25 Ways to meet someone von Jyll ================================================================================ Kapitel 1: Soccer ball & Salad bar ---------------------------------- Der Zuschauer: Ruki sass auf der Tribüne seiner Schule und sah hinunter auf den schlammigen Platz. Die noch grünen Grasflecken lagen wie Inseln im vom Regen braunen Meer. Oder auch Fussballplatz genannt. Wahlweise konnte man allerlei Sportarten darauf betreiben, aber gerade trainierte ihre Fussballmannschaft, die sich allgemeiner Beliebtheit erfreute. Sport interessierte Ruki nur mässig. Er selbst beteiligte sich jedenfalls nicht. Er war in der Musik AG, so kam er um den Zusatzsport herum. Aber auf den oberen Rängen der Tribüne hatte man einen guten Ausblick und wenn kein richtiges Spiel, sondern nur Training lief, hatte es auch kaum Leute hier. Nur heute schien das anders. Vor allem viele Mädchen waren da. Ruki wunderte sich und setzte sich eine Reihe hinter die obersten besetzten Ränge, um aufzuschnappen, warum das heutige Training so interessant war, ohne mit den Frauenhäusern reden zu müssen. „…ja, mein Typ eigentlich nicht…“ Ruki spitzte die Ohren etwas besser, um die kleine Blonde und die Vollschlanke aus seiner Parallelklasse vor ihm belauschen zu können. „Was?! Nur weil du auf schwarzhaarig stehst!“ „Ach ne…aber das Band…vielleicht ist er kriminell?“ Welches Band? Vielleicht sprachen die Mädels doch von was ganz anderem. Ruki sah kurz zu den herumrennenden Kerlen unten auf dem Platz. „Ach was! Das ist doch aufregend! Er ist voll geheimnisvoll und so!“ „Ja, niemand weiss was über ihn!“ Oke, sie sprachen anscheinen von einem Kerl. Vielleicht spielte der ja gerade Fussball und deshalb waren so viele hier. Komissar Takanori. Zumindest wäre es eine schlüssige Erklärung. „Eben! Und heiss ist er auch!“ Die Damen vor Ruki schmachteten vor sich hin. Der Kleine verdrehte die Augen. Ein neuer Schüler? Mitten im Schuljahr? Ungewöhnlich. Und uninteressant. Ruki gähnte und musterte die Strichmännchen. Ihm kamen alle bekannt vor. Sein Blick schweifte über die Ersatzbank. Moment. Der Typ, der gerade aufstand, um ausgewechselt zu werden, den kannte er nicht. Aber irgendwas war komisch. Was hatte der im Gesicht? Ein Verband? Ein Stoffstreifen? Ruki prustete ungewollt los. Was war das denn?! Als er lauter lachte, drehten sich die zwei Mädchen erbost zu ihm um. „Belauscht du uns etwa?!“, keifte die Blonde. Ruki schüttelte lachend den Kopf. „So eine Frechheit! Hältst du dich etwa für etwas Besseres? Du bist kleiner als wir und hast ne Brille! Reita ist ja wohl viel heisser als du!“ „Reita?“ Ruki wischte sich über das tränende Auge. „Ja! Reita ist so männlich und gross und-…oh er spielt!“ Sie zeigte hektisch aufs Spielfeld. Ruki sah dem Finger nach. Dieser…‘Reita‘ war schnell. Man kam mit den Augen fast nicht nach. Und den Ball hatte er auch im Besitz. Und ein Tanga im Gesicht. Ruki lachte wieder los. Die Mädchen standen empört auf. „Komm wir feuern ihn unten an! Dann wird er auf uns aufmerk-sam!“ Sie trippelten die Seitentreppe aus Metall runter und stellten sich an den Spielfeldrand. Rui blieb glucksend sitzen. Zum Schiessen. Den Geschmack der Mädchen würde er nie verstehen. Er widmete sich seinen Blättern auf dem Schoss und kritzelte da ein neues Wort hin und strich dort eines weg. Es war erstaunlich schönes Wetter, nachdem es gestern noch so gestürmt hatte. Ruki war bei Unwetter kreativer. Heute ging es eher schleppend. So ohne Sonnenbrille bekam er fast Kopfschmerzen. Die Hitze brannte auf sie runter und verwandelte das Metallgestänge der Tribüne in nervige Sonnenspiegel. Ruki grummelte leise und kniff die Augen zusammen, aber konnte die dünnen Bleistiftstriche auf dem gleissenden Papier nicht mehr lesen. Mittagszeit eben. Ruki hob den Kopf, schirmte die Augen mit der Hand ab. Das Spiel schien zu einem Ende zu kommen. Die meisten Menschen waren aufgestanden und auch runter an den Spielfeldrand gegangen, um das Finale von dort zu beobachten. Ruki blieb beharrlich sitzen. Das ging ihn alles nichts an. Er ordnete seine Blätter so gut es ging. Dabei dachte er über seinen Status als Einzelgänger nach und bereute es nicht; Allein schon wenn er diesen Weiber zusah. Von denen wurde er glücklicherweise in Ruhe gelassen. Aber er bereute, keine Sonnenbrille mitgebracht zu haben. Ruki packte sein Kribbelzeug in die Tasche und stand auf. Unten war derweil Jubel aufgebrandet und wieder abgeklungen, die Fussballer waren am abziehen, im Anhang ihre jeweiligen Freundinnen oder die eine oder andere Schwärmerin. Manchmal auch beides. Ruki nahm langsam einen Tritt nach dem anderen, damit möglichst kaum noch Leute da waren und er ohne Rempeln am Platz entlang konnte. Bis er unten war, standen tatsächlich nur noch der Coach, die zwei Zicken von vorhin und dieser Unbekannte dort. Während die Mädchen auf den Kerl warteten, lauschte der nur den Anweisungen des Coachs und bedankte sich für das Lob. Ruki wurde gleich schlecht. Er lief an den Weibern vorbei, gerade als der Unbekannte sich umdrehte und, den Ball in den Händen, gehen wollte. „He!“ Zu Rukis grösster Überraschung lief der Neue gleich darauf neben ihm. Anscheinend hatte er die zwei Mädels auf der Seite gelassen und war achtlos an ihnen vorbei. Ruki sah zur Seite, lief aber weiter. „Du hast das ganze Spiel über auf der Tribüne gesessen!“ Ruki hob eine Augenbraue. „Fein beobachtet!“ Ihm war nicht bewusst gewesen, dass er die Aufmerksamkeit von jemandem erregt hatte. Und vor allem wie denn überhaupt? „Stehst du auf Fussball?“ Ruki schüttelte kurz und knapp den Kopf. „Oh…okay, dann vielleicht auf eine der Zuschauerinnen?“ Ruki sah ihn nur ungläubig an und schnaubte spöttisch. „Ist einer deiner Freunde Spieler?“ „Nein, ich mag bloss die Aussicht…“ Ruki brach ab. Das würde zu Missverständnissen führen. „Nicht auf den Platz! Auf das Gelände! Und normalerweise ist auch Ruhe auf der Tribüne.“ Reita hatte bereits angefangen zu grinsen. „Klar, klar…schon klar.“ Er zwinkerte ihm zu und spielte mit dem Ball in den Händen. Ruki kam gleich sein Salat hoch. Was war das denn für ein Schnösel? Ging ja gar nicht. „Und du…kommst immer ganz alleine?“, fragte der Sportler verschmitzt. Misstrauisch warf Ruki ihm einen Seitenblick zu. „Was geht dich das an? Überhaupt, kümmer dich um deine Lederkugel und die Weiber mit den Ohnmachtsanfällen, anstatt mich auszufragen!“ Ruki beschleunigte seinen Schritt. Nur Reita hatte längere Beine als er, hatte ihn also schnell wieder eingeholt. „Ich steh nicht so auf Weiber…und Kugeln…naja kommt etwas auf die Kugel an…“ Das Grinsen des Grösseren war so unverschämt, dass Ruki die Luft wegblieb. „Du bist also allein…“ Ruki Augenbrauen trafen sich in der Mitte. „Ja und das gerne, nur fällt das anscheinend so ner Fussballbirne nicht auf!“ „Kann man sich als dein + 1 bewerben?“ „Bitte was?!“ Ruki machte eine Vollbremse und Reita kam die paar Schritte zurück, die er weiter gegangen war. „Dein + 1. Dein Fester. Dein Drachenköpfer. Dein Zwiebelschäler, dein Spinnentöter. Dein Popcornspender, dein Lakenzerwühler.“ Ruki war völlig vor den Kopf gestossen. Von was redete der Verrückte? „Was…ich red kein Lederkugeljargon.“ „…“ Reita hatte den Ball unter den Arm geklemmt und sah ihn wartend an. „…dein Macker…?“ Es vergingen ein paar Sekunden, in der Ruki Gedanken durchraste für die er sonst einige Minuten gebraucht hätte. „Du…willst dich als meinen- “ Er hatte Mühe mit diesem Wort. „ - Macker…bewerben?“ Reita nickte, todernst. Ruki starrte und starrte und starrte. Und dann lachte er. Er lachte, dass die Sonne am Himmel neidisch wurde. Reita lachte nicht, er sah ihn noch ernster an, als zuvor. Und dann hörte Ruki abrupt auf. „Haben die Idioten das Aufnahmeritual geändert?“, fragte er humorlos. „Wer hatte die Idee? War das Takashima? Dem trau ich das voll zu. Haben sie dir noch die Wahl gelassen? Nein, kaum, sie haben dir sicher genau mich raus gepickt! Sehr komisch, ja wirklich.“ Ruki setzte sich wieder in Bewegung, Reita aber folgte ihm. „Von was redest du da? Aufnahmeritual?“ Ruki kochte vor Wut. Wo war dieses reiche Hurensöhnchen, der ihn als Scherz missbrauchte? „Wahl? Ich komm echt nicht mit.“ Ruki drehte sich wütend zu ihm um. „Ich bin doch nicht bescheuert! Die wollen von dir doch sicher, dass du nen Kerl abschleppst, um richtig in ihr Team aufgenommen zu werden. Wie weit wollen sie, dass du gehst, hm? Nur ein Date oder sollst du mich gleich flachlegen?“ Reita sah ihn an und biss sich langsam auf die Lippe, aber wohl um sein aufkommendes Grinsen zu kaschieren. „Etwas bescheuert vielleicht schon. Ich hab das Aufnahmeritual schon heute Morgen bestanden und dabei ging es um meine Shorts, ein Eimer Eis und eine Katze.“ Ruki runzelte die Stirn. Eine Katze? Was zum Teufel…das arme Vieh! Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, wie dieses Ritual grausam vonstatten hätte gehen können, riss Reita ihn aus den Gedanken. „Ich steh auf dich!“ „Eh…was?“ Ruki kehrte gerade aus der Gedankenwelt zurück. „Ich steh auf dich. Ich find dich echt heiss! Und ein bisschen niedlich.“ Reita grinste wieder so breit und zuckte mit den Schultern. „Also, wie siehts aus? Stellst du Beschützer ein?“ Der Spieler: „Reita?“ „Hmmmmm?“ „Reita, würdest du mal wieder hersehen?“ „Waaas?“ Reita starrte noch immer zur Salattheke und versuchte, nur mit einem Auge zu seinem Teamkollegen zu blicken. „Erde an Reita! Hör auf den Sonderling anzugaffen! Seit wir uns vor zehn Minuten hier gesetzt haben, starrst du ihn an. Sobald du ihn am Buffet entdeckt hattest! Das ist dein erster Tag, und ausserdem hast du gerade dein Aufnahmeritual bestanden. Versau es dir doch nicht gleich wieder!“ Reita riss sich jetzt endlich los. „Wer ist das?!“, fragte er begeistert. „Das da?“ Takashima zeigte mit der Gabel rüber zu dem Kleinen mit dem übergestylten Haar. „Matsumoto. Einsamer Wolf und so. Spricht mit niemandem, hat keine Freunde, macht keinen Sport. Hält sich wohl für was Besseres. Lässt sich nicht mal ärgern, der sieht glatt durch dich durch. Ist in der Musik AG, glaub ich. Keine Ahnung. Ich weiss nur, dass er DIE Spassbremse schlechthin ist!“ „Matsumoto…“, war alles was Reita andächtig wisperte und sah wieder zu dem Kerlchen, der sich jetzt endlich seine Salat zusammengestellt hatte und sich alleine an einen Fenstertisch setzte, wo er in dem Grünzeug rumstocherte. Ein kleiner, süsser Apfelarsch wie von Gott gemeisselt und Strähnen, die ihm in die nussbraunen Augen fielen. Er glaubte jedenfalls, dass sie braun waren. Von dieser Entfernung noch schwer. „Und sein Vorname? Wo wohnt er? Und er ist Single?!“, löcherte Reita seinen Nachbarn. „Sh, nicht so laut! Ich find gewisse Kerle ja auch süss, aber du solltest nicht gleich verkünden, dass du schwul bist und dann noch auf den Giftzwerg abfährst.“ „Giftzwerg? Das Kerlchen ist ein Engel in Teufelchenoptik!“, hauchte Reita verzaubert. Takashima seufzte. „Vorname…irgendwas mit Taka…Adresse steht im Schülerverzeichnis auf dem Sekretariat…und ja, der ist ganz sicher Single!“ Uruha verdrehte kurz die Augen und ass weiter. Hoffentlich gab Reita jetzt Ruhe. „Beeil dich besser, das Training startet in zwanzig Minuten.“ „Hmm…ja, komm gleich…ich muss noch kurz…äh zum Spind.“ Reita stand auf, warf das restliche Essen weg und sah noch wie der Kleine aus der Mensa im Gedränge verschwand. Reita machte einen Abstecher in die andere Richtung. Zehn Minuten später rannte er zu den Umkleidekabinen, kam aber prompt zu spät, weswegen er gleich mal auf der Bank landete. Dort langweilte er sich erst mal gehörig. Die meisten spielten um einiges schlechter als er selbst. Bis er die Tribüne inspizierte und dort, ganz oben seine neue Liebe entdeckte. Er sah beim Fussball zu. Er würde ihm zusehen beim Spielen. Vielleicht fand er Sportler ja doch irgendwie cool. Reita musste sich unbedingt Mühe geben und seine Aufmerksamkeit bekommen. Und dann wollte er ihn ansprechen. Oder vielleicht sprach der Kleine ja ihn an? Kapitel 2: Bad Caipirinha, Good Whiskey --------------------------------------- Der Typ an der Bar: An der Theke seiner Lieblingsbar sass Ruki. Zumindest seiner liebsten Bar der Woche. Wenn der Caipirinha, den er gerade bestellt hatte, sehr gut war, vielleicht die Lieblingsbar des Monats. Who knows. Es war noch nicht viel los, aber das änderte sich von Minute zu Minute, wo stetig neue Leute herein kamen. „Whiskey!“, dröhnte eine dunkle Stimme unvermittelt neben ihm. Ruki hob eine Augenbraue, hielt es aber nicht für nötig, den Kopf zu drehen und warf nur einen kurzen, spöttischen Blick aus dem Augenwinkel rüber. Was war das denn für ein Kerl? Gross. Damn. Ruki müsste den Kopf heben, um überhaupt mehr als nur die Brust des Stehenden zu sehen. Er sah auf die andere Seite, leckte sich die trockenen Lippen und wandte schliesslich doch den Kopf zu dem Fremden. Aber vom Gesicht sah er auch nicht viel. Welcher Verrückte trug ein Bandana im Gesicht? Hatte dem niemand erklärt, wie man diese unmodischen Dinger anzog? Ruki lachte kurz in sich hinein und da kam auch schon der goldfarbene Whiskey. Und wo blieb sein Caipirinha? Schnaubend wollte Ruki sich beschweren, als der Barhocker neben ihm knarrte. Fantastic.Jetzt sass der Typ auch noch neben ihm. „Hey!“, raunte Besagter ihm auch gleich noch zu. Great. Von der Seite angequatscht werden. Wie Ruki das liebte. Er warf bloss seinen vernichtendsten Blick rüber, den er auf Lager hatte und nahm endlich sein Getränk entgegen. Der Typ neben ihm schwieg und starrte. Ruki spürte, wie sich der Blick in seine Seite bohrte, in seine Wange stach. Wartete der noch auf eine Antwort? Okay, was hatte er so auf Lager? Ruki ging die Varianten durch und entschied sich für eine. „Ich steh auf Frauen. Get lost!“, knurrte Ruki. Ein Überraschungsmoment war Ruhe. Und dann: „Kein Hetero trinkt dieses weibische, grüne Gesöff!“ Ein rauer Finger zeigte auf Rukis Getränk. Shit. He has a point. Ruki nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. „Auch kein Homo…würg…“ Der schlechteste Caipirinha seines Lebens. Schnell schob Ruki das Glas von sich. Jetzt starrte der Kerl ihn aber noch intensiver an. „Ich bin vergeben, ja? Also verpiss dich.“ „Das hättest du gleich gesagt. Nächste Ausrede?“ Was verstand der Kerl denn nicht?! „Lass mich in Ruhe…ich bin sadistisch veranlagt, und habe extreme Bindungsprobleme. Ich würde dich nur fesseln, foltern und liegen lassen…“, sagte Ruki leise und starrte auf die Tischplatte. Es war still neben ihm, dann knarzte der Barhocker. Doch noch bevor sich ein erleichtertes Gefühl in Ruki breit machen konnte, erschall Gelächter von nebenan. Der Blonde lachte nicht einfach, nein, sondern schien sich gar nicht mehr einkriegen zu wollen. Etwas Whiskey spritzte auf den Tresen, der Rest verschwand im Rachen des Amüsierten. „Noch einen!“ Ruki musterte das leere Glas. Wenn der so weitermachte, war er bald betrunken. Das konnte gut oder even worse für Ruki sein. „Was hast du noch in petto?“ Die raue Stimme war eigentlich angenehm tief. Nur die Person dahinter nicht. Ruki drehte sich auf dem Hocker zu ihm und holte Luft. „Alright .…es geht dich einen Dreck an, aber ich will endlich meine Ruhe. Also…ich will niemanden kennen lernen. Ich bin krank und meine Zeit ist kostbar…“ Ruki sah ihn ernst an. „Aha…hmh…was für eine Krankheit denn?“ Ruki entglitt ganz kurz der ernste Blick. „Eh ahm…Krebs….“ Das Erste was ihm einfiel. Der Fremde musterte ihn. „Welche Art?“ „Brustkrebs…“, sprudelte Ruki raus und kniff die Augen zusammen. Holy.… Mann und Brustkrebs. Zwar nicht unmöglich, aber dafür war Ruki dermassen zu jung. Der Typ hatte die Lippen gekräuselt, als würde er gleich wieder loslachen. „Junge, siehst du gut aus für einen Kranken. Trägst du eine Perücke? Oder ist Chemo out…“ Ruki knirschte mit den Zähnen. „Fine.…das war geschmackslos…“, gab er zu. Der Andere grinste. Er nahm seinen neuen Whiskey entgegen. „Warte, ich hätte dir einen. Wie wäre das: Ich bin Astronaut und verlasse morgen die Erde!“ Ruki hätte ihm das Grinsen gern aus dem Gesicht gewischt. „Ne, das Nächste wäre gewesen, dass ich an Aliens glaube und morgen die Welt untergeht!“ Ruki rief missmutig den Barkeeper und bestellte sich was anderes, als diese Beleidigung von einem Limettencocktail. „Ich bin Reita.“, sagte der Mann neben ihm. „Und ich bin pissed!“ Ruki trommelte mit den Fingern auf dem Holz herum. Ein leichtes Lachen neben ihm. Gab der denn nie auf? „Bagger wen anders an, ich steh nicht auf Maskierte!“ Ruki nahm einen grossen Schluck von seinem neuen Getränk. Alkohol. Gerade sein einziger Freund. „Kannst mich auch ohne Maskierung sehen. Aber nur im Schlafzimmer.“ Ruki verdrehte die Augen. Vielleicht verstand er nonverbale Kommunikation besser? „Spucks doch endlich aus.“, brummte Reita langsam. Ausspucken…? Ruki runzelte die Stirn. „Ich…hab kein Interesse an dir…?“, sagte er darauf. „Gut, ging doch ganz einfach!“ Reita bewegte sich jedoch nur leicht vor und zurück, rührte sich sonst nicht von der Stelle. Stattdessen legte er ihm ein Stück Papier und ein Stift hin. „Gib mir deine Nummer.“ „Was?! Hörst du nicht richtig?“ „Doch, sehr gut. Aber du wärst längst weggelaufen, wenn das stimmen würde. Schliesslich bist du nicht am Stuhl festgeklebt.“ Er schob das Papier noch etwas rüber. Ruki sah ihn an, schon etwas perplex. Hatte der Kerl denn auf alles eine Antwort? Aber irgendwie…wieso war er sitzen geblieben? Wegen der Drinks bestimmt nicht. Und der kuschligen Atmosphäre auch nicht. Ruki nahm den Stift und reihte Zahlen hintereinander. Reita lächelte und nahm das Papier. Faltete es und warf es weg. Verwirrt beobachtet Ruki dies und noch verwirrter wie er ein neues Papier bekam. „Und jetzt bitte deine echte Nummer!“ Ruki sah ihn entgeistert an, doch unter dem Nasenband grinste es nur breit und geduldig. Der Typ vor der Bar: „Wo ist denn hier die nächste Bar?“ Der Japaner Mitte vierzig sah ihn erschrocken an. „Verzeihung?“ „Die nächste BAR!“, verlangte Reita. „Oh…äh…drei Blocks weiter ist eine Bar…glaube ich.“, murmelte der Mann eingeschüchtert und eilte davon. Reita brummte und setzte sich in Bewegung. Ein kalter Abend. Er steckte seine Hände tief in die Hosentaschen und schlenderte drei Blocks weiter bis zum Eingang der unauffälligen Bar. Ein Schild blinkte schwach. Sah gar nicht nach ner Bar aus, die ihm gefallen könnte. Noch schnell einen Blick durch die Fensterscheibe werfen, dann war es ihm bestimmt bestätigt. Reita wischte etwas Schmutz vom Glas weg und spähte rein. Wie er es sich gedacht hatte. Weder Einrichtung, noch Leute, noch Drinks sahen nach seinem Gusto aus. Nein dank- was war das? Moment. Reita schaute angestrengter. Ein kleiner Kerl sass am Tresen. „Was für ein schnuckliger Typ…!