nicht abnahm, doch die Frau schwieg. Peter, der eine halbe Minute später das Esszimmer betrat, bemerkte nichts. Er ging auf den Tisch zu und begutachtete die Speisen, die seine Haushälterin zubereitet hatte. „Das sieht köstlich aus. Du hast dich mal wieder übertroffen, Ute“, lobte er. Die Frau lächelte. „Alter Schmeichler. Das sagst du doch jedes Mal.“ „Wenn du auch so eine hervorragende Köchin bist?“, verteidigte Peter sich. Kapitel 96: Warten und Bangen ----------------------------- Am Abend konnte Luca nicht einschlafen. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er wieder das Kätzchen verletzt auf der Straße liegen, hörte Hans‘ wütende Rufe und das vorbeifahrende Auto. Kurz überlegte er, Nicholas anzurufen. Doch als er einen Blick auf seinen Wecker warf, der anzeigte, dass es schon weit nach Mitternacht war, verwarf er den Gedanken wieder. Stattdessen schälte er sich aus der Decke, stieg in seine Hausschuhe und warf sich seinen Morgenmantel über. Leise schlich er aus seinem Zimmer, schließlich wollte er seinen Vater und Nina nicht wecken. Bemüht, keinen Laut von sich zu geben, humpelte er die Treppen hinunter. Dabei hielt er sich mit einer Hand am Geländer fest, damit er nicht versehentlich die Treppe hinunterfiel. Eine Etage weiter unten angekommen, lief er in die Küche. Dort holte er sich ein Glas aus dem Schrank und füllte es mit Leitungswasser, ehe er einen großen Schluck nahm. „Ist dir nicht gut?“, hörte er die leise Stimme seines Vaters hinter sich. Erschrocken, da er nicht damit gerechnet hatte, drehte der Siebzehnjährige sich um. Der Mann stand, ebenfalls im Morgenmantel, in der Tür und stützte sich mit einer Hand am Rahmen ab. Luca schüttelte den Kopf. „Ich kann nur nicht schlafen“, sagte er leise und stellte das Glas auf dem Schrank bene sich ab. „Wegen dem, was heute passiert ist?“, fragte Peter. Der Siebzehnjährige nickte. „Ich bekomme die Bilder nicht aus dem Kopf.“ Langsam, wohl um Luca eine Chance zu geben, ihn aufzu-halten, ging Peter auf seinem Sohn zu und zog ihn in eine Umarmung. „Ich wünschte, ich könnte dir versprechen, dass alles gut wird. Aber das kann ich nicht. Du hast die Tierärztin gehört.“ Luca nickte. Zu mehr war er nicht in der Lage. Der Kloß in seinem Hals hinderte ihn erfolgreich am Sprechen. Die Tränen, die er den ganzen Abend versucht hatte, zu ver-drängen, stiegen ihm in die Augen und er schluchzte leise. „Shhh“, flüsterte Peter, während er ihm mit einer Hand beruhigend über den Rücken strich, „Lass es raus. Es ist in Ordnung, zu weinen. Danach geht es dir besser.“ Jetzt konnte Luca sich nicht mehr bremsen. Hemmungslos begann er zu schluchzen. Er krallte sich in den Morgenmantel seines Vaters fest und lies sich gegen ihn sinken. „Du hängst sehr an dem Kätzchen, oder?“, flüsterte Peter, nachdem er sich wieder etwas beruhigt hatte. Luca nickte. Es war noch immer etwas ungewohnt für ihn von jemandem umarmt zu werden, aber langsam gewöhnte er sich daran. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sowohl er als auch sein Vater auf dem Boden knieten. Doch das schien Peter nicht weiter zu stören. Ruhig fragte er: „Möchtest du heute zu Hause bleiben?“ Die Frage verwirrte den Siebzehnjährigen. Bot sein Vater ihm gerade an, die Schule zu schwänzen? Er schüttelte seinen Kopf. „In der Schule bin ich wenigstens abgelenkt.“ „Das ist dir überlassen“, antwortete Peter, „Du weißt am besten, wie es dir geht.“ Luca löste sich von seinem Vater und als er aus dem Fens-ter sah, bemerkte er, dass es langsam zu dämmern be-gann. „Ich mach mich dann langsam fertig“, beschloss er. Es würde nichts mehr bringen, sich wieder ins Bett zu legen, selbst wenn er es doch schaffen würde, einzuschlafen. „Lass dein Handy heute an“, schlug Peter vor, während er sich wieder erhob, „Ich schreibe dir, sobald die Tierärztin angerufen hat. Aber stell es lieber auf lautlos, nicht dass es dir noch einer der Lehrer wegnimmt.“ Den letzten Satz hatte Peter in einem belustigenden Ton gesprochen. Der Siebzehnjährige vermutete, er würde also keinen Ärger bekommen, selbst wenn die Schule seinen Vater anrief, weil er mit dem Handy gespielt hatte, zumindest heute. Eine knappe Stunde später saß er mit Nina, Peter und Ute am Frühstückstisch. Die Haushälterin lud ihm gerade großzügig Rührei auf den Teller, als Nina plötzlich aufsprang und aus dem Esszimmer stürmte. Peter blickte ihr besorgt hinterher. Er wartete einen Au-genblick, doch als sie nicht wiederkam, stand er auf und verließ ebenfalls das Zimmer. Ute seufzte leise: „Ich habe ihr doch gesagt, sie soll zum Arzt gehen. Aber nein, die gute Frau ist ja kerngesund.“ „Was hat sie denn?“, fragte Luca. „Das weiß ich nicht“, antwortete Ute, „Seit ein paar Tagen erbricht sie mehrmals am Tag. Aber jedes Mal wenn ich sie darauf anspreche, sagt sie, ihr ginge es gut. Wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen, sie ist schwanger.“ Schwanger? Luca verschluckte sich an seinem Rührei und hustete laut los. „Junge“, meinte Ute leise tadelnd, „Du sollst das Ei essen, nicht auf Lunge ziehen.“ Sie klopfte ihm kräftig auf den Rücken, was nicht besonders viel brachte. Aber nach einer Weile wurde es von allein wieder besser. Luca ließ sich in seinem Stuhl nach hinten fallen und atmete tief durch. Jetzt kamen auch Peter und Nina zurück. Die junge Frau war etwas blass im Gesicht. Sie setzte sich zurück an den Tisch, wobei Peter nicht von ihrer Seite wich und nahm einen großen Schluck von ihrem Kaffee. „Und du bist sicher, dass du nicht doch zum Arzt willst?“, fragte Ute. „Mir geht es gut“, wehrte Nina sofort ab. „Du solltest dich wirklich untersuchen lassen“, meinte jetzt auch Peter. Nina stöhnte genervt auf. „Na gut. Wenn es morgen noch nicht wieder weg ist, gehe ich zum Arzt.“ Damit war das Thema beendet und die Familie widmete sich schweigend wieder ihrem Frühstück. Luca war froh, als er wenig später mit seinen Schulsachen ins Freie trat, denn auch wenn er die Nacht keine Ruhe gefunden hatte, merkte er doch langsam, wie müde er war. Die frische Luft hatte eine belebende und aufmun-ternde Wirkung auf ihn. Und als er Nicholas an der Ein-fahrt stehen sah, verbesserte sich seine Laune schlagartig. Ohne dass er etwas dagegen tun konnte, fing er an zu lächeln und ging zügig auf seinen Freund zu. „Morgen“, begrüßte Nicholas ihn. Lucas Lächeln wurde breiter. „Morgen“, antwortete er und küsste seinen Freund. Kurz überlegte er, ob er von dem Vorfall Gestern erzählen sollte, verwarf den Gedanken aber schnell wieder. Er wollte die Stimmung nicht ruinieren. Außerdem konnte er es Nicholas auch noch später sagen. Der Vertretungsplan verriet den beiden, dass sie heute in den ersten zwei Stunden selbstständig eine Aufgabe erledigen sollten. Die Tochter ihrer Französischlehrerin war anscheinend krank, weswegen die Frau den Tag zu Hause geblieben war. Eine Vertretung gab es nicht, dafür stand eine Aufgabenstellung auf dem Plan. Sie mussten im Buch einen Text durcharbeitet, einige Fragen zum Text beantworten und einen Teil übersetzen. Nächste Woche würde die Aufgabe kontrolliert werden. Froh darüber, eher wieder nach Hause zu können, lief er gemeinsam mit Nicholas zu ihrem Klassenzimmer und ließ sich auf seinen Platz fallen. Seine Freunde begrüßte er mit einem kurzen „Guten Morgen“. Hätte Nicholas am Nachmittag nicht Fahrschule und da-nach Karatetraining gehabt, hätte Luca ihn gefragt, ob er nach der Schule mit zu ihm kommen wollte. So beschränkte er sich auf den Abend. „Schläfst du heute bei mir?“ René, der die Nacht vermutlich bei Rebecka verbracht hatte, da er nicht mit ihnen im Bus gesessen hatte, lachte laut auf. An Nicholas gewandt meinte er: „Hat er dich gerade nach Sex gefragt?“ Luca, dem die Zweideutigkeit seiner Frage erst jetzt auffiel, spürte, wie er errötete. Der Schwarzhaarige verpasste seinem besten Freund eine Kopfnuss. „Das“, sagte er mit ernster Stimme, obwohl seine Mundwinkel verdächtig zuckten, „geht dich überhaupt nichts an. Ich frag dich doch auch nicht über dein Sexleben mir Rebecka aus.“ René öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Doch als er den empörten Blick seiner Freundin sah, schloss er ihn schnell wieder und wandte sich ab. Luca war froh, dass die Zwillinge noch nicht hier waren. Die zwei hätten sich sonst wahrscheinlich den ganzen Vormittag über ihn lustig gemacht. Er lehnte sich gegen seinen Freund und schloss für einen Augenblick die Augen. „Geht es dir nicht gut?“, erkundigte sich Nicholas leise. Der Blonde schüttelte den Kopf. „Nur müde“, murmelte er, „Konnte heute Nacht nicht schlafen.“ Er spürte, wie Nicholas einen Arm um ihn legte und an sich zog. „Dann schlaf. Ich bin mir sicher, Rebecka lässt und abschreiben.“ Kapitel 97: Gute Neuigkeiten ---------------------------- Erst das Vibrieren seines Handys riss Luca aus seinem Schlaf. Zuerst wusste er nicht, was ihn geweckt hatte. Außerdem verwirrte es ihn, dass er sich auf einmal in der Schule befand. Dementsprechend irritiert war sein Blick als er sich im Zimmer umsah. „Dein Handy“, sagte Nicholas, nachdem er den Blon-den eine Weile beobachtet hatte. Immer noch etwas schlaftrunken fischte Luca das Gerät aus seiner Hosentasche und schaute auf das Display. Zuerst konnte er nichts feststellen, bis ihm auffiel, dass er eine neue Nachricht hatte. Also öffnete er diese und begann zu lesen: Der Katze geht es gut. Wir können sie heute Nachmittag abholen. Erleichtert atmete Luca aus. Er spürte fast schon, wie ihm der Stein vom Herzen fiel und ein leichtes Lächeln bildete sich auf seinem Gesicht. „Gute Neuigkeiten?“, fragte Nicholas ihn. Luca nickte. Allerdings wollte er nicht weiter darauf eingehen, weswegen er das Handy abschaltete, in seinen Rucksack stopfte und sich wieder an seinen Freund lehnte. Es dauerte nicht lange, da war er wie-der eingeschlafen. „Tschüss“, verabschiedete Luca sich an der Bushalte-stelle von Nicholas. Sein Freund hatte, genau wie René, noch Fahrschule, weswegen er in die entgegengesetzte Richtung musste. „Bis heute Abend.“ Nicholas beugte sich zu ihm he-runter und hauchte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. „Bis heute Abend“, erwiderte Luca. Er hatte seinen Freunden nichts von dem Kätzchen erzählt, auch nicht Nicholas. Es war nicht so, dass er es ihnen absichtlich verschwieg, es hatte nur keine weitere Gelegenheit gegeben, in der er es hätte erwähnen können und als er die Nachricht von seinem Vater erhalten hatte, war er noch zu müde gewesen. „Ist dir nicht gut?“, fragte Thomas, der neben ihm an der Haltestelle stand. Der Blonde schüttelte den Kopf. „Bin nur müde.“ „Ach so“, meinte Thomas. Luca war froh, dass sein Klassenkamerad sich mit sei-ner Antwort zufrieden gab und nicht weiter nachbohrte. Er wollte seinen Klassenkameraden nicht anlügen müssen, aber von dem Kätzchen wollte er auch nicht erzählen. Eine Weile liefen sie schweigend nebeneinander her. „Ich habe in zwei Wochen einen Job als Model bei deinem Vater“, meinte Thomas beiläufig als sie in den Bus einstiegen. Dann schnitt er eine Grimasse. „Eigentlich soll ich mich eher umschauen, ob mir irgendwas auffällt, weil in letzter Zeit wohl ein paar von den Models abgelehnt haben, für ihn zu arbeiten. Und da ich mich damit schon auskenne war ich wohl der richtige für diesen Job.“ Der Blonde wusste nicht recht, was er darauf erwidern sollte, weswegen er sich für eine Frage entschied, mit der er wenig falsch machen konnte: „Du modelst?“ „Jo“, sagte sein Gesprächspartner grinsend, „nicht so oft, weil ich noch keine achtzehn bin und noch zur Schule gehe, aber ich hatte schon den einen oder anderen Auftrag.“ Luca beschloss, bei dem Thema zu bleiben, so konnte Thomas ihm keine unangenehmen Fragen stellen. „Macht es Spaß?“ Thomas nickte. „Ja. Sonst würde ich es schließlich nicht machen. Außerdem wird es nicht schlecht bezahlt und ich kann mir so mein Taschengeld aufbessern.“ „Klingt interessant“, meinte Luca. „Willst du es auch mal versuchen?“, fragte Thomas. Der Blonde schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass da etwas für mich ist.“ Er dachte an die Narben an seinen Handgelenken. Momentan fiel es nicht auf, dass er nur lange Sachen trug. Hoffentlich waren sie bis zum Sommer so weit verblasst, dass man sie nicht mehr sah. Er wollte nicht, dass die anderen davon erfuhren. Gemeinsam mit Thomas stieg er an der inzwischen gewohnten Haltestelle aus. Sein Klassenkamerad begleitete ihn noch ein Stück, schließlich wohnte er in der Nähe, ehe sie sich verabschiedeten. „Bis Morgen“, rief sein Klassenkamerad und hob zum Abschied noch einmal die Hand. „Tschüss“, erwiderte Luca. Dann setzte er seinen Weg fort. Bis zum Haus waren es nur noch wenige Meter. Er staunte nicht schlecht, als er das Auto seines Vaters in der Einfahrt stehen sah. Normalerweise, bis auf wenige Ausnahmen, arbeitete Peter bis kurz vor dem Abendessen. Der Siebzehnjährige hatte das Grundstück noch nicht betreten, da hörte er schon die Stimme seines Vaters. Er fand den Mann am Gartenzaun, wo er sich gerade mit dem Nachbarn unterhielt. Luca wusste, es ging ihn wahrscheinlich nichts an, trotzdem lauschte er dem Gespräch der beiden. „Da bin ich aber froh“, hörte er den Nachbarn sagen, „Es hätte weitaus schlimmer ausgehen können.