Nachtwanderer von Kunoichi (20. Adventskalendertürchen 2013) ================================================================================ Kapitel 1: Nachtwanderer ------------------------ Die Nacht war lang. Sie war pechschwarz, eisig kalt und so still, dass einem vor Unbehagen die Nackenhaare zu Berge standen. Mikasa wälzte sich in ihrem Bett hin und her und ganz egal, welche Position sie einnahm, nichts schien wirklich bequem zu sein. Es fiel ihr schwer, die Augen zu schließen, fast so, als spanne sie damit einen Muskel an, den sie nach kurzer Zeit wieder lösen musste. Rastlos starrte sie in der Dunkelheit umher und versuchte die Konturen der Hochbetten zu erahnen, in denen die anderen Mädchen ihrer Trainingseinheit schliefen, um wenigstens das trügerische Gefühl loszuwerden, ganz allein im Raum zu sein. Dass dem nicht so war, war ihr durchaus bewusst und dennoch zuckte Mikasa jedes Mal zusammen, wenn sie das Rascheln eines Lakens oder das Stöhnen einer Schlafenden hörte. Was blieb, war das Warten. Doch worauf überhaupt? Auf die Müdigkeit oder den Morgen? Darauf, dass etwas Unerwartetes passierte? Oder vielleicht nur auf den Frühling und das Ende ihrer dreijährigen Ausbildung zur Soldatin? Warten, womöglich nur auf ihn… Mikasa setzte sich leise auf, stieg aus dem Bett und tastete sich vor bis zur Tür. Ihr warmer Wollmantel hing neben denen ihrer Kameradinnen an der Garderobe, die dicken Stiefel standen direkt darunter. Wie eine Blinde zog sie sich an und schlich dann fast geräuschlos hinaus ins Freie. Wie spät es wohl war? Der verhangene Himmel ließ keinen Blick auf Mond oder Sterne zu, doch es musste inmitten tiefster Nacht sein, selbst wenn man das bei dieser Jahreszeit nie so genau einschätzen konnte. Nach Schnee sah es jedenfalls nicht aus – in diesem Winter hatte sich noch nicht eine einzige Flocke zur Erde bemüht – dafür reduzierten dichte Nebelschwaden die Sicht auf kaum fünf Meter. An den Fenstern der Holzhütte, die den Mädchen als Nachtquartier diente, hatten sich schon Eisblumen gebildet. Die Kälte durchdrang Mikasa bis in die letzte Pore. Sie schob sich ihren roten Schal über Mund und Nase und schritt zügig aus, um die Taubheit ihrer Füße mit Bewegung zu vertreiben. Von außen wirkten sowohl die Unterkunft der Jungen als auch das große Gemeinschaftsgebäude mit dem Speisesaal und sogar der unbesetzte Aussichtsturm wie eine alte Geisterstadt. Die Bauwerke tauchten schemenhaft aus dem Nebel auf und verschwanden ebenso schnell wieder in ihm, sobald Mikasa sie passiert hatte. Alle Geräusche schienen wie durch ein Vakuum aus ihrer Umgebung herausgesogen zu sein, denn nicht einmal der Ruf einer Eule oder das übliche Scharren und Schnauben der Pferde aus den Ställen erfüllte diese grauenerregende Stille. Zielgerichtet überquerte Mikasa den weitläufigen Hof bis hin zum Wald und lauschte dabei dem nervösen Trommeln ihres eigenen Herzschlags. Sie wusste, wenn sie sich nur eine einzige Blöße gab und zur Seite oder nach Hinten umsah, würde die Panik sie gnadenlos überwältigen. Durch unwegsames Gelände gelangte sie zu einem der Trainingsplätze, an denen hölzerne Nachbildungen der Titanen überall zwischen den Baumwipfeln emporragten. Schon aus der Ferne hörte sie das Klappern einer Ausrüstung, das Surren von Stahlseilen und das laute Knallen, das beim Auftriebgeben entstand. Schwerter sausten durch die kalte Luft, Holz splitterte, als es krachend zu Boden fiel und mit einem gekonnten Sprung landete der Verursacher des ganzen Spektakels keuchend und schwitzend neben der zerstörten Attrappe. „Eren!“ Erschrocken fuhr der junge Mann herum und fixierte Mikasa mit gezogenen Waffen und gehetztem Blick, bis er sie schließlich erkannte und die Anspannung ihm deutlich sichtbar aus Gesicht und Gliedern wich. „Was machst du denn hier?