“ Und so einsam und allein. Das durfte man unmöglich so lassen! Entschlossen stiess Reita die Tür auf und ging hinein. Kapitel 3: Drabble Double ------------------------- Die Türglocke erschallt bis in den oberen Stock. Reita unterbricht angepisst sein Onlinegame, reisst die Kopfhörer von den Ohren und poltert die Treppe runter. Die Türglocke erschallt erneut. Reita reisst die Tür auf, die Gesichtslinien wütend verzerrt. Ein Zwerg steht vor ihm. Winzig. Schmal. Schmolllippen. Schwarzes Haar. Rote Strähne. Riesige Augen. Hinreissend. Reitas Worte bleiben im Hals stecken. „Ich soll hier ein Päckchen abgeben?“ Blick nach unten. Ein Paket in der zierlichen Hand. „Hallo?“ Reitas Mutter in den Flur. „Oh, das bestellte Paket.“ Ein Lächeln ihrerseits. „Unterschrift bitte!“ Ein Stift hervor gezückt. Reitas Blick auf dem Kobold. „Hier steht Takanori…?“ Den runden Knopf drückt er mit dem Zeigefinger. Ein Surren ist durch die Tür zu hören. Fluchen. Ruki drückt erneut. Jetzt Gepolter. Die Tür saust auf und Ruki will zurückweichen, bleibt aber, wie angewurzelt. Ein Riese steht vor ihm. Gross. Breit. Strichlippen. Blonder Irokese. Nasenband. Tiefschwarze Augen. Fesselnd. Ruki öffnet langsam den Mund. „Lieferkurier.“ Er streckt das Paket nach vorne und bekommt gleich einen Blick von oben. Eine Frau erscheint in der Tür und nimmt das Klemmbrett. Unterschreibt. Ein Blick zum Giganten. „…Takanori…Matsumoto?“ Ruki sieht irritiert auf. „Ja?“ „Ach du -…Akira…das ist dein Cousin!“ „MEIN WAS?!“ Aus zwei Münder gleichzeitig. Kapitel 4: Coin-operated Parking Machine ---------------------------------------- Ruki fütterte den gierigen Parkautomaten mit Münzen. Er wollte baldmöglichst wieder hier wegfahren. Sein Tag war lang genug gewesen und er war müde. Ruki sah abwesend über die nahen Autos, während er das nächste Geldstück in den Schlitz schob. „He, hi. Sorry!“ Überrascht sah der Kleine auf. Der Mann, der vor ihm stand, war kaum älter als er, aber über einen Kopf grösser. Er hatte ihn noch nie gesehen, aber das traf ja auf fast alle Menschen in Tokyo zu. „Eh, ja?“ „Hi. Ich hab nur grosse Scheine und heute hat kein Laden offen…du kannst nicht zufällig wechseln?“ Der Grössere hielt ihm einen Schein hin und lächelte. Ruki war sofort aus der Fassung gebracht. Er…duzte ihn einfach? „Ich…?“ Der Fremde sah kurz herum. „Ja, ich seh nur dich.“ Er lächelte mit einem Mundwinkel. Immer noch verdutzt nickte Ruki und nahm den grossen Schein entgegen. Dafür zählte er ihm das Wechselgeld heraus und streckte es ihm in der flachen Hand hin. Der Mann nahm es ihm erstaunlich sanft aus ebendieser Hand. „Vielen Dank! Sehr freundlich!“ Der Fremde ging wieder zu seinem Automaten, einen weiter als Rukis, und warf das Geld hinein. Rukis Blick klebte an dem Mann. Sein Kopf war leer. Anders leer als vorher. Nicht vor Erschöpfung. Einfach irgendwie leer, weil er nicht wusste, was er genau denken sollte und nicht das denken wollte, was er vielleicht denken würde über diesen grossen, muskulösen…und stop. Als leichter Wind aufkam, raschelte der Schein in seiner Hand und er sah aufgeschreckt runter. „Oh…“ Ruki steckte das Papier ein und warf die letzten Münzen aus seiner Handfläche in den Schlitz. Er atmete durch und lief zu seinem Auto, ein schwarzer Mini, schloss es elektronisch auf. Kaum sass er, stellte er zuerst die Musik an. Ruki schloss die Augen und entspannte sich möglichst. Solange bis es an seinem Fenster klopfte und er wieder erschrocken auffuhr. Unsicher sah er aus der Glasscheibe. Der Mann von vorhin stand auf der anderen Seite und lächelte wieder so schief. Ruki liess zögerlich die Scheibe runter. Man hörte ja immer von so komischen Typen, die in gewissen Stadtteilen von Tokyo herumlungerten. Aber er sollte echt weniger paranoid sein. Ausserdem war dieser Stadtteil nicht einer dieser Stadtteile. „Hey nochmals…“, leierte der andere das Gespräch an. Ruki schwieg und sah ihn fragend an. „Okay ähm…mein Auto springt nicht an…du hast nicht zufälligerweise die Telefonnummer eines Abschleppdienstes oder so?“ Ruki blinzelte. Er liess das Fenster langsam wieder hinauf und stieg aus, blieb aber in der Tür stehen. „Nein…aber ich kenne eine Garage in der Nähe. Ich könnte Sie hinfahren.“ „Echt? Das wär super…“, meinte der Grössere erleichtert. Ruki nickte. „Sie schulden mir dann aber was…“ Der Fremde sah ihn verdutzt an, nickte aber. „Geht klar.“ Ruki liess ihn einsteigen. Er schleuste sich in den Verkehr ein. Derweil musterte der Andere das Innere seines Wagens. „Wie heisst du?“, fragte der Blonde. „Matsumoto.“ „Angenehm, ich bin Reita!“ „Reita? Was ist das für ein Name?“ „Ein Alias.“ „Ein…sind Sie Schriftsteller oder so?“ „Ne, ich hab mir einfach meinen Namen selbst ausgesucht.“ Ruki runzelte die Stirn. Ein komischer Kauz. „Kommen Sie von hier?“, fragte Ruki, da dieser schon etwas untypische Manieren an den Tag legte. „Geboren und aufgewachsen.“, sagte Reita stolz. „Aha…und was arbeiten Sie?“ „Freigeist! Mal hier, mal da. Mal dies, mal das…“ Ein unbeständiger Kerl. „Sie hatten aber schon noch Benzin im Tank…oder?“ Ruki sah in den Seitenspiegel, bevor er die Spur wechselte. Reita lachte auf. „Ja, mehr als halbvoll. Ich verdien genug. Nur nicht immer gleich viel!“ „Verstehe. Ich wollte Sie nicht beleidigen.“Ruki bog ab. „Hast du nicht.“, brummte Reita. „Gut…“ Ruki schwieg wieder. Er wusste nicht, was er fragen sollte, ohne persönlich zu werden. „Oh…!“ Reita hatte die Süssigkeiten in der Zwischenkonsole entdeckt. Er nahm sich etwas davon in den Mund. Ruki riskierte einen Blick weg von der Strasse zum Blonden und starrte ihn geschockt an. „Erdbeere?“, fragte der Andere. „Eh...ja…“ Ruki hatte das Gefühl im falschen Film zu sein. Er hatte noch nie erlebt, dass sich jemand so benahm. Einen Fremden einfach duzen. So offenherzig zu reden. Fremdes Essen ungefragt zu nehmen. So freundlich schief lächeln zu können. So behutsam etwas anfassen. Bald darauf fuhren sie aber in die Garage ein, die Ruki gemeint hatte und stiegen aus. Es roch nach altem Öl und Auspuffgas. Ein Japaner löste sich von der offenen Haube eines Mercedes und wischte sich mit einem fleckigen Tuch die Hände, während er auf sie zukam. Ruki nickte Reita zu. „Also dann…viel Erfolg…“ Reita hielt den Kleineren fest, bevor er wieder auf den Fahrersitz sinken konnte. „Warte!“ Ruki zog rasch den Arm weg. „Sie sind echt forsch!“ „Und du trotzdem sehr hilfsbereit… Was schulde ich dir?“ Reita lächelte ihn ungetrübt an. Ruki zuckte mit den Schultern. „Man siehst sich immer zweimal im Leben…“ Damit stieg er wieder in sein Auto und lächelte leicht, als Reita die Hand hob und ein tonloses ‚Danke‘ rief. Kapitel 5: Coffee Shop Observations ----------------------------------- Der Kaffeetrinker: Der zweite Bissen von einem doppelten Schokoladenbrownie mit Nüssen. Wie immer ein paar Krümmel, die zurück auf den weissen Porzellanteller fallen, er wischt mit den Fingern kurz über seine schmalen Lippen und kaut schmunzelnd. Ich geh hier ein. Ich will diese Lippen endlich mal berühren. Jetzt! Ich will sie spüren, ob sie so rau sind, wie sie aussehen oder… Er lächelt sein Gegenüber an und sieht sich etwas um im Coffeeshop. Schnell den Kopf senken und auf meine Zeitschrift starren. Ein grosser Artikel über einen schrillen Musiker Mitte zwanzig prangt auf der Doppelseite. Der Artikel ist schon über eine halbe Stunde aufgeschlagen und ich hab noch keine Zeile weiter gelesen. Ich weiss nicht mal, was ich bisher gelesen habe. Was in den zwei Absätzen, die ich mal überflogen habe, stand. Okay, jetzt, langsam wieder aufsehen unter den Wimpern. Ah, die Gefahr ist gebannt, mein Blick wird jetzt sicher nicht mehr bemerkt und ich kann wieder starren. Starren, Gott. Wann bin ich so ein Stalker geworden? Das ist der verdammte 53 Tag an dem ich hier sitze. Oder so. Ich hab mich um 27 herum mal verzählt und jetzt bin ich mir nicht ganz sicher. War ich ab dem zehnten Tag ein Stalker? Ab dem zwanzigsten? Oder schon ab dem Ersten, an dem ich nur herkam, weil ich ihn sehen wollte. Und noch kein einziges Wort hab ich mit ihm gewechselt. Ich weiss nicht mal wie er heisst, gar nichts weiss ich. Das nennt man wohl einen ‚Crush‘. Das ist der Erste, den ich habe, dafür hat es mich umso heftiger erwischt, so richtig heftig. Total peinlich. Gut weiss es niemand. Ich hab das Café ja schon früher besucht, aber erst seit ich ihn hier gesehen habe, komm ich jeden Tag her. Und er ist total oft da. Aber irgendwann wird er nicht mehr hier sein. Und das kann auch nicht ewig so weitergehen. Ich muss ihn mal ansprechen oder aber ihn aufgeben. Ich bin zu alt für so ein Teenagerverhalten. Eigentlich ist es mir so verdammt peinlich, aber immer wenn ich nicht mehr kommen will, träume ich von ihm und dann…sitze ich doch wieder hier. Einen Schluck von meinem kalten Kaffee. Er einen Schluck von seinem Getränk. Ich glaub, es ist Tee oder so etwas. Ich musste heute auch über eine halbe Stunde warten, bis er hier aufgetaucht ist. Verpass ich ihn mal, drückt das auf meine Stimmung. So sehr, dass es inzwischen auch andere bemerken. Deshalb sollte ich dringend was unternehmen. Morgen. Okay, übermorgen reicht auch noch. Denn wenn ich es vermassle - und das tu ich ganz bestimmt - dann kann ich ihn mir nicht mehr ansehen. Hmmm… braune Augen. Ich stehe schon seit…immer auf braune Augen. Diese Farbe, die seine haben, ganz besonders. Aber ich weiss nicht, ob ich zuerst die Augen mochte oder…ob ich einfach sein ganzes Wesen total anziehend fand und mir dann die Augen aufgefallen sind und er mir seither einfach nicht mehr aus dem Kopf geht. Keine Chance. Ich hab sogar jemand anderen gedatet. Aber wer kann denn schon mithalten, wenn er verglichen wird mit ihm? Eben niemand. Gross, schlank, aber muskulös. Mhmjamm… Oh Gott, sabbere ich? Schnell über den Mund gewischt. Ach nein, nur Einbildung. Puh! Wieder ein obligatorischer Blick auf das Magazin, etwas mit der Seite spielen, ich könnte eigentlich mal umblättern. Also tun wir das und dann in der Gegend rumgucken, als ob ich einfach allgemein Leute beobachte… Was ist nicht tue, die anderen sind mir total egal. Ich möchte nur wissen, wie er heisst. Wenigstens mal ein Name wäre schon schön. Sein Alter kann ich noch etwa einschätzen, wahrscheinlich so zwischen einem bis drei Jahre älter als ich. Aber vielleicht täuscht das, was ich aber echt nicht hoffe. Das wäre ätzend, wenn wir nicht mal ansatzweise in die gleiche Altersgruppe fallen. Der Einzige, der mich sonst noch interessiert, ist der Kerl mit dem er heute da ist. Ich hab ihn schon vorher gesehen, aber nicht so oft. Heute aber frag ich mich schon, wer denn das ist… Wenns sein Bruder ist, kein Problem. Aber sie sehen sich nicht ähnlich. Kommt also nur noch Arbeitskollege, Freund oder…fester Freund in Frage. Beim blossen Gedanken gibt’s mir einen Stich ins Herz, obwohl ich nicht einmal weiss, wie mein Traummann so ist. Vielleicht hat er einen total miesen Charakter. Dann steh ich nur auf sein Aussehen. Das weiss ich nicht, weil ich ihn ja noch nie angesprochen habe, verdammt nochmal… Aber er lächelt so oft. Und wer so oft, so süss lächelt, der kann doch nicht so ein Arsch sein, oder? Nicht so wie die anderen Kerle, die ich kennen gelernt und gedatet und bereut habe. Aber vielleicht ist er gar nicht schwul. Das weiss ich ja auch nicht. Er sieht so männlich aus, dass man wohl doch eher auf einen Hetero tippen würde. Ich merke, wie ich meinen berühmt-berüchtigten Flunsch ziehe und schaue rasch wieder nach unten. Oder aber er ist an ganz wen anders vergeben. Naja, man sagt ja immer: Die Guten sind alle entweder schwul oder vergeben. In meinem Fall dann hetero oder vergeben. Oder gleich beides. Und das alles werde ich nie erfahren, weil ich so verdammt feige bin, dass ich mich nie getrauen werde, ihn anzusprechen, obwohl ich total auf ihn abfahre und eigentlich nichts zu verlieren habe. Aber ich würde mich in Grund und Boden schämen, wenn ich ihn anspreche und abgewiesen werde. Dann auch noch mitten in einem belebten Café. Peinlicher geht’s nicht mehr. Bei der blossen Vorstellung zieht sich mir alles zusammen. Aber, aber, aber…hätte, müsste, sollte, könnte… Ich lasse die Schultern etwas hängen und starre auf die Tischplatte, während ich mir nochmals seine breite Schultern vor Augen führe. Oberarme, die vor Muskeln und Sehnen spannen. Schmale Handgelenke. Lange und bewegliche Finger, aber etwas rau. Kurze Fingernägel, jedoch sauber. Blond-schwarze Haare…meist aufgegelt. Hrrr… Ich hab irgendwann die Augen geschlossen und wünsche mir einfach, mich für einen Moment an den anderen Körper pressen zu können. Ich steh einfach auf grosse Typen. Und dann seh ich wieder auf und erstarre für eine Zehntelsekunde, die längste Ewigkeit meines Lebens. Haben sich unsere Blicke gerade gestreift?! Oh, nicht gut. Gar nicht gut. Er hat mich angesehen…nein, stop, Ruki, das ist nicht gut! Unerkannt bleiben, war doch das Motto. Still und unauffällig. Ich blinzle irritiert und sehe weg. Zu schnell. Das war nicht unauffällig. Das war ein Wink mit dem Telefonmast. Sofern er nicht völlig verblödet ist, hat er jetzt kapiert, dass ich ihn angestarrt habe. Oh, Boden tu dich auf, verschluck mich. Rasch das Magazin zuschlagen, den Kaffee austrinken und aus dem Staub machen. Anscheinend bin ich jedoch nicht der Einzige, der gehen will. Auch mein jetzt-nicht-mehr-so-heimliches Objekt der Begierde ist aufgestanden und zieht sich seine schwarze Lederjacke über. Die ist neu. Ob er Motorrad fährt? Ah, Ruki! Du starrst ja schon wieder! Mach, dass du hier weg kommst! Wenn er aber auch rausgeht, dann stossen wir noch zusammen und dann…oh nein…das geht nicht… Ich bleibe wie festgeklebt sitzen, als mir noch was viel Schlimmeres auffällt. ACH DU SCHEISSE… kommt er etwa auf mich zu?! Ne, bitte nicht. Wenn er herkommt, kipp ich eiskalt um. Oh gott, nein, mach ein Schlenker zur Tür, geh weg. Mir wird heiss. Und bleich bin ich sicher auch. Ein Schlenker, oh Gott sei Dank…ah nein, zu früh gefreut und jetzt steht er …oh… mein… Gott… „Hey~“ „H—i…hi.“ Oh gott, er lächelt. Ich schmelze. Butter. Wachs. Eiscreme. Ist nichts dagegen. So breit habe ich ihn noch nie lächeln gesehen! „Wenn du zu schüchtern bist, mich endlich mal anzusprechen, dann schreib doch dafür einfach mal, ja?“ Ein Zettel. Von ihm. Mit einer Nummer. Etwa seiner Nummer? Was hat er grad gesagt? Hirn an Herz, Konzentration bitte. Wieder so ein atemberaubendes Lächeln. Fast ein Grinsen. Eine Mischung aus beidem. „Ich komm nicht mehr her, bis du endlich was zu mir sagst, anstatt nur zu starren!“ Ein Handheben und dann ist er weg. Weg, einfach weg. Aber die Nummer liegt noch da. Der Teetrinker: "Ist dein Kleiner wieder da?" "Ja, ist er." Reita rührt langsam in seinem Tee. "Und nenn ihn nicht so." "Deiner?" "Kleiner." "Warum, er ist winzig!" "Das nennt man platzsparend! Und ausserdem ist seine Grösse perfekt!" "Ohw, ist Reitas Beschützerinstinkt geweckt?", frotzelt sein Bandkollege. "Halt die Luft an, Kollege. Du bist bloss eifersüchtig." Reita sieht hoch und grinst den anderen an. Wie fast jeden Tag ist er heute wieder gekommen und auch heute nicht enttäuscht worden von seinem unbekannten Fan. Reita setzte sich immer absichtlich so, dass sie sich sehen konnten, wobei er nie rübersah oder nur ganz selten. Nämlich dann, wenn sein Kollege ihm versicherte, dass der Kleinere nicht zu ihnen blickte. Das kam selten genug vor. "Habt ihr jetzt mal miteinander geredet?" "Nein nie." "Der wird nie den Mund aufmachen. Wenn er es nach zwei Monaten nicht gemacht hat, wird er es auch heute nicht machen. Und morgen auch nicht." "Hmmm...kann sein..." Reita schiebt sich den Rest des Brownies in den Mund. "Und du willst nichts machen?" "Doch, ich werde ihn anschupsen." "Anschupsen?" "Ja, ich denke er braucht einen kleinen Schups!" Reita hat einen Zettel und einen Stift gezückt. "Manchmal ist das alles, was jemand braucht." Kapitel 6: Cab ride ------------------- Der Kunde: ‚Klack‘ Es raschelte darauf leise. ‚Puff‘ Eine erste Tüte wurde auf das Polster geworfen. Dann eine zweite, dritte und dann zwängte sich ein Mann mit geringer Körpergrösse auf die Rückbank des Taxis. Wobei er noch vier weitere Einkaufstüten mit sich hinein durch die halboffene Tür zerrte. „Huff!“ Er angelte über die verstreuten Tüten nach der Tür und zog sie zu sich. ‚Klack‘ Jetzt thronte Ruki zwischen seinen neusten Errungenschaften und sah recht zufrieden aus. Er gab dem Fahrer seine Adresse in Ginza durch, worauf dieser nickte. Seine Augen ruhten im Rückspiegel, durch den er den Kunden musterte. Sie waren von einem dunklen, aber weichen Braun. Ruki achtete nicht weiter darauf, seufzte leise und kramte nach seinem Handy, das er in eine der Tüten geworfen hatte. In welche wusste er eben nicht mehr. Das Seidenpapier raschelte dabei leise. ‚Rrrr‘ Der Motor lief an und zeitgleich der Taxameter. Die Anzeige sprang von 00.00 Yen auf 01.00 Yen. Ansonsten gab der Wagen keinen Mucks von sich, als es vom Strassenrand wieder in die Fahrspur einfädelte. Ruki hatte derweil das Handy gefunden und entsicherte es, bevor er eine Nachricht zu tippen begann. Er bemerkte gar nicht, dass der Taxifahrer ihn bei jeder roten Ampel wieder im Spiegel musterte. Ihn und die vielen Taschen. „Geht das etwas schneller?“ Ruki hatte aufgesehen und spähte aus der Frontscheibe. „Um diese Uhrzeit nicht.“ Ruki grummelte leise und legte das goldenes iPhone auf seinen Schoss. Wenig später wurden sie nicht nur immer langsamer, sondern blieben sogar ganz stehen. Umgeben von Autos und ungeduldigem Hupen. Nur Mopeds und Motorräder fuhren zwischen den Autoreihen weiter. „Jetzt stehen wir im Stau.“, sagte der Fahrer ruhig. „Was sie nicht sagen, das seh ich auch…“ Rukis Laune sank. Mit so viel Tüten ging aber eben nur Taxi. Ein Auto besass er nicht. In die Bahn hatte er nicht gewollt. Ausserdem hatte er Angst, dass ihm da einer seiner neuen Schätze gestohlen werden würde. Und Laufen ging noch weniger. Da wäre ein Packesel aka Freund eigentlich mal nützlich. Ruki beugte sich vor und schob das kleine Fenster zwischen der Rückbank und den vorderen Sitzen ganz auf. „Wie lange wird das dauern?“, fragte er nach vorne. „Schwer zu sagen…“ Die fremde Stimme war irgendwo zwischen brummelig und tief. Ruki stützte seine Unterarme auf die Lehne und steckte den Kopf neugierig durchs Fenster. „Hmm…“ Summend musterte er die vordere Sitzfläche. Vier Büchsen von einem Sixpack Asahi, 3 CD’s, deren Umschlag Ruki nichts sagten, eine offene Packung Kaugummis, deren Inhalt zur Hälfte über das Polster verstreut lag. „Trinken sie die etwa während der Dienstzeit?“ „Was? Ach so…kommt auf den Kunden an…“ Ruki stutzte und lachte dann leise, als er das Grinsen im Mundwinkel des Fahrers entdeckte. Er griff runter nach den CD’s, drehte sie um und musterte die Rückseite, las die Liedtitel runter. Er zuckte mit den Schultern. Immer noch nichts, was er sich anhörte oder ihm etwas sagte. Als er sie wieder fallen liess, erspähte er ein breites Band. Wofür das wohl war? Um die schlimmen Kunden zu knebeln? Das Interessanteste aber kam zum Vorschein, als er das Band etwas anhob. Ein Magazin. Nicht irgendeines, sondern ein ziemlich Schmutziges dazu. Und das keineswegs, wie man vielleicht erwartet hätte, mit grossem Vorbau. Um genau zu sein, bei gar keinem von den beiden Typen Vorbau. Ruki war etwas irritiert, weil das hier drin rumlag, musste aber auch schmunzeln. So einer war sein Fahrer also? Sie waren keinen Meter gefahren seit dem ersten Stillstand, aber der Taxameter lief unaufhörlich. „Ist der manipuliert oder so? Ganz schön hoch…“ Stirnrunzelnd sah Ruki die blinkende Anzeige an. Der Fahrer warf einen Blick zur gleichen Stelle. „Nein, ist er nicht…“ Ruki rechnete kurz im Kopf aus, wie lange sie höchstens stecken bleiben durften. Das sah nicht gut aus. „Nehmen sie auch Karte?