“ „Eigentlich wollte ich mit Ihnen über etwas anderes sprechen“, sagte Peter. Der Nachbar nickte, woraufhin Peter fortfuhr: „Mein Sohn hängt ziemlich an der Katze, deshalb wollte ich fragen, ob es möglich ist, sie Ihnen abzukaufen.“ Luca erstarrte. Für einen Augenblick glaubte er, sich verhört zu haben. „Der Junge kann den Kleinen umsonst bekommen“, antwortete der Nachbar, „Ich habe es ihm schon an-geboten, aber er hat sich nicht dazu geäußert.“ „Sind Sie sicher?“ Peter klang verwundert. Der Nachbar lachte. „Für die anderen Kätzchen hab ich auch nichts verlangt. Ich hab Ihren Sohn gesehen, wie er mit dem Kleinen umgeht. Ein besseres Zuhause könnte ich mir nicht für ihn wünschen.“ Dem alten Mann schien bemerkt zu haben, dass Luca ihnen zuhörte, denn er schaute ihn an und lächelte. Peter folgte seinen Blick. Er schien überrascht, Luca zu sehen. „So war das nicht geplant“, sagte er halb ernst halb im Scherz, „Eigentlich sollte es eine Überraschung werden.“ „Sorry“, murmelte der Siebzehnjährige. Peter winkte ab. „Nicht so schlimm. Aber da du jetzt Bescheid weißt, kannst du mich begleiten und die Sachen für deine Katze selbst aussuchen.“ Dem hatte Luca nichts beizufügen, weswegen er seine Schulsachen schnell im Flur neben der Haustür abstellte und mit seinem Vater ins Auto stieg. Hoffentlich fuhren sie nicht wieder in so einen noblen Laden, wie den, wo er seine Schlafzimmermöbel her hatte. Denn auch, wenn er es Peter nicht sagte, war er immer noch der Meinung, dass es auch einfache Möbel getan hätten. So war das Erste, was Luca nach der viertelstündigen Fahrt tat, auf das nächstbeste Preisschild zu schauen, bevor er erleichtert ausatmete. Natürlich hatte er gewartet, bis sein Vater den Einkaufswagen holte, damit der Mann nichts davon mitbekam. Wie es schien, hatte Peter sich diesmal für einen normalen Laden entschieden. Aber vielleicht gab es auch kein Geschäft, das Luxusartikel für Tiere führte in der Nähe. Peter erkundigte sich kurz an der Kasse, wo er die gewünschten Artikel fand und ließ sich von der jungen Verkäuferin den Weg erklären. Dann schob er den Wagen auf direktem Weg durch das Geschäft, bis er vor dem gewünschten Regal stand. Zuerst lud er das Katzenfutter ein, wobei er da einfach drei Kisten von verschiedenen Marken aus dem Regal nahm. Luca widmete sich inzwischen dem Spielzeug. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sein Vater den Wagen zuerst mit Futter, dann mit Näpfen belud. Es folgten eine Transportbox, ein Katzenklo und zwei Säcke Streu. Erst als er vor den Kratzbäumen stand, fragte er seinen Sohn nach der Meinung. „Welchen möchtest du?“ Nachdem Luca dich die verschiedenen Modelle ange-schaut und die Preise verglichen hatte, entschied er sich für einen weißen, der aufgebaut bis fast an die Decke ging. Er glaubte, gelesen zu haben, dass Katzen gern an hohen Plätzen schliefen. Peter lud den gewünschten Baum auf den Wagen. Sie würden ihn zu Hause noch aufbauen müssen, aber so ließ er sich einfacher transportieren. In voller Länge hätte er niemals in den Kofferraum gepasst. Luca kam der Gedanke, dass Hans doch den Kratzbaum aufbauen könnte, sozusagen als Rache dafür, dass er das Kätzchen auf die Straße gejagt hatte. Aber da er den Mann momentan nicht in seinem Zimmer haben wollte, fiel das wohl aus. Zum Schluss ging Peter noch zum Spielzeug und nahm ein paar aus dem Regal. Dann schob er den Wagen zurück zur Kasse. Irgendwie kam es Luca vor, als hätten sie Zeitdruck. Aber da sein Vater nichts gesagt hatte, schwieg er auch und beobachtete, wie Peter einen der Verkäufer ansprach, der ihnen darauf beim verladen der Ware ins Auto half. Kapitel 98: Oreo ---------------- Luca lag in seinem Bett, die Gliedmaßen von sich ge-streckt, und beobachtete das Kätzchen, das sich lang-sam zu regen begann. Als sie das Kätzchen vom Tierarzt geholt hatten, schlief es noch. Es war noch einmal operiert worden und die Narkose wirkte noch. Aber die Tierärztin hatte gemeint, es würde bald aufwachen, was es jetzt auch tat. Das Kätzchen würde noch etwas tollpatschig sein, weswegen sie es nach Möglichkeit erst einmal in einen geschlossenen Raum sperren sollten, damit es sich nichts tat. Der Blonde hatte es daraufhin samt Transportbox neben sein Bett gestellt und die Tür der Box geöffnet, damit es herauskonnte. So konnte es heraus, wenn es aufwachte. Neben der Box stand ein Schälchen mit Wasser, falls es Durst bekommen würde. Vielleicht sollte er sich einen Namen für seinen neuen Mitbewohner überlegen? Es klopfte leise an der Tür. „Ist offen“, rief Luca, glaubend, dass sein Vater wohn noch einmal mit ihm sprechen wollte. Er staunte nicht schlecht, als ein schwarzer Haarschopf zur Tür herein lugte. „Hallo“, grüßte Nicholas und ließ sich neben Luca auf das Bett fallen. „Hi“, antwortete der Blonde, „Schon fertig?“ „Das Training fällt aus. Unser Trainer ist krank“, ent-gegnete Nicholas. „Ach so.“ Für Luca war das Thema damit erledigt und er kuschelte sich an seinen Freund. Nicholas legte einen Arm um ihn und zog ihn an sich heran. „Seit wann hast du eigentlich eine Katze?“, wollte er nach einer Weile wissen. „Seit heute“, sagte Luca. „Hat sie auch einen Namen“, fragte Nicholas. Der Blonde schüttelte den Kopf. „Nein, er hat noch keinen Namen.“ „Ein Kater also“, schlussfolgerte der Schwarzhaarige. Er begann, mit Lucas Haaren zu spielen, woraufhin der Blonde sich noch näher an ihn kuschelte. Er mochte es, wenn Nicholas das tat. „Irgendwie habe ich das Gefühl, hier gleich zwei Katzen zu haben“, scherzte Nicholas, der Lucas Verhalten amüsiert beobachtete. „Du hast angefangen“, verteidigte Luca sich sofort. Er wusste, sein Freund neckte ihn nur etwas, weswegen er mitspielte. Mit einer schnellen Bewegung hatte Nicholas sich von ihm gelöst und saß jetzt auf seinem Becken. Mit einer Hand hielt er Lucas Handgelenke über dessen Kopf fest, mit der anderen strich er ihm vorsichtig eine seiner blonden Locken aus dem Gesicht. „Und wenn ich mit etwas anderem anfange, machst du dann auch mit?“ „Das kommt ganz darauf an, womit du anfängst“, sagte Luca. Er vertraute Nicholas und wusste, sein Freund würde ihn sofort loslassen, wenn er es verlangte. Der Schwarzhaarige fuhr die Konturen in Lucas Gesicht nach, bis er an den Lippen ankam. Dann beugte er sich zu ihm herunter und küsste ihn, zuerst vorsichtig, dann fordernder. Luca erwiderte den Kuss nicht weniger leidenschaft-lich. Nur als er Nicholas‘ Hand unter seinem Pullover spürte, stockte er kurz. Er unternahm nichts, als Nicholas‘ Hand verdächtig weit in Richtung seines Hosenbundes wanderte, musste er nicht. Der Schwarzhaarige strich am Bund entlang, bevor er an der Seite wieder nach oben fuhr. Eine Gänsehaut bildete sich auf Lucas Körper. Er spür-te, wie sich sein Atem beschleunigte und sein Herz ihm gegen die Brust schlug. Immer wieder beugte Nicholas sich zu ihm herunter und küsste ihn. Irgendwann muste der Schwarzhaarige seine Handgelenke losgelassen haben, denn auf einmal fuhren zwei Hände über seinen Oberkörper. Einen Augenblick zögerte Luca, dann tat er es seinem Freund gleich und fuhr ihm ebenfalls über den Ober-körper, allerdings deutlich vorsichtiger. Wieder kamen die Hände Lucas Hosenbund verdächtig nahe, diesmal fuhr Nicholas sogar mit einer Hand ein kleines Stück in die Hose. Luca entwich ein leises Stöhnen, woraufhin sich in Nicholas‘ Gesicht ein selbstsicheres Grinsen bildete. „Das gefällt dir, was?“neckte er. Der Blonde fühlte, wie er errötete. Das wollte er nicht auf sich sitzen lassen. Langsam, um Nicholas nicht misstrauisch zu machen fuhr er mit den Händen an dessen Seite entlang, ehe er ihn in die linke Seite kniff. Der Schwarzhaarige keuchte erschrocken auf, ehe er erneut Lucas Handgelenke packte und sich gefährlich weit nach vorn beugte. „Na warte“, drohte er, ehe er begann, den Blonden durchzukitzeln. Von Lachkrämpfen geschüttelt wälzte Luca sich unter ihm hin und her. „Hör auf“, japste er, „Ich kann nicht mehr.“ In diesem Augenblick klopfte es an der Tür und Nina lugte ins Zimmer. „Also wirklich, Jungs!“, lachte sie, „Wenn ihr schon nicht die Finger voneinander lassen könnt, dann schließt wenigstens ab. Außerdem gibt es gleich Essen. Ich wäre euch also verbunden, wenn ihn in fünf Minuten vollständig bekleidet unten erscheinen könntet.“ Luca klappte der Mund auf. Sprachlos und mit leicht geröteten Wangen starrte er an die einen Spalt breit geöffnete Tür. „Wir sind gleich unten“, antwortete Nicholas ihr, wofür Luca ihm dankbar war. Er hätte mit Sicherheit nichts herausgebracht. „Manchmal glaube ich, sie macht das mit Absicht“, murmelte er, woraufhin sein Freund ihn anlächelte. Sie kletterten aus dem Bett und richteten ihre Klamotten. Der Blonde beugte sich zu seinem Katerchen herunter und hob es samt Transportbox an. „Hilfst du mir beim Tragen?“, fragte er. Auch wenn er die Treppen wieder ohne Krücken herauf und hinunter kam, etwas tragen konnte er dabei noch nicht. Nicholas nahm ihm die Box ab und trug sie, darauf achtend dass das Kätzchen nicht herausfiel, ins Speisezimmer, wo er sie in einer Ecke abstellte. Luca schloss in der Zwischenzeit vorsorglich die Türen. Dann setzten sie sich an den Tisch. Wie immer lud Ute Luca eine viel zu große Portion auf, aber er hatte sich inzwischen damit abgefunden. Sie meinte es nur gut mit ihm. Heute hatte sie Eintopf gekocht, wozu es Butterbrote gab. Ein recht einfaches Essen für diesen Haushalt, wie Luca fand. Allerdings störte ihn das nicht im Geringsten. Im Gegenteil: Er hatte eher ein Problem mit dem ganzen vornehmen Essen, obwohl das in letzter Zeit auch besser geworden war. „Esst nicht zu viel“, warnte Nina die beiden Jungs, „Als Nachtisch gibt es Eis.“ Luca warf einen kurzen Blick auf seine Übergroße Portion, überlegend, wie er das schaffen und gleichzeitig Platz für das Dessert lassen sollte. Er versuchte es, scheiterte aber, nachdem er etwas mehr als die Hälfte gegessen hatte. Letztendlich erbarmte sich Nicholas und aß die Reste seiner Portion. Ute zog die Brauen nach oben, als sie das beobachtete, sagte aber nichts. Sie ging in die Küche und kam wenig später mit einer Packung Eiscreme aus dem Supermarkt wieder. Diese füllte sie in kleine Schälchen, gab in Lucas Fall ordentlich Sahne drauf und reichte jedem seine Portion. „In das Eis könnte ich mich reinlegen“, schwärmte Nina als sie ihren ersten Löffel nahm. Luca konnte da nicht mitreden. Er wusste nicht einmal, wonach es schmeckte. Aber das wunderte ihn wenig. Das einzige Eis, dass er gegessen hatte und an das er sich erinnern konnte, war gewesen als Nicholas ihn nach seinem Karateturnier bei sich hatte kosten lassen. Er schaute sich die Verpackung genauer an. Aber auch sie gab keinen Hinweis auf die Geschmacksrichtung. Soweit er wusste, war Oreo ein Keks. Vielleicht war das Eis aber auch mit Keksgeschmack. Er betrachtete die Blauweise Schrift. So schlecht klang der Name nicht. Eigentlich gefiel er ihm sehr gut. Dann schaute er zu seinem Katerchen, dann wieder auf die Eispackung. „Dein Ernst?“, fragte Nicholas neben ihm belustigt, „Du willst deine Katze nach einem Keks benennen?“ „Warum nicht?“, meinte Luca. „Dir muss der Name gefallen.“ Der Schwarzhaarige hob die Schultern. „Außerdem hättest du ihr weitaus Schlimmere geben können, Minka zum Beispiel.“ Luca zog es vor, ihn nicht darauf hinzuweisen, dass es sich bei der Katze um einen Kater handelte. Kapitel 99: Eine überraschende Bitte ------------------------------------ „Und vergessen Sie nicht, alle pünktlich zur Klausur zu erscheinen“, beendete Frau Spierling den Matheunterricht, woraufhin ein Großteil der Klasse aufstöhnte, dann verließ sie, gut gelaunt wie immer, das Zimmer. René warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr, ehe er sich seine Jacke schnappte und aus dem Zim-mer stürmte. Verwirrt schaute Luca ihm hinterher. „Er hat sein Frühstück vergessen“, erklärte Rebecka und drehte sich zu Luca und Nicholas um. „Hier sind die aufgaben von gestern. Tut mir den Gefallen und schreibt es nicht wortwörtlich ab, sonst fällt es auf.“ Dankbar nahm Luca die Blätter entgegen. Ohne Hilfe hätte er die Aufgabe sicher nicht so leicht lösen kön-nen. Französisch lag ihm nicht. Nicholas schien es genauso zu gehen, auch er schien erleichtert, die Lösungen bekommen zu haben. „Warum gibst du ihnen die Lösungen, während wir alles selbst erarbeiten mussten“, schmollte Florian und verschränkte die Arme vor der Brust. „Genau“, pflichtete sein Bruder ihm bei. „Luca ging es nicht gut“, rechtfertigte sich Rebecka. „Und Nicholas?“, fragte Fabian. „Der war zu beschäftigt damit, Kissen zu spielen“, sagte Florian halb ernst halb im Scherz. „Ihr zwei seid echt unmöglich“, seufzte Rebecka, „Habt ihr eigentlich nichts besseres zu tun?“ Florian grinste. „Jetzt wo du es sagst. Wir wollten noch die Tafel einfetten und das Sitzkissen auf dem Lehrerstuhl nass machen.