“, fragte er ungehalten. „Warum bist du nicht im Bett?“ „Das sollte wohl eher mein Text sein“, entgegnete Mikasa ebenso forsch und verschränkte zornig die Arme vor der Brust. Sofort gab Eren klein bei, prüfte unnötigerweise den richtigen Sitz seines Kampfequipments und nuschelte etwas von, er habe nicht schlafen können und dann stattdessen lieber ein wenig üben wollen. „Jede Nacht?“, harkte Mikasa weiter nach und ihre Stimme klang plötzlich eine Spur sanfter. Eren fragte nicht, woher sie das wusste und sie erwartete es auch nicht von ihm. Natürlich war ihr seine ständige Müdigkeit schon vor Wochen aufgefallen und sie hatte ihn auch ein paar Mal dabei beobachten können, wie er heimlich und in voller Montur im Wald verschwunden war. Doch vor allem kannte sie ihn einfach viel zu gut. „Ich mache mir Sorgen um dich“, gestand sie. „Wir trainieren doch schon jeden Tag von morgens bis abends. Wenn du so weiter machst, bist du bald am Ende deiner Kräfte. Außerdem hab ich ein schlechtes Gefühl dabei, wenn du ganz allein hier draußen bist. Kannst du es nicht einfach mal gut sein lassen?“ „Die Titanen halten keinen Winterschlaf, Mikasa“, sagte Eren grob. „In drei Monaten sind wir Soldaten und dann geht es erst richtig los. Viele Kadetten hier haben keine Vorstellung davon, wie es ist, um sein Leben zu bangen. Sie sind sorglos und meinen, ohne große Anstrengung zur Militärpolizei zu kommen, um dann im sicheren Inneren Bezirk leben zu können. Aber wir beide wissen es besser, oder? Hinter den Mauern warten keine Holztitanen und da interessiert auch niemanden, dass wir gerade erst fertig ausgebildet sind. Ich will vorbereitet sein, verstehst du? Darum muss ich jede freie Minute trainieren. Ich will zur Aufklärungslegion und ich will diese Monster sterben sehen.“ Mikasa lauschte seinen Worten mit einer Mischung aus Grauen und Faszination. War es Mut oder Wahnsinn, der ihn antrieb? Und doch war es ihr im Grunde einerlei. Diese ausdrucksstarken grauen Augen, der weiche Mund, die Mimik und Gestik, die Art, wie er sprach und auch seine Ansichten und Eigenarten… Mikasa liebte alles an ihm. Viel zu lange schon hatte sie nach Ausreden und Erklärungen gesucht, hatte sich verteidigt und verleugnet und musste am Ende doch einsehen, dass ihre Gefühle mehr als nur Geschwisterliebe waren. Kein Bruder konnte einem das Herz so schnell zum Klopfen bringen. Kein Bruder konnte den Kopf so wirr machen, um tagein, tagaus an nichts anderes als ihn denken zu können. Sie wusste, sie würde Eren überallhin begleiten und ihm sogar bis ans Ende der Welt folgen, wenn es nötig war. Seine Entscheidungen würden die ihren sein und wenn er zur Aufklärungslegion gehen wollte, dann würde auch sie diesen Weg wählen. Die Angst vor den Titanen, den bevorstehenden Kämpfen und dem Lauf der Zeit war nur deshalb erträglich, weil Mikasa das alles mit ihm gemeinsam durchstehen würde. Nur die Furcht davor, ihn zu verlieren, war noch ein wenig größer und allein dafür schon musste sie mit ihm gehen und ihn beschützen, so gut es nur ging. Ja, Eren war ihr schwacher Punkt und sie hatte sich mehr als nur einmal gefragt, ob sie ihm nicht vielleicht genauso viel bedeutete. Doch die ehrliche und schmerzhafte Antwort war, dass sie wohl auf immer und ewig bloß seine Schwester bleiben würde. Da gab es keine Anspielungen und da war auch nichts hineinzuinterpretieren. Sonst musste sie sich doch schon sehr in ihm täuschen… „Geh zurück und leg dich wieder hin!