“ „Das ist ein Taxi, keine Bank. Hier geht nur Barzahlung.“ Ruki sank etwas zusammen. Er schwieg einen Moment, dann stieg er umständlich über seine Tüten und öffnete die Tür, des stillstehenden Wagens. ‚Klack‘ Er verliess hinten das Taxi und bestieg es vorne wieder. ‚Klack‘ Jetzt besah er sich den Fahrer überhaupt mal von nahem. Jener hatte schmale Lippen, eine markante Nase und die blond-schwarzen Haare im Nacken unter der Fahrermütze zusammengebunden. Wie er wohl in der Freizeit rumlief? Ruki schätzte mal, völlig anders, allein vom Haarschnitt her. „Ich habe nicht genug Bargeld dabei…“ Der Fahrer: ‚Klack‘ Von seinem neuen Kunden hatte Reita erst mal nur eine schwarze Tüte, die in sein Taxi flog, gesehen. Im Rückspiegel hatte er seinen neuen Kunden weiter beobachtet und dabei mit den Fingern auf dem Lenkrad herum getrommelt. Während der Fahrt hatte er die Schriften auf den Tragtaschen entziffert. LV. Chanel. Gucci. So klein und anscheinend so vermögend. Ein vergoldetes Handy. Und klobige Ringe. Ein armer Taxifahrer wie er es war, hatte selten solche Gäste in seinem schäbigen Fahrwerk. „Wie lange brauchen wir?“ „Bei Stosszeiten immer länger.“ Gerade mal fünf Taxilängen weiter blieben sie stehen. Und Reita hörte gut, wie sein Kunde merklich ungeduldiger wurde. ‚Ratt‘ Gleich neben seinem Ohr ratterte das kleine Durchgangsfenster auf. Aus Reflex verzog Reita kurz, aber erschrocken das Gesicht. Jetzt begann das Mustern des Reichen über die Einrichtung fahrenden Bettlers. Reita hatte sich die Vorderbank häuslich eingerichtet. Zu häuslich, wurde ihm bewusst, als er sich selbst besah, was da alles rumlag. Sein kurz nervöses Atmen, übertönte das leise Ticken des Taxameters. „Stimmt die Anzeige?“ „Ja. Der Taxameter läuft nicht nur auf Strecke, sondern auch auf Zeit.“ „Das könnte ein Problem geben…“ Reita hob die Augenbrauen. Ein Problem? Das hörte er nicht gerne. ‚Klackklack‘ Verwundert sah er zur Seite, seinen Kunden an, der unvermittelt neben ihm sass. Die Sachen zwischen sie geschoben hatte, als er sich auf den Beifahrersitz platziert hatte. „Ich werde nicht genug Bargeld haben…“ „Nicht genug Bargeld?“ „Ja, aber wir finden doch sicher eine andere Lösung…“ Reita sah über die Schulter zur Rückbank. „Ich will von dem Zeug nichts.“ „Das würd ich auch nicht hergeben. Ausserdem haben wir ja nicht mal ansatzweise die gleiche Grösse!“ Reita liess den Blick wieder nach vorne und kurz über den Kunden schweifen. Er nickte knapp, als hätte er es erst jetzt bemerkt. Als er hoch ins Gesicht sah, fiel ihm erst jetzt das seltsame Grinsen auf. „Aber wir…finden doch eine Einigung…“ „Was schwebt ihnen da so vor?“, fragte er langsam und zog den einen Mundwinkel nach oben. Sein Kunde fuhr mit der Hand über das Heftchen, weiter zu Reitas Oberschenkel. Der Fahrer sog die Luft ein. Damit hatte er nicht gerechnet. Nicht im Traum. Bevor er sich versah, war die Hand im Schritt und die Hose offen. Die Ringe an den Fingern klackerten leise aneinander, als sein Glied herausgeholt wurde. Sie sahen sich kurz in die Augen, dann senkte sich der Kopf in seinem Schoss. Reita sah aus dem Fenster und hielt die Luft an. Rundherum waren die Fahrer zum Glück alle mit sich selbst beschäftigt. Anscheinend hatte niemand vernommen, was gerade im Taxi geschah. Kurz darauf vernahm Reita sein eigenes Stöhnen, als ihn eine nasse, warme Zunge berührte. Er spürte auch das kalte Metall des Handschmuckes und die Hitze des fremden Atems. Das leise Schmatzgeräusch, als der Mund sich über die Eichel stülpte und ihn tief in sich auf nahm. Das hastige Schnauben durch die Nase, im Versuch das Atmen zu regulieren. Reita griff ins halblange Haar, wonach seine Mitte gleich wieder aus dem Mund entlassen wurde. „Ey, nicht meine Frisur!“ „Red nicht, lutsch!“, raunte Reita dunkel und drückte ihn wieder runter. Beinah widerstandslos wurde ihm jetzt einen geblasen. „Ouh, ja!“ Reitas Becken zuckte noch einmal, er stiess die Luft aus und krallte sich in die Haare, damit auch ja alles geschluckt würde. Er wollte keine Schweinerei in seinem Auto. Jedenfalls keine flüssige, die nicht aus dem Polster ging. Kaum liess der Strom nach und lockerte sich Reitas Griff, befreite sich der andere daraus, hob nach Luft hechelnd den Kopf. Reitas Lächeln war getränkt von Befriedigung, während er das Gesicht seines Kunden musterte. Er hob die Hand und wischte mit dem Daumen sachte etwas Samenerguss von Rukis Mundwinkel. Den Daumen leckte er langsam ab. Und den Taxameter stellte er aus. Durch ein ungeduldiges Hupen von hinten wurden sie gestört. Reita fuhr rasch an, während Rukis Keuchen immer leiser wurde. Es dauerte noch etwa eine halbe Stunde, bis sich der Stau gänzlich aufgelöst hatte und sie vor Rukis Appartement halten konnten. Ruki stieg vom Beifahrersitz aus und öffnete die hintere Tür, raschelte mit den Tüten. ‚Klack‘ Reita stand auf der anderen Seite und griff nach den Taschen. Er nahm Ruki die restlichen ab und brachte sie zur Tür. Verdutzt eilte der Kleinere ihm nach und öffnete, worauf ihm der Fahrer sämtliche Einkäufe nach oben in die Wohnung trug. ‚Klack‘ Kapitel 7: New Year's Eve ------------------------- Der Zweifler: „Warum nochmal hab ich mich von dir dazu überreden lassen?“ Saga grinste breit. „Warum denn nicht, hm? Du wärst doch sonst nur allein in deinem Wohnzimmer.“ „Allein? Eine Flasche Whiskey würde mir Gesellschaft leisten! Besser ginge es nicht.“ Ruki nippte an seinem Glas Champagner, in dem die Bläschen längst ausgestorben waren. „Jetzt wart doch erst mal ab. Es dauert ja nicht mehr lange! Hauptsache du begehst das neue Jahr nicht alleine. Das bringt Unglück!“ Saga stiess sein Glas gegen Rukis und zwinkerte ihm zu. Gleich darauf hängte sich Tora an Saga dran. „Unglück? Nein, was wirklich Unglück bringt, ist, ungeküsst ins neue Jahr zu rutschen!“ „Un-geküsst?“, wiederholte Ruki. „Wer hat sich das denn wieder ausgedacht?“ „Die Franzosen.“ „Hä?!“ Ruki hob seine gezupften Augenbrauen an. Tora nickte bierernst. Ruki schüttelte den Kopf. „Und wenn schon, das Risiko nehm ich auf mich. Ihr wisst doch eh, dass ich Single bin! Also keine Diskussion nötig.“ „Aww, ich küss dich schon Rukilein!“, bot Tora grosszügig an. Fing sich dabei sofort einen Blick von Saga ein. „Du weisst schon, dass deine Lippen schon besetzt sind, wenn es zwölf schlägt?“ Tora lächelte beschwichtigend - und angeheitert. Ruki wandte den Blick ab und konnte sich gerade so davon abhalten, die Augen zu verdrehen. Für seinen Geschmack waren einfach zu viele Leute im Raum. Die Halle war eigentlich riesig und eine Terrasse gab es auch, von der man später das Feuerwerk beobachten können würde. Dennoch war der Lärm ohrenbetäubend, jedenfalls für Ruki wirkte es so. Wenn Musik laut aufgedreht wurde, störte ihn das nicht. Aber bei den vielen geschwätzigen Mündern, die sich hier drin auslebten, hörte man fast gar nichts von den melodischeren Klängen. Stattdessen ergab sich ein Crescendo, das sich in Rukis Ohren anhörte wie ein wütender Bienenschwarm. Hunderte Ballons hingen richtig kitschig unter der Decke und ständig trat man auf Dinge, die im Getümmel ihren Weg zu Boden gefunden hatten. Ruki hob immer wieder die Füsse an und sah missmutig in sein Glas, das immer noch zu zwei Drittel gefüllt war. „He Fruchtzwerg!“ „Tora, nenn mich nicht so!“, knurrte Ruki sofort angepisst und blitzte zu dem Schwarzhaarigen hoch. „Was auch immer, kommst du rüber? Wir stellen dir unsere neusten Bekanntschaften vor!“ „Bekanntschaften, ja ich kenn eure ‚Bekanntschaften‘. Verzichte.“ „Gott, Ruki, du bist so ein Stinkstiefel!“ Tora rollte die Augen nach hinten. Ruki biss sich auf die Lippe. Er fühlte sich einfach überfordert mit so vielen Menschen. Ausserdem war es für ihn echt nicht angenehm, ein bis zwei Köpfe kleiner zu sein, als absolut jeder hier. Als keine weitere Antwort kam, nutzte Tora das gleich aus, packte ihn am Arm und schliff ihn rüber. „Mädels, das ist Ruki!“, stellte Tora ihn der Männerclique strahlend vor und schupste ihn etwas, weil Ruki kneifen wollte, sobald Tora nur eine Sekunde unaufmerksam sein würde. „Ru, das sind Aoi, Shou, Yuno und R- sorry, war das jetzt Reta oder… -“ „Reita.“ Ruki sah zum Letzten, der – anstelle von Tora – merkwürdigerweise direkt ihn ansah. „Hi.“, raunte der Grössere und lächelte ihn an. Ruki brachte keinen Ton raus, weil er nicht genau wusste, ob er sich erst wundern sollte, warum der Mann ein Band im Gesicht trug, oder warum er ihn so ansah, oder warum er ihn so direkt ansprach. „Tora, hast du schon wieder deine Geschichten über mich ausgeschmückt?“, knurrte Ruki leise dem anderen zu. Dieser schüttelte den Kopf. „Bis jetzt noch gar nichts.“ Die anderen der Runde nickten ihm derweil freundlich zu und Ruki zwang sich, das Nicken zu erwidern. Er war nicht im Grunde schüchtern. Aber wenn er sich in seiner Umgebung nicht wohl fühlte, hielt er lieber den Mund. Und ging lieber an einen Ort, wo er sich besser fühlte. Aber Tora und Saga würden das momentan bestimmt nicht zulassen. Bevor er bei der grossen Flügeltür auf der anderen Seite der Halle wäre, hätte ihn einer der Langbeiner eingeholt und aufgehalten. Ruki hatte schon am Anfang abgecheckt, wo überall die Notausgangstüren waren, doch ein Schild hatte ihn gewarnt, dass er den Feueralarm auslösen würde, sobald er eine davon aufstiesse. Auch jetzt sah er aus Reflex rüber zur Tür, doch der Nasenbandträger versperrte ihm die Sicht. Innerlich seufzend nahm Ruki noch einen Schluck von seinem lauwarmen Champagner. Widerlich. „Soll ich dir einen Neuen bringen?“, raunte die tiefe Stimme wieder. Konnte der Mann nur Raunen? „Eh ja, danke.“ Ruki reichte ihm sein Glas, worauf der Grössere kurz so etwas wie ein Lächeln zeigte und Richtung Buffet verschwand. Ruki atmete durch. Jetzt hatte er einen Moment Ruhe und wurde nicht angestarrt. Der Weg zur Tür war auch frei. Vielleicht sollte er jetzt einen Versuch starten. Ein kurzer Blick auf die Uhr. Lange würde es nicht mehr gehen, aber Ruki fühlte sich, als würde er es keine Minute mehr aushalten. Er sah zu Saga und Tora, die sich gerade mit…Aoi unterhielten? Shou? Ruki drehte sich um und schob sich zwischen zwei Männern hindurch Richtung Tür. Er wusste nur ungefähr wo sie war, denn sehen tat er nichts. Er umrundete ein junges Pärchen, dann lief er an einer Schar betrunkener Mädchen vorbei und wich einer Säule aus. Ein riesiger Tisch versperrte ihm unerwartet den Weg. Er war beladen mit Bowle, Champagnerflaschen, Gläser und allerlei Leckereien. Das Buffet. Ruki fluchte leise in seinem Kopf und sah den Tisch hinauf und hinunter, um herauszufinden, ob er nach rechts, links oder wieder umkehren musste. Aber alles, was er entdeckte, war dieser Reita. Der mit zwei Gläser Champagner nach etwas Ausschau hielt. Rasch verschwand Ruki wieder hinter der Säule. Von dort startete er kurz darauf einen weiteren Versuch und lief in die entgegengesetzte Richtung, um dann einen Haken zu schlagen, dorthin, wo er den Ausgang vermutete. Hatte es irgendwie noch mehr Menschen mittlerweile? Ruki kam fast nicht durch und mehr als einmal hätte ihn beinah ein Ellbogen im Gesicht erwischt. Manchmal war es einfach nur total beschissen so klein zu sein. Als Ruki sich gerade zwischen zwei korpulenteren Typen durchgequetscht hatte, stand er unvermittelt vor einer Wand. Nach diesmal gemurmeltem Fluchen drehte er abermals um. Das Gedränge wurde immer dichter. Ruki japste leise nach Luft, kam kaum mehr vorwärts. Und hatte genau an dem Punkt völlig die Orientierung verloren, als laut angefangen wurde zu zählen. ZWÖLF ELF ZEHN Ruki stand irgendwo, wahrscheinlich mitten in der Halle. Er sah nichts und er kannte kein einziges Gesicht um sich herum. NEUN ACHT SIEBEN Saga und Tora und die anderen waren sicher auf der Terrasse oder so, aber Ruki wusste auch nicht, in welche Richtung die lag. SECHS FÜNF VIER Das war definitiv das beschissenste Silvester aller Zeiten. Er hätte nie hierher kommen sollen. So einen Fehler würde er nicht mehr wieder begehen. DREI Ruki hob missmutig den Blick vom dreckigen Fussboden und erblickte in drei Meter Entfernung Reita, der ihn anscheinend längst entdeckt hatte. ZWEI Eine Sekunde später war der Grössere keinen Meter mehr entfernt. Er stand genau vor ihm, zwei Gläser immer noch in den Händen und beugte sich zu ihm runter. EINS Ein Lippenpaar auf seinem Mund. Warm, prickelnd. Fest und ehrlich. „Spinnst du? Du kannst mich doch nicht einfach küssen!“ Aber er bekam nur noch einen Kuss auf die Lippen gesetzt. „Ich will dich vor Unglück bewahren…“ Der Vertrauende: „Oh, da ist Ru!“ Tora, halb zur Seite gedreht, entdeckte Ruki, der gerade neben Saga aufgetaucht war. „Wer?“ „Ein alter Freund von uns. Ich stell ihn euch nachher vor.“ Tora grinste Reita zu. „Er brauchte Überredung, viel Überredung, um herzukommen. Silvestermuffel, du verstehst…?“ Reita nickte langsam und leerte seinen Drink, während Tora sich entschuldigte und hinüber ging. Reita fand die Menge bisher überschaubar, aber es kamen ja immer noch neue Leute. Die Dekoration war in weiss und rot gehalten. Viel Firlefanz und Kitsch. Er sah über seine Champagnerflöte hinweg zu Tora, Saga und deren Freund, den er noch nicht kannte. Etwas an ihm war interessant. Wenig darauf zerrte Tora besagten Freund auch zu ihnen rüber, stellte ihm zuerst die anderen vor und zeigte schliesslich auf Reita, der aber bereits mit der Musterung beschäftigt war. Nicht nur interessant, sondern aus der Nähe richtig anziehend. „Hi.“ Reita lächelte und freute sich, als Ruki zu ihm aufsah, obwohl er irgendwie durch ihn hindurch zu sehen schien. „Soll ich dir einen Neuen bringen?“ Der Champagner schien alt zu sein. Sofort bekam er das Glas gereicht. Damit hatte Reita also schon mal angeknüpft. Rasch drehte er sich um und steuerte das Buffet an. Tora und Saga hatten Ruki vorher nie erwähnt. Nicht mal vor diesem Abend, dass er heute kommen würde. Ob das einen bestimmten Grund hatte? Reita stellte die alten Gläser hin und nahm sich zwei Neue. Mit einem Freund war er jedenfalls nicht aufgetaucht, also wahrscheinlich war er Single. Aus einer schlimmen Beziehung vielleicht? Tora hatte etwas von Überreden gesagt. Mit den vollen Gläsern wand sich Reita um, erblickte Ruki aber nicht mehr. Stirnrunzelnd musterte er Aoi, Shou, Saga, Tora…wo war ihr Silvestermuffel? Reita setzte sich in Bewegung. „Wo ist denn Ruki?“, fragte er Tora ruhig. „Eh Ru? Keine Ahnung…mist, ich hab nicht aufgepasst!“ „Schon gut, ich such mal…“ Reita schlug die erstbeste Richtung ein. Er musste Acht geben auf die vollen Gläser, keiner der Gäste sah, wo sie hin stolperten und wen sie dabei anstiessen. Heute war er definitiv froh, so gross zu sein. Aber Ruki war alles andere als leicht zu entdecken. ZWÖLF ELF ZEHN Reita schreckte auf. Gleich war es soweit. Und bisher hatte er sein nächstjähriges Date noch nicht entdeckt. Er blieb stehen, streckte den Hals und drehte sich um die eigene Achse. NEUN ACHT SIEBEN Vielleicht war Ruki auf der Terrasse? Andererseits hatte Tora gesagt, dass Ruki gar nicht hier sein wollte. Also war er wohl eher Richtung Ausgang gelaufen. Falls er durch die Menge gekommen war. SECHS FÜNF VIER Gleich würde der Höhepunkt des Abends sein, und als solchen hatte Reita ihn eigentlich auch geplant. Dafür fehlte aber noch etwas ganz Entscheidendes. DREI Vor ihm. Auf einmal stand er nur wenig entfernt von Ruki. Ein Glück. Er stand sogar still und schien ziemlich verloren. ZWEI Aus den paar Metern war nur noch eine Armlänge geworden, und auch die verschwand, als Ruki auf ihn zukam. EINS Ein fremder Mund auf seinen Lippen. Weich und süss. Zart, aufrichtig. „Spinnst du? Du kannst mich doch nicht einfach küssen!