“ „Denkt an das warme Wasser“, mischte Thomas sich in das Gespräch ein. Er war von seinem Platz aufgestanden und kam langsam auf sie zu. Luca hatte gar nicht bemerkt, dass er sich zu ihnen gesellt hatte, weil er sich die Lösungen für Französisch durchgelesen hatte. „Farbe bietet sich auch an, sollte aber beim Waschen wieder raus gehen, sonst müsstet ihr die Sachen ersetzen.“, fuhr Thomas fort. Florian betrachtete ihn kurz mit kraus gezogener Stirn. „Gute Idee. Das könnten wir testen.“ Er wandte sich zu seinem Bruder um die Vorteile roter Farbe gegenüber gelber auszudiskutieren. Vor Luca blieb Thomas stehen. Er schien mit sich zu ringen, allerdings konnte sich der Blonde nicht denken, worum es gehen könnte. „Kann ich dich um einen Gefallen bitten?“, fragte er an Luca gewandt. Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da warf Ni-cholas ihm schon einen warmenden Blick zu, doch davon ließ der Blonde sich nicht stören. Auch wenn Nicholas anderer Meinung war, würde er Luca tun lassen, was er für richtig hielt. „Worum geht es“, stellte Luca deshalb die Gegenfrage. „Du bist doch gut in Mathe. Kannst du mir Nachhilfe geben? Mein Vater flippt aus, wenn ich wieder mit einer Vier nach Hause komme“, erklärte Thomas. „Das fällt dir aber reichlich spät ein“, meinte Rebecka, „In den zwei Tagen, die du noch hast, wirst du den ganzen Stoff niemals lernen können.“ Da hatte sie recht, dachte Luca. Zugegeben, Thomas war nicht dumm. Eigentlich war er sogar recht intelli-gent, wenn es nicht um Leonie ging. Doch was nutzte ihm Intelligenz, wenn er selbst zu Faul war, im Unter-richt mitzuschreiben? Luca seufzte innerlich. Er wusste, er könnte nicht ab-lehnen, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Thomas hatte ihm in den letzten Monaten mehrmals geholfen. Würde er sich nicht dafür revanchieren, würde er sich schlecht fühlen. Trotzdem behagten ihm die Sachen nicht ganz. „Wann und wo?“, fragte Luca leise. Auf Thomas‘ Gesicht bildete sich ein Lächeln und er atmete erleichtert aus. „Ich hatte gedacht, wir könnten heute Nachmittag zu mir gehen. Sara ist mit ihren Freunden weg, also würden wir unsere Ruhe haben.“ Der Blonde nickte. „Ich werde da sein.“ Nicholas, der das Ganze bis jetzt schweigend beobachtet hatte, warf Thomas einen finsteren Blick zu. „Du passt besser gut auf Luca auf! Wenn ihm etwas passiert, ziehe ich dich zur Rechenschaft!“ Thomas wich aufgrund des harschen Tones einen Schritt zurück, zeigte aber durch ein Nicken, dass er verstanden hatte. Es klingelte und Thomas ging zurück zu seinem Platz. Wenig später stürmte René zurück ins Zimmer. Heftig schnaufend zog er sich schnell die Jacke aus und ver-staute den Beutel, dessen Inhalt sein Frühstück ersetzte, in seinem Rucksack. Gerade noch rechtzeitig, denn im nächsten Moment betrat ihr nächster Lehrer das Zimmer. Eigentlich war es ja verboten, während der Schulzeit das Gelände zu verlassen, solange man noch nicht volljährig war, aber Luca glaubte nicht, dass jemand seinen Klassenkameraden verpetzen würde. Dazu kam er zu gut mit den anderen aus. Lucas Blick wanderte zu Thomas. Was ihn heute Nachmittag wohl erwarten würde? Er wusste zwar inzwischen, wo sein Klassenkamerad wohnte, aber nicht, wie er lebte. Außerdem machten ihm Thomas‘ Eltern etwas Sorgen. Seit sie erfuhren hatten, dass er mit Mädchen nichts anfangen konnte, hatte er sie nicht mehr getroffen. Was sie wohl über ihn dachten? Würde es sie stören, dass er ihren Sohn besuchte. Allerdings waren ihre Väter sehr gut befreundet, weshalb er glaubte, dass es nicht so schlimm werden konnte. Zumindest hoffte er das. Vielleicht traf er die beiden auch gar nicht, sie mussten schließlich arbeiten. Der Blonde begann, noch einmal durchzugehen, was sie in Mathe bis jetzt behandelt hatten und einen Schlachtplan zu erstellen, wie er das Ganze in Thomas‘ Kopf bekam. Erst das nächste Klingeln riss ihm aus seinen Gedanken. René angelte sich den Beutel aus seinem Rucksack und schüttete den Inhalt, ein paar Bananen, auf den Tisch, ehe er die erste aus ihrer Schale nahm und hineinbiss. Rebecka beobachtete ihn dabei. „Isst du jetzt alle fünf Bananen mit einem mal?", fragte sie leicht irritiert. „Nein!“ René grinste. „Hintereinander.“ Die Zwillinge prusteten laut los und auch auf Lucas Gesicht bildete sich ein Lächeln. Nur Nicholas zeigte keine Regung. Luca schnappte sich sein Mathebuch, um die einzelnen Kapitel noch einmal kurz zu überfliegen, ehe er begann, sich ein paar Notizen zu machen. Mit Seitenzahl und Aufgabennummer. „Du nimmst die Sache ziemlich ernst“, bemerkte Ni-cholas, der ihn dabei beobachtete. Der Blonde hob die Schultern. „Ich will nur vorbereitet sein.“ Er hatte so etwas noch nie gemacht. Noch zu Beginn dieses Schuljahres hatte sich keiner für ihn interessiert und auch wenn er es nicht offen zeigte, gefiel es ihm, wirklich wahrgenommen zu werden. Endlich sahen die anderen ihn als Menschen, wie jeden anderen auch. „Wenn ich dich ganz lieb darum bitte“, begann Florian, „gibst du mir dann auch einen Crashkurs in Mathe?“ René lachte auf. „Bei dir ist doch eh schon Hopfen und Malz verloren. Was soll Luca da noch retten?“ Der Zwilling schaute ihn leicht beleidigt an, ehe er gleichgültig mit den Schultern zuckte. „Dann lässt du mich eben abschreiben.“ „Ganz sicher nicht!“, rief Rebecka entrüstet, „Wenn du im Unterricht mal aufpassen würdest und nicht irgendwelchen Blödsinn mit deinem Bruder machen, hättest du auch deutlich bessere Noten!“ „Nicholas hat er auch abschreiben lassen“, rechtfertigte Florian sich und Fabian nickte zustimmend. Das war etwas anderes gewesen. Der Schwarzhaarige hatte so verzweifelt ausgesehen, dass Luca nicht an-ders gekonnt hatte! Er tat als hätte er die Bemerkung nicht gehört und arbeitete weiter an seiner Liste. So schön er es auch fand, das diesmal Rebecka und René die Zwillinge ärgerten, er hatte keine Lust, sich daran zu beteiligen. Nicholas scheinbar auch nicht, denn der Schwarzhaari-ge beugte sich verdächtig interessiert über seine Notizen. „Sei bitte vorsichtig“, flüsterte er, „und lass dich zu nichts überreden. Wenn Thomas dir komisch kommt, ruf du mich an und ich komme vorbei und rede noch ein Wörtchen mit ihm.“ „Reden?“ Luca hob die Brauen und schaute seinen Freund skeptisch an. „Bist du sicher, dass du nicht verhauen, vermöbeln oder verprügeln meinst?“ „Das auch“, gab Nicholas zu. Luca wusste nicht, ob er Lachen oder Weinen sollte. Natürlich fand er es gut, dass sei Freund sich so um ihn kümmerte, aber manchmal übertrieb er es auch. „Ich mache mir nur Sorgen um dich“, fuhr der Schwatzhaarige fort. Die Worte erwärmten Lucas Herz. Er lehnte sich gegen seinen Freund. Leise antwortete er: „Ich werde vorsichtig sein, versprochen.“ Kapitel 100: Grüße aus der Vergangenheit ---------------------------------------- Unsicher schaute Luca auf das Klingelschild, überle-gend, was er sich dabei gedacht hatte, dem Ganzen zuzustimmen. Er war nur schnell nach Hause gegan-gen, um einen Bissen zu essen und die Sachen, die er nicht benötigen würde, in sein Zimmer zu bringen. Dann hatte er sich sofort auf den Weg gemacht. Er atmete noch ein Mal tief durch, ehe er entschlossen den Klingelknopf drückte. Es dauerte nicht lange, dann hörte er Schritte und Thomas öffnete ihm die Tür. „Wow, das ging schnell“, begrüßte sein Klassenkamerad ihn und trat einen Schritt zur Seite. Unsicher betrat Luca das Haus, zog Jacke und Schuhe aus und platzierte sie an der Garderobe. „Mein Zimmer ist im Dachgeschoss“, verkündete Tho-mas, ehe er ihn die Treppe hinauf bis zu besagtem Zimmer führte. Das Haus war nicht weniger luxuriös eingerichtet wie Lucas neues Zuhause. Überall standen teure Desig-nermöbel oder andere Wertvolle Gegenstände, die Luca sich niemals trauen würde, anzufassen, aus Angst, sie kaputt zu machen. Thomas‘ Zimmer war ein typischen Jugendzimmer mit Postern von Fußballern an den Schränken, ungemachtem Bett und auf dem Boden herumliegende Schulsachen. Es war ein stück größer als das von Luca, allerdings nahm die ebenfalls mit Postern beklebte Dachschräge auch viel Raum in Anspruch. „Du hast ein Dachfenster“, sagte Luca, ohne nachzu-denken. Er ging darauf zu und warf einen Blick hinaus. „Nicht schlecht, die Aussicht“, meinte Thomas. Der Blonde stimmte ihm zu. Von hier aus konnte er fast das gesamte Wohnviertel sehen. „Dort hinten ist dein Haus“, erklärte Thomas und zeig-te in die entsprechende Richtung. Es dauerte nicht lange, da hatte Luca es gefunden. „Tatsächlich“, sagte er. Thomas grinste. „Bevor ich es vergesse: Möchtest du etwas trinken?“ Luca nickte. „Wasser wäre nicht schlecht.“ „Ich bin gleich wieder da.“ Sein Klassenkamerad ließ die Tür offen, als er in den Flur trat und die Treppe hinunter lief. Der Blonde packte inzwischen seine Notizen, Mathe-buch, Block und Stifte aus. Da der Schreibtisch voll-kommen zugestellt war, machte er es sich auf dem Boden bequem. Thomas schien das nicht weiter zu stören. Als er wie-derkam platzierte er das Tablett, beladen mit zwei Gläsern und einer Flasche Wasser, das er geholt hatte, einfach auf den Boden. „Bevor wir anfangen“, begann Luca, „wäre es vielleicht nicht schlecht, wenn du mir sagen könntest, bis wohin du den Stoff kannst. Was kannst du?“ Einen Augenblick schaute Thomas ihn schief an, dann schnitt er eine Grimasse. „Gar nichts?“ Luca ignorierte die Antwort und öffnete sein Buch. Er suchte sich eine Aufgabe, die Sie ganz zu Beginn des Stoffgebietes durchgerechnet hatten. „Versuch es mal mit dieser.“ Thomas tat, wie ihm geheißen. Er nahm sich Block und Stift und schrieb die Aufgabe ab, ehe er begann, sie zu lösen. Aber weit kam er nicht, da wurde er von Luca unterbrochen. „Wenn du die linke Hälfte einer Gleichung halbierst, musst du es auch mit der rechten tun“, wies er ihn auf seinen ersten Fehler hin. Thomas korrigierte es, ehe er sich am Kopf kratzte. „Sag mal, hat es einen bestimmten Grund, dass dort zwei Gleichungen mit jeweils x und y stehen?“ „Nicht dein Ernst“, murmelte Luca, leicht ärgerlich über die totale Unkenntnis seines Klassenkameraden, „Sag mal hast du von dem Unterricht der letzten zwei Jahre überhaupt etwas mitbekommen? So sehr kannst du doch gar nicht damit beschäftigt gewesen sein, Leonie in den Ausschnitt oder auf den Hintern zu glotzen!“ Erst als er zu Ende gesprochen hatte, merkte er, was er gerade gesagt hatte. Das Blut schoss ihm in den Kopf und er errötete. Er war in letzter Zeit zwar etwas offener geworden, aber so direkt hatte er mit Thomas noch nie gesprochen. Hoffentlich nahm er es ihm nicht übel. Vielleicht sollte er ihn lieber ablenken. Also beugt sich der Blonde über das Mathebuch und begann, zu erklären: „Also, das ist so…“ Mit einer Aufmerksamkeit, die Luca ihm nicht zuge-traut hatte, hörte Thomas ihm zu, als er die Theorie noch einmal in Kurzform wiedergab. Sein Klassenka-merad machte sich sogar ein paar Notizen, ehe er sich erneut an die Aufgabe machte und sie diesmal, zu seiner Verwunderung, tatsächlich lösen konnte. Luca gab ihm noch drei weitere, ehe er auf die Seite blätterte, auf der die Textaufgaben standen, wie sie auch in der Klausur dran kommen würden. Auch die konnte Thomas nach kurzem Überlegen lösen. Ein paar kleine Fehler machte er noch, aber alles andere wäre auch seltsam. In den nächsten Stunden ging Luca jedes Themenge-biet noch einmal kurz mit Thomas durch. Er hatte recht gehabt, sein Klassenkamerad war nicht dumm, nur eben sehr faul. Der Blonde war sicher, dass Thomas es ohne Probleme mit einer guten Note durch die Klausur schaffen würde. Sie waren fast fertig, als die Tür schwungvoll aufgeris-sen wurde und mehrere Personen ins Zimmer polter-ten. Die Schritte stoppten, als sie den Blonden erblick-ten. „Was macht der denn hier?“, erklang eine gereizte, Luca bekannte, Stimme, die er seit Monaten nicht mehr gehört hatte. „Robert!“, wies Thomas seinen Freund und ehemali-gen Klassenkameraden zurecht. Robert und drei weitere Jungs, von denen Luca einen nicht kannte, hatten das Zimmer betreten. Der Blonde hatte sie seit der Abschlussfeier im Sommer nicht mehr gesehen und versucht, sie zu vergessen, doch sein Körper erinnerte sich schneller, als ihm lieb war. Dabei half es nicht, dass Jens zu den vieren gehörte und Luca gegenüber nicht feindlich eingestellt war, denn er hatte seine Freunde nur selten gebremst und nie ganz gestoppt. Luca spürte, wie sein Körper sich verspannte und sein Herzschlag schneller wurde. Er hatte Angst und wollte hier weg. Aber er durfte sich seine Angst nicht anmer-ken lassen, die anderen würden sie ausnutzen. Also blieb er ruhig am Boden sitzen, beobachtete die anderen aber genau. „Hallo Luca“, grüßte Jens ihn freundlich, als würde er die Spannung in der Luft nicht bemerken. „Hallo“, antwortete Luca aus Reflex. Robert schaute zuerst ihn, Jens und dann Thomas an. „Was wird hier gespielt? Seit wann gibst du dich mit dieser Schwuchtel ab?