“ Eren kehrte auf dem Absatz um, ließ die Stahldrähte aus ihrer Verankerung sausen und sich bis auf die hohen Äste eines Baumes hinaufziehen, bevor Mikasa auch nur den Mund aufmachen konnte. Halb wütend, halb flehend rief sie ihm noch nach, doch der Junge war längst hinter einer dicken Wand aus Nebel verschwunden und in beharrliches Schweigen verfallen. Mikasa zog sich den Mantel enger an den Körper und stapfte fluchend in Richtung Lager davon. Sollte sich dieser dämliche Trottel doch die Erkältung des Jahrzehnts holen! Sollte er morgen im Strategieunterricht ruhig auf der Tischplatte einschlafen und vom Ausbilder ein paar Extrastunden auferlegt bekommen! Sollte er- Donnernde Schritte hallten wie Gewehrschüsse durch den stillen Wald, der Boden erzitterte gleich einem Erdbeben und Mikasa geriet beinahe ins Stolpern. Hektisch blickte sie sich um und sah den Titanen gerade noch rechtzeitig von der Seite heran preschen, um ihm mit einer Rolle ins Gestrüpp auszuweichen. Mikasas Schätzungen nach war er etwa acht Meter groß, hatte – wie viele seiner Art – einen seltsam deformierten Körper mit langen, muskelbepackten Armen und sehr kurzen Stummelbeinen, ein hässliches Maul und unnatürlich viele Zähne. Es schien unbegreiflich, wie er an diesen Ort gekommen sein konnte, denn das Trainingslager lag innerhalb der Mauern und wenn diese erneut durchbrochen worden waren, hätten sie die Nachricht längst erhalten. Oder war er womöglich schon die ganze Zeit hier im Wald gewesen? Doch wie konnte das nur sein? Mikasa hatte keine Kampfausrüstung dabei und ihre einzige Überlebenschance bestand darin, sich ganz langsam und unauffällig von dem Titanen zu entfernen, solange sie seine Aufmerksamkeit noch nicht auf sich gezogen hatte. Schritt für Schritt bewegte sie sich rückwärts durchs Dickicht, zerkratzte sich an den Zweigen die Wangen und wagte kaum zu atmen, während die rollenden Augen des Monsters wie Suchscheinwerfer nach ihr Ausschau hielten. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich nackter und schutzloser gefühlt, als in diesem Moment. Vorsichtig stieg sie über ein Gewirr aus Baumwurzeln, wobei sich ihr Schal unbemerkt in einem Weißdornbusch verfing und drohte, ihr die Luft abzuschnüren. Mikasa reckte sich umständlich, zerrte an dem roten Stoff und bekam ihn weder frei, noch konnte sie ihn abwickeln und dort zurücklassen, denn immerhin war er ein Geschenk von Eren gewesen. Berstend gab der Strauch nach und der Kopf des Titanen schnellte ruckartig in ihre Richtung. Wie ein wildgewordenes Tier raste er auf sie zu, streckte seinen gewaltigen Arm aus und spreizte die langen Finger, um sich das Mädchen zu greifen, das, im Unterholz gefangen, wie zur Salzsäule erstarrt war. Dann besprenkelte Blut den Boden. Mit einem dumpfen Aufprall verfehlte die abgetrennte Hand Mikasa nur um wenige Meter und der Titan, durch den plötzlichen Angriff aus dem Gleichgewicht gebracht, stürzte auf die Knie. „Los, lauf weg!“, brüllte Eren ihr über die Schulter zu, hakte die Seile in der Brust des sich aufrichtenden Ungeheuers ein und schwang sich schon hinauf zu dessen Nacken, als es mit der verbliebenen Hand zum Schlag ausholte und ihn gegen einen der umstehenden Bäume schleuderte. Mikasas Entsetzensschrei hing ihr stumm auf den Lippen und während sie reglos zusah, wie der Stumpf des Titanen begann, sich zu regenerieren, vermischte sich Angst mit Zorn. Wenn sie doch bloß ihre Ausrüstung dabei gehabt oder einfach nur eine Waffe besessen hätte! Alles hätte sie dafür gegeben, Eren nützlich zu sein und ihn im Kampf unterstützen zu können! Stattdessen beobachtete sie hilflos, wie er um den Titanen herum durch die Luft schoss und nach einer Möglichkeit suchte, abermals den empfindlichen, totbringenden Punkt an seinem Nacken zu erreichen. Als wäre er nichts weiter als ein lustiges Spielzeug, grabschte der Titan immer wieder nach ihm und wirkte dabei mehr denn je wie ein riesenhaftes Kleinkind. Schließlich passierte, was längst vorherzusehen war: Das Monster bekam eines der Stahldrähte zu fassen, die Eren in der Schwebe hielten und zog ihn daran mit voller Wucht zur Erde. Der Aufschlag presste ihm den Atem aus den Lungen und für einen Moment blieb er benommen zwischen den Füßen des Ungetüms liegen. „NEIN!