“ Reita lächelte leicht in einen zweiten Kuss. „Ich will das Unglück von dir fernhalten…“ Kapitel 8: Metro Molestation ---------------------------- Der strahlende Ritter: Es ratterte und Reita krampfte seine Finger noch fester um die Stange über seinem Kopf, so dass seine Knöchel weiss wurden. Das unruhige Fahren der Bahn auf den Metallschienen, schüttelte die Passagiere ganz schön durch. Es war keine Stosszeit, trotzdem war die Bahn ziemlich überfüllt. Reita zupfte sein Tuch etwas höher. Dadurch wurden wenigstens die Gerüche der Menschen um ihn herum gedämpft, was Reita echt beruhigte. Mehr als einmal hatte er schon neben einem ungepflegten Mann stehen müssen, der wohl gerade Zwiebelringe gegessen hatte. Oder neben einer jungen Frau, eingenebelt in ihr Parfum, das jedem die Luft zum Atmen nahm. Das Klingeln eines Handys durchschnitt die Luft, was einige aufsehen liess. Reita zupfte wieder am Tuch, diesmal genervt. Welcher Idiot hatte da wieder sein Telefon nicht ausgestellt? Dabei stand es immer gross auf den Plakaten, die überall hingen. Sogar mit idiotensicherem Cartoon. Anscheinend doch nichts so idiotensicher. Die Bremsen quietschten, bis man das Gefühl hatte, das Trommelfell habe einen feinen Riss bekommen. Die Türen schwangen auf und Männer in Anzügen wurden herein geschwemmt, was alles noch enger machte. Reita machte einen Schritt weg von der Tür, da seine Station zum Glück noch länger nicht kommen würde. Die Schiebetüren schlossen sich und die Toei-U-Bahn fuhr wieder an, wobei durch alle Körper ein Ruck ging. Durch die schmutzigen Scheiben sah Reita die Häuser als farbige Schlieren vorbeiziehen. Ein Räuspern hier, ein Zeitungsrascheln da. Im Augenwinkel nahm Reita ein bisschen Bewegung wahr. Das Gedränge wurde dort drüben dichter. Er hob das Kinn an und sah rüber. Das war nicht das erste Mal, dass er so etwas bemerkte. Doch als es wieder ruhiger wurde, widmete Reita sich selbst und zog sein Handy aus der engen Jeans. Gerade las er eine neue Nachricht, als es abermals unruhig wurde. Diesmal blickte Reita nicht nur auf, sondern machte auch zwei Schritte zum kleinen Tumult, wobei es ihm sogar egal war, dass er die Leute um sich mehr als nur streifte. Die Geschäftsmänner bildeten eine schwarze Wand aus Anzügen und Aktentaschen. Reita überragte die meisten, dennoch dauerte es einen Moment, bis er die Wurzel des Ganzen erkannte. Nicht schon wieder. Reitas Zähne knirschten aufeinander, die Kieferknochen traten hervor und sein Blick verhärtete sich. Fast jedes verdammte Mal, wenn er mit der Bahn fuhr, passierte das Gleiche. Reita schob einen der Männer weg und kämpfte sich durch, an der Tür vorbei, bis er nah an der Wand stand. Geschickt liess er seine Hand, die vorhin das Handy zurück in die Jeans geschoben hatte, nach unten gleiten und packte zu. Er drückte das Blut ab, mit seinem stärksten Schraubstockgriff und kniff mit Genugtuung die Lippen zusammen, als er ein ersticktes Keuchen hörte. Sobald er spürte, wie der Mann abliess, schlängelte er sich vor die kleine Person und schob sie nach hinten bis ganz an die Wand mit seinem Körper. Er hatte die fremde Hand losgelassen und sah jetzt runter zu der zierlichen Person mit dem blondierten Haar. Erstaunt riss er die Augen auf. Das war kein Mädchen, sondern ein junger Mann. Klein und zierlich wie eine Frau. Er hatte die Augen stark umschminkt, ein langärmliges Shirt mit grosser, roter Aufschrift und freche Strähnen die ihm ins Gesicht fielen. Reita zupfte sofort an seinem Tuch vor dem Gesicht und wandte den Blick nicht von den schwarzen Kulleraugen ab, die ihn ansahen. Mit seinem ganzen Körper schirmte er den jungen Mann von weiteren Grapschattacken ab. Die Jungfrau in Nöten: Metro. Er hasste Metro. Immer noch zögerlich stand er auf dem Perron und wartete verkrampft auf die nächste Bahn. Die Hände um die Schlaufe seiner braunen Tasche geklammert, die er um die Schulter trug. Eine weibliche Stimme kündigte die Ankunft der nächsten Tokei-U-Bahn an. Rukis Herzschlag beschleunigte kurz, bevor er sich zur Ruhe zwang. Mit quietschenden Bremsen und Funken stiebend fuhr die Bahn ein. Rukis Haare wurden ihm vom Fahrwind ins Gesicht gepeitscht. Sobald die Bahn still stand, stellte er sich neben die aufgehenden Türen, liess die Fahrenden aussteigen und wurde dann selbst von den Wartenden hinein geschwemmt. Viel weiter in die Mitte des Fahrzeugs als er wollte. Er stand am liebsten so nah wie möglich bei der Wand, die zumindest etwas Schutz bot. Aber sein Körper war klein und er konnte nicht gut gegen die Masse anschwimmen. Noch bevor er sich irgendwo festhalten konnte – an die oberen Griffe kam er eh nicht ran – fuhr die Bahn wieder an und ein Ruck ging durch seinen Körper. Ruki wurde gegen eine Frau neben ihm geworfen, die ihn pikiert ansah, auch noch, als Ruki sich entschuldigte und hastig von ihr wegtrat. Es war stickig. Ruki atmete auf einer Höhe, wo alle anderen sich mit Parfum und After-Shave eingesprüht hatten. Die Luft anhaltend quetschte er sich weiter, duckte den Kopf weg, doch weit kam er eh nicht. Er wollte einfach so schnell wie möglich wieder hier raus. Jede der fünf Stationen, die er fahren musste, hasste er. Nach zwei war ihm schon schwummrig, nach vier wollte er nur noch schreien. Erfahrungsgemäss. Die Menschen alleine würde er ja noch irgendwie aushalten. Was ihn wirklich störte und ihm den Magen umdrehte, war das, was er jedes zweite Mal mitmachen musste. Bei der nächsten Station waren sie im Firmengelände und wie jedes Mal war die Bahn nachher voll mit Anzugstypen. Manager, Büroarbeiter, Kanzleiangestellte. Ruki zogen sich die Eingeweide zusammen. Er hob den Kopf und sah an die Decke, wo die Festhalteschlaufen über ihm an der Stange baumelten. Vielleicht hatte er heute Glück. Das musste er, denn wegkommen konnte er nicht, er war eingezwängt. Wie so oft, war ihm das Glück jedoch nicht hold. Es ging keine halbe Minute, da spürte er etwas an seinem Rücken, das schnell nach unten wanderte. Ruki zuckte zusammen, als die Hand auf seinem Arsch landete. Sofort wand er sich und versuchte weg zu kommen, schaffte es sogar, dass die Hand von ihm wegrutschte. Aber mehr als ein Schritt zur Seite konnte er nicht machen. Und dann war die Hand wieder da. Oder vielleicht eine andere, so genau wusste Ruki das nicht. Und noch drei ganze Stationen zu fahren. Sein Frühstück meldete sich, anscheinend wollte es nochmals Hallo sagen. Ruki biss sich auf die Zunge und unterdrückte den Würgereflex, als er zu allem Übel auch noch gestreichelt wurde. Abermals wand er sich, trat dabei jemandem auf den Fuss, der sich halblaut beschwerte. Ruki hielt erschrocken inne. Beschämt über die ganze Situation senkte er den Kopf. Schlimm genug, dass Frauen dies mitmachen mussten, aber anscheinend war wirklich niemand sicher. Manchmal wurde Ruki auch für ein Mädchen gehalten mit seiner schmalen Statur, geringer Körpergrösse und dem blonden, schulterlangen Haar. Hinter ihm bewegten sich die Menschen, jemand trat zur Seite. Die nächste Station war aber noch gar nicht erreicht. Und mit einem Mal war die Hand weg. Ruki fühlte sofort einen Druck von der Brust genommen. Ein Keuchen. Was war da nur los? Ruki blieb das Herz stehen, als ein Mann sich dominant vor ihn schob und ihn einfach nach hinten drückte, bis sein Rücken die kalte Wand berührte. Würde er jetzt hier angefasst werden? An der Wand konnte er überhaupt nicht mehr ausweichen und der andere war breit und gross. Er hätte keine Chance zu entkommen. Ruki merkte, dass er die ganze Zeit den Atem anhielt und einfach wartete. Aber er spürte nichts. Keine fremden Hände auf seinem Arsch, Bauch oder Schritt. Langsam entliess er die Luft aus der Nase und hob den Kopf. Vor ihm stand ein Mann mit blauem Haar und einem Tuch vor dem halben Gesicht und sah ihn erstaunt an. Ruki blinzelte perplex. Jung war er und trug lässige Freizeitklamotten. Und er berührte ihn nicht. Sein ganzer Körper hatte ihn zwar zur Wand gedrängt, aber jetzt war er in respektvollem Abstand. So respektvoll und zurückhaltend wie es auf dem engen Raum eben ging. Das hatte Ruki noch nie erlebt. Er fasste ihn nicht an, sondern schützte ihn wie ein Schild. Kapitel 9: One Evening at the Bar --------------------------------- Der Stammkunde: Mit einem Aufseufzen rutschte Ruki halb auf den Barhocker, halb liess er sich darauf fallen. Er würde warten müssen, bis einer der Barkeeper für ihn Zeit hatte, so viel wie in diesem Club los war. Ruki war froh, dass er noch einen freien Hocker erwischt hatte. Für einen kurzen Moment erleichtert, strich er sich durch die gestreckten Haare, spürte die Härte des getrockneten Haarsprays und sah sich über die Schulter um. Die Bar war etwas abseits der Tanzfläche, so war es hier weniger laut und weniger stickig. Dennoch hatte es überall viele Leute, die ständig in Bewegung waren. Ein einziger Ameisenhaufen. Zusätzlich waren die meisten noch so dunkel gekleidet. Ruki schob gebrauchte Gläser von sich weg und wartete geduldig. Noch während dessen wurde der Hocker neben ihm leer, blieb es aber nicht lange. Fast sofort schob sich ein anderer Mann darauf und klopfte mit dem Knöchel auf den Tresen. Ruki dachte, er wolle damit die Aufmerksamkeit eines Barkeepers erregen. Die Männer hinter dem Tresen waren aber zu beschäftigt, und als Ruki eine Berührung spürte, wurde ihm bewusst, dass der Fremde wohl ihn meinte. Mit hochgezogenen Augenbraunen drehte sich Ruki zu ihm um. Der Mann war gross, blond, das Gesicht sagte ihm nichts. Mit einem breiten, etwas dreckigen Lächeln wurde er angesehen. „Hi Süsser.“ Ruki riss sich zusammen. „Hallo.“, quetschte er raus. Der Mann war halt einfach nicht sein Typ. Eigentlich sollte es ihm ja schmeicheln, in den ersten Minuten schon angesprochen zu werden. Andererseits versuchte der Fremde vielleicht bei jedem sein Glück. Solche Typen gab es zuhauf. „Was kann ich bringen?“, fragte einer der Barkeeper, der endlich Zeit für Ruki gefunden hatte. Ruki lächelte erleichtert. „Eh, ich hätte gerne einen Bloody Mary.“ „Ah, das würd ich nicht nehmen! Ich empfehle einen Pina Colada. Die sind hier echt gut!“, quatschte der Mann von der Seite drein. Ruki biss die Zähne zusammen. „Nein, danke. Ich bleibe bei Mary…“ „Kommt sofort.“, sagte der Barkeeper mit einem kurzen Seitenblick zu Rukis ungewolltem Barnachbar. „Warst du schon mal hier?“ „Ja, war ich.“ Ruki hoffte, dass sein Drink bald kam. Er nestelte an seinen Piercings herum und musterte den Mann noch einmal. Ganz schön grosse Nase. „Ich hab dich noch nie gesehen!“ „Zum Glück.“, gab Ruki zurück und grinste. Ruki hielt Ausschau nach dem Barkeeper mit seiner Bloody Mary. Er war nicht so in Stimmung für Small Talk. Eigentlich hatte er Tanzen wollen, aber bis jetzt hatte er niemand ansprechendes gefunden. Vielleicht würde der Mann ja noch fragen. Doch ob er darauf eingehen würde, war eine andere Sache. Bis jetzt hatte er es nicht so rausgerissen. „Hier, bitte.“ Der Barkeeper stellte ihm das Glas mit der roten Flüssigkeit hin und garnierte sie noch mit einer Selleriestange und einer Limonenscheibe. „Danke…“ Die Eiswürfel klackerten, als Ruki anhob und einen kleinen Schluck zur Probe nahm. Er spitzte die Lippen kurz. „Der ist echt gut.“, meinte er anerkennend. „Ich mach die Besten…“, antwortete der Barkeeper. „Du hast noch nie die probiert, die ich mixe!“, versicherte sein Verehrer wieder von rechts. Ruki nickte leicht. „Du könntest aber zu mir kommen und ich mix dir, was du willst…“, wurde Ruki angeboten. „Ich hatte vor, heute zu mir nach Hause zu gehen.“, lehnte Ruki ab und leckte sich Tomatensaft von den Lippen. „Klar, wir können auch zu dir gehen!“ „Nein, ich möchte alleine nach Hause gehen.“ Er lächelte mit dem Rest Beherrschung, die er noch hatte. „Komm schon, ich tu dir doch nichts…“ Ruki biss in die Limone und überlegte, ob er einfach abhauen sollte. Wäre schade um seinen Bloody Mary. Sein Nachbar rutschte vom Hocker. Ruki sah auf. Würde er von alleine verschwinden? Oder doch nicht. Ruki hatte die Hand des Anderen auf seinem Arm. „Stell dich nicht so an, Süsser.“ „Pfoten weg!“ „Richtig niedlich, wenn du dich so sträubst!“ Ruki wollte zurückweichen, soweit es auf dem Hocker ging, aber der Andere beugte sich zu ihm herab und flüsterte drei Sätze in sein Ohr. Rukis Augen weiteten sich immer mehr. „Lass auf der Stelle los.“ Verdutzt drehte Ruki den Kopf zum Barkeeper, genau wie der Mann neben ihm. „Was geht dich das an?“, blaffte der Fremde sofort zurück. „Hast du was auf den Ohren? Er sagte, er will nicht mit dir gehen.“ Ruki sah zwischen den beiden hin und her. „Kümmer dich um deine Cocktails, Tunte.“ „Nimm deine Hand von ihm weg oder ich brech sie dir.“, antwortete der Barkeeper, immer noch erstaunlich freundlich. Ruki spürte, wie die Hand sich langsam von ihm löste. „Wir klären das gleich draussen!“ „Kannst du haben.“ Bevor Ruki sich versah, war der Barkeeper über den Tresen gesprungen, so flink, wie er es nie erwartet hätte. Das Ding war schliesslich ziemlich hoch. „Bleib sitzen, ich bin gleich wieder da.“, meinte er sanft zu Ruki und folgte dem anderem Mann Richtung Tür. Ruki blinzelte. Wo war er denn hier rein geraten? Die würden sich doch jetzt nicht prügeln? Sofort sprang er auf und rannte ihnen nach. Als würde er still sitzen bleiben und warten, bis einer der beiden wieder zurück kam. Wenn er Pech hatte, war es der Falsche und dann hatte er echte Probleme. Er wollte wirklich nicht noch auf den Toiletten wortwörtlich den Arsch aufgerissen bekommen. Andererseits hatte der Barkeeper muskulöser ausgesehen, als vorher noch hinter dem schummrigen Tresen. Kurz nach den anderen beiden schlitterte Ruki aus der Tür und sah, wie sie sich auf der Nebenstrasse des Clubs gegenüber aufstellten. Nur gerade zwei, drei Meter voneinander entfernt. Das billige Licht der Strassenlampen zog ihre Schatten gespenstisch lang. Der blonde Mann zog seine Jacke aus und warf sie auf die Seite. Der Barkeeper schien darüber lediglich amüsiert zu grinsen. Ruki wollte gar nicht hinsehen irgendwie. Das war doch total idiotisch. Das hatte echt noch nie jemand für ihn getan. Und ihn schon gar nicht verteidigt, obwohl er ihn nicht kannte. „Ich mach dich fertig und dann wirst du wissen, wo dein Platz ist!“ „Dann fang mal an.“ Aber er fing nicht an, er täuschte ein paar Mal an, tänzelte vor und zurück. Ruki beobachtete, wie der Barkeeper still stehen blieb und keine Sekunde zuckte. Und als sich das Grossmaul einen Moment zu nah heranwagte, hatte er eine Faust im Gesicht und fand sich auf dem Boden wieder. Der Barkeeper klopfte sich die Hände ab und kam lächelnd auf Ruki zu, der ihn ungewollt beeindruckt ansah. „Ich geb dir einen neuen Bloody Mary aus.“ Der Barkeeper: „Oder möchtest du lieber etwas anderes trinken?“, fragte Reita den Kleineren und grinste. „Ich…nein…Bloody Mary scheint doch gerade passend oder…“ Reita folgte dem Blick des Kleineren zu dem Mann, der sich noch am Boden wälzte. „Hast du ihm die Nase gebrochen?“ „Eher den Kiefer.“ Reita hielt Ruki die Tür auf und schmunzelte. „Ich hatte ihn gewarnt.“ Der Kleine ging voraus zur Bar. Reita stellte sich neben ihn hin, als er wieder auf den Hocker rutschte, und klopfte mit den Knöcheln auf den Tresen. Sein Kollege kam sofort. „Wie üblich?“, fragte er. Reita nickte. „Und nen Bloody Mary bitte.“ Er spürte den Blick des Kleineren auf sich und sah ihn grinsend an. „Du hast doch nicht Schiss vor mir, weil ich dem Arsch eine runtergehauen habe oder?“ „Nein. Er hat ja darum gebettelt. Aber für mich hat sich noch nie jemand geprügelt…“, meinte der Andere. „Das war ja keine richtige Prügelei. Das war ein Affentanz, den ich mit einem rechten Haken beendet habe…“ „Stimmt…“ Der Kleinere schmunzelte und bedankte sich für das Getränk, das gerade ankam. „Tanzt du mit mir?“, fragte Reita so charmant. Ruki legte den Kopf etwas schief und grinste. „Ich dachte, du fragst nie.“, sagte er halb scherzend, halb ernst und stand auf. Reita geleitete ihn mit einem Arm um seiner Taille zur Tanzfläche und drehte dort richtig auf. Der Kleinere konnte sich genauso gut bewegen, wie Reita es sich erahnt hatte. Er liess es auch zu, dass Reitas Hände über die schmalen Seiten wanderten und stand ihm in nichts nach. Er schob ihn von sich, drehte ihn an den Händen und presste ihn mit dem Rücken an sich. Seine Hände hielten Rukis Hüften fest und sie bewegten sich geschmeidig, als wären sie eins. „Kommst du mit zu mir?“ Reita sah ihn doch erstaunt an. „Ich dachte, du wolltest alleine nach Hause?“ „Ich würde eine Ausnahme machen…~“ Der Barkeeper lächelte. „Ich will nicht, dass du deine Vorsätze brichst.“ Kapitel 10: Playboy vs. Bunny ----------------------------- Der Nicht-Playboy:     „Du hast was getan?!“ Uruha verdrehte die Augen zur Decke und seufzte. „Dich angemeldet.“ „Angemeldet.“ „Ja, auf einer Plattform.“ „Was für eine Plattform?!“, knurrte Reita. Er würde ihm gleich den Hals umdrehen, sobald Uruha dieses eine Wort wiederholen würde. „Auf einer Dating Plattform!“ Uruha lächelte ihn ungetrübt an und ignorierte die zitternden Hände, die kurz vor seiner Kehle schwebten. „Ich bring dich um. Ich schwöre, ich erwürge dich mit blossen Händen!“ Reitas Stimme vibrierte. „Ach spars dir. Du bist angemeldet, Punkt. Wird Zeit, dass du wieder an den Start gehst!“ „Was soll das denn wieder heissen?“ „Reita! Es ist jetzt fast drei Jahre her. Du solltest dich wieder mit anderen treffen.“ „Darf ich das nicht entscheiden?“ „Natürlich nicht. Du hast keine Ahnung von deinem Leben!“  Uruha grinste, angelte sich die Chipspackung vom Couchtisch und stopfte sich ein paar der Süchtigmacher in den Rachen.     Drei Stunden später schloss Reita die Zimmertür langsam hinter sich. Uruha war gerade gegangen, hatte ihm aber einen Zettel in die Hand gedrückt mit der Adresse, dem Benutzernamen und dem Login. Reita blieb an der Tür stehen, kniff die Augen halb zusammen, zielte und warf den Papierknäuel in seinen Müllkorb neben dem Schreibtisch. Danach schmiss er sich aufs Bett, wobei eine Wolke von Staub aus der Matratze trat. Reita hustete trocken. Selbst sein Bett wies ihn darauf hin, dass schon ewig nichts mehr unter dieser Decke lief.   Er starrte an die Wände. Weisse Ränder zogen sich an manchen Stellen entlang. Vor einem halben Jahr etwa hatte er alle seine Poster entfernt. Die hatten auch schon ewig da gehangen und die Musik der Bands hörte er sich grösstenteils gar nicht mehr an.   Vielleicht konnte er das Konto ja löschen. Dann wäre das Problem gelöst. Und er würde Uruha einfach irgendeine Lüge erzählen. Das wäre ja nicht das erste Mal. Reita hatte einfach kein Bock darauf, dass sein Name und seine restlichen Personalien – wie er Uruha kannte, sicher auch noch intime Details – im Internet standen. Und dann auch noch bei einer Seite bevölkert von lauter Verzweifelten.   Reita sprang auf die Beine, ging rüber, kramte zwischen dem Papier und glättete den kleinen Zettel wieder, weil er ihn ja wütend zerknüllt hatte. Die Schrift war noch gut lesbar, also öffnete er seinen Laptop und setzte sich grummlig hin. Sobald sein Desktop aufleuchtete, war das Internet fix geöffnet. Reita tippte konzentriert die IP-Adresse ein. Dann weiter zur Anmeldung. Alles war schon in rot und mit Herzchen gehalten. Ätzender gings nicht.   Jetzt kam der Benutzername. Reita sah wieder auf den Zettel, die Finger auf der Tastatur.   Playboy_Reita   Oah ne. Warum nicht gleich: Zuhälter_Reita? _Bodenstrich_ Reita_? Der verarschte ihn doch total. Memo an mich selbst: Uruha killen.   Reita gab den Namen ein, knirschte mit den Zähnen und sah sich das Passwort an.   Baldwerdeichflachgelegt     Das stand da jetzt nicht ernsthaft, oder?!   Reita sprang von seinem Stuhl auf. „Alter, ich bring dich um!“ Er stürzte zu seinem Handy. Aber durch die Sattelitenverbindung würde er Uruha nur schwer töten können. Fluchend warf er das Teil wieder aufs Bett. Er musste dieses Konto auf der Stelle löschen!   Reita hämmerte das Passwort ein, dabei flog der Tastaturknopf ‚L‘ raus. Murmelnd schob er ihn wieder an Ort und Stelle und klickte auf ‚Login‘.   Kurz darauf war er auch auf seinem Profil. Uruha hatte ein Bild aus dem letzten Jahr gewählt. Sie waren an einem Ausflug gewesen. Es war nicht das Beste, aber Uruha hatte weit peinlichere Bilder von ihm, also blieb Reita erst mal ruhig.   Uruha hatte sein volles Geburtstagdatum veröffentlich, was Reita wiederum nervte. Die Blutgruppe stand da, Musik, wobei das teilweise gar nicht stimmte. Sein Parfum. Woher wusste Uruha das überhaupt? Reita zerstörte seinen Iro,  während er durch scrollte, was Uruha noch so alles verraten hatte.   Als er unten angekommen war, stöhnte er erschöpft und fing sofort an, die Einstellungen zu suchen. Irgendwo musste man das doch löschen können. Wenn dies nur schon jemand aus der Schule las. Nicht auszudenken, was die Folgen wären. Die Einstellungen waren schon mal nicht schwer zu finden. Von da öffnete sich jedoch ein ziemlicher Dschungel. Logisch, die wollten ja auch verhindern, dass man wieder ausstieg.   Mit zugekniffenem Mund arbeitete Reita sich durch die einzelnen Abteilungen. Er hatte auch wenig Ahnung von dem Kram. Er benutzte den Laptop fast nie. Das Handy war das einzig halbwegs moderne in seiner näheren Umgebung.   Er hatte vielleicht gerade drei Seiten durchgeklickt, als ein ‚Pling‘ ertönte und Reita zusammen fuhr. Was hatte er denn jetzt gemacht? Er hatte doch gar nichts angeklickt. Erschrocken scannte er die Seite vor sich mit den Augen ab und bemerkte ein Blinken, das vorher noch nicht da gewesen war. Unsicher beförderte er die Maus dorthin und klickte.   „Sie haben 1 neue Nachricht.“   Nachricht? Nachricht?!   „Von Rukilicious.