“ Luca schaute zu Daniel, der eine Klasse hatte wieder-holen müssen und deshalb in ihrer gelandet war, wo er sich sofort Thomas und Leonie angeschlossen hatte. Aus irgendeinem Grund verhielt sich sein ehemaliger Klassenkamerad seltsam. Früher hatte er Thomas und Robert in nichts nachgestanden, wenn es darum ging, Luca das Leben schwer zu machen. Auch sein Äußeres hatte sich verändert. Die Markenklamotten fehlten und sein vorher kurzes, dunkelbraunes Haar war um einige Zentimeter länger geworden. Daniel wich seinem Blick aus, die Hände ineinander verknotet, und sagte kein Wort. Zögerlich sah er zum letzten der Gruppe, dem, den Luca nicht kannte. Mit schnellen Schritten kam Robert auf Luca zu, der seine Angst nicht mehr kontrollieren konnte und vor ihm zurückwich. Thomas sprang auf und stellte sich zwischen ihn und seinen Freund. „Lass ihn in Ruhe!“, rief er. Die Bewegung kam so plötzlich, dass Luca erschrocken zusammenfuhr. Er versuchte, aufzustehen, aber Arme und Beine zitterten so stark, dass sie unter ihm nachgaben und er erneut auf dem Boden landete. „Luca!“ Thomas kniete sich vor ihn und streckte die Hand nach ihm aus. Er war zu nah. So konnte Luca sich unmöglich wieder beruhigen. Der Blonde kannte die Anzeichen und wusste, was ihm gleich blühte. „Nicht“, brachte er unter Anstrengungen heraus, „Bleib weg! Ich kann nicht-“ „Sieh an“, spottete Robert, „Die Schwuchtel scheint wohl eine Panikattacke zu haben.“ Der Blonde fuhr zusammen, als sei er geschlagen wor-den. „Hör auf“, forderte in diesem Moment Daniel. Wäre Luca noch Herr seiner Sinne gewesen, hätte ihn das sicher überrascht, doch im Moment nahm er es nur hintergründig wahr. „Sag bloß, du stehst auf der Seite von diesem Etwas!“, rief Robert. „Halt deine verfickte Klappe“, schrie Thomas, „Luca ist mein Freund. Wage es nicht, noch einmal so über ihn zu sprechen!“ Kapitel 101: Streit zwischen Freunden ------------------------------------- Luca, der aufgrund der Lautstärke erneut zusammen-gezuckt war, starrte seinen Klassenkameraden ungläu-big, aber auch erschrocken, an. „Scheiße“, schimpfte Thomas, ehe er sich an den Blon-den wandte, „Luca, kannst du mich hören?“ Der Blonde zwang sich zu einem Nicken. „Deinen Vater oder Nicholas? Einen von beiden ruf ich jetzt an, such dir aus, wen“, fuhr Thomas fort. Es strengte ihn an, zu sprechen, und er musste jedes Wort mit einer Genauigkeit formen, die ihm fremd war, doch er schaffte es, die Frage zu beantworten: „Nicholas, bitte“, forderte er. „Ok“, sagte sein Klassenkamerad, ehe er sich an seine Freunde wandte, „Ich bin gleich wieder da. Passt so lange auf ihn auf, aber macht es nicht noch schlimmer. Haltet Abstand.“ Dann verließ er das Zimmer. Luca wollte ihm hinterherlaufen, darum bitten, ihn nicht mit den anderen allein zu lassen, doch er war nicht mehr fähig, seinen Körper zu kontrollieren. Zu-mindest schwiegen sie, und versuchten nicht, sich ihm zu nähern. „Luca?“, fragte Jens irgendwann. Der Blonde wusste nicht, wie lange er jetzt schon mit ihm und seinen Freunden allein war. Sein Zeitgefühl hatte sich schon vor einer Weile verabschiedet. Es kostete ihn seine gesamte Kraft, jetzt nicht völlig die Kontrolle zu verlieren. Lange würde er nicht mehr durchhalten. Hoffentlich kam Nicholas bald. Nur wenn der Schwarzhaarige da war, konnte er sich entspannen und die Panikattacke effektiv bekämpfen. Luca bekam mit, wie sich Jens mit etwas Abstand vor ihn auf den Boden kniete. „Hörst du mich?“ Mehr als ein Nicken brachte der Blonde nicht zustan-de, aber es schien seinem Gegenüber zu genügen. „Du musst tief durchatmen, hörst du, tief durchat-men“, redete Jens auf ihn ein. Luca versuchte, auf ihn zu hören, wirklich, aber er schaffte es nicht, seine Atmung zu kontrollieren. Er konzentrierte sich auf das Gespräch der anderen, in der Hoffnung, dadurch nicht völlig die Kontrolle zu verliefen. Einige Meter von ihm entfernt schnaubte Robert auf-gebracht. „Der simuliert doch nur.“ „Sei still“, sagte Daniel, leise, aber mit Nachdruck, „Das ist kein Spiel.“ „Fall du mir nur auch noch in den Rücken!“, schnaubte Robert. „Falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte“, mischte sich eine fremde Stimme, vermutlich der vierte der Gruppe, ein, „Keiner hier will deine rassistischen Äuße-rungen hören. Also tu uns einen Gefallen und halt das Maul.“ Die Tür wurde geöffnet und Schritte erklangen. „Luca“, vernahm der Blonde die besorgte Stimme Ni-cholas‘. Der Schwarzhaarige kniete sich direkt vor ihm auf den Boden. Langsam, damit Luca es sehen konnte, streckte er eine Hand nach ihm aus und legte sie dem Blonden auf die Schulter. Obwohl Luca die Hand sah, zuckte er zusammen. Doch er stieß sie nicht weg, denn er war zu froh darüber, dass Nicholas endlich da war. Er fühlte sich sicher in der Nähe seines Freundes. Nicholas würde auf ihn aufpassen und ihn beschützen. „Shh, es ist alles gut.“ Nicholas rückte noch ein Stück an ihn heran und zog ihn in eine Umarmung, ihm die ganze Zeit beruhigende Worte zuflüsternd. Luca versteifte sich, wehrte sich aber nicht dagegen. Er wusste, dass es Nicholas war, der ihn hielt. Langsam schloss er die Augen und lauschte Nicholas‘ Worten. Es dauerte, aber es gelang dem Blonden, wieder die Kontrolle über seinen Körper zu erlangen. Langsam klang das Zittern ab und er nahm wieder mehr von seiner Umgebung wahr. Jetzt schaffte er es auch, die Umarmung des Schwarzhaarigen zu erwidern. Ihm fiel auf, dass Nicholas ihm wohl schon seit einer Weile über Rücken und Haaransatz strich. Die sanften Berührungen kribbelten auf seiner Haut und lösten eine wohlige Wärme in ihm aus. Er kuschelte sich an seinen Freund und vergrub das Gesicht in dessen Hals-beuge. Seine Atemzüge wurden völlig ruhig und er entspannte sich. „Geht es wieder?“, fragte Nicholas leise. Luca nickte, weigerte ich aber, von ihm abzulassen. Daraufhin lachte der Schwarzhaarige gedämpft: „Du musst dich schon entscheiden.“ „Will nicht“, murmelte der Blonde. Die Nähe seines Freundes fühlte sich zu gut an. Er wollte sie noch ein Bisschen genießen. Nicholas küsste ihn auf die Schläfe, dann begann er, auf den Boden herumzurutschen und sich eine be-quemere Position zu suchen und zog Luca wieder an sich heran. „Hätte irgendwer vielleicht die Güte, mir zu erklären, was genau hier passiert ist?“, fragte der Schwarzhaari-ge an die Gruppe. Luca löste seinen Kopf von Nicholas‘ Halsbeuge und drehte ihn ein wenig, damit er die anderen sehen konnte. Thomas seufzte hörbar gequält auf: „Meine Freunde haben wohl beschlossen, mir einen Überraschungsbe-such abzustatten. Robert fand es nicht so toll, dass Luca gerade bei mir gewesen ist und-“ „Nicht so toll?“, unterbrach Robert ihn wütend, „Sag mal, hat dich jemand einer Gehirnwäsche unterzogen? Du hasst diesen Kerl!“ „Wen ich mag und wen nicht, entscheide ich schon selbst“, widersprach Thomas, nicht minder gereizt. „Aber“, rief Robert und deutete mit einer Hand auf Luca, „Sieh dir die zwei an. Das ist doch widerlich!“ „Ich wiederhole mich nur ungern: Luca ist mein Freund. Wenn du das nicht akzeptieren kannst, hast du hier nichts mehr verloren!“ Fassungslos starrte Robert seinen Freund an. „Das ist ein schlechter Scherz. Du würdest doch niemals-“ „Und ob ich das würde!“, fauchte Thomas. Roberts Blick wanderte zu Luca. „Das wirst du mir bü-ßen! Wenn dein Vater davon erfährt-“ „…wird er dich in hohem Bogen vom Grundstück wer-fen“, beendete Thomas den Satz, „Dann wird er deine Vergangenheit so lange durchforsten, bis er etwas findet, womit er dich in der Luft zerreißen kann, wo er bei dir ja nicht lange zu suchen braucht.“ Robert schnaubte noch einmal, ehe er wütend, leise vor sich hin schimpfend, aus dem Zimmer stampfte. Thomas wandte sich an Daniel. „Hast du auch ein Pro-blem damit?“ Langsam schüttelte Daniel den Kopf. „Ich gebe zu, ich war etwas überrascht, ihn bei dir zu sehen. Aber du wirst schon deine Gründe haben, auch wenn ich sie im Moment weder verstehen noch nachvollziehen kann.“ „Meine Meinung kennst du ja schon“, meinte Jens grinsend, „Obwohl ich immer noch der Meinung bin, Luca hat dich einer Gehirnwäsche unterzogen. Viel-leicht verrät er mir ja irgendwann, wie er es gemacht hat.“ Thomas warf ihm einen giftigen Blick zu. „Wenn mich hier jemand einer Gehirnwäsche unterzogen hat, dann war das Leonie!“ „Das könnte natürlich auch sein.“ Jens hob die Schul-tern. Dann ließ er sich neben Luca und Nicholas auf den Boden plumpsen. Daniel und der andere, dessen Namen Luca noch im-mer nicht kannte, taten es ihm gleich. Obwohl sie nebeneinander saßen, schien zwischen ihnen eine gewisse Spannung zu sein, die Luca sich nicht erklären konnte. Die Unsicherheit Daniels gegenüber dem An-deren verwunderte ihn doch sehr und er bekam das Gefühl, dass er etwas wichtiges übersah. doch was? „Wenn wir hier schon einmal alle versammelt sind“, sagte Daniel an seinen Freund gewandt, „könntest du uns auch einander vorstellen.“ Thomas seufzte, kam der Aufforderung jedoch nach. Er deutete auf Daniels Sitznachbarn. „Das ist Theo, Daniel hat ihn vor einer Weile angeschleppt.“ Danach wies er auf Luca und Nicholas. „Luca kennst du ja schon. Der Schwarzhaarige ist Nicholas, Lucas Freund. Du tust gut darin, ihn nicht zu provozieren.“ „Das kann ich bestätigen“, warf Theo ein, bis jetzt hat-te er sich eher zurückgehalten. „Ich habe ihn mal rich-tig wütend erlebt. Das tu ich mir kein zweites Mal an.“ Luca löste sich von seinem Freund und schaute ihm in die Augen, auf eine Antwort wartend. Zuerst schien es, als würde Nicholas ihn ignorieren, dann seufzte der Schwarzhaarige ergeben. „Wir hatten mal was miteinander, vor drei Jahren.“ „Oh“, murmelte Luca. Es war als fügte sich ein Puzzle zusammen. Als er zurück zu Daniel und Theo schaute, erkannte er, welche Art die Spannung zwischen den beiden war. Daniels seltsames Verhalten ergab einen Sinn. Trotzdem wurde er dieses Ungute Gefühl nicht los, dass da noch mehr war. Kapitel 102: Nicholas‘ Ex ------------------------- Luca behielt sein Wissen erst einmal für sich. Thomas wuss-te davon noch nichts, dessen war er sich sicher. Nicholas konnt es vielleicht erahnen, schwieg aber auch. „Du hast dich verändert“, sagte Theo zu dem Schwarzhaari-gen, „Früher hast du jeden weggestoßen, der dir zu nahe kam.“ Nicholas hob die Brauen, erwiderte aber nichts. „Zumindest hat sich dein Geschmack nicht geändert“, plap-perte Theo weiter, „Wie ich sehe, hast du dir ein neues Blondchen geangelt. Sogar ein ziemlich süßes, wie ich dir neidlos zugestehen muss. Allerdings ist der Kleine für mei-nen Geschmack etwas zu traumatisiert. Ist er wenigstens gut im Bett?“ Luca wusste nicht, wie er reagieren sollte und Nicholas schien es nicht anders zu ergehen. Mit einem leichten Kopf-schütteln zeigte der Blonde ihm, dass er die Sache selbst regeln würde. Theo gehörte zu Thomas‘ Freunden, weswe-gen er sich besser zurückhielt, andererseits wollte er so eine Beleidigung nicht auf sich sitzen lassen. Er drehte sich in der Umarmung seines Freundes, und lehnte jetzt mit dem Rü-cken an Nicholas‘ Brust. „Außer blöde Sprüche klopfen kannst du nicht viel, oder?“, gab er, ruhiger als er sich fühlte, zurück. Theo klappte der Mund auf und auch die anderen schauten ihn leicht verwundert an. Doch Luca war noch nicht fertig. Er setzte einen mitfühlen-den Blick auf und sah zu Daniel. „Mein Beileid. Wenn man mit so einem Kerl zusammen ist, braucht man keine Feinde mehr.“ Er vermied es, Schimpfwörter zu benutzen, da er nicht wollte, dass die Situation zu sehr eskalierte. Hätte er Thomas‘ Reaktion nicht abschätzen können, hätte er das sicher nicht gesagt. Aber da er die Meinung seines Klassen-kameraden kannte, hatte er kein Problem damit. Um ihn herum war es still. Alle, selbst Nicholas, schauten ihn ungläubig an, wobei letzterer sich ein Grinsen nicht ver-kneifen konnte. „Bitte was?“, kam er verwirrt von Thomas. Der Blonde schaute ihn gespielt unschuldig an. „Die beiden sind doch zusammen, oder?“ „Jetzt wo du es sagst“, meinte Jens grinsend, „Das mit den zweien kommt mir schon etwas seltsam vor.“ Luca beobachtete, wie Daniel unsicher zu Theo sah, doch der schien das gar nicht zu bemerken. „Gibt es da etwas, das du uns beichten möchtest?“, erkun-digte sich Jens bei seinen ehemaligen Klassenkameraden. Sichtbar nervös wich Daniel seinem Blick aus und verknotete die Hände ineinander. „Ich“, stotterte er, „Das ist-“ Er brauchte nichts zu sagen, seine Gestik verriet ihn auch so. „Warum hast du nichts gesagt?“, fragte Thomas. Er sprach ruhig und mit Enttäuschung in der Stimme. „Heißt das, du hast kein Problem damit?“ Daniel klang unsi-cher. Verwirrt schüttelte Thomas den Kopf. „Wie kommst du denn bitte darauf?“ Daniel schaute zu Luca. Er brauchte nicht auszusprechen, was er dachte. Die anderen verstanden auch so: Er wollte nicht wie Luca enden. „Bin ich dir so ein schlechter Freund gewesen?“ Thomas klang verletzt. Daniel wich seinem Blick aus und Luca verstand. Er wollte seine Freunde nicht verlieren. Deshalb hatte er es ihnen verschwiegen. „Hör mal“, fuhr Thomas fort, „Nur weil du jetzt auf Männer stehst, heißt das noch lange nicht, dass wir keine Freunde mehr sind. Ich hab nichts gegen Schwule, wirklich.“ „Warum hast du dann-“ Daniel brach ab. „Weil ich nicht nachgedacht habe. Ich wollte Leonie gefallen, also habe ich blind alles nachgeplappert, was sie gesagt hat, ohne darüber nachzudenken, was ich da eigentlich sage.“ Er schnitt eine Grimasse. „Ich bin ein richtiger Idiot gewesen, was?“ Daniel ließ sich gegen Theo sinken. Die Erleichterung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Thomas wandte sich Jens zu. „Aber du wirst mir jetzt nicht beichten, dass Nora in Wirklichkeit ein Kerl ist, oder?“, frag-te er halb ernst halb im Scherz. Jens hob die Schultern. „Ich bin mir eigentlich ziemlich si-cher, dass es sich bei meiner Freundin um ein weibliches Wesen handelt. Aber wenn es dich beruhigt, werde ich das bei Gelegenheit noch einmal überprüfen.“ Die kleine Gruppe lachte und die angespannte Stimmung flachte sich wieder etwas ab. „Kann es sein, dass du als einziger hier noch solo bist?“, neckte Jens seinen Thomas. Der Angesprochene runzelte die Stirn. „Jetzt, wo du es sagst. Da muss ich mich wohl ranhalten, was?“ Es klopfte an der Tür und Thomas‘ Vater schaute ins Zim-mer. Er schien überrascht, so viele Besucher zu sehen, be-grüßte sie aber trotzdem alle freundlich. „Peter hat eben angerufen“, sagte er zu Luca, „Er lässt fra-gen, warum du noch nicht zum Essen erschienen bist.“ Der Blonde zog sein Handy aus der Hosentasche, um einen kurzen Blick auf die Uhrzeit zu werfen. „Oh“, stellte er fest. Er war bereits eine halbe Stunde zu spät. Auch sah er einige entgangene Anrufe. Er hatte das Handy wegen der Schule auf lautlos gestellt und die Anrufe deshalb wohl nicht mit-bekommen. „Ich bring dich nach Hause“, meinte Nicholas sofort. Er er-hob sich und zog seinen Freund auf die Beine. Dann half er ihm, seine Sachen zu packen. „Tschüss“, verabschiedete Luca sich von dem Rest und wandte sich zum Gehen. „Warte!“ Daniel war aufgesprungen und ihm hinterherge-rannt. Als er ihn eingeholt hatte, blieb er stehen. „Ich wollte mich entschuldigen. Es war falsch, wie ich mich dir gegen-überverhalten habe. Es tut mir leid. Gerade ich hätte das nicht tun dürfen.“ Luca nickte. Als Zeichen, dass er verstanden hatte. „Vertrau deinem Freund nicht zu sehr.“ Der Blonde sprach leise. Ge-rade laut genug, dass Daniel ihn verstehen konnte. Er ließ sein Gegenüber stehen und ging gemeinsam mit Nicholas und Thomas‘ Vater zur Garderobe, wo sie sich anzogen. „Was meinst du damit?“, rief Daniel. Er war ihnen gefolgt. „Das wüsste ich auch gern“, warf Nicholas ein, „Wir sind zwar nicht wirklich miteinander ausgekommen, aber ich kann nicht sagen, dass er ein schlechter Mensch ist.“ „Ich weiß auch nicht“, versuchte Luca zu erklären, „Ich habe dieses ungute Gefühl bei ihm. Als würde ich etwas überse-hen, etwas Wichtiges.“ Wenn er nur wüsste, was. „Du spinnst doch!“ Daniel wandte sich ab und lief wieder die Treppe hinaus. Allerdings zeigte sein Gesichtsausdruck, dass er über Lucas Worte nachdachte. Nicholas schaute ihm wütend hinterher, unternahm aber nichts. Gemeinsam traten sie nach draußen, wo sie schweigend nebeneinander hergingen. „Du hast eben nicht alles gesagt, oder?“, fragte Nicholas nach einer Weile. Luca schüttelte den Kopf. „Es ergibt keinen Sinn. Sein ganzes Verhalten. Es ist fast, als ob der Theo, den ich eben getrof-fen habe, nicht der wahre Theo ist, sondern vorgibt jemand anderes zu sein.“ Auch jetzt, als Luca darüber nachdachte, konnte er sich nicht erklären, woher dieses Gefühl kam. Hatte er sich vielleicht doch getäuscht? Nicholas ergriff seine Hand und zog ihn an sich heran. „Wenn du willst, erkundige ich mich ein wenig über ihn“, bot er an. „Ich weiß nicht“, sagte der Blonde, „Vielleicht irre ich mich auch.“ Als sie Lucas Zuhause erreichten, stand Peter schon an der Tür. „Wo bist du so lange gewesen?“ „Entschuldige, ich habe die Zeit vergessen“, antwortete Luca kleinlaut. Peter seufzte. „Das ist das erste Mal, also werde ich es bei einer Verwarnung belassen.“ Er trat zu Seite und ließ seinen Sohn an sich vorbei. Luca verabschiedete sich noch schnell von Nicholas, zog Jacke und Schuhe aus und beeilte sich, in das Speisezimmer zu kommen. Der Tisch war, wie erwartet, bereits gedeckt. Nina und Ute saßen vor dem inzwischen bestimmt nicht mehr warmen Essen. Letztere warf ihm vorwurfsvolle Blicke zu. Sie hatten auf ihn gewartet. „Entschuldigung, das wird nicht wieder vorkommen“, ver-sprach er. „Halb so schlimm“, meinte Nina, „Das kann jedem mal pas-sieren.“ Blick gibt es weiterhin als Buch: http://animexx.onlinewelten.com/weblog/389611/ Kapitel 103: Ninas Sorgen ------------------------- Seit Luca bei Thomas gewesen war und mit ihm gelernt hatte, waren fast zwei Wochen vergangen. Wie erwartet hatte sein Klassenkamerad bei der Klausur gut abgeschnit-ten, wofür er Luca aus lauter Dankbarkeit beinahe um den Hals gefallen wäre. Ein wütender Blick seitens Nicholas hat-te es ihn sich noch einmal anders überlegen lassen. Die Sonne schien durch das Fenster in das Zimmer des Blonden und eigentlich müsste er gute Laune haben. Es war Wochenende und Nicholas würde die Nacht wieder bei ihm verbringen. Aber irgendwie konnte er sich nicht darüber freuen. In drei Tagen war die Gerichtsverhandlung. Dann musste er gegen Jochen und Sonja aussagen. So sehr er auch versucht hatte, es zu verdrängen, es war ihm von Tag zu Tag schwerer gefallen. Müde quälte er sich aus seinem Bett. Er schlief schon seit Tagen nicht mehr besonders gut. Auch sein Magenknurren brachte ihn nicht dazu, sich schneller zu bewegen. Das Essen würde ihm schon nicht weglaufen. Natürlich musste er etwas essen, aber das hatte noch Zeit. Oreo hob den Kopf und beobachtete ihn vom Kratzbaum aus dabei, wie er sich anzog. Anfangs hatte sich der sieb-zehnjährige darüber gewundert, wie es dem kleinen Kater gelungen war, dort hinaufzuklettern und er hatte den Baum schon wieder wegräumen wollen. Aber die Tierärztin hatte gemeint, er solle das nicht so eng sehen. Eine Katze wisse schon, was sie sich zutrauen konnte und was nicht. Als Hans gestern wieder auf Arbeit gekommen war, hatte er dem Kätzchen eine giftigen Blick zugeworfen, es aber da-nach nicht weiter beachtet. Peter musste ihm ordentlich die Leviten gelesen haben. Fast eine Stunde früher als normal begab sich Luca in die untere Etage, um sich die Zeit bis zum Frühstück zu vertrei-ben. Vielleicht konnte er etwas fernsehen oder Ute in der Küche helfen. Er stand noch im Flur, da hörte er Ninas aufgeregte Stimme. „So sehr ich dich auch liebe, es gibt schöneres, als sich jeden Morgen die Seele aus dem Leib zu kotzen! Ich hoffe wirklich, dass das bald aufhört.“ „Ich weiß“, antwortete Peter ruhig, „Aber das wird nicht anhalten.“ Luca konnte sich noch gut daran erinnern, wie er die beiden das letzte Mal belauscht hatte. Er hatte es nicht mehr in dem Haus ausgehalten und war zu Nicholas geflohen. Trotz-dem schaffte er es nicht, in sein Zimmer zurückzugehen, dazu war er zu neugierig. Irgendetwas stimmte mit Nina nicht und er wollte herausfinden, was das war. Leise schlich der Siebzehnjährige weiter, darauf achtend, dass er nicht versehentlich eine der lächerlich teuren Vasen umstieß. „Wir haben verhütet. Es hätte nicht passieren dürfen“, sagte Nina in klarer, sachlicher Stimme. Erschrocken hielt Luca den Atem an. Man brauchte kein Genie zu sein, um sich zusammenreimen zu können, was mit der jungen Frau los war. „Heißt das, du willst es nicht?“ Peter klang ungläubig. „Willst du es denn?“, fragte Nina. Luca, der sich eigentlich hatte zurückziehen wollen, stieß versehentlich gegen eine der Vasen. Zwar gelang es ihm noch, sie aufzufangen und somit vor dem Zerbrechen zu schützen, aber sein Vater und Nina hörten ihn trotzdem. Erschrocken schauten sie ihn an. „Guten Morgen“, murmelte Luca. Er wusste nicht, was er sonst hätte sagen sollen. Es war ihm unangenehm, dass ihn die beiden erwischt hatten. „Ich glaube, wir sollten uns alle einmal in Ruhe unterhalten“, sagte Peter nach einer Weile. Er ging ins Wohnzimmer, wo er sich auf die Couch fallen ließ. Luca und Nina folgten ihm. Zwischen den dreien herrschte betretenes Schweigen. Kei-ner schien zu wissen, was er sagen sollte. Am liebsten hätte Luca sich auf sein Zimmer zurückgezogen, doch diese Mög-lichkeit hatte er jetzt nicht mehr. „Wie kommst du auf die Idee, ich könnte das Kind nicht wollen?“, fragte Peter, nach einer Weile in das Schweigen hinein. Nina hob die Schultern. „Wir haben uns nie über Kinder unterhalten, deshalb dachte ich-“ Sie brach ab. „Ist es wegen Sonja?“ Luca bemerkte erst, dass er gesprochen hatte, als die bei-den Erwachsenen ihn anstarrten. Ninas betroffenem Blick konnte er entnehmen, dass er mit seiner Vermutung richtig lag. „Das mir Sonja war etwas ganz anderes“, verteidigte Peter sich sofort, „Wir haben weder eine Beziehung geführt, noch war ich in irgendeiner Weise an ihr interessiert.“ „Du hast mit ihr geschlafen“, kam es tonlos von Nina. Peter nickte. „Ich war gerade neu in der Firma meines Va-ters und sie war meine Sekretärin. Wir waren auf einem Meeting. Ich muss zu viel getrunken haben, denn das nächs-te, an das ich mich erinnere ist, dass ich am nächsten Mor-genneben ihr neben ihr aufwachte. Nackt und mit einem Kater, der sich gewaschen hatte. Das ist auch der Grund, warum ich ihr erst geglaubt habe, dass Luca von mir ist, als ich den Vaterschaftstest gesehen habe.“ Er hielt inne, den Blick in die Ferne gerichtet, und faltete seine Hände im Schoß zusammen. Luca schluckte. Das war das erste Mal, dass er hörte, was zwischen Sonja und seinem Vater passiert war. Es war nicht so, dass er nicht neugierig gewesen war. Er hatte sich nur nicht getraut zu fragen. „Danach hat sie mich regelrecht belagert. Sie ist mir nicht mehr von der Seite gewichen. Das Schlimmste war aber, dass sie sich plötzlich eingebildet hat, sämtliche wichtigen Entscheidungen ohne Absprache mit mir treffen zu können“, fuhr Peter fort, „Ich habe sie daraufhin gekündigt.“ Ein mattes Lächeln legte sich auf sein Gesicht. „Ein paar Monate später stand sie mit einem Baby im Arm vor mir. Sie wollte Geld und das nicht gerade wenig. Ich habe nach einem Ausweg gesucht und auf einen Vaterschaftstest be-standen. Den Rest dürftet ihr kennen. Der Test war ergab, dass Luca mein Sohn war und ich habe ihr das Geld gezahlt.“ „Deswegen hast du am Anfang so schlecht auf mich re-agiert“, murmelte Luca. Der Mann nickte. „Das soll keine Entschuldigung sein. Ich hätte dir die Chance geben müssen, dich zu erklären.“ Er schaute zu Nina. „Viele Jahre habe ich bereut, mit Sonja geschlafen zu haben, aber jetzt nicht mehr. Ohne diesen Fehler hätte ich jetzt keinen Sohn. Du und Luca, ihr seid meine Familie. Und natürlich das Baby, wenn du dich dazu entschließt, es zu behalten.“ Nina schluchzte. „Das heißt, du willst dieses Baby?“ Peter ging auf sie zu und zog sie in eine Umarmung. „Natür-lich will ich es.“ Das schien die junge Frau zu beruhigen. Sie lehnte sich gegen ihren Verlobten und ließ sich von ihm sanft hin und her wiegen. Langsam verebbte ihr Schluchzen wieder. Luca beobachtete die beiden noch eine Weile, ehe er sich leise aus dem Wohnzimmer schlich. Er wollte sie schließlich nicht weiter bei ihrer Zweisamkeit stören. Wieder in seinem Zimmer angekommen, ließ er sich auf das Bett fallen. Oreo, der es sich in der Zwischenzeit auf seinem Kopfkissen gemütlich gemacht hatte, hob den Kopf und fing an zu schnurren. Ein leichtes Lächeln schlich sich auf das Gesicht des Sieb-zehnjährigen als er begann, sein Kätzchen zu streicheln. So ungern er es auch zugab, für kurze Zeit war er besorgt ge-wesen, dass sein Vater ihn nicht mehr wollte, jetzt wo er ein Kind von der Frau haben konnte, die er liebte. Eigentlich war der Gedanke lächerlich, fand Luca, dass Nina ein Baby bekam, bedeutete nicht, dass sie ihn deswegen nicht mehr haben wollten. Klar, er würde kürzer kommen. So ein Säugling machte schließlich eine Menge Arbeit. Aber das würde er verschmerzen können. Er war schließlich kein kleines Kind mehr. Und wenn es ihm mal zu viel wurde, konnte er immer noch zu Nicholas flüchten. Trotzdem fühlte sich der Gedanke fremd an, ein Geschwis-terchen zu bekommen. Allerdings hatte er es auch eben erst erfahren und bis zur Geburt war auch noch eine Menge Zeit und vielleicht wurde es besser, wenn man Nina die Schwan-gerschaft ansehen konnte. Vielleicht lag es aber auch an seiner Müdigkeit oder der Angst vor dem Gerichtstermin. Sein Magen machte mit einem lauten Knurren auf sich auf-merksam und Luca erinnerte sich wieder daran, warum er nach unten gegangen war. Kapitel 104: Eine unvergessliche Nacht -------------------------------------- „Hey“, grüßte Nicholas ihn, als er am Abend, ganze zwei Stunden zu spät, sein Zimmer betrat, „Sorry, dass es so lan-ge gedauert hat. Ich stand mit dem Fahrschulauto im Stau. Da ging nichts vorwärts und nichts rückwärts.“ Autobahnfahrt, erinnerte sich Luca. Sein Freund hatte ihm in der Schule davon erzählt. „Das macht nichts“, antwortete der Blonde, „Möchtest du noch etwas essen?“ Ute hatte den Tisch zwar schon wieder abgeräumt, aber es war reichlich übrig geblieben, was er nur aufwärmen bräuchte. „Nicht nötig“, wehrte Nicholas ab, „Ich habe zu Hause noch schnell was gegessen.“ Luca nickt und klopfte neben sich auf die Matratze. Nicholas ließ sich neben ihm aufs Bett fallen. Oreo, der neben Luca auf dem Kopfkissen lag, beschnupper-te ihn kurz, ehe er sich steckte und über den Nachttisch aus dem Bett kletterte. „Sieht aus, als mag er mich nicht“, kommentierte der Schwarzhaarige das Verhalten des Katers, der sich gerade auf seinen Kratzbaum zurückzog und dort in einer der Höhlen zusammenrollte. „Oder er will nur in Ruhe schlafen“, meinte Luca und ku-schelte sich an seinen Freund, „Ich hab dich vermisst.“ „Du hast mich doch am Freitag erst gesehen“, schmunzelte der Schwarzhaarige und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. Er strich ihm durch die blonden Locken, was bei Luca ein wohliges Seufzen auslöste. Allerdings war dem Blonden gerade nicht nach Kuscheln. Klar, er mochte es, aber momentan hatte er mehr Lust auf etwas anderes. Also beugte er sich über seinen Freund und küsste ihn. Sofort wurde der Kuss erwidert. Nicholas schlang seine Arme um ihn und zog ihn an sich heran, so dass Luca auf seinem Oberkörper landete. Dann tauschte er ihre Positionen mit einer geschickten Drehung, wie er es schon öfter getan hatte. Dem einen Kuss folgten weitere, die immer leidenschaftli-cher wurden und es dauerte nicht lange, da lag Luca auf dem Rücken und Nicholas kniete über ihm. Die Hände des Schwarzhaarigen begannen, über Lucas Kör-per zu wandern. Schnell war der Pullover hochgeschoben, um die Haut darunter freizulegen. Luca keuchte auf, als Nicholas vom Bauchnabel aufwärts Küsse auf seinem Oberkörper verteilte. Sein Herzschlag beschleunigte sich und ihm wurde warm. Seine Hände schlossen sich um den Saum Nicholas‘ Pullovers und Luca zog seinem Freund das Kleidungsstück über den Kopf, wodurch dieser deine Tätigkeit kurz unterbrechen musste. Nicholas gab ein unwilliges Brummen von sich, ehe er den Oberkörper seines Freundes weiter bearbeitete. Luca setzte sich kurz auf, um sich von seinem Pullover zu befreien, den er achtlos auf den Boden fallen ließ. „Da ist aber heute jemand fordernd“, neckte Nicholas ihn. Mit den Händen fuhr er an Lucas Seiten auf und ab, was bei dem Blonden eine Gänsehaut auslöste. „Mehr“, forderte Luca. Der Schwarzhaarige lachte. Mit den Fingern umspielte er Lucas Hosenbund, fuhr mal eine Handbreite darunter und zog die Hand dann wieder zurück. Er öffnete den Gürtel des Blonden und schob seine Hose ein Stück herunter. Luca war heiß und kalt zugleich. Sein Herz schlug, als wäre er einen Marathon gerannt und sein Atem ging schwer. Mit leicht zitternden Händen machte er sich an Nicholas‘ Jeans zu schaffen, was gar nicht so einfach war. Erst beim dritten Versuch gelang es ihm, den widerspenstigen Knopf zu öff-nen. Die Hose rutschte an Nicholas herab, weswegen er sich kurz von Luca löste und sich von dem Kleidungsstück befreite. Die Socken zog er ebenfalls gleich aus. Luca konnte nicht anders, als seinen Freund anzustarren. Zwar hatte er Nicholas in der letzten Zeit öfter oben ohne gesehen, aber noch nie nur in Unterhosen. Sein Freund sah richtig heiß aus. „Gefällt dir, was du siehst?“, fragte Nicholas leise. Dem Blonden schoss das Blut in den Kopf. Er konnte nur nicken. Zum Sprechen wäre er nicht mehr fähig gewesen. „Jetzt bin ich dran“, sagte der Schwarzhaarige, eher er vor-sichtig Lucas Jeans öffnete. Der Blonde hob das Becken, um es seinem Freund leichter zu machen, ihm die Hose auszuziehen. Nicholas zog sie ihm samt Socken von den Beinen und warf sie achtlos auf den Boden, wo sie sich zu dem Rest ihrer Kleidung gesellte. Jetzt war Nicholas derjenige, der seinen Freund betrachtete. Dabei ließ er seinen Blick von oben nach unten und wieder nach oben gleiten. Luca war etwas unwohl bei der Sache. Er fühlte sich entblößt und das, obwohl ihn Nicholas schon mit noch weniger Kleidung gesehen hatte. Der Schwarzhaarige begann, vorsichtig seine Konturen nachzuzeichnen, zuerst im Gesicht, dann auch auf dem rest-lichen Körper. Nur knapp konnte der Blonde sich ein Stöhnen verkneifen, als er ihm über den Oberschenkel strich. „Halt dich nicht zurück“, flüsterte Nicholas, „Ich will dich hören.“ Verlegen drehte Luca den Kopf zur Seite. Ihm war es pein-lich, sich so vor seinem Freund gehen zu lassen. Nicholas strich ihm eine Strähne seiner Locken aus dem Gesicht. „Entspann dich“, hauchte er. Der Blonde schüttelte schwach den Kopf. Dazu war er noch nicht bereit. Das war ihm zu früh. Er konnte noch nicht völlig die Kontrolle abgeben. Der Schwarzhaarige ließ sich neben ihm auf die Matratze fallen. „Willst du lieber aufhören?“ Lucas Kopfschütteln wurde kräftiger. „Nein“, bat er, „Mach weiter.“ Er wollte jetzt noch nicht aufhören, dazu hatte es sich zu gut angefühlt. Besorgt musterte Nicholas ihn. „Bist du sicher?“ Der Blonde nickte. „Bin ich.“ „Wenn du meinst.“ Nicholas beugte sich wieder über ihn und fuhr damit fort, den Körper seines Freundes zu erkunden. Er strich ihm den Arm hinauf über die Schulter bis zum Haaransatz. Luca erschauderte bei den Berührungen. Er konnte spüren, wie sich eine Gänsehaut auf deinem Arm bildete und das obwohl ihm nicht kalt war. Der Schwarzhaarige beugte sich zu ihm herunter, küsste ihn flüchtig auf den Mund, ehe er begann, an seinem Ohrläpp-chen zu knappern. Dabei berührte er mit der Nase die Stelle dahinter, was Luca zusammenzucken und auflachen ließ. „Du bist kitzlig“, stellte Nicholas überrascht fest. Ein heim-tückisches Grinsen schlich sich auf sein Gesicht. Er schnapp-te sich die Hände seines Freundes und begann, diese Stelle gründlicher zu bearbeiten. Luca konnte nicht mehr. Japsend wand er sich unter seinem Freund und versuchte, dessen Neckereien zu entkommen. doch Nicholas hielt ihn eisern fest. Nicht so doll, dass er ihm wehtat, aber es schränkte seine Bewegungsfreiheit doch sehr stark ein. Erst als Luca völlig ausgepowert unter ihm lag, ließ Nicholas wieder von ihm ab. Mit einer Hand stützte er sich neben Lucas Kopf auf das Bett und mit der anderen strich er ihm zärtlich die Lachtränen von den Wangen. „Ich liebe dich“, hauchte er. Die drei Worte brachen den Rest von Lucas Zurückhaltung. Eine Unmenge an Glücksgefühlen breitete sich in ihm aus und ließ ihn sämtliche Zweifel vergessen. Sein Kopf war leer gefegt. Gleichzeitig fühlte er sich wie der glücklichste Mensch auf Erden. Nicholas liebte ihn. Er mochte ihn nicht nur, fand ihn nicht nur attraktiv. Er liebte ihn! Deshalb unternahm er auch nichts, als Nicholas ihn seines letzten Kleidungsstückes entledigte. Auch als der Schwarz-haarige sich selbst auszog, unternahm Luca nichts. Er fühlte sich wie in Watte gepackt. Zwar bekam er noch alles mit, was um ihn herum passierte und konnte noch selbstständig handeln, doch erschien es ihm unwirklich, beinahe wie in einem Traum. Hoffentlich wachte er nicht gleich auf. „Hast du Gleitgel und Kondome?“, riss Nicholas ihn aus seinen Gedanken. Luca nickte. Er deutete auf seinen Nachttisch. „Unterster Kasten, ganz hinten.“ Der Schwarzhaarige beugte sich über ihn und angelte sich die gewünschten Utensilien. Dabei störte es weder ihn noch Luca, dass die bunte Pappschachtel vom Bett fiel und ihren Inhalt auf dem Teppich zwischen ihren Klamotten verteilte. Kapitel 105: Nicholas‘ Bedenken ------------------------------- Als Luca am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich so erholt, wie schon seit Tagen nicht mehr. Wohlig seufzend kuschelte er sich an die Wärmequelle in seinem Bett und schloss die Augen, um noch ein wenig vor sich hin zu dösen. Jetzt, wo seine Gedanken durch den Schlaf noch etwas ver-nebelt waren, hatte er keine Schwierigkeiten damit. Er malte mit dem Finger gedankenlos irgendwelche Buchstaben auf die nackte Brust seines Bettgefährten. „Meine?“, kam es nach einer Weile hörbar belustigt von Nicholas. Der Blonde errötete leicht. Eigentlich hatte er nicht vorge-habt, das zu schreiben. „Morgen“, sagte Nicholas, „Wie hast du geschlafen?“ „Ganz gut“, antwortete Luca. Jetzt noch weiterzuschlafen, würde keinen Sinn mehr machen, also setzte er sich im Bett auf und streckte sich ausgiebig. Dabei bemerkte er ein leich-tes Ziehen an einer recht eindeutigen Stelle. Schlagartig kam die Erinnerung von letzter Nacht zurück. Er schaute erschro-cken an sich herunter und das Blut schoss ihm in den Kopf. Die Decke war verrutscht und er hatte freie Sicht auf die untere Hälfte seines Körpers. Schnell schnappte er sie sich, um seine Blöße zu bedecken. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Nicholas, der sich ebenfalls aufgesetzt hatte. Luca nickte. Er bezweifelte, dass er gerade in der Lage war, einen verständlichen Satz herauszubringen, und inzwischen hatte sein Gesicht bestimmt die Farbe einer reifen Tomate. „Bist du sicher?“ Jetzt klang der Schwarzhaarige besorgt. Er beugte sich zu ihm herüber und strich ihm die blonden Lo-cken aus dem Gesicht. Wieder nickte Luca. Er verstand nicht ganz, was sein Freund von ihm wollte. „Habe ich dir wehgetan?“ Verwirrt blickte Luca den Schwarzhaarigen an. Dann schüt-telte er langsam den Kopf. Warum fragte Nicholas das alles? Als sein Bettgefährte kurz schwieg, ließ Luca sich zurück aufs Kissen fallen, ehe er sich die Decke bis ans Kinn zog. „Habe ich dich bedrängt?“, fragte Nicholas weiter, „Wolltest du gar nicht…“ „Nein!“, unterbrach Luca ihn, froh endlich wieder seine Stimme gefunden zu haben. Erst als er das entgeisterte Gesicht seines Freundes sah, bemerkte er, dass er sich nicht eindeutig ausgedrückt hatte und leicht falsch zu verstehen war. „Es tut mir leid, wirklich.“ Nicholas sah richtig niederge-schlagen aus. „Ich wollte nicht.“ Luca packte ihn an der Schulter und zog ihn zurück aufs Bett. Er legte Nicholas die Hand auf den Mund, wodurch der Redeschwall des Schwarzhaarigen stoppte. Dann rutschte er an ihn heran. „Wie kommst du auf diese bescheuerte Idee? Glaubst du wirklich, ich hätte das gestern zugelassen, wenn ich es nicht auch gewollt hätte? Wenn ich nicht einverstan-den gewesen wäre, hätte ich mich schon bemerkbar ge-macht!“ Danach nahm er die Hand vom Mund seines Freundes. Einen Augenblick lang schaute der Schwarzhaarige ihn ver-wundert an, dann begann er, ihm neue Fragen zu stellen: „Warum benimmst du dich dann so komisch?“ Luca wusste nicht, ob er Lachen oder Weinen sollte. War das Nicholas‘ Ernst? „Das war mein erstes Mal“, fauchte Luca mit hochrotem Kopf, „Es ist mein gutes Recht, mich ‚komisch‘ zu benehmen, ohne dass du gleich irgendwelche falschen Schlüsse ziehst!“ Er zog sich die Decke über den Kopf und vergrub sein Gesicht zwischen Decke und Nicholas‘ freiem Oberkörper. Ihm war das total peinlich. Hätte er gekonnt, wäre er im Boden versunken. Aber da dieser sich nicht auftat, musste eben die Decke herhalten. „Luca?“, fragte Nicholas nach einer Weile und versuchte, die Decke ein Stück anzuheben, um darunter schauen zu kön-nen. Aber Luca wollte noch nicht wieder mit ihm sprechen. Also hielt er die Decke fest und legte sich sogar mit einem Arm darauf. Er wusste, er benahm sich lächerlich, aber er konnte einfach nicht anders. Natürlich hatte ihm die Nacht gefallen, sehr sogar. Nur hatte er sich so sehr gehen lassen, dass ihm das im Nachhinein peinlich war und die indiskreten fragen seines Freundes trugen nicht gerade zur Besserung der Situation bei. Nicholas seufzte. „Entschuldige, ich wollte dich nicht in Ver-legenheit bringen.“ Der Blonde wartete noch ein wenig, dann ließ er die Decke wieder los und lugte vorsichtig darunter heraus. Es klopfte an der Tür und jemand trat herein. Luca musste die Decke zurückschieben, um zu sehen, wer es war. Eigentlich war das nicht nötig. Er konnte die Nina und Peter am Gang auseinanderhalten, weswegen er gleich gewusst hatte, dass sein Vater das Zimmer betreten hatte. „Guten Mor-“ Peter stoppte mitten im Wort. Sein Blick glitt durch das Zimmer, verweilte kurz am Bett und blieb am Durcheinander vor dem Bett hängen. Die Klamotten lagen noch so, wie sie sie gestern hatten fallen lassen. Dazwischen die Flasche mit dem Gleitgel und die Schachtel mit den Kon-domen. Nur schien besagte Schachtel gestern umgefallen zu sein, denn ihr Inhalt war über den gesamten Boden vor dem Bett verteilt. Luca beobachtete, wie sich Peters Augen leicht weiteten und er verlegen den Blick abwandte. Ihm war klar, dass sein Vater wusste, was sie in der Nacht getan hatten. Es wäre auch wunderlich gewesen, wenn nicht, bei den ganzen Indi-zien, die sie auf dem Boden verstreut hatten. „In einer halben Stunde gibt es Frühstück, falls ihr vorher duschen wollte“, sagte Peter, ehe er beinahe schon flucht-artig das Zimmer verließ. Nicholas streckte sich ausgiebig, ehe er sich von Luca löste und aus dem Bett kletterte. Unbekleidet, wie er war, lief er ins Bad. Er nahm sich noch nicht einmal Wechselkleidung mit. Ihm schien es nichts auszumachen, nackt vor seinem Freund herumzulaufen. Auch als Peter eben hereingekommen war, hatte er sich nicht gerührt. Luca dagegen wäre vor Scham fast vergangen. Ein kleinwe-nig beneidete er seinen Freund, dass er es so locker sehen konnte, als er sich ein unbenutztes Badetusch aus dem Schrank fischte und sich um die Hüfte wickelte, um sich zumindest notdürftig zu bedecken. Der Blonde wartete, bis Nicholas fertig war mit Duschen, ehe er selbst mit neuen Klamotten in der Hand sein Bad betrat und hinter sich die Tür abschloss. Er wusste, das war lächerlich, schließlich hatte Nicholas bereits alles gesehen, was er zu bieten hatte, aber so fühlte er sich einfach wohler. Da nicht mehr viel Zeit bis zum Frühstück war, beeilte er sich, und als er das Bad wenige Minuten später wieder ver-ließ, deuteten nur seine nassen Haare darauf hin, dass er eben geduscht hatte. Nicholas kommentierte sein Verhalten mit keinem Wort, wofür Luca ihm wirklich dankbar war. Gemeinsam verließen sie Lucas Zimmer und machten sich auf den Weg in den Speiseraum. Nina stellte gerade die letzten Gläser auf den Tisch und Ute brachte einen Teller mit Eierkuchen. Dazu gar es frische Brötchen und eine für Luca riesige Auswahl an Brotaufstri-chen. „Morgen“, grüßte der Blonde sie beiden Frauen. Peter schien ihnen nicht erzählt zu haben, was er eben ge-sehen hatte, worüber Luca froh war. Das Ganze war schon so peinlich genug. Wie schon beim letzten Mal, als Peter sie zu Weihnachten erwischt hatte, schaffte der Mann es nicht, seinem Sohn in die Augen zu sehen. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn Nina sie ver-sucht hätte zu wecken. Die junge Frau schien das deutlich weniger zu stören. „Dad?“, fragte Luca vorsichtig. Noch immer schaffte der Mann es nicht, ihn wirklich anzu-sehen. Zwar schaute er in seine Richtung, aber Luca wusste, er fixierte einen Punkt schräg hinter ihm. „Wirst du mir jetzt wieder aus dem Weg gehen?“ Nina schaute, sichtbar verwirrt, zwischen ihm und ihrem Verlobten hin und her. „Ist etwas passiert?“ Peter schüttelte den Kopf. „Es ist alles in Ordnung.“ Er wandte sich an seinen Sohn. „Ich bin nur etwas überrascht. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass ihr zwei so schnell…“ „Hat sich so ergeben“, murmelte Luca. Er spürte, wie er wieder errötete. Heute war echt nicht sein Tag. Kapitel 106: Vor Gericht ------------------------ Die Anwesenheitskontrolle war beendet und Luca wurde gerade, mit allen anderen Personen im Sitzungssaal, belehrt. Er war froh, dass Nicholas‘ Vater noch einmal mit ihm durchgegangen war, wie die Gerichtsverhandlung verlaufen und wie diese Belehrung aussehen würde, denn obwohl er es versuchte, schaffte er es nicht, zuzuhören. Jochen saß einige Meter von ihm entfern und beachtete ihn kein Bisschen. Auch Sonja schien ihn nicht wahrzunehmen. Die Angst, gleich gegen den Mann, der ihn so viele Jahre lang gequält hatte, und Sonja, die nichts dagegen unter-nommen hatte, aussagen zu müssen, war zu groß, als dass er sich noch auf irgendetwas konzentrieren konnte. Zwar hatte Peter es irgendwie geschafft, dass die beiden während seiner Aussage in einen anderen Raum gebracht wurden, aber das beruhigte ihn nur wenig. Dennoch war es besser so. Er wusste nicht, ob er in der Lage gewesen wäre, vor Jochen die Wahrheit sagen zu können. Er war froh, als sie endlich in den Warteraum gehen konn-ten. Er setzte sich neben Nicholas auf einen der notdürftig gepolsterten Stühle und lehnte sich gegen die Schulter sei-nes Freundes, woraufhin der Schwarzhaarige einen Arm um ihn schlang und ihm beruhigend über die Schulter strich. Peter ließ sich auf der anderen Seite seines Sohnes nieder. „Das wird schon“, versuchte der Mann, ihn aufzumuntern. Der erste Zeuge, ein guter Freund von Jochen, wurde aufge-rufen. Er warf dem Blonden einen abschätzenden Blick zu, ehe er den Sitzungssaal betrat. Luca schaute sich in dem Wartezimmer um. Es war recht spärlich eingerichtet, weiße Wände, weiße Decke und ein PVC-Fußboden, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. Aber er hatte auch nicht vor, sich hier häuslich einzurichten. Sein Blick wanderte zu den anderen Zeugen, die ebenfalls hier saßen und darauf warteten, dass sie aufgerufen wur-den. Er kannte sie alle, wenn auch manchmal nur flüchtig. Neben Nicholas saß René, daneben Nicholas‘ Vater. Von ihnen hatte Luca gewusst, dass sie heute aussagen würden. Wie sich Karl wohl fühlte? Normalerweise war der Anwalt nämlich nicht als Zeuge geladen. Zu den Zeugen gehörte auch seine Nachbarin. Die alte Frau war immer nett zu ihm gewesen. Sie hatte ihm zum Ge-burtstag sogar Kekse geschenkt. Der Ärzte, die Luca im letzten halben Jahr behandelt hatten, waren ebenfalls da, was den Blonden etwas verwunderte. Aber es würde schon einen Grund haben, warum sie hier hatten erscheinen müssen. Dann war da noch ein weiterer Mann, mit dem Jochen eine Zeit lang zusammen gearbeitet hatte und eine Frau, die früher gut mit Sonja befreundet war, bis sie sich vor ein Jahren auseinanderlebten. Luca konnte sich noch daran erinnern, dass sie Sonja ein paar Mal besucht hatte, auch wenn er ihren Namen nicht mehr wusste. Nach und nach wurden auch die anderen Personen in den Sitzungssaal gerufen, bis nur noch Luca übrig blieb. Obwohl er der letzte war, der aufgerufen wurde, war ihm das noch viel zu früh. Mit zitternden Händen und unsicheren Schritten lief er in den Sitzungssaal. Am liebsten wäre er umgekehrt und hätte in einer Ecke versteckt abgewartet, bis alles vorbei war. Doch das konnte er nicht. Er musste aussagen. Tat er das nicht, bestand die Möglichkeit, dass Jochen aufgrund fehlender Beweise frei-gesprochen wurde. Der Siebzehnjährige zitterte, als er den schmalen Gang ent-lang lief. Die anderen Zeugen saßen, wie Karl es vorher gesagt hatte, in der ersten Reihe und beobachteten ihn. Kurz schaute Luca zu Nicholas, der ihn aufmunternd anlächelte, wie als wolle er sagen, dass das schon werden würde. Der Siebzehnjährige ließ seinen Blick schweifen. Der Zu-schauerraum war leer und der Platz, an dem normalerweise die Angeklagten saßen, ebenfalls, nur zwei Anwälte saßen noch dort, also hatte man Jochen und Sonja schon aus dem Raum gebracht. Als Luca vor der Richterin, einer Frau mittleren Alters mit schulterlangen, braunen Haaren, angekommen war, nahm er unsicher Platz. Die Richterin belehrte ihn noch einmal, dass er die Wahrheit sagen musste und schweigen durfte, um sich nicht selbst zu belasten. Dann ermittelte sie seine persönlichen Angaben ab. „Sind Sie mir den Angeklagten verwandt oder verschwä-gert?“, fragte die Richterin. Luca nickte. „Sonja ist meine Mutter, Jochen mein Stiefva-ter.“ „Sie wissen, dass Ihnen ein Zeugnisverweigerungsrecht zu-steht?“, fuhr die Richterin fort, „Möchten Sie trotzdem aus-sagen?“ Wieder nickte Luca. Er hatte die Situation oft genug mit Karl durchgesprochen, um zu wissen, dass er nicht schweigen durfte. Abwartend schaute die Richterin ihn an. „Ja“, sagte er schnell, in der Hoffnung, dass sie dann fortfuhr und er das Ganze hinter sich bringen konnte. „Dann vernehme ich Sie jetzt zur Sache. Die beiden Ange-klagten sind beschuldigt, Sie über Jahre körperlich misshan-delt und vernachlässigt zu haben. Bitte äußern Sie sich da-zu.“ „Jochen hat mich verprügelt“, stellte Luca richtig, „Sonja hat nur dabei zugesehen.“ Die Richterin hob die Braue. „Erklären Sie das Verhalten Ihrer Mutter bitte näher.“ Damit hatte Luca gerechnet. „Für Sonja habe ich fast die ganze Zeit nicht existiert. Ihre Familie bestand aus Jochen und ihr. Sie hat für zwei Mann eingekauft, für zwei Mann gekocht, für zwei Mann den Tisch gedeckt. ab und an, wenn Jochen mich wieder mal verprügelt hatte, hat sie mich da-rauf hingewiesen, ich sollte mich doch ordentlich benehmen und es ihm nicht so schwer machen.“ „Hat Ihre Mutter gewusst, was Ihr Stiefvater getan hat?“, stellte die Richterin die nächste Frage. „Sie hat daneben gestanden“, antwortete Luca, „Nicht im-mer, aber oft genug, um es nicht übersehen zu können. Manchmal war sie auch im Nebenzimmer. Die Wände sind nicht besonders dick. Sie muss es gehört haben.“ „Und Sie hat nicht versucht, Ihnen zu helfen?“ Luca schüttelte den Kopf. „Am Anfang, als ich noch zur Grundschule ging, hat sie ihn manchmal ermahnt. Aber das ist Jahre her.“ „Wann hat Ihre Mutter Ihren Stiefvater kennengelernt?“, fragte die Richterin weiter. „Vor elf Jahren oder so, kurz bevor ich in die erste Klasse gekommen bin“, antwortete ihr Luca. Bis jetzt war noch nichts gefragt worden, worüber es ihm sehr schwer fiel zu sprechen, aber das würde gewiss noch kommen. „Wie war ihr Verhältnis zu Ihrer Mutter zuvor?“ Der Siebzehnjährige verknetete seine Hände ineinander. „An alles kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß, dass ich öfter hungrig ins Bett gehen musste, weil sie mir nichts zu essen gegeben hat. Sie hat sich nie wirklich mit mir beschäftigt und oft vergessen, mich aus dem Kindergarten abzuholen. „Verstehe ich Sie richtig“, forschte die Richterin nach, „dass Ihre Mutter Sie nicht versorgt hat?“ „Sporadisch“, korrigierte Luca, „Mit der Zeit ist es dann immer weniger geworden, bis ich gar nichts mehr bekom-men habe.“ „Wie haben Sie sich versorgt?“, kam die nächste Frage. „Ich habe gelernt, wo Sonja welche Lebensmittel aufbe-wahrte, wann sie und Jochen zu Hause waren, was sie taten und wann sie es bemerkten, wenn ich mich am Kühlschrank oder Vorratsschrank bediente. Und ich habe gelernt, wo sie ihr Portemonnaie aufbewahrte und wie viel ich nehmen konnte, ohne dass es auffiel.“ Der Blonde wusste, er be-schuldigte sich selbst mit dieser Aussage. Allerdings hatte Karl ihm geraten, alles zu sagen, auch das. Das Gericht wür-de sich nicht mit Kleinkram wie ein paar geklauten Euros und Lebensmitteln befassen. Er hatte es schließlich getan, um überleben zu können. „Kommen wir jetzt zu Ihrem Stiefvater“, meinte die Richte-rin, „Er hat Ihre Mutter vor zehneinhalb Jahren geheiratet und wohnte seither bei Ihnen, ist das richtig?“ Luca nickte. Er versuchte, den Klos, der sich in seinem Hals bildete und ihn am Sprechen hinderte, hinunterzuschlucken. „Hat er Sie von Anfang an misshandelt oder erst nach einem bestimmten Ereignis?“, fragte die Frau. „Am Anfang war es nicht so schlimm, nur hier und da mal eine Ohrfeige oder ein Hieb mit der Faust“, erzählte Luca, „Mit der Zeit ist es immer mehr geworden. Er hat angefan-gen, nach mir zu treten und erst wieder aufgehört, wenn ich mich bewusstlos gestellt habe. Manchmal hat er mich auf für eine Nacht aus dem Haus gesperrt.“ Kapitel 107: Wiedersehen mit Jochen ----------------------------------- „Warum haben Sie keinem davon erzählt?“, bohrte die Rich-terin. „An wen hätte ich mich denn wenden sollen?“, stellte Luca die Gegenfrage, „Es hat niemanden interessiert. Einmal habe ich es einer Lehrerin aus der Grundschule erzählt. Sie hat mir nicht geglaubt und versucht, mir ins Gewissen zu reden, schließlich sollte ich ja keine Lügen erzählen. Es hat Tage gedauert, bis ich mich wieder halbwegs schmerzfrei bewegen konnte. Danach habe ich nicht mehr versucht, mit anderen Menschen darüber zu sprechen.“ Jetzt, wo die Fragen konkreter wurden, fiel es ihm schwerer, darüber zu sprechen. Dennoch versuchte er sie, so gut er es eben konn-te, zu beantworten. Er sprach leise, aber dennoch gut ver-ständlich. Die Richterin seufzte: „Sie haben also schlechte Erfahrungen gemacht und sich deswegen nicht mehr getraut, Hilfe zu suchen.“ Der Siebzehnjährige nickte. „Mir liegt einige Gutachten zu Verletzungen vor, die in die-sem Jahr ärztlich behandelt worden sind. Können Sie mir dazu etwas erzählen?“ „Den Arm habe ich mir gebrochen, als Jochen mich die Kel-lertreppe hinuntergestoßen hat“, begann Luca, wurde aber unterbrochen. „Kam das öfter vor?“, erkundigte sich die Richterin. „Ein paar Mal“, antwortete Luca, „Jochen und Sonja sind für ein paar Tage weggefahren. Ich habe gewartet, bis sie weit genug weg waren und dann den Safe in ihrem Schlafzimmer geknackt, um an meine Krankenversicherungskarte heran-zukommen. Dem Arzt habe ich am nächsten Tag erzählt, ich sei die Treppe hinuntergefallen und die blauen Flecken habe ich auf eine Prügelei mit Mitschülern geschoben. Jochen hab ich gesagt, Sonja hätte mir die Karte gegeben, bevor sie losgefahren sind.“ Mit einer Geste forderte die Richterin ihn dazu auf, weiter-zusprechen. „In den Herbstferien hat Jochen mich in meinem Zimmer eingesperrt. Das war nicht das erste Mal. Ich hatte mir ein paar Flaschen mit Wasser gefüllt, um nicht zu verdursten, falls ich ein paar Tage nicht mehr aus dem Zimmer konnte und die Nachbarin hat mir ein paar Kekse geschenkt, von denen ich mich ernährt hatte. Als die Ferien vorbei waren, bin ich aus dem Fenster geklettert, um in die Schule zu kön-nen. Dort bin ich dann zusammengebrochen. Im Kranken-haus habe ich behauptet, eine Diät zu machen.“ „Warum haben Sie gelogen?“, fragte die Richterin. Luca hob die Schultern. „Ich bin davon ausgegangen, dass mir keiner hilft und wenn Jochen es erfahren hätte, hätte er mich nur wieder zusammengeschlagen.“ „Was hat sich geändert? Warum haben Sie plötzlich darüber gesprochen?“, stellte die Frau die nächste Frage. „Nicholas“, erklärte Luca, „Er war der erste, der wirklich versucht hat, mir zu helfen. Er hat sich nicht mit meinen Lügen abspeisen lassen und solange nachgebohrt, bis ich es am Ende zugegeben habe.“ „Können Sie mir erzählen, was passiert ist, bevor Sie in das Auto rannten und ins Krankenhaus gebracht wurden?“, wollte die Richterin jetzt wissen. „Jochen ist von einer mehrtägigen Weiterbildung, oder wo auch immer er war, wiedergekommen. Sonja muss ihm etwas gesagt haben. Er ist in mein Zimmer gestürmt und hat auf mich eingeschlagen. Jochen hat sich anders benommen als sonst und ich habe Angst bekommen. Ich dachte, diesmal bringt er mich um. Ich habe ihn zwischen die Beine getreten und bin durch das Fenster geflohen. Er hat versucht, mich zu verfolgen, aber ich konnte ihn abhängen. Bis zum nächsten Abend bin ich ziellos durch die Stadt geirrt.“ Die Richterin nickte. „Das sollte genügen. Nehmen Sie doch bitte hinten Platz. Sie bleiben unvereidigt.“ Luca setzte sich auf den freien Stuhl neben Nicholas und lehnte sich an seinen Freund, der ihn sofort an sich zog. Die Tür zum Sitzungssaal wurde geöffnet und Jochen und Sonja wurden wieder hereingeführt. Jochen warf dem Blonden einen zornigen Blick zu. Er hatte seine Aussage gehört, da war sich Luca sicher. Luca kuschelte sich noch näher an seinen Freund und schloss die Augen. Er wollte nicht sehen, was um ich herum passierte. Nicholas fuhr ihm sanft durch seine Locken und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. „Wir haben es gleich geschafft“, flüsterte er. Plötzlich erklang ein panischer Aufschrei. Erschrocken riss Luca die Augen wieder auf. Was er sah, ließ ihn zusammenfahren. Jochen hatte sich irgendwie von sei-nen Bewachern befreien können und stürmte jetzt auf den Siebzehnjährigen zu. Zwei der Zeugen sprangen zur Seite, um dem Mann nicht in den Weg zu geraten. Luca wusste nicht, wie ihm geschah, da wurde er schon von Nicholas am Oberarm gepackt und der Schwarzhaarige zog ihn mit Nachdruck hinter sich. „Du elende Missgeburt“, tobte Jochen und hob drohend die Faust. Alte Reflexe erwachten in Luca. Er kniff die Augen zusammen und wartete auf den Schlag, der ja unweigerlich kommen würde. Doch dieser blieb aus. Nicholas hielt Jochen problemlos auf. Er fing sein Handgelenk in der Luft ab und drehte es ihm mit einer geschickten Bewegung auf den Rücken, das schmerzhafte Aufstöhnen des Mannes ignorierend. „Habe ich mich letztes Mal nicht deutlich genug ausgedrückt? Du sollst deine Finger von Luca lassen!“ „Von einer Schwuchtel wie dir lasse ich mir gar nichts sa-gen“, brauste Jochen auf. Nicholas hob die Brauen. Er verstärkte den Griff um das Handgelenk des Mannes und verdrehte ihm den Arm noch ein kleines Stück weiter. Jochen stöhnte vor Schmerz auf. „Wären Sie so nett und würden wieder ihrem Job nach-kommen“, fragte der Schwarzhaarige, an Jochens Bewacher gerichtet. Sofort eilten zwei der Bewacher auf ihn zu. sie nahmen ihm Jochen ab und legten dem Mann Handschellen an, ehe sie ihn wieder zu seinem Platz zerrten. Beinehe schon instinktiv klammerte Luca sich an seinem Freund fest und war erleichtert, als dieser die Arme um ich legte. Auch wenn Nicholas ihn nicht vollständig von den Leuten abschirmen konnte, so fühlte sich der Blonde jetzt ein ganzes Stück sicherer. „Bist du in Ordnung?“, fragte Nicholas besorgt. Luca nickte, nur um gleich darauf den Kopf zu schütteln. Er war unverletzt, ja, aber gut ging es ihm trotzdem nicht. „Kann ich mit Luca zurück in den Warteraum?“, erkundigte der Schwarzhaarige sich bei der Richterin, „Das war etwas zu viel für ihn.“ Die Frau schien es gestattet zu haben, denn Nicholas ver-stärkte seine Umarmung und trug den Blonden vorsichtig aus dem Sitzungssaal. Hinter ihnen schloss er etwas umständlich die Tür und setzte Luca auf einem der Stühle ab, ehe er neben seinem Freund Platz nahm. Hier fühlte Luca sich gleich ein ganzes Stück wohler. Er war mit Nicholas allein, weg von den begierigen Blicken der anderen Zeugen und vor allem weg von Jochen und Sonja. „Weinst du?“, riss Nicholas‘ ruhige Stimme ihn aus den Ge-danken. Luca löste sich kurz von ihm und fuhr sich mit der Hand über die Wange. Tatsächlich, stellte er fest, ihm liefen Tränen übers Gesicht. Nicholas zog ihn wieder an sich heran und wiegte ihn lang-sam hin und her. „Es ist alles gut“, flüsterte er, „Du musst diese Monster nie wieder sehen, dafür sorgen unsere Väter schon. Außerdem hat Jochen sich durch seinen Ausraster eben schon selbst verraten. Sie können ihn gar nicht mehr freisprechen.“ „Danke“, antwortete der Blonde leise. Er konnte gar nicht ausdrücken, wie dankbar er war. Nicht nur für den Beistand jetzt. Der Schwarzhaarige hatte eine Menge für ihn getan, mehr als alle anderen zusammen. Er hatte die Hand nach ihm ausgestreckt, als Luca bereits aufgegeben hatte, und ihm wieder auf die Beine geholfen. Ohne ihn hätte Luca es nie so weit geschafft. Wahrscheinlich wäre er nicht einmal mehr am Leben. Eine gefühlte Ewigkeit später war die Verhandlung beendet und die Leute verließen den Sitzungssaal. Luca und Nicholas saßen immer noch eng umschlungen im Warteraum. Als sie die Schritte und Stimmen hörten, lösten sich wieder voneinander. „Und?“, fragte Nicholas seinen Vater, obwohl dessen Mimik schon verriet, dass er mit dem Urteil zufrieden war, „Wie ist es verlaufen?“ Kapitel 108: Nie wieder ----------------------- Das wollte Luca auch wissen. Interessiert schaute er zum Vater seines Freundes. Karl räusperte sich. „Jochen hat zehn Jahre bekommen, Sonja fünf Jahre und vier Monate und Luca einen ordentli-chen Batzen Geld.“ Peter stimmte seinem Freund und Kollegen zu. „Besser hät-te es nicht laufen können.“ Erleichtert atmete Luca aus. Eine Last, deren Existenz ihm bis eben nicht bewusst war, fiel von seinen Schultern und ihm liefen erneut Tränen über das Gesicht, diesmal aller-dings vor Freude und Erleichterung. Die anderen schienen ihm anzusehen, dass die Tränen posi-tiver Natur waren, denn sie versuchten nicht, ihn zu trösten. Sein Vater reichte ihm lediglich ein Taschentuch. Anstatt es entgegenzunehmen und sich das Gesicht abzuwi-schen, stand Luca auf und fiel seinem Vater vor lauter Freu-de über das Urteil um den Hals. Peter drückte seinen Sohn an sich. Erst nach einigen Minuten löste Luca sich wieder von ihm. „Wir sollten auch langsam los“, meinte Karl, nachdem er kurz auf seine Armbanduhr gesehen hatte. Nicholas wollte sich erheben und ihm folgen, als Luca nach seiner Hand griff. Verwundert hielt der Schwarzhaarige inne und schaute ihn an. „Kommst du mit zu mir?“, fragte Luca vorsichtig. Er wollte nicht zu aufdringlich sein. Der Schwarzhaarige sah zu seinem Vater, wohl um zu Fra-gen, ob das in Ordnung wäre. Der Anwalt nickte. „Aber vergiss nicht, morgen in die Schule zu gehen.“ „Danke“, sagte Nicholas. Karl wandte sich an René: „Dann werde ich dich mal wieder nach Hause bringen.“ „Bis morgen“, verabschiedete René sich von seinen Freun-den. Gemeinsam mit dem Vater seines besten Freundes verließ er das Gebäude. Luca und Nicholas mussten in die andere Richtung, denn dort hatte Peter, der ausnahmsweise selbst fuhr, geparkt. Sie warteten, bis der Mann das Fahrzeug aufgeschlossen hatte, dann machten sie es sich auf der Rückbank bequem. Die Fahrt verlief ruhig. Luca schaute aus dem Fenster und hing seinen Gedanken nach. Er konnte es noch nicht fassen, dass das alles jetzt ein Ende haben sollte. Zu lange war die Angst vor Jochen ein fester Bestandteil seines Lebens gewe-sen. Jetzt war er weg und würde auch nie wiederkommen, zumindest für die nächsten zehn Jahre. Er griff nach Nicholas Hand und verschlang ihre Finger inei-nander. Der Schwarzhaarige drückte kurz seine Hand. Dann strich er ihm mit dem Daumen über den Handrücken. Peter hielt in der Einfahrt und die beiden Jungs stiegen aus dem Auto. Luca schloss die Haustür auf und führte Nicholas, nachdem sie Jacken und Schuhe ausgezogen hatten, direkt in sein Zimmer, wo Oreo sie begrüßte. Der junge Kater klet-terte aus Lucas Bett und kam laut schnurrend auf die zwei zugelaufen. Als Luca nicht sofort reagierte, maunze er und strich ihm, weiterhin laut schnurrend, um die Beine. „Na du,“, grüßte der Blonde das Tier und hob es vorsichtig auf seinen Arm, ehe er ihn seinem Freund zum Streicheln hinhielt. Nicholas betrachtete den Kater misstrauisch. „Und du bist sicher, dass er sich das gefallen lässt? Letztes Mal ist er vor mir ausgerissen.“ Luca lachte. „Sag bloß, du hast Angst vor Katzen.“ Schon allein den Gedanken, dass sein Freund angst vor etwas so niedlichem haben könnte, fand er lustig. Natürlich war dem nicht so, trotzdem neckte er Nicholas ein kleinwenig. „Ich mag meine Hände nur lieber unzerkratzt“, brummte der Schwarzhaarige, streckte aber trotzdem die Hand nach Oreo aus und fuhr ihm über den Kopf, wofür der Kater ihn mit einem lauten Schnurren belohnte. Luca beobachtete das mit Erleichterung. Eine Weile hatte er befürchtet, Nicholas würde nicht mit seinem neuen Mitbe-wohner auskommen. Aber wie es schien, hatte der Schwarzhaarige keine Probleme mit Katze. Lange ließ der Kater sich allerdings nicht von Luca halten. Lautstark verlangte er, wieder heruntergelassen zu werden, bevor er zur Tür lief und sich maunzend davor setzte. Luca öffnete die Tür und der Kater spazierte fröhlich in den Flur. Dann ließ er sich ind Bett fallen. Bis zum Abendessen waren es noch gut drei Stunden. „Und, was machen wir jetzt?“, fragte Nicholas als er sich neben ihm niederließ. Er winkelte die Beine an und schlug das linke über das rechte. „Kuscheln?“ Gespielt unschuldig schaute Luca seinen Freund an. Er wusste, Nicholas wollte auf etwas anderes hinaus, allerdings hatte der Blonde keine Lust, das Bett wieder zu verlassen. Der heutige Tag hatte ihn träge gemacht. Am liebsten hätte er die Augen geschlossen und wäre ein-geschlafen, wenn es nicht erst Nachmittag gewesen wäre. Der Schwarzhaarige hob die Brauen. „Nur kuscheln?“ Auf Lucas Gesicht bildete sich ein Lächeln. Das wäre natür-lich auch möglich und dazu könnte er auch im Bett liegen bleiben. Abgeneigt war er auch nicht. Er ließ sich auf den Rücken fallen und warf seinem Freund einen herausfor-dernden Blick zu. In seinem Bauch kribbelte es schon vor Vorfreude auf das Kommende. Nicholas, der das richtig interpretierte, beugte sich über ihn und küsste ihn stürmisch. Die Küsse wurden fordernder und die Hände begannen, über den Körper des jeweils anderen zu streichen. Luca zerwühlte mit der Hand Nicholas‘ Haare. Inzwischen war er auch mehr so unsicher. Oft genug hatte sie ihre Kör-per erkundet, auch wenn sie bis jetzt nur ein Mal miteinan-der geschlafen hatten. Entschlossen zog er Nicholas den Pullover über den Kopf und warf ihn in hohem Bogen durch das Zimmer. Der Schwarzhaarige tat es ihm gleich und sie saßen sich oben ohne gegenüber. Als nächstes folgten Schuhe und Socken. Auch diese wurde irgendwie fallen gelassen. Dann kniete Nicholas sich über den Blonden und öffnete seine Hose. Wie schon beim letzten Mal hob Luca kurz die Hüfte, um es seinem Freund leichter zu machen, ihm das störende Kleidungsstück auszuziehen. Ein leichter Rotschimmer bildete sich auf seinen Wangen, als Nicholas ihn betrachtete, aber er rächte sich schnell dafür und befreite ihn ebenfalls aus seiner Hose. Seine Finger zitterten nicht mehr und er war auch so deutlich weniger aufgeregt. Nichtsdestotrotz schlug ihm das Herz bis zum Hals und sein Atem ging schneller. Nicholas erging es nichts anderes. Als Luca ihm über die Brust strich, spürte er dass das Herz seines Freundes genau-so schnell schlug, wie seines. „Ich liebe dich“, flüsterte Luca heiser. Es war das erste Mal, dass er es von sich aus und ohne Zwang aussprach. Bis jetzt hatte er sich nicht getraut, da er sich nicht sicher war, was genau Nicholas für ihn empfand und ihn nicht in eine unan-genehme Situation bringen wollte. Jetzt, endlich, konnte er ihm die drei Worte sagen. Der Schwarzhaarige strich ihm zärtlich über die Wange. „Ich dich auch.“ Dann fuhren seine Finger in den Bund von Lucas Unterhose und neckten die Haut darunter. Erschrocken quietschte Luca auf und drückte die Hände zur Seite, woraufhin Nicholas ihm die Unterhose quälend lang-sam auszog. Jetzt lag Luca nackt unter seinem Freund, der ihn erneut von oben bis unter musterte. „Du auch“, forderte er deshalb. Nicholas kletterte aus dem Bett und streifte sich das Klei-dungsstück vom Körper. Er hockte sich neben Lucas Nacht-tisch und durchsuchte die Kästen nach den gewünschten Utensilien. Als er sie gefunden hatte, stieg er zurück ins Bett. Jedoch staunte er nicht schlecht, als Luca sie ihm abnahm. Der Blonde setzte sich und drückte vorsichtig gegen seine Brust. „Diesmal lieg ich oben.“ Einen Augenblick lang starrte Nicholas seinen Freund un-gläubig an, dann bildete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht. Er schlang seine Arme um Luca und ließ sich nach hinten fallen, wodurch der Blonde das Gleichgewicht verlor und ziemlich unelegant auf ihm landete. Hier geht es zur Fortsetzung / Nebengeschichte: http://www.fanfiktion.de/s/551eff4e00011fb61cd2defb/1/Spiel-mit-mir http://animexx.onlinewelten.com/fanfiction/346220/ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)