“ Ohne es zu planen, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, rannte Mikasa los. Der Titan wandte ihr sein hässliches Antlitz zu und Eren nutzte die kurze Ablenkung, versenkte die Widerhaken erneut in dem gigantischen Körper und hangelte sich rasch an ihm hinauf. Die scharfen Klingen glitten durchs Fleisch wie ein Küchenmesser durch die Butter und bevor der Titan überhaupt realisiert hatte, was geschehen war, kippte er vornüber und brach dabei die Bäume ringsum entzwei, als wären sie Streichhölzer. Mikasa warf sich flach auf den Boden, kniff die Augen zusammen und verschränkte die Arme über dem Kopf. Von Grauen erfüllt lauschte dem Poltern und Splittern der Baumstämme, die neben ihr einschlugen, spürte kleine Zweige auf sich hinab rieseln und schickte Gebete zum Himmel, dass dies noch nicht das Ende sein möge, bis sich plötzlich etwas Warmes und Schweres schützend über sie legte. Der Krach und die Zerstörung dauerten eine ganze Weile an und erst als die nächtliche Ruhe des Waldes allmählich wieder Einzug hielt, wagte es Mikasa, sich langsam auf den Rücken zu drehen. Erens Gesicht schwebte nur wenige Zentimeter über ihrem. Er hatte sich ein paar oberflächliche Kratzer und einen tieferen Riss an der rechten Augenbraue zugezogen, schien ansonsten jedoch unverletzt. Ein zufriedenes Lächeln umspielte sanft seine Lippen und Mikasa fühlte sich auf einmal, als springe in ihrem Magen ein Gummiball auf und ab. Die unerwartete Nähe zu diesem Jungen war ebenso erschreckend wie anziehend und obwohl sie ihm kaum in die Augen sehen konnte, wünschte sie sehnlichst, er würde nie mehr von ihr runtergehen. „Bist du in Ordnung?“, fragte er sorgenvoll und Mikasa brachte bloß ein heiseres Räuspern hervor. Zaghaft hob sie die Arme, legte ihre zitternden Hände auf seine Wangen und ignorierte die Verwirrung in seinem Blick, als sie ihn so weit zu sich heranzog, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. Eren wehrte sich nicht, sein Brustkorb hob und senkte sich rasch und Mikasa nahm den Klang seines Herzens direkt neben ihrem eigenen wahr. Plötzlich war es ihr egal, was er über sie denken oder für sie empfinden mochte. Sie wusste, wenn sie das Risiko nicht einging und diesen einen Augenblick verstreichen ließe, würde sie das bis in alle Ewigkeit bereuen. Denn sie wollte ihn – schon immer und noch nie so sehr wie jetzt… Mikasa schreckte jäh aus dem Schlaf, stieß sich den Kopf an dem niedrigen Hochbett und musste sich kurz in der Dunkelheit orientieren, ehe sie begriff, wo sie war. Zerstreut fuhr sie sich mit der Hand über die Augen, betastete die schweißnassen Laken und versuchte langsam ihren Atem zu regulieren, der raste wie nach einem Marathonlauf. In der Schwärze der Nacht, die noch ebenso undurchdringlich war, wie am Abend zuvor, konnte sie nicht einschätzen, ob es bald dämmern würde oder kaum Zeit verstrichen war. Ganz sicher aber, hatte sie bis eben gerade einen seltsamen Traum gehabt, von dem sie nicht genau zu sagen vermochte, ob sie ihn gefürchtet oder genossen hatte. Es war sowohl ein Titan als auch Eren darin vorgekommen. Eren… Der Gedanke brachte Mikasas Puls erneut aus dem Rhythmus. Seufzend sank sie zurück in die Kissen und versuchte sich noch einmal die letzten Sekunden mit ihm in Erinnerung zu rufen, doch alle Einzelheiten bekam sie einfach nicht mehr zusammen. Geistesabwesend griff sie sich an den Hals, um ihren Schal zu lockern, der unter der Decke unangenehm warm geworden war und saß auf einmal wieder kerzengerade im Bett. Mit dem Schlafen schien es nun endgültig vorbei und es war nur einzige Frage, die noch bis Sonnenaufgang unentwegt in ihrem Kopf hämmerte: Wann zum Teufel hatte sie sich denn den Schal angezogen? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)