“   Ruk…what the hell? Reita runzelte die Stirn. Schrieb ihm da echt wer. Kaum zu fassen. Jetzt musste er auch noch jemandem ne Abfuhr erteilen.   Reita zögerte eine ganze Weile, doch da er den Löschknopf nach wie vor nicht gefunden hatte, öffnete er sie.   „Rukilicious schreibt…“                           Nichts. Die Nachricht war leer.   Leer? Reita war nun völlig vor den Kopf gestossen. War das irgendwie ein dummes Spiel oder was?   Ohne nachzudenken klickte Reita auf ‚Antworten‘. Und tippte genervt drauf los.       Das Nicht-Häschen:   „Oh nein! Scheisse, Scheisse, SCHEISSE!“ Ruki schlug die Hände vors Gesicht. Oh nein. Er hatte doch gar keine Nachricht schreiben wollen. Das Programm überforderte ihn dermassen. Konnte er das rückgängig machen? Ruki klickte fieberhaft herum. Keine Chance.   ‚Pling‘   Ruki sackte das Herz in die Hose. Er bekam Antwort? Was antwortete man denn auf nichts? Er musste sich entschuldigen. Ja, genau.   Mit einem Klick war die Nachricht geöffnet.     „Playboy_Reita schreibt…“   „Was soll denn die Scheisse? Soll das ein blödes Ritual sein oder warum schickst du mir ne leere Nachricht? Nur zur Info: Ich will nicht auf dieser Webseite sein, ich versuch grad, das alles zu löschen!“     Etwas verwirrt las Ruki die Zeilen nochmals. Zögernd klickte er auf ‚Antworten‘.   „Tut mir Leid, das war ein echtes Versehen! Eigentlich wollte ich deine Seite gerade verlassen, aber ich bin hier neu.“     „Warum, bin ich dir nicht gut genug? Du magst meinen Musikstil nicht und meinen Iro? Und zu gross bin ich auch.   Oke, nur ein Schwachsinniger würde bei dem Profil was von mir wollen…“,   räumte Playboy_Reita am Schluss doch ein.     Hatte wohl schlechte Erfahrungen gemacht. Ruki liess sich mit der Antwort Zeit.   „Das stimmt überhaupt nicht.   Je grösser, desto besser…“     Der Vielleicht-Playboy:   Verwirrt starrte Reita Löcher in sein Zimmer. Das hatte er jetzt auch noch nie gehört. Er wiegte den Kopf hin und her und antwortete erst mal nichts. Dafür ging er sich das Profil seines Gegenübers ansehen. Der hatte viel weniger Informationen, als er selbst, oder besser gesagt, Uruha geschrieben hatte.   Was Reita zuerst ansah und ihn gleich erstaunte, war die Grösse des anderen. Noch nicht einmal 1.60. Noch kleiner als sein Ex. Das Bild gefiel ihm…   „Die Hälfte meines Profils stimmt nicht…ein Freund von mir hat mein Konto erstellt, ohne meine Erlaubnis…“   Reita wollte das einfach mal richtig stellen.       „Haha, bei mir auch. Ich wollte es eigentlich löschen, aber ich glaube, das ist gar nicht möglich. Also habe ich einfach mal die meisten Informationen gelöscht.“     „Verdammt. Ich bin also gezwungen weiter mit dir zu schreiben…?“     „Sieht ganz so aus.“     Jeder andere wäre beleidigt gewesen. Reita erwischte sich beim Grinsen.     „Dann erzähl mir mal etwas über dich…“ Kapitel 11: Striver meets Idler ------------------------------- Der eifrige Student: „…und deshalb wird…“ Mitten im Satz ging die Tür auf, quietschte leise in der Angel und durch den Spalt schob sich eine Gestalt im grauen Kapuzenpulli. Die Tür fiel wieder in die Angel, die Gestalt schlurfte in seinen weiten Jeans gemächlich die Treppe hinauf, während der Dozent in seiner Rede der ersten Stunde des Semesters fortfuhr. Einige Augenpaare folgten dem späten Studenten, bis er sich in die hinterste Reihe, ganz aussen fallen liess. Rukis geschwungene Augenbraune wanderte langsam seine Stirn hoch. Dann entschied er, dass es ihn nicht interessierte, und die Augenbraue schob sich wieder an ihren Platz. Nachdem der Vorlesungssaal sich geleert hatte, klappte Ruki seinen Laptop zu und stand auf. Der Professor sah ihm entgegen, da sie fast jedes Mal nach der Stunde noch miteinander sprachen. „Gut, dann wäre ja alles geklärt…tun sie mir noch einen Gefallen?“ Ruki nickte. „Wecken sie doch den Herrn dort oben, bevor der Raum abgeschlossen wird.“ Ruki drehte den Kopf und erblickte ganz oben, ganz aussen eine Kapuze auf dem Tisch. Zähneknirschend steig Ruki die Stufen nach oben. „He!“ Als keine Reaktion kam, ruckelte Ruki an der Schulter des anderen. Ein dumpfes Brummen drang durch den Stoff. „Wach auf!“, knurrte Ruki. Vielleicht sollte er ihn lassen, wenn er eingeschlossen wurde, war er schliesslich selbst schuld. Ruki zog die Kapuze weg und ein Iro kam zum Vorschein. Ruki stolperte zurück. Zwar war der etwas verdrückt, aber er leuchtete in Indigo-Blau. Es brummte schon wieder unwillig. Ruki verdrehte entnervt die Augen. „Letzte Chance. Beweg dich hier raus, oder werd eingeschlossen. Ist nicht mein verdammtes Problem!“ „Ruhe, Mann!“ Der Schopf hob sich und unter den blauen Strähnen blitzten zwei Augen hervor. „Kann man hier nicht mal in Ruhe pennen?“ Ruki sagte nichts. Der Blick wanderte im Saal herum. „Schon aus?“ „Ja.“ Ruki drehte sich auf dem Absatz um und ging die Stufen wieder hinunter. Hinter ihm brummelte es wieder und der Tisch klappte, als der Student aufstand. Als Ruki auf den Fahrstuhl wartete, stellte sich ein Schatten neben ihn. Ruki konnte gerade noch verhindern, dass er zuckte. Der war ja plötzlich schnell gewesen. Die Kapuze war wieder über dem Haar und irgendetwas raschelte, aber er sah nicht rüber. Mit einem leisen Pling kam der Fahrstuhl an und öffnete sich. Ruki trat ein, dicht gefolgt von der Schlafmütze, und drückte den Knopf. Ruki fühlte sich nicht sonderlich wohl. Der Kerl war eher dunkel gekleidet, alles an seiner Haltung und auch vorhin in seiner Stimme war unhöflich und grob. Er kramte beiläufig in der Tasche, um beschäftigt zu wirken und entspannte sich erst, als der Fahrstuhl im untersten Stock hielt. Der andere stürmte zuerst raus. Ruki ging gemächlicher nach. Draussen war es bereits am Eindunkeln. Das Hellste war die glimmende Spitze einer Zigarette. Ruki wollte schnell vorbei, doch sein Handy klingelte. Rasch blieb er stehen, kramte es hervor und hob ab. „Ja? Aha...mhm...ja…ist gut.“ Ein Schwall blaugrauer Rauch wurde in sein Gesicht gepustet. Ruki hustete heftig. „Ja. Okay, ich leg jetzt auf.“ Ruki klappte das Handy zu. „Hast du sie noch alle?!“ Es kam keine Antwort, nur eine weitere Wolke Rauch. Röchelnd trat Ruki weg. „Arsch.“, murmelte er und entfernte sich mit schnellen Schritten, so schnell wie es seine kurzen Beine zuliessen. Der faule Student: „Alter Schwede…“ Reita dröhnte der Kopf. Er presste seinen Handballen an die Stirn und zog die Kapuze tiefer in sein Gesicht. Vielleicht konnte er seine Ohren so etwas mehr abdecken. Gestern hatte er gefeiert und heute kassierte er die Quittung. Eigentlich war er sehr trinkfest und es kratzte ihn nicht, am nächsten Tag in die Uni zu gehen, auch wenn er es so oder so als mühsam und unnötig betrachtete. Was sollte es, das Semester war eh fast um. Das war die vorletzte Sitzung vor der Prüfungswoche. Gähnend stand Reita auf, wegen den Kopfschmerzen am Ende der Stunde ausnahmsweise mal wach, machte den anderen Studenten Platz und nahm seine Tasche, die eh so gut wie leer war. Der Saal leerte sich in Windeseile. Nur der Kleine und der Dozent waren noch da. Reita schlurfte die Stufen so gemächlich runter, wie er sie vor zwei Stunden rauf geschlurft war und blieb unten stehen. Ein absolutes Novum für ihn. Geduldig wartete er, bis die zwei ihr Gespräch beendet hatten, der Professor aus dem Saal rauschte und der Kleine, der ihn anscheinend noch gar nicht bemerkt hatte, seine Unterlagen zusammen räumte. Reita tappte mit dem Fuss leicht zur Melodie in seinem rechten Kopfhörer. Den Linken hatte er extra raus genommen, um mit den Gnom reden zu können. Nicht, dass er das Bedürfnis hatte, sich mit ihm zu unterhalten, nein, er brauchte etwas von ihm. „He!“ Er stellte sich vor die erste Reihe, wo der Kleine immer sass. Dieser sah etwas erschrocken auf. „Was?“, wurde er unfreundlich angeknurrt. „Du könntest mir doch sicher eine Kopie deiner Unterlagen des Semesters geben, oder?“ Sonst sah er sich vor der Prüfung die Unterlagen auf der Online-Plattform durch. Doch der Assi von Prof hatte die Folien nicht online gestellt, wie die anderen Dozierenden das normalerweise taten. „Warum sollte ich?“ „Na, weil du ein freundlicher Kerl bist.“ „Wer sagt das?“ „Oh bitte. Du bist immer hier, schreibst immer alles mit, stellst immer Fragen, redest immer mit dem Prof. Du hast bestimmt alles Nötige und bist so gewissenhaft, dass du einen Mitstudenten sicher nicht durch die Prüfung rasseln lässt…“ „Ich bin der Tutor dieser Veranstaltung, Hohlkopf!“, knurrte der Kleine. „Du bist Tutor? Bist doch erst im 2. Jahr! Boah, ne das wär mir ja zu stressig.“, brummte Reita und kratzte sich am Iro. „Ja, offensichtlich.“ Der Kleine schulterte die Tasche und drückte sich durch die Bankreihe raus. „Ja, aber dann ja erst Recht. Als Tutor hast du die Verpflichtung für Studenten da zu sein!“ „Pass doch selber auf! Ich bin kein Plan B!“ „Würd ich ja, wenn ich nicht so irre wenig Schlaf bekommen würde, weil ich an meiner Bachelorarbeit sitze!“ Das war zwar ne Lüge, aber ne Gute. „Was, du stehst kurz vor dem Bachelor?! Wie das denn? Du pennst doch die ganze Zeit nur!“ „Ach ne, hast du mich etwa beobachtet?“ Ein Grinsen legte sich auf Reitas Züge. „Du bist jedes Mal zu spät gekommen, das fällt eben auf!“ Der Kleine wurde langsam richtig wütend. „Arschgeige…“, schob er noch hinterher. Das kam Reita dann doch bekannt vor. Er legte den Kopf schief. „Hatten wir schon mal was miteinander zu tun?“ „Ne!“ Der Kleine stapfte über den Gang. „Ich musste dich Hohlbirne mal wecken und du bist der unfreundlichste Mensch, der mir je untergekommen ist, das ist alles!“ „Ach, der Kleine…ich weiss wieder…“, meinte Reita nach kurzem Grübeln. Er lief in normalem Tempo, weil seine Beine viel länger waren. „Und ich dachte schon, ich hätte dich gevögelt!“ Reita lachte auf. Der Andere lief kreideweis an und blieb abrupt stehen. „BITTE?!“ Kapitel 12: A little bit ------------------------ Ein Arschloch: „Wann wirst du da sein?“ Reita drückte sein Telefon etwas dichter ans Ohr, weil er den anderen fast nicht verstand. Er lief gerade durch die Strassen von Tokyo und es war laut. „In ner halben Stunde etwa…“, brummte Reita und sah auf eine grosse Uhr, die zu einem Juwelierladen gehörte. „Okay…mach einfach hinne, ja?“ „Hm.“ Reita legte auf. Er hatte gar keine grosse Lust auf dieses Fest. Japan hatte einfach zu viele Feiertage. Es würde sein wie jedes Mal. Seichte Gespräche, starker Sake, Feuerwerk und traditionelle Musik. Das Handy in die Jackentasche gestopft, stapfte er weiter, wich den Kindern und jungen Frauen aus und zupfte an seinen Haaren, die er in einem Fenster gespiegelt sah, während er an einer Ampel warten musste. Reita brauchte eine halbe Stunde und zehn Minuten, weil er absichtlich trödelte. Mike erwartete ihn schon ganz ungeduldig. „Da bist du ja endlich! Wenn du keinen Bock hast, musst du gar nicht kommen!“ „Du hast mich ja nicht in Ruhe gelassen.“, brummte Reita und klatschte ihn zur Begrüssung ab. „Die anderen sind schon drin. Die Freundin von Yutaka hat ihren Bruder mitgebracht. Benimm dich.“ „Tu ich doch immer…“, murmelte Reita und schlenderte hinter Mike in das Festzelt. Er würde trotzdem Sake trinken. Viel Sake. Sonst hielt er das Geschwafel den ganzen Abend nicht aus. Aber es war immer noch besser, als wenn er zuhause rumsass. „Hey, Reita ist auch endlich zu uns gestossen!“, stellte Mike gleich vor und grinste. Reita nickte in die Runde. „Is das der Bruder?“, fragte Reita Yutakas Freundin. Diese nickte. „Das ist…“ „Ruki.“, antwortete der Gnom spitz. Reita hob eine Augenbraue und sah den Typen neben Ruki an. „Mein Freund…“, erklärte der Kleine gleich. Super, er hatte also die ganze Familie angeschleppt quasi. Reita setzte sich mit Mike gegenüber und zog seine Lederjacke ab. Im Festzelt war es warm von den vielen Menschen, deren Körper die Luft aufheizten. Reita bestellte sich gleich mal ein Bier und Sake hinterher. Er musterte den Kleinen. Der hatte kaum Ähnlichkeiten mit dem verschreckten Ding, dass sich seine Schwester nannte. Sie war bleich, hochgeschossen und knochig. Und wirkte immer wie ein erschrockener Vogel, der kaum einen Ton von sich gab. Der Gnom hingegen redete vor allem gerne mit dem Freund, ab und an mit Mike oder seiner Schwester. Er schien vor nichts Respekt zu haben. Und der Freund? Mindestens fünf Klassen unter dem Gnom und locker zehn Klassen unter ihm selbst. Das hatte der Typ anscheinend aber noch nicht erkannt. Geschniegelt war er wie ein Zuhälter, Gel im Haar, ein Hemd in undefinierbar hässlicher Farbe. Den Arm hatte er besitzergreifend um Rukis Schultern gelegt. Reita sah wirklich nicht ein, was man an dem Typ irgendwie gut finden konnte. Er stiess Mike an, beugte sich rüber und flüsterte ihm was ins Ohr. Mike fing an zu lachen und nickte ihm zu. Reita grinste und leerte sein Bier. „Also…wer will noch ne Runde?“ Als der Freund nickte, schmunzelte Reita spöttisch. „Bier gibt’s nur für Erwachsene.“ Er überging das empörte Gesicht und bestellte Neues. „Wo hast du dieses Hemd her?“, fragte Reita und zeigte vage auf die Scheusslichkeit. „Warte, gabs letzten Samstag nicht so eine Charityevent?“, schaltete sich Mike ein. „Oh ja…oder vielleicht vom Flohmarkt?“, rätselte Reita. Der Typ zog eine beleidigte Miene. „Wohl noch nie was von Prada getragen was!“, zischte er gekränkt. „Prada? Ist das der Secondhandladen die Strasse runter?“ Reita verschluckte sich fast an seinem Bier vor Lachen. Der Freund des Arschlochs: Er mahlte mit dem Kiefer und hatte die Arme verschränkt. Seit dieser Reita angekommen war, hackte er auf seinem Freund herum. Was hatte der ihm denn getan? Ruki versuchte den Idioten mit Blicken zu töten, aber es funktionierte leider nicht. „Sorry, du machst was? Facility management?“ Reita sah fragend Mike an. „Du bist für Gebäude zuständig?“ Der Freund von Ruki nickte. „Warte…warte warte…du bist ein Hausmeister?“, fragte Reita grinsend. „Was? Nein! Nein ich bin zuständig für die Verwaltung und die…“ „Die Besenkammer!“ Reita lachte hell auf. Ruki stutzte. Dieses Lachen passte so gar nicht zu dem Mensch dahinter. „Ich will noch Sake…“, sagte Ruki, um das Gespräch zu unterbrechen. Sein Freund sah ihn an, aber da hörte Ruki schon das Plätschern der durchsichtigen Flüssigkeit in sein Glas. Er sah rüber. Reita hatte seine Karaffe genommen und Ruki eingeschenkt. „Ich hab noch genug.“, brummte er. Ruki hob langsam eine Augenbraue. „Danke…aber das ist nicht nötig…“ „Keine Ursache. Also, wie kommt es, dass du nicht mit dir selbst zusammen bist? Ich wette du stehst jeden Tag zwei Stunden vor dem Spiegel!“ Schon war das Thema wieder bei Rukis Freund. Ruki nahm von den Chips, die er eigentlich nicht hatte anrühren wollen, und kaute darauf herum. Er hätte das Fest einfach alleine mit seinem Freund geniessen und nicht mit seiner Schwester mitgehen sollen. „Hey, sehen wir uns das Feuerwerk am See an?“ Mike stand auf. „Jop…“ Reita folgte ihm brummend und sah fragend in die Runde, sein Blick schien bei Ruki stehen zu bleiben. Ruki funkelte ihn an. „Gerne.“ Er zog seinen Freund mit hoch und gab ihm einen langen, innigen Kuss. Er trottete mit seinem Freund im Schlepptau nach draussen, wo sich die Leute versammelten. Sie erhaschten alle noch einen Platz am Steg. „Ruki, meine Schuhe werden hier draussen ruiniert.“ „Die kannst du ja wieder putzen.“, antwortete Ruki und sah nach oben in den Himmel. Fünf Minuten später ging es los. Rote Funken sprühten über das Blau, dicht gefolgt von goldenen Sprenkel. „Ist ja total eng hier…“, murrte Rukis Freund weiter. „Und schweinekalt.“ Ruki fror auch leicht, aber er sagte nichts. „Willst du…“ Ruki drehte sich um. Wo war sein Freund hin? Er sah sich um, doch das rosafarbene Hemd war nirgends zu entdecken. „Der ist wieder rein.“, raunte eine Stimme und legte ihm etwas um die Schultern. Ruki zuckte zusammen. „Wie…?“ „Dein Freund. Den suchst du doch. Der ist vorhin fluchend wieder rein. Hat irgendetwas von Schmutz und Schuhe geschwafelt.“ Reita stellte sich neben Ruki. Ruki befühlte den Stoff auf seinen Schultern. „Ist das etwa deine Jacke?!“ „Ja. Du hast gezittert.“ „Hm. Es ist ja auch kalt…“ „Ja.“ „Ich dachte, du seist ein Arschloch.“ „Ich denke, du hast keine gute Menschenkenntnis.“ Kapitel 13: Blue & White ------------------------ White collar: Ruki stand mit verschränkten Armen in seinem Flur und tapste mit seinen Pradaheels der letzten Saison auf den Echtholzboden. Chinesisches Ebenholz. Sieben verdammte Minuten wartete er jetzt schon. Sieben Minuten in denen er hätte arbeiten können. Die Möglichkeit gehabt hätte, die Börsenkurse nebenbei zu überprüfen. Zwei Telefonate zu führen. Mindestens eine E-Mail abzuschicken. Ein Geräusch. Der Fahrstuhl? Ruki runzelte die Stirn und lauschte. Nein. Knurrend lief er im Gang auf und ab und richtete die Schalen auf dem Eingangsbord neu aus, überprüfte seine Frisur im grossen Spiegel und sah auf die Uhr. Acht Minuten! Noch eine Minute mehr und er würde… Der Aufzug. Die Zeitverschwendung hatte ein Ende. Die ersten Töne von Yirumas ‚Maybe‘ erschallten und die Türen schwangen auf. Ruki starrte geschockt auf den Mann dahinter. Es war nicht nur dessen Erscheinungsbild, sondern auch das riesige Rohr, das er über der Schulter trug. „Wo…wo sind denn die anderen?!“, stammelte Ruki entsetzt. „Welche anderen?“ „Na…die anderen…“ „Ich arbeite heute allein.“, meinte der Sanitär und grinste. Und was für ein impertinentes Grinsen das war! Ruki blieb der himbeerrote Kussmund offen stehen. „Darf ich?“, fragte der Handwerker und zeigte in den Flur hinein, worauf er gleich mit seinen schweren Arbeiterstiefeln über den Boden…trampelte. Ruki dachte er bekäme gleich einen Herzinfarkt. Und die Strassenflecken, die das auf dem teuren Material hinterliess… „Sofort…runter!“, presste Ruki mindestens eine Tonlage zu hoch aus seinem Mund. „Runter? Ich bin doch eben erst rauf gekommen? Oder willst du mich auf den Knien sehen…?“ Das Grinsen wurde jetzt noch von einem Augenbrauenwackeln begleitet. Ruki blieb gleich die Luft weg. „…runter vom Holzboden!“, versuchte er mit seiner letzten zusammengekratzten Fassung. „Ich muss hier aber arbeiten. Wo ist das Leck?“, fragte der Mann. Der Mann mit dem Irokesen. Warum liess er einen verdammten Punk in seine Wohnung? Wie war der Freak überhaupt unten an der Rezeption vorbei gekommen? „Das- Das Leck…dort…“ Ruki zeigte auf die Westwand des Wohnzimmers. Gerade war er froh, dass er die teuren Teppiche aus dem Wohnzimmer schon wegen des Wasserdurchbruchs entfernt hatte. Zumindest konnten die also nicht von den Stiefeln beschmutzt werden. Der Sanitär polterte über den Holzboden, blieb vor dem offenen Wohnzimmerbereich stehen und sah sich um. Ruki erwartete einen Kommentar zu seiner Einrichtung, aber nichts dergleichen. Stattdessen trat der Mann ganz vorsichtig ein und klopfte die Wand ab. Als nächstes schulterte er das Rohr ab. Ruki atmete zischend ein, als das Rohr durch die Luft flog und erst kurz vor dem Boden aufgehalten wurde. Ganz sanft setzte der Typ das harte Metall ab und drehte sich wieder zur Wand. „Die muss geöffnet werden…“ „Die…das ist mir klar…“ Ruki schloss die Augen. „Und sie wurde erst vor drei Monaten gestrichen…“ Er presste die Kiefer aufeinander. „Tun sie einfach was nötig ist, ersetzen sie das Rohr, bevor das Wasser mir den Boden aufquillt!“ Ruki strich sich eine Strähne mit grosser Geste aus der Stirn und richtete sich das Jacket. „Ich muss weiter arbeiten, ich hab schon viel zu viel Zeit verschwendet!“ Der Mann nickte, immer noch die Wand anstarrend. „Kein Problem, ich fang an.“ Er hatte irgendwoher ein Hammer gezückt. Vielleicht aus einer der tausend Taschen seiner blauen Handwerkerhose. Ruki zögerte. Aber er konnte den Typ doch nicht allein in seiner Wohnung voller teurer Gegenstände lassen. Aber er war spät dran. Aber er kannte den Mann doch gar nicht. Aber das Meeting fing in 20 Minuten an. Ruki schnappte sich seine rote Hermès Birkin Bag. „Ich äh…ich bin…äh gleich wieder da…“, log er. „Keine Sorge, ich bin dann noch da, wie alles andere auch…“ Der Mann drehte den Kopf zu ihm und grinste. „Entspann dich.“ Ruki klappte den Mund langsam zu und kehrte sich um. Die Fahrstuhltüren schlossen sich. Blue collar: Reita pfiff leise vor sich hin. Er hörte den Aufzug, zu einem Moment, wo es schon längst dunkel geworden war vor den grossen Fenstern. Leise Schritte kamen näher, die hohen Absätze machten kaum Geräusche. Reita reagierte nicht, sondern machte ruhig weiter. Erst als er den letzten Putz verstrichen hatte, liess er die Kelle sinken und drehte sich zu dem Kleineren um, der zwar müde, aber noch genauso atemberaubend wie am Morgen aussah. „Das…ist doch nicht möglich in der Zeit…man hat mir gesagt, es würde Tage dauern!“ Mit einem leichten Lachen sah Reita die Wand noch einmal an und dann den Auftragsgeber. „Naja, nicht wenn ich es mache.“ Er zwinkerte ihm zu. „Und…ein Tuch haben sie auch ausgelegt!“ „Natürlich. Den Boden kann ich zwar auch in drei Stunden reparieren, falls nötig, aber bis dieses Holz geliefert wird, kann es Wochen dauern.“ „Ich…“ „…bin sprachlos?“ Reita grinste noch breiter. „Sicher selten!“ Er bekam keine Antwort, nur ein empörtes Schnauben. „Hey, ich könnte morgen noch die Wand streichen…“, schlug Reita vor, während er seine Werkzeuge mit einem Lappen abwischte. „Die Wand…aber die Farbe…“ „…wurde gemischt, seh ich, krieg ich hin.“, sagte Reita überzeugt. Es war bloss ein Blaubeerfliederton. „Das…wäre…moment, wie viel würde das kosten?“ Reita hörte das aufkommende Misstrauen und sah auf. „Nicht mehr, als abgemacht war. Dein Geld interessiert mich nicht.“ Sein Gegenüber blinzelte mehrmals. „Unter der Bedingung, dass Sie danach alles sauber machen. Vor allem den Flur!“ Reita ignorierte den Blick auf seine Stiefel. „Deal.“ Kapitel 14: Lost ---------------- Der Verlorene: Blaue, grüne, gelbe und rote Linien. Schwarze Striche. Alle gingen wirr ineinander, dazwischen standen Buchstaben und auch Zahlen auf weissem Grund. Ruki seufzte und starrte auf das Chaos. So kam er nicht weiter. Er hatte noch nie Karten lesen müssen, wieso auch. Normalerweise benutzte er ein Navigationssystem. Nachdem er sich eine Strähne weggestrichen hatte, die immer wieder nach vorn in seine Augen rutschte, drehte er die Karte. Er war sich auch nicht ganz sicher, wie er sie halten sollte. Die Strasse, auf der er sich befand, konnte er auch nicht finden im 1:200'000 Massstab. Er rümpfte seine Nase und wackelte dann missmutig mit ihr. Ein Ort, an dem er sich nicht auskannte, eine Karte, die er nicht lesen konnte, kein Gerät, das automatische Navigation hatte. Ein Ruki, der aufgeschmissen war. Da gab es nur noch eine Möglichkeit. Fragen. Mit Wildfremden sprach er eigentlich nicht so gerne. Eigentlich gar nicht gerne. Aber er musste. Er kaute auf seinem Lipgloss rum und merkte es gar nicht, während er sich um sich selbst drehte, um jemanden zu finden. Eine alte Frau? Hörte vielleicht nicht mehr so gut. Ein Mann im Anzug? Nein, viel zu beschäftigt. Ein Kind? Oh Gott, nein, was für ein Gedanke! Ausserdem konnte das wirklich falsch rüber kommen. … Verdammt. Oh, jemand in seinem Alter! Ungefähr. Ruki war verzweifelt, er würde alles nehmen, dass er halbwegs ansprechen konnte. Er holte tief Luft und holte nochmals tief Luft. Erst beim dritten Mal konnte er ein paar schnelle Schritte machen, damit der Mann nicht über eine Treppe verschwand. „Hey!“ Ruki hechelte schon fast. Er war nicht sportlich und seine kurzen Beine kamen den Langen des Fremden kaum nach. Der Mann drehte sich um und sah auf Ruki runter. Ruki war wie erstarrt. „Ja?“, fragte der Grössere rau und wartete. Ruki war wie paralysiert, ihm wurde heiss und er hatte vergessen, was er hatte fragen wollen. Er fing an, schneller zu atmen. „Wo…wo…bin ich?“, fragte er unbeholfen und wäre am liebsten wieder weg gerannt. Er konnte nicht mit Fremden reden, und dieser Mann starrte ihn auch noch so an und ausserdem war er so gross und sein Gesicht war halb verdeckt und was wenn er zur japanischen Mafia gehörte?! „Ach so.“ Ein Lächeln bildete sich auf den Lippen des anderen. „Sie brauchen Hilfe?“, fragte er höflich. „…Ja…JA!“ Ruki nickte und knitterte die Karte in seinen Händen. „Wo müssen Sie hin?“ „Eh…“ Ruki faltete die Karte hastig wieder auseinander und nannte ihm die Strasse, mit zweimal verhaspeln. „Ah, ich weiss wo. Kommen Sie…“ Mit einem weiteren Lächeln und einer Handbewegung wurde Ruki aufgefordert zu folgen. Verdutzt setzte er sich in Bewegung und musste ein wenig rennen, weil er schon wieder zu klein war. Schweigend lief er ein Stück hinter dem Fremden und wischte sich die Hände an der Jeans ab. „Ist es…ist es in der Nähe?“ „Hm? Nein. Wir müssen eine ganze Weile laufen.“ kam die Antwort von oben. Rukis Augen weiteten sich. „Und äh…wie jetzt du-äh Sie kommen mit?“ „Selbstverständlich.“ „Den ganzen Weg?“ „Natürlich.“ Ruki hätte bestimmt nicht perplexer ausgesehen, wenn ein grünes Männchen auf seinem Kopf gelandet wäre. „Liegt es…ah, liegt es in Ihrer Richtung?“ „Nein.“ „Hä, aber dann…?“ Der Fremde drehte sich um und lächelte. „Wir müssen über die Kreuzung.“ Er blieb neben ihm stehen und wartete geduldig. Die Masse um sie herum wurde immer grösser. Die Geräusche der Autos betäubten Rukis Ohren. Auch die Sprache summte in seinen Ohren. Er hätte gar nicht gemerkt, dass es grün wurde, wenn die Leute um ihn herum ihn nicht angeschoben hätten. Dadurch war er schneller auf der anderen Seite, als er blinzeln konnte und musste schnell nach seinem Führer sehen. Den entdeckte er aber schnell in seiner Nähe und wurde weiter geführt. Sie verliessen die Hauptstrassen und es ging immer mehr durch Nebenstrassen, wo es nicht mal viele Leute hatte. Plötzlich kam Ruki eine schreckliche Idee. Was wenn…er hatte ja keine Ahnung, ob sie überhaupt in die richtige Richtung liefen oder wo der Fremde ihn hier eigentlich hinführte. Wenn er ihn zu sich nahm oder irgendeinen anderen Ort, wo er nicht mehr wegkam? Nein, das war doch absurd oder? Aber wenn er doch von der Mafia war? Rukis Puls beschleunigte sich wieder rasant. „Sie sind Japaner, aber Ihr Akzent ist seltsam…“, meinte der Fremde und Ruki merkte erst jetzt, dass er gemustert worden war. „Ich eh…bin in Amerika aufgewachsen. Meine Eltern sind Japaner.“ murmelte Ruki. „Ah, ich verstehe.“ Der Grössere nickte leicht mit dem Kopf, wie wenn er einer Geschichte zuhören würde und bog um die Ecke. „Dies ist die Strasse. Wo müssen Sie hin?“ Ruki blickte sich um. Tatsache. Also doch keine Mafia. Es war ja auch albern von ihm gewesen, schalt sich Ruki. „Das reicht schon, Vielen Dank.“ Er verbeugte sich brav. „Aber nicht doch. Welche Nummer ist es. Es ist eine lange Strasse.“ Zwar war die Stimme rau, aber sehr ruhig. Ruki kaute sich wieder den Lipgloss weg. „52.“ „Nach links.“ Sie liefen schweigend weiter. Ruki fand das ausserordentlich seltsam. Als der Fremde anhielt, wäre Ruki fast in ihn hinein gelaufen. „Da ist es. Finden Sie den Weg zurück danach?“ „Ja, das wird schon gehen. Nochmals vielen Dank…“ Ruki verbeugte sich noch etwas tiefer. Der Unbekannte nickte wieder freundlich. Ruki holte Luft. Es liess ihm keine Ruhe. „Ich hab nur noch eine kleine Frage… Was soll der Nasentanga?“ Der Helfer: „Der Nasentanga?! Nasen - Tanga?! Ich hör wohl schlecht!“ Reita sah den Kleineren erschreckt zurückweichen. Er hatte ja auch ohne Vorwarnung seine Stimme erhoben. Aber das konnte ja wohl nicht sein Ernst sein?! „Das ist kein Nasentanga! Das ist ein Band, ja?! Das sieht man ja wohl!“ Reitas Knöchel knackten, als er die Finger zur Faust schloss und wieder öffnete. „I-I-Ich...Ich…“ Die dunklen Augen waren aufgerissen und die Hände abwehrend erhoben. Reita kam wieder zu sich. „Es…es tut mir Leid…tut mir Leid…“ Er machte einen Schritt auf ihn zu, aber als dieser zurückwich, ging er wieder zwei Schritte nach hinten. „Verzeihung…“, sagte er leise und verbeugte sich. Der amerikanische Japaner sah nach wie vor verschreckt aus, aber die Hände waren wieder nach unten gewandert. „Ich wollte nicht…naja…“ Reita nickte. „Ja, schon klar.“ „Ich dachte nicht, dass der Ta-äh…“ Der Kleinere brach ab und Reita schnaubte. „Band, verdammt!“ Diesmal reagierte der andere weniger verängstigt. „Band.“ „Ja…“ Reita fuhr sich durch die Haare. So viel zu guten Vorsätzen. „Ich muss dann mal…“ „Sicher…also danke.“ „Bitte.“ Reita drehte sich um und ging rasch, aber nach einem halben Block kehrte er sich unauffällig um und stellte sicher, dass der Kleine sicher ins Gebäude gelangt war. Zufrieden und ruhiger setzte er seinen Weg fort. Kapitel 15: Revealed -------------------- Wenn man klein war, hatte das schon seine Vorteile. Man fiel nicht auf. Man wurde nicht gesehen, wenn man nicht gesehen werden wollte. Man konnte sich einfacher bewegen. Besonders bei grossen Menschenmengen. Man konnte sich durchschlängeln. Man wurde nicht als Gefahr angesehen. Man tendiert dazu, sogar das Gesicht schnell wieder zu vergessen. Wenn man klein war, hatte das seine Vorteile. Das dachte Ruki immer wieder, wenn er durch die Masse schlich und von den Menschen weniger wahrgenommen wurde, als der warme Wind, der die rosafarbenen Blüten von den Bäumen wehte. Ja, Ruki war gerne klein. Geschmeidig duckte er sich unter Armen weg, drehte sich zwischen Verkäufern hindurch. Manchmal fühlte er sich wie bei einem Tanz. Seine Füsse setzten sich auf ordentliche Stellen, frei von vom Fest heruntergefallene, frittierte Tintenfischreste. Seine Beine beugten sich schnell, um seinen schmalen Oberkörper aus Schusslinien zu bringen, damit er möglichst wenige Personen berührte. Seine Arme blieben nah am Körper, seine Augen fanden jede Lücke, sahen jede Bewegung voraus und liessen sich keine Schwachstelle entgehen. Seine Finger schlüpften flink in jede halboffene Tasche und klaubten unbemerkt Brieftaschen, Geldscheine, Handys und Zigaretten heraus. Grinsend drückte er sich hinter einen Sushistand und überprüfte, was er alles eingesammelt hatte. Ja, nicht schlecht, aber zufrieden war er noch nicht. Er nahm das Geld aus den Brieftaschen, die Kreditkarten konnte er nicht verwenden. Er war nur ein kleiner Taschendieb. Aus den Handys nahm er die Simkarten und stellte die Telefone aus, damit sie nicht nachverfolgt werden konnten. Rasch schob er sie und die Geldscheine in einen Beutel, den er unter dem Pulli trug und zündete sich eine geklaute Zigarette an und zog genüsslich an ihr, während er die geldlosen Brieftaschen unauffällig in den nächsten Mülleimer warf. Etwas langsamer lief er über den Platz und inhalierte Rauch, während er sich die nächste Opfergruppe suchte. Überall duftete es himmlisch nach gegrilltem und fritiertem, geröstetem und gebratenem. Rukis Magen knurrte. Aber er würde erst vor dem Gehen was zu essen kaufen. Jetzt musste er die Zeit und Gelegenheit noch nutzen. Solche Volksfeste waren wahre Schatzgruben für Diebe wie ihn. Er konnte heute genug Beute für eine oder sogar zwei Wochen machen. Ruki trat den Stummel aus, warf ihn brav weg und rieb sich die Hände. Er machte einen grossen Bogen, um von hinten an die nächste Versammlung vor einem Ramenstand zu kommen. Immer schön aus dem Blickfeld, langsam anpirschen. Desinteresse bekunden und sich dann unauffälllig ducken. Ruki spürte das Adrenalin durch seine Bahnen schiessen und atmete durch. Schon hatte er die erste Geldbörse. Seine Finger waren manchmal schneller als seine Gedanken. Zufrieden schob er sie in seine hintere Gesässtasche und widmete sich der halboffenen Handtasche zu seiner Linken. Was für eine Einladung! Schminke, bah. Zigaretten, mit Menthol, widerlich, die blieben auch da. Ein pinkes iPhone. Sowas fasste Ruki aus Prinzip nicht an. Aber dann da, ein gerolltes Geldbündel. Jackpot! Ruki steckte es in seine Bauchtasche und war schon weiter. Eine Brieftasche mit Kette. Oh, bitte! Ruki brauchte 5 Sekunden, um sie abzuhängen und 2 Sekunden als Gewichtersatz einen Stein in die Tasche zu schieben. Er war vielleicht nur ein Kleinkrimineller, aber ein talentierter. Jetzt wurde es aber zu heiss hier, nächste Gruppe am anderen Ende der Essensstände. Wenn jemand den Diebstahl bemerkte, musste Ruki bereits weiter weg sein. Der Kleine schlich davon und dankte wieder einmal für seine Grösse, wem wusste er nicht, einen Gott gab es für ihn nicht. Bald war er an einem Schiesstand angelangt. Perfekt. Hier gab es immer genug Idioten, die unbedigt ihr Können beweisen wollten und vor lauter Angeben nicht auf ihre Wertsachen achteten. Schon war Ruki hinter dem Letzten der Schlange. In den Gesässtaschen war nichts, aber bestimmt in den vorderen. Ruki rutschte etwas nach links, schob den dünnen Arm vor und grinste, als er das Leder an seinen Fingern spürte. Und das Grinsen war schneller gestorben, als es gekommen war. Ein harter Griff um sein Handgelenk liess ihn bleich werden. "Was haben wir denn da?" Ruki sah rasch auf, in seinem Hirn ratterte es fieberhaft. "Ich äh...die ist Ihnen wohl runtergefallen..." Ruki hatte die Lederbörse schon auf halbem Weg zu sich gebracht und versuchte es deshalb mit dieser Erklärung, weil seine Hand in ihrere Mitte schwebte. Der Beklaute drehte sich zu ihm um, und griff dabei noch etwas fester zu. "Glaubst du, ja?" Ruki verzog das Gesicht. "Sie tun mir weh!" "Das ist auch die Absicht!" Er spürte, wie das Blut seinen Arm verliess und genauso auch sein Gesicht. Ruki war erbleicht und versuchte sein Hand rauszuwinden. Der Grössere schmunzelte. "Sie dir mal an, was du da geklaut hast." Ruki runzelte die Stirn und liess das Leder aufklappen. Reflektierte Sonnenstrahlen blitzten ihm vom Metall entgegen. Rukis Herz sank in die Hose. Eine verdammte Dienstmarke! Scheisse, er war sowas von geliefert. Der Bestohlene: Reita grinste auf den Geist vor sich. Der Gesichtsfarbe nach jedenfalls. War er vorhin nur bleich gewesen, so war er jetzt weisser als die Kirschblüten. "Weisst du, Mumm hast du ja!", meinte Reita, während er aus seiner Jacke gemächlich Handschellen hervorholte und die Erste geduldig um das blutleere Handgelenk legte. Der Kleine sah aus wie vor dem Schafott. "Einen Polizisten zu bestehlen...naja, sagen wir, versuchen zu bestehlen. Und dann greifst du dir auch noch meine Marke. Weisst du, was für ne Strafe da drauf steht?" Ein panisches Kopfschütteln. "Keine Sorge, du wirst es erfahren." Die zweite Handschelle klickte um die andere Hand, die Reita sich mit Kraft nach vorne geholt hatte. "Wollen wir doch mal sehen..." Ruki wurde vom Schiesstand zu einer Baumgruppe gezogen. "Du haust nicht ab, oder?", fragte Reita freundlich. Der Kleine antwortete nicht. "Oder?" Wie in die Ecke gedrängt nickte der Kleine, etwas Trotz findend. "Na also, brav." Reita grinste und griff an den Bauch des Kleineren. "Hmm, dritter Monat?" Er lachte und zog den Beutel hervor. "Lass mal sehen. Nicht schlecht..." Er überschlug den ungefähren Geldanteil, zählte die Handys und bemerkte die Zigaretten. "Bist du nicht viel zu jung, um zu rauchen...?", lachte er auf und steckte sich eine Zigarette an, als er ein Päckchen seiner Marke entdeckte. Als er die grossen, verdutzten Augen bemerkte, schmunzelte er. "Die Zigaretten werden weder gezählt, noch interessiert es die Polizei.", meinte er nach dem ersten Zug. Er warf sich den Beutel über die Schulter und steckte seine Dienstmarke wieder ein. "Ah, du hast mich um meinen freien Tag gebracht..." Reita steckte sich das Nikotin zwischen die Lippen und nahm die Kette der Fesseln in die Hand. "Los, komm...", mümmelte er mit der Zigarette zwischen den Lippen und zog den Dieb an den Händen hinter sich her zum Revier. Kapitel 16: Butaniku -------------------- Der hungrige Gast: „Was willst du denn damit schon wieder sagen?“ Reita hielt die Tür auf und liess seinen Begleiter zuerst ins Restaurant eintreten. Gleich nach ihm entschlüpfte Reita der kalten Abendluft und blinzelte in die helle Beleuchtung. Es roch nach gegrilltem Schweinefleisch. „Nichts, ich mein nur…“ „Einen Tisch für zwei?“, fragte eine Frau mit zurückgebundenem Haar und schwarzweisser Dienstkleidung. „Ja, bitte…ich meine damit nur, dass der Jahresbericht vorher fertig werden sollte, damit…" „Vorher? Wie viel vorher denn?“ Reita kräuselte die Nase und folgte der Frau mit den Menukarten und seinem Kollegen zwischen den Zweier- und Dreiertischen hindurch zur Wand. Er nahm am Rande wahr, dass etwa die Hälfte der Tische besetzt war. Die meisten davon von Paaren. Reita wandte sich wieder der Diskussion zu. „Nun…zwei Wochen?“ „Zwei Wochen früher? Bist du wa-…ich meine, dass ist nicht dein Ernst, oder?“, räusperte sich Reita und setzte sich hin. „Nein, das ist eine Vorsichtsmassnahme, zum einen und zum anderen…“ Reita nahm die Karte entgegen, genau wie sein Kollege, warf einen Blick auf das hellgelbe, laminierte Papier und tippte rasch auf das Gericht. Er wusste immer schnell, was er essen wollte. „Zum anderen? Wollt ihr genug Zeit, um es zu überprüfen?“, knurrte Reita ungehalten und rutschte auf dem unbequemen Holzstuhl herum. „Aber nein, natürlich nicht…“ Während Reita sich mit halbem Ohr die Ausreden anhörte, schweiften seine Augen über die Dekoration. Sie war modern, ja fast spartanisch. Das Restaurant war Mittelklasse, das sich etwas höher stellen wollte mit den echten und frischen Blumen und einigen Fotografien die schwer nach Takashi Amano aussahen. Vielleicht Farbkopien? „…und deshalb wäre es toll, wenn du sie…sagen wir, ein paar Tage früher fertig hättest.“ Reita drehte den Kopf wieder zu seinem Arbeitskollegen und grummelte innerlich. „Ich werd mal sehen, ob ich das hinbringe. Du weisst, was das immer für eine Riesensache ist, diesen Bericht zu schreiben.“ „Natürlich.“ Sein Gegenüber wählte nun auch endlich etwas zu essen und der warme Sake kam. Gleich drei Schlücke nahm Reita. Er war total hungrig. Besser so, dann flippte er auch nicht aus, solange sein Körper auf den Bauch konzentriert war. Reita schob die Stäbchen zurecht und die Gläser, während er wartete. Er wollte nicht noch länger über den Jahresbericht reden, der ihm eh schon wie ein Stein auf dem Magen lag. Bis jetzt sah es nach einem starken Minus aus. Der Nasenbandträger nahm noch einen Schluck und sah aus dem Augenwinkel ihr Essen kommen. Gott sei Dank. Er rückte etwas zurück und liess sich das Fleisch hinstellen. Er seufzte auf. Fleisch und Sake. Genau was er jetzt brauchte. Rasch nahm er die Stäbchen und fing mit dem Reis an, schnell schlang er aber auch die ersten Schweinefleischstückchen runter und wurde erst nach und nach langsamer. Mit längerem Kauen bildeten sich immer mehr Falten auf seiner Stirn. Das…war nicht gut. Reita unterbrach sich und nahm einen grossen Schluck Sake. Er probierte etwas vom Reis, an dem konnte man nichts falsch machen. Dann das Gemüse. Ja, Gemüse halt. Aber das Fleisch. Nein. Reita legte die Stäbchen weg. Die Wut kochte wieder in ihm hoch. Sein Tag, nein, seine ganze Woche lief schon grauenhaft, dann wollte er nicht auch noch so ein furchtbares Essen. Er hob die Hand und rief die Bedienung. „Verzeihung, aber dieses Fleisch…nicht richtig durch, schlechte Qualität…“ Die Kellnerin schien äusserst verlegen und verbeugte sich, sich mehrmals entschuldigend. „Ich werde sofort ihren Wünschen entsprechen, möchten sie etwas anderes bestellen?“ „Kommt darauf an, gibt es etwas, das nicht verkocht ist?“, fragte Reita säuerlich. „Ich…ich werde…wir werden sicher etwas finden…“ Sie eilte weg zu einer Tür, die wohl die Küche war, so vermutete Reita. Keine halbe Minute später ging die Tür wieder auf und ein Mann in weisser Kleidung, mit zurückgekrempelten Ärmel rauschte auf ihn zu. „Mein Gericht ist also nicht gut?“, knurrte der Koch, der im Stehen nur wenig grösser war, als Reita im Sitzen. Der Gast musterte ihn und nickte dann. „Es ist geradezu miserabel. Das nennt ihr Schweinefleisch?“ „Ja, das ist Schweinefleisch. Anscheinend haben Sie so etwas noch nie gekostet.“ Reita biss die Zähne so heftig aufeinander, dass sein Kieferknochen hervortrat. Er schob ihm den Teller zu. „Wie Sie das nennen wollen ist mir egal, aber Fleisch darf man das kaum nennen.“ „…“ Der Küchenchef packte die Stäbchen, nahm Fleisch auf, schob es sich in den Mund und kaute. Man sah, wie er langsam mit der Zunge das Stück herumschob. Dann nahm er die Serviette und spuckte den Rest hinein. „Einen Moment bitte.“ Der Chefkoch nahm den Teller und die Serviette und preschte zurück in die Küche. Reita hob eine Augenbraue. Sein Kollege sagte nichts, sondern ass weiter. Anscheinend hatte er nichts an seinem Huhn auszusetzen. Der Küchenchef: „Er hat was gesagt?“ Ruki riss das Tuch von seinen Schultern und sah die Bedienung fassungslos an. Die Kellnerin stotterte hilflos, sie schien nicht zu wissen, wie sie es formulieren sollte. „Aus dem Weg.“, grollte der Küchenchef und warf das Tuch auf die Schneidbretter. Das durfte nicht wahr sein. Das brauchte er diese Woche wirklich nicht auch noch. Ausserdem war es eine verdammte Frechheit. Mit beiden Händen stiess er die Doppeltür auf und ging rüber zu dem Kerl, der mit verschränkten Armen und einem Gesichtsausdruck, wie frisch in eine Zitrone gebissen da sass. „Sie haben also ein Problem mit meinem Essen?“ Er versuchte seine Stimme angemessen klingen zu lassen. „Es ist miserabel. Das ist doch kein Schweinefleisch.“ „Für wen halten Sie sich? Haben Sie noch nie Schweinefleisch gegessen?“ „Schon oft, aber das hier esse ich nicht. Das ist eine Beleidigung für den Gaumen.“ Ruki knirschte mit den Zähnen, packte die Stäbchen und kostete vom Fleisch. Er kaute zuerst schnell, aber als ihm die Zähigkeit auffiel und den Beigeschmack verlangsamte er. Er musste an sich halten, nicht das ganze Gesicht zu verziehen. Was zur Hölle war das? Das konnte doch nicht aus seiner Küche kommen. Oh Gott, widerlich. Er hielt das nicht mehr aus. Rasch nahm er das Erstbeste, eine Serviette in dem Fall und entledigte sich dieses…was auch immer. „Entschuldigen Sie mich kurz.“ Die Zumutung auf dem Teller nahm er gleich mit und hetzte zurück in die Küche. „Souschef!“, bellte Ruki wütend und knallte den Teller so heftig hin, dass er beinah auf der Metallplatte zerbrach. Der Japaner eilte zu ihm. „Chef?“ „Wer hat dieses Fleisch zubereitet? Hol mir sofort den Boucher her! Und mach ausfindig, wer das gebraten hat.“ In ihm brodelte es, sein Gesicht war heisser als der Herd. Kurz darauf waren die zwei Zuständigen da. „Diese…diese Unverschämtheit hab ich nie gesehen, weil ich sie niemals aus der Küche gelassen hätte und der Souschef anscheinend auch nicht! Eine Frage, ist das unser Fleisch? Vom Restaurant eingekauft?“ Ihr Metzger kostete und spuckte aus. „Auf keinen Fall.“ „Sie sind entlassen.“ Ruki schickte ihn mit einer Handbewegung weg, um sich dem sogenannten Koch zuzuwenden. „Eigenes Fleisch? Eigen zubereitet? Unter den Augen der Zuständigen durchgeschmuggelt? Das ist schlichter Rufmord!“ Rukis Worte überschlugen sich beinahe. „Rufmord ist erst der Anfang. Was für eine Blamage…“ Ruki zeterte noch eine gehörige Weile, riss ihm die Schürze runter und warf ihn aus der Küche und somit aus dem Restaurant. Er musste sich sammeln. Ruki sperrte sich in ihren riesigen Gefrierschrank ein und atmete durch. Er richtete seine Haare. Jetzt musste er einiges wieder gut machen. Wegen dieses Idiotes. Er hätte beinahe nicht nur seinen Ruf, sondern auch den der Küche ruiniert. So etwas konnte Ruki sich nicht leisten. Auf keinen Fall zu diesem Zeitpunkt. Er war nun eine Weile Küchenchef und es war nur noch eine kleine Frage der Zeit, bis er von einer renommierteren Küche abgeworben wurde. Also hiess es nun Schadensbegrenzung! Der Küchenchef richtete seine Schürze ein letztes Mal und ging mit gemessenem Schritt zurück zum Tisch. „Dieses…Gericht…wurde nicht abgesegnet. Der Verantwortliche wurde soeben entlassen. Ich bitte im Namen des Restaurants um Entschuldigung. Und vor allem…in meinem Namen.“ Ruki atmete durch und verbeugte sich dann tief. „Ich werde persönlich ein Menu für sie kochen.“ Kapitel 17: Up Up ----------------- Der Pünktliche: „Flight AZ785 boards at Gate 22. Boarding starts in 10 minutes.“ Ruki nahm seine Aktentasche vom Band und rückte sich die Brille zurecht. Die Sicherheitskontrolle hatte ewig gedauert. Aber auch nur, weil genau vor ihm eine Frau behauptet hatte, es wäre Körperverletzung sie zu untersuchen und sich weigerte, sich anfassen zu lassen. Das hatte den ganzen Fluss erst einmal gestoppt und alles war zum Erliegen gekommen, bis sie die verrückte Europäerin hatten beruhigen können. Ärgerlich. Er sah nach unten, ob seine Schuhe wieder richtig zugebunden waren, die er auch hatte abziehen müssen, kontrollierte, ob seine schwarze Stahluhr wieder am Handgelenk befestigt war und prüfte gleich noch, wann diese 10 Minuten um waren und das Boarding starten würde. Um Viertel nach Acht. Das Boarding hatte sich etwas nach hinten verschoben. Gut für ihn, sonst wäre er womöglich spät dran. Er hasste Verspätung. Ruki richtete noch sein Jacket. Brieftasche, Blackberry, Zigaretten, alles war an seinem Platz. Zufrieden entfernte er sich rasch von der Sicherheitskontrolle und stieg auf das erste Laufband. Es war ihm nicht schnell genug, also lief er selbst auch, das verdoppelte die Geschwindigkeit. Gate 22. Wegen seiner Grösse musste er den Kopf weit in den Nacken legen, um die Tafeln gut sehen zu können, die an der Decke hingen. Gate 1-12 Rechts. Gate 13-23 Links. Toiletten Links. Der Jacketträger schob sich die Brille wieder höher und wandte sich nach links. Menschen. Hunderte davon, aller Nationen und Hautfarben, Augenformen und Kulturen. Der Kleine schlängelte sich zwischen ihnen durch und nahm das nächste Laufband. Fünf Minuten waren bereits um. Zehn nach Acht. Beim Betrachten einer Markenwerbung, wäre er beinahe vom Band gestolpert, weil er den Absatz nicht hatte kommen sehen. Er fluchte kurz, hielt aber inne, als er ein kleines Mädchen bemerkte, das ihm anscheinend zuhörte. Rasch eilte er weiter zu Gate 22. Als er ankam, atmete er erleichtert aus. 13 nach Acht. Es hatte sich bereits eine Schlange gebildet, die immer länger wurde. Das Boarding sollte jeden Moment starten, falls es pünktlich anfing. Aus Erfahrung war das noch gar nicht sicher. Ruki stellte sich hinten an und kramte in seinem blauen Jacket nach seinem roten Pass, in den er die Bordkarte eingeklemmt hatte. Sehr zu seiner Überraschung begann das Boarding pünktlich. Um viertel nach Acht. Die Schlange bewegte sich nur langsam, jeder Pass wurde hier noch einmal eingescannt. Sein Pass war noch 5 Jahre gültig. Grässlich. Bis dahin konnte er kein neues Foto machen und das Foto, das da war, zeigte ihn als erschreckten Geist, mit übermässig dunklen Augen. War nicht so sein Tag gewesen. Eigentlich war kein Fototag sein Tag. Kameras liessen ihn immer scheuen. Er seufzte leise und beugte sich auf die Seite, um nach vorne zu sehen. Dauerte noch etwa zehn Personen. Und immer noch kamen Passagiere an ihrem Gate an. Ruki beobachtete eine Frau mit Kinderwagen und eins, zwei, nein drei kleinen Kindern. Herrje, wenn die in seiner Nähe sassen, wurde das ein furchtbarer Flug von 15 Stunden. Ein anderer Mann kam leicht gehetzt an, sein Jacket hatte eine gewagte Lederoptik. Noch fünf Leute. Ruki öffnete seinen Pass auf der richtigen Seite und nahm seine Bordkarte in die andere Hand. Kurz darauf war er am Scanner und liess sich überprüfen. Natürlich ging er problemlos durch und trat in den Gang Richtung Flugzeug ein. Dort stand die Schlange wieder still. Bestimmt Stau vorne beim Einsteigen. Da er jetzt entspannter war, sah er durch die Fenster der Gangway und beobachtete die kleinen und grossen Flieger die gerade ankamen oder zur Startbahn rollten, wie sie bald auch. Es ging nur schleppend voran. Ruki verstaute seinen Pass wieder und als er vorne beim Flieger war, zeigte er nur die Bordkarte nochmals einer der Stewardessen mit dem reizenden roten Lächeln. Ruki grüsste freundlich zurück und trat in den engen Mittelgang. Er warf nochmal einen Blick auf seine Sitznummer. 24C. Ein Gangplatz. Vor ihm verstauten eine Menge Leute ihre kleinen Koffer in der Gepäckablage, weshalb er warten musste. Er selbst schob seine Tasche unter den Sitz vor sich. Er war eh zu klein und kam nicht richtig an die Gepäckablagen ran. Ausserdem brauchte er in diesen 15 Stunden Beschäftigung. Unglücklicherweise war der Fensterplatz zwar besetzt, aber der mittlere noch nicht. Deshalb stellte sich Ruki zwischen seinen Sitz und den Sitz vor sich, damit der Gang frei war und wartete auf die Person 24B. Er sah die überforderte Mutter mit den drei Bälgern fünf Reihen vor sich und seufzte innerlich. Das war wohl nicht weit genug weg, aber was sollte er schon machen. Es war schon eine dumme Idee mit drei kleinen Kindern so lange in einem geschlossenen Raum mit so vielen Menschen zu sein. Ein Schlipsträger blieb vor ihm stehen. Ruki musterte kurz das Jacket und die Uhr und trat heraus, damit der andere eintreten konnte. „Vielen Dank…“ Ruki nickte leicht und wartete, bis der 24B sich gebüschelt hatte. Es war ihm unangenehm, dass die anderen Passagiere so wieder nicht weiter kamen und wegen ihm warten mussten. Er versuchte sich dünn zu machen, aber der Gang war einfach zu eng. Allerdings schien der Mann vor ihm ziemlich geduldig. Ah, das Lederjacket. Ruki musterte es. Ja, es war gewagt, aber es sah gut aus. Das konnte man halt tragen, wenn man so gross war. Nicht so wie Ruki. Er kaute sich nachdenklich auf der Lippe rum und sah einem Reflex nach zum Handgelenk. Doch an keinem der Handgelenke war eine Uhr. Ein Mann ohne Uhr? Vor allem so etwas wie ein Geschäftsmann…ohne Uhr? Hatte er auch noch nie getroffen. Vielleicht war er ja kein Geschäftsmann, da er sehr geduldig wartete und ihn sogar anlächelte. Eigentlich war es mehr ein süffisantes Grinsen. Ruki sah weg und konnte sich nun endlich hin setzen. Der Mann ging an ihm vorbei und setzte sich irgendwo hinter ihm hin. Ruki schnallte sich an und rieb mit den Händen über seine Oberschenkel. Er war nicht nervös, für das war er schon zu oft geflogen und Fliegen war immerhin sicherer als Auto zu fahren. Er wollte bloss, dass sie mal in der Luft waren. Wenn es ging pünktlich. Mit 45 Minuten Verspätung rollte Rukis Flieger endlich auf die Startbahn und ging wenig später in die Luft. Ruki spürte den Druck auf seinem Oberkörper und wie sein Körper leicht in den Sitz gedrückt wurde. Kurz darauf schlossen sich seine Ohren und er warf einen Kaugummi ein, um das zu beheben. Als sie eine angemessene Höhe erreicht hatten, ging das Flugzeug zurück in die waagrechte Position und Ruki entspannte sich nun wirklich. Er sah rüber und versuchte, etwas aus dem Fenster zu sehen. Normalerweise war das sein Lieblingsplatz, aber bei so einem langen Flug war es doch angenehmer mehr Platz zu haben und jederzeit aufstehen zu können. Die ersten Stunden verbrachte er mit Arbeiten, Lesen, Dösen und er sah auch etwas fern, auf dem kleinen Bildschirm vor sich. Zum Essen gab es Rindfleisch mit Reis und etwas, das aussah wie Gemüse. Trockener Salat, ein noch trockeneres Brötchen und als Dessert ein winziges Stück Daifuku. Nach dem Essen schnallte sich Ruki ab und stand auf. Sofort schoss neues Blut in seine Beine und er seufzte auf. Das war wirklich angenehm. Er zog sein Jacket ab und legte es auf den Sitz. Für den Flug hatte er darunter ein Shirt an, ein Hemd wäre bloss zerknittert. Ruki sah nach hinten, das Licht war rot. Trotzdem lief er langsam Richtung Flugzeugheck und genoss dabei die Schritte. Dabei lief er am Ledersacko vorbei. 27 D. Er bemerkte nicht, wie ihm hinterhergesehen wurde, aber er spürte einen Blick auf sich als er hinten angelangt war. Zunächst aber streckte er sich ausgiebig. Seine Schultern waren verspannt. Es waren noch sechs Stunden übrig. Viel zu viel. In diesem Teil des Flugzeugs war es ziemlich dunkel. Ruki kreiste seinen Kopf, bis die Wirbel knackten, als er unvermittelt eine Hand auf sich spürte, die ihn herumdrehte und gegen die Wand presste. Das Nächste, was er wahrnahm, waren Lippen, die verflucht gut küssen konnten. Erst nach einigen Küssen kam er wieder halbwegs zur Besinnung und hob die Hände, den anderen wegzudrücken. Er tastete über die Brust und fühlte weiche Haut, aber keine menschliche. Leder. Er krallte sich fest, das Ledersacko... Ruki öffnete endlich die Augen und erblickte ein paar der schwarzblonden Strähnen. Der Mann war stark, Ruki konnte ihn kaum von sich wegstossen. Neben sich hörte er ein Klicken, eine Frau kam aus der winzigen Kabine und lief nach vorne, ohne sie zwei richtig wahrzunehmen. Der Grössere hatte ihn gleich darauf an der Hüfte gefasst und schob ihn sofort in die winzige Flugzeugtoilette. Ruki gab erstickten Protest von sich, der durch den fremden Mund eher wie Stöhnen klang. Mit einem dumpfen Schlag schlug die Tür wieder zu und er hörte das bekannte Schliessgeräusch, als die Verriegelung einrastete, von der fremden Hand energisch geschoben. Jetzt endlich hatte Ruki seinen Mund für ein paar Sekunden frei. "Was fällt dir ein?!" Er liess Höflichkeitsflossen gleich weg, angesichts ihrer Lage. Er bekam wenig mehr als ein dreckiges Grinsen. "Hi, ich bin Reita." Und gleich hatte er wieder einen gierigen Mund auf seinem. Irgendwie verliess ihn die Gegenwehr und er erwiderte den Kuss zum ersten Mal. Es war wirklich verdammt eng in der Kabine. Schon für eine Person, aber für zwei? Ruki sammelte sich wieder etwas und schnappte nach Luft. "Wie kommst du darauf, dass ich - ?!" "Du bist wahnsinnig sexy..." Ruki verschlug es die Sprache. "Und du hattest schon länger keinen Sex mehr...was hast du zu verlieren?" , wurden seine Worte weiter ignoriert. Der Fremde wartete auch keine Antwort ab, sondern drückte ihn gegen die Tür und fuhr mit den Händen unter Rukis blütenweisses Shirt. Ruki entwischte ein Keuchen. Woher wusste der Kerl das überhaupt? Und sein Unterleib hätte wirklich gerne Sex...wenn es ihm schon so angeboten wurde. Vor allem von einem doch recht attraktiven Mann. In sechs Stunden würden sie den Flieger verlassen und sich nie wieder sehen. Was sprach gegen eine kleine Dummheit in Anonymität? Jedenfalls seinen Name würde er nicht preisgeben. Während er sich Gedanken gemacht hatte, war der Andere fleissig gewesen. Seine Hose stand bereits offen, bemerkte Ruki nach Luft schnappend. Er fing sich wieder ein Grinsen ein und sah das Kondom, das der Grössere hervorgezogen hatte. Zumindest war er vorsichtig. Dann sollte ja eigentlich nichts passieren. "Nicht nachdenken...", hauchte der andere mit einer Stimme wie Schmirgelpapier. Ruki wurde wieder geküsst und schloss die Augen, spürte, wie seine Hose runtergezogen wurde und sein Arsch das kalte Metall der Tür streifte. Er sog Luft ein und linste nach unten, wo der andere seine eigene Jeans aufriss und sein Ding herausholte. Und was für ein Ding. Ruki hielt kurz die Luft an. Das würde weh tun ohne Gel. Allerdings war es auch ziemlich geil. Ruki streckte die Hand aus, ohne wirklich zu merken, was er da tat, und legte sie um den pulsierenden, feuchten Schaft. Zischend stiess er die Luft wieder aus und sah kurz hoch. Die Augen des anderen funkelten, erregt, verlangend, voll von neuer Glut. Er bekam das rote Kondompäckchen in die Hand gedrückt und riss es fraglos auf. Seine Hand zitterte etwas aufgeregt, aber wurde ruhig, als die fremde Hand mit aufgerauten Fingern sein Handgelenk ergriff. Der Gummi rollte sich aus und Ruki atmete durch, für mehr hatte er aber auch keine Zeit, da er bereits hochgehoben wurde, als wäre er Luft und wieder an die kalte Tür gedrückt. Ruki spürte den feuchten Lusttropfen von...Reita an seiner Öffnung und gleich darauf wie er auseinandergezogen wurde. Ruki warf den Kopf zurück, als der andere sich immer wieder in ihn stiess und nur noch gieriger zu werden schien. Er selbst hielt sich einfach fest und hörte das dumpfe Schlagen seines Körpers an die Kabine, während er gefickt wurde. Oh ja, das hatte er gebraucht. Woher auch immer der Fremde das gewusst hatte. Es spielte keine Rolle. Das war das erste Mal, dass er es auf einer Flugzeugtoilette trieb. Es war nicht bequem, es war eng, aber es ging eigentlich, seine Grösse kam ihm ausnahmsweise mal zugute. Keine Sekunde nach diesem Gedanken schaukelte es sie plötzlich. Ruki japste nach Luft und sah seinen Gegenüber an. Abermals geriet der ganze Raum in eine Schieflage und sie kippten auf die Seite. Ruki presste seine flache Hand gegen den Handtuchspender. „Turbulenzen? Jetzt?!“ „Sieht ganz so aus.“ Es schaukelte abermals und das Anschnallzeichen leuchtete wieder auf. „Denk nicht mal dran…“, knurrte der andere grinsend und setzte ihn auf das kleine Waschbecken. „Halt dich fest…am besten an mir…“ Rukis Haare wurden am Spiegel flachgedrückt, seine Finger krallten sich ins Leder. Die Luftlöcher, die das Flugzeug zum schaukeln brachten, intensivierten ihr Liebesspiel, weil es immer mal wieder unvorhergesehen zu einer Bewegungsrichtungsänderung kam. Ruki fragte sich, ob man sein Stöhnen im Flugzeug hören konnte, aber die Wucht ihrer Körper, wenn sie aufprallten, hörte man bestimmt. Das gleiche Geräusch der Verriegelung, aber weniger laut dieses Mal, und Ruki steckte den Kopf aus der Kabine. Es stand glücklicherweise niemand da. Rasch trat er raus und zupfte an seinen wirren Haaren. Er räusperte sich leise. Jetzt wo sich sein Hirn wieder einschaltete, schämte er sich. Bestimmt wusste der halbe Flieger, was sie getrieben hatten. Hinter ihm ging die Tür zu und er merkte, wie Reita bei ihm stand. Die Turbulenzen hatten aufgehört. Der Unpünktliche: „Flight AZ785 boards at Gate 22. Boarding starts in 10 minutes.“ Reita war spät dran, er war sehr spät dran! Er riss sich den Gürtel aus der Jeans, obwohl er noch eine Weile nicht an der Reihe war mit der Sicherheitskontrolle. Er nahm auch sein Ledersacko ab und hängte es sich über den Arm. Was noch? Schuhe. Die konnte er ja noch nicht abziehen. Er sah an den Wartenden vorbei und trat etwas ungeduldig auf der Stelle. Eine Ewigkeit später stand er vorne und knallte alles in diese Plastikkörbchen. Als er die Schuhe auszog, fiel er beinah hin, weil er so hetzte. Als alles aus seinen Hosentaschen entfernt war und seine Sachen dem Band entlang liefen, trat er durch den Körperscanner und piepste los. Verdammt, heute hatte er aber auch gar kein Glück. Nun wurde er von einem Sicherheitsbeamten mit einem Metalldetektor in Handgrösse untersucht und vor seinem Schritt piepste es. Reita verdrehte die Augen. Das durfte jetzt aber nicht wahr sein… Der Beamte sah ihn stirnrunzelnd an und fuhr abermals über den Schritt. Wieder piepste es. Reita biss sich auf die Lippe. Er hatte doch sein Piercing entfernt. Jetzt musste er seine Taschen nochmals leeren und umdrehen. Eine kleine Münze fiel heraus. Damit war das Problem gelöst und er durfte sich endlich wieder alles anziehen. Mit noch ungeschlossenem Gürtel rannte er aufs erste Rollband und schlüpfte dort noch in sein Ledersacko. Er sprang gleich auf das nächste Laufband und richtete sich noch. Das Boarding musste schon begonnen haben. Hoffentlich dauerte es etwas länger. Gleich darauf stolperte er von der Rollbahn und fing sich nur knapp, um gleich weiter zu rennen. Moment. Reita machte eine Vollbremsung. Mist, er lief ja in die falsche Richtung! Sofort drehte er wieder um und rannte nach links. Gestresst kam er am Gate an, wo die Schlange schon kleiner wurde. Alles, was Reita noch sah, war ein ziemlich süsser Knackarsch der gerade drankam, bevor er sich selbst hinten anstellte und nach seinem Pass kramte. Einen Moment beschleunigte sein Herz schon, als er in Panik geriet. Hatte er den Pass verloren? Liegen gelassen an der Sicherheitskontrolle? Doch dann fand er ihn in der Innentasche und atmete erleichtert aus. Zehn Minuten später war er eingescannt und lief die Gangway runter. Vor dem Einsteigen sprach er einen kurzen Aberglaubensspruch, damit sie nicht abstürzten und trat dann ein, der Stewardess zuzwinkernd. Er war im Flieger, jetzt war alles easy, jetzt konnte er sich zurück lehnen und die nächsten 15 Stunden abwarten. Natürlich war wie immer ein Riesenstau im Gang, aber Reita hatte jetzt alle Zeit der Welt, also war er geduldig. Und er sah den Knackarsch wieder. Mit dem dazugehörigen Gesicht dieses Mal. Er lächelte schief und musterte ihn kurz, bis dieser sich setzte und er weiter zu seinem Platz gehen konnte. Ein Gangplatz. Äusserst praktisch, denn der Knackarsch hatte auch ein Gangplatz, so konnte er ab und an zu ihm sehen. In diesen 15 Stunden würde er doch bestimmt mal aufstehen… Reita schnallte sich an und beobachtete die Leute um sich herum, bis der Flieger startete. Kaum waren sie oben, nahm er seinen kindle hervor und fing an zu lesen, doch sein Blick schweifte immer wieder zum attraktivsten Wesen im Flugzeug. Er konnte sehen wie der Kleine mit seiner Brille spielte. Er hatte einen Handlaptop und tippte darauf mit nur einer Hand, war dafür aber unglaublich schnell. Später las er, Reita hatte keine Ahnung was, aber er besass ebenfalls einen kindle. Zum ersten Mal sah Reita das Lächeln des Kleinen, als dieser sich im Bildschirm vor ihm eine Talkshow ansah. Beim Aufstehen und sich strecken bemerkte Reita, dass der Kleine eingeschlafen war, sein Kopf war auf die Seite gekippt. Irgendwie hätte er gerne dagesessen und ihm Stütze geboten. Zum Essen wählte das Wesen Rindfleisch und nicht Huhn. Fein säuberlich wurden alle Bambussprossen herausgepickt. Reita war so fasziniert, dass er einfach rasch dasselbe bestellte, obwohl er Huhn liebte, um ihn weiter beobachten zu können. Die vollen Lippen schlossen sich um den Klebereis und etwas Anko musste vom Mundwinkel geleckt werden. Reita wollte auch ein Daifuku sein. Nach dem Mahl stand der Knackarsch auf und wischte sich die Brotkrumen vom Schoss. Er zog auch das Jacket ab, so dass Reita seine Brust unter dem engen Shirt fast erahnen konnte. Und er kam auf ihn zu. Kurz sah er weg und als der andere an ihm vorbei war, drehte er den Oberkörper und sah ihm nach. Die Toilette war noch besetzt. Er durfte keine Zeit verlieren. Die Schnalle klackte, als Reita sie aufriss und rasch, aber leise nach hinten ging. Es waren noch sechs Stunden übrig. Mehr als genug. Im hinteren Teil des Flugzeugs war es ziemlich dunkel. Der Knackarsch hatte die Augen geschlossen, als Reita seine Hand auf ihn legte und ihn an die Wand presste. Er drückte seine Lippen auf die des anderen, die noch nach Anko schmeckten und schmiegte seinen ganzen Körper an ihn. Erst nach einigen Küssen versuchte der andere, ihn weg zu stossen, es gelang ihm aber nicht. Reita konnte gar nicht aufhören ihn zu küssen. Das fühlte sich viel besser an, als er es sich in den letzten Stunden vorgestellt hatte. Sobald das Klicken ertönte, die Kabine aufging, packte er den Kleinen an der Hüfte und schob ihn beinahe herrisch in die Flugzeugtoilette. Hinter ihnen schlug er die Tür zu und tastete blind nach der Verriegelung, die einrastete und sie einsperrte. Reita trat hinter dem Kleinen, dessen Namen er immer noch nicht kannte aus der Kabine und sah ihn an. Es war wieder ruhig im Flugzeug. „Hier, in 3 Stunden.“, raunte er ihm zu und liess ihn mit seinem Blick wissen, dass er keine Widerrede duldete, bevor er wieder zu seinem Platz ging. Kapitel 18: Lights and Numbers ------------------------------ Der Fan: Der Himmel wechselte von seinem azurblau zu dem dunklen Blau eines tiefen Meeres und ein erster Stern blinkte über Ruki, bevor die Strassenlampen angingen. Er zog seine Lederjacke etwas enger, da es auffrischte. Es war eigentlich noch zu früh, aber er war zu aufgeregt gewesen, um noch länger zu Hause zu bleiben und zu warten. Er zog die noch fast volle Zigarettenpackung hervor, die er sich gestern geholt hatte. Er hatte gerade erst angefangen mit dem Rauchen und war noch gar nicht an den bissigen Rauch gewöhnt. Deshalb zögerte er auch und starrte die 18 verbleibenden Zigaretten erst eine Weile an. Schliesslich nahm er eine hervor und zündete sie doch an. Vorsichtig nippte er und stiess den Rauch schnell wieder aus, bevor überhaupt gross was davon in die Lunge gelangt war. Mit der linken Hand griff er in seine Jackentasche und streifte mit den Fingerspitzen das Papier. Es war etwas geknüllt, weil es nicht ganz in die Tasche passte. Raschelnd zog er es hervor und streifte es glatt, die Zigarette zwischen den zweiten und dritten Finger geklemmt. Es standen das Datum, heute, die Uhrzeit, in zwei Stunden, und den Namen, The Six Riots. Ruki lächelte, drückte das Ticket wieder in seine Tasche und beschleunigte seinen Schritt. Das Konzert würde in einer kleinen Halle in einem Vorort Tokyos stattfinden. Es war nicht weit weg von Rukis kleiner Stadt, was ein Vorteil war. Es war nicht Rukis erstes Konzert, aber es fühlte sich so an, denn er freute sich schon lange auf diese Gruppe. Aus diesem Grund war er auch allein hierhergereist. Das und ausserdem mochte keiner seiner wenigen Freunde diese Musik. Er war schon ganz in der Nähe und das Konzert würde erst in eineinhalb Stunden beginnen. Wie viele Menschen da sein würden, wusste Ruki nicht. Vermutlich nur knapp hundert. Aber dann konnte Ruki näher an die Bühne, was umso besser wäre. Ruki ging zur Halle, aber es waren nur einige Männer mit gleichem Staffshirt da und die Türen waren verschlossen. Also suchte sich Ruki einen kleinen Laden, um sich etwas zu trinken und essen zu holen. Er musste noch Zeit überbrücken. Dann konnte er ja das Rauchen noch etwas üben. Eine Stunde später stand Ruki in der Halle und betrachtete die Bühne. Die Instrumente waren aufgestellt und ein grosses Banner hing hinter der Bühne mit einer grossen roten 6, die aussah wie verschmiert. Ruki zupfte sich an den Haaren, wurde immer aufgeregter und suchte die Toiletten auf. Sie waren für beide Geschlechter und es hatte nur eine Kabine und ein Pissoir. Ruki schüttelte amüsiert den Kopf, war aber darauf bedacht, nichts anzufassen. Er trat bloss an den halbblinden Spiegel und musterte sein Make-up. Er hatte sich noch nie so sorgfältig und ausführlich geschminkt. Und zum ersten Mal seine Haare gestreckt, die auch noch neu gefärbt waren. Er wischte sich über die Kleider, für dessen Auswahl er länger gebraucht hatte, als er je zugeben würde. Er seufzte leicht, sah auf die Uhr seines Handys und verliess das Bad wieder als ein Pärchen eintrat. Inzwischen hatte sich die Halle gefüllt, es waren wahrscheinlich etwa achtzig, neunzig Personen, die meisten dunkel gekleidet, passend zur Rock Musik, die mit Metal angereichert war. Ruki drängte sich nach vorne. Da es noch nicht angefangen hatte, standen die Gruppe lose herum und er konnte sich, auch dank seiner Grösse, nach ganz vorne schleusen. Zufrieden blieb er stehen und blickte zur Bühne hinauf. Eigentlich war er etwas zu klein für die erste Reihe, aber er wollte genau hier stehen. Nicht lange darauf ging das Licht aus und sofort brach Lärm aus, begeistertes Rufen und Gedränge. Ruki hielt sich an der Absperrung fest und spürte wie heftig sein Herz schlug. Die Scheinwerfer gingen an und schon standen die Gitarristen vor ihnen. Der Drummer spielte auf, die Sänger kamen nach. Doch Ruki wartete auf den Bassisten. Es hiess immer, dass die Bassisten unbeachtet und unbeliebt blieben. Das konnte Ruki nicht verstehen. Dann entdeckte er ihn, neben den Drumms. Sein Herz beschleunigte sich abermals. Er war einfach so wahnsinnig talentiert und sah umwerfend aus. Ruki beneidete ihn nicht um die Muskeln, aber er sah sie sich gerne an, vor allem jetzt, live. Er war so unglaublich cool. Ruki verbrachte das Konzert wie in Trance. 90 Prozent der Zeit sah er auf den Bassisten und wog sich in der Musik, die ihm durch Mark und Bein ging. Der Drummer war auch echt gut. Kurz vor dem Finale - jedes der Mitglieder war verschwitzt, die Halle war völlig aufgeheizt, die Wasserflaschen beinahe leer und die Zeit weit fortgeschritten, auch wenn es Ruki wie fünf Minuten vorkam – hielten die Sänger inne und fragten in die Runde, wer auf die Bühne kommen möchte für den nächsten Song und mitzuspielen. Als erwähnt wurde, dass man ein Instrument beherrschen musste, sanken die meisten erhobenen Hände wieder. Ruki könnte schwören, er bekam gleich einen Herzinfarkt, so stark hatte sein Herz noch nie geschlagen. Langsam hob er die Hand. Er konnte Gitarre spielen. Er konnte etwas singen. Er hatte noch nie in seinem Leben auf einer Bühne gestanden. Er hatte keine Ahnung, ob er das schaffte. Aber er wollte es versuchen. Der Titel des nächsten Songs wurde angesagt und noch ein paar Hände sanken nach unten. Alle Verbleibenden waren nicht so nah an der Bühne wie Ruki. „Du da, mit den geilen Haare…ja du in der ersten Reihe, komm.“ Ruki wurde eine Hand entgegengestreckt und er ergriff sie nervös, wurde nach oben gezogen und blieb etwas zittrig neben dem Mikrofon stehen. „Also was kannst du?“, fragte der Sänger freundlich, der eigentlich gar nicht so viel älter war als er selbst. Nur eben viel geübter. „Ich…“ Ruki überlegte. Mit der Gitarre wäre er näher am Bassisten und man hörte es weniger gut, wenn er sich verspielte, als wenn er singen würde. „…spiele Gitarre…“ Er zeigte auf die Rhytmusgitarre. Der Sänger grinste und winkte. Der Gitarrist nahm sich das Instrument ab und übergab es dem Kleinen ohne mit der Wimper zu zucken. Ruki wurde noch viel nervöser. „Okay, dann wollen wir mal“, rief der Sänger und Ruki stellte sich etwas zurück. Aber jetzt, als er ihm so nah war, traute er sich nicht, sich umzudrehen. Das Lied begann und von hier aus war die Sicht ganz anders und so überwältigend. Im Licht zu stehen, von so vielen angesehen zu werden und gehört zu werden, Ruki verpasste beinahe seinen Einsatz. Doch er erwischte die richtigen Töne und je länger der Song dauerte, desto sicherer wurde er und desto weniger verspielte er sich. Irgendwann dachte er nicht mehr nach, sondern hatte nur noch Spass. Und gerade als er alles vergessen hatte, bemerkte er einen grossen Schatten neben sich und sah rüber. Sein Lächeln gefror für einen Moment und alles blieb kurz stehen. So fühlte es sich jedenfalls an. Der Grössere blickte ihn an, ohne dass seine Finger innehielten und lächelte ihm zu. Ruki wusste nicht mehr, ob er aufgeregt oder im Gegenteil ganz ruhig war. Er hatte keine Ahnung, was er fühlte. Der Bassist stellte sich neben ihn und beobachtete Rukis Fingertechnik. Dieser schaffte es sogar, sich nicht allzu sehr zu verspielen. Und dann war das Lied unvermittelt zu Ende. Ruki war noch immer nicht ganz aus der Trance, als der Sänger sich beim Publikum bedankte und der Gitarrist kam, um sein Instrument wieder entgegen zu nehmen. Ruki schlüpfte aus der Schulterschlaufe und lächelte. Das Licht auf der Bühne ging aus, das der Halle ging an und das Publikum fing an sich zu verstreuen. Ruki atmete durch. „Leute, lasst uns eine rauchen.“, meinte der Drummer, der plötzlich zwischen ihnen stand und ging hinter der Bühne runter und raus. Zustimmendes Gemurmel folgte und die Mitglieder liefen hinterher. „Kommst du auch?“, fragte der Bassist Ruki und Ruki nickte, wahnsinnig froh, das Rauchen vorher angefangen zu haben. Hinter der Bühne war direkt eine Tür, durch die sie ins Freie kamen. Es hatte ein paar trübe Lampen, denn inzwischen war es dunkel, Sterne sah man keine mehr. Die Mitglieder unterhielten sich leise und Ruki fühlte sich ziemlich fremd. Er suchte seine eigenen Zigaretten hervor und blickte überrascht in das Gesicht des Bassisten, als dieser ihm Feuer gab. „Danke…“, mümmelte Ruki und nahm einen Zug, den er rasch wieder ausstiess. „Du warst gut, da oben. Schon mal in der Öffentlichkeit gespielt?“ „Danke, nein, nie.“ Ruki schloss seine Jacke, da es jetzt noch kälter war. Er traute sich kaum, seinen Schwarm anzusehen. „Solltest dir mal überlegen selbst ne Band zu gründen…aber dann solltest du am Mikrofon stehen…“ Rukis Augen wurden gross. „Was…wieso…“ „Du hast gesungen…hasts vielleicht nicht gemerkt, aber du hast mitgesungen. Und das war wirklich gut, besser als dein Gitarrenspiel“ Er spürte, wie ihm trotz Abendwind heiss wurde. „Das hab ich echt nicht gemerkt…“, murmelte Ruki und nahm rasch noch einen Zug, der aber zu tief geriet, so dass er husten musste. Der Bassist lachte. „Doch…das war vielleicht dein erstes Mal, aber bestimmt nicht das letzte Mal auf einer Bühne…“, versprach er ihm. Der Bassist: „Steht alles wie es sollte?“, fragte Yune und Reita nickte. „Denke schon…“ Er lief noch einmal über die Bühne und untersuchte, ob die Kabel auch so verliefen, dass sie sich nicht darin verheddern würden und von der Bühne fliegen. Das wäre ein ziemlich peinliches erstes Konzert, das sich eine Band wie sie, die gerade erst bekannt wurde, nicht leisten konnte. Er blieb noch einen Moment vorne stehen und schätzte ab, wie viele Leute wohl Platz hatten und wie es dann aussehen würde. Gleich würde die Tür geöffnet, also verzog er sich anschliessend nach hinten und rauchte noch ein paar. Eigentlich war er ziemlich nervös. Aber Reita war Bassist. Das sollte also klar gehen. Er hatte dieses Instrument ausgesucht, weil man die Fehler, die er vielleicht machte, nicht so gut hören konnte wie bei den anderen Instrumenten. Ausserdem waren sie zu sechst auf der Bühne. Er könnte sich also nicht alleine blamieren. Dennoch war er aufgeregt. Wenn das Konzert gut lief, konnten sie vorankommen. Musik bedeutete Reita sehr viel. Musik zu machen noch mehr. Er hatte bisher noch nie an etwas anderes gedacht. Er drückte die Zigarette an der Wand aus und besah sich seine Hände, bewegte sie, um sie aufzuwärmen. Drinnen war es inzwischen lauter geworden. „Rei, kommst du?“ Yune klopfte ihm auf die Schulter. „Ja klar.“ Reita folgte ihm nach drinnen. Es war dunkel und jetzt schon stickig, aber der Blonde beachtete es gar nicht. Er kam auf die Bühne und war einen Moment überwältigt. Gut hundert Leute standen da und warteten auf sie. Einen Moment später hatte er seinen Bass um die Brust geschnürt und angefangen zu spielen. Anfangs war er verkrampft und überkonzentriert, doch bald lockerten sich seine Schulter und er genoss die Aufmerksamkeit immer mehr. Vielleicht war es aber auch einfach, dass er vom Licht geblendet wurde und gar nicht so genau in die Gesichter sehen konnte. Ausser die der ersten Reihe. Nach der Hälfte des Konzerts ging er weiter nach vorne und musterte die Gesichter. Er wollte sehen, ob es ihnen gefiel, ob sie mitmachten und auf wen sie am meisten achteten. Reita konnte spielen ohne hinzusehen, was seine Finger taten. Die meisten waren Männer, wie er sehen konnte, das überraschte ihn nicht. Fast in der Mitte der Bühne fiel ihm aber ein Mann, fast noch ein Junge auf, der wirklich stark geschminkt war, jedoch stand es ihm auch. Reita war erschöpft, als das Finale angekündigt wurde. Sie hatten keine Pause gemacht und Reita hatte auch kaum was getrunken. Sie hatten geplant jemanden auf die Bühne zu holen. Dann konnten sie einen der Fans kennen lernen und ausserdem kamen die Fans auch der Band näher. Der Bassist fand das genauso wichtig wie auch interessant. Es dauerte nicht lange und der Typ aus der ersten Reihe stand auf der Bühne. Er war wirklich ziemlich klein, fast winzig. Mutig, fand Reita. Und was ihn am meisten erstaunte, war, dass der Kleine gar nicht unterzugehen schien. Er entschied sich für die Gitarre und Reita war mehr als gespannt. Den ersten Teil des Songs blieb Reita im Hintergrund und beobachtete und lauschte von hier aus. Zwar hatte der Kleine die Gitarre gewählt, aber Reita hatte bemerkt, dass er nach kurzer Zeit angefangen hatte die Lippen zu bewegen. Reita musste den anderen Gesang herausfiltern, aber schliesslich hörte er den Besucher. Seine Stimme war aussergewöhnlich. Als der Kleine näher kam, ging Reita nach vorn bis er neben ihm stand. Der Kleine sah auf. Sein Lächeln erschien Reita aber noch aussergewöhnlicher. Er lächelte zurück. Danach wusste Reita irgendwie nicht mehr was geschah, bis die Bühnenlichter ausgingen und sie nach hinten raus liefen, um zu rauchen. Der Kleine war auch mitgekommen und Reita musste ihm einfach sagen, was er gehört hatte und was er davon dachte. „Du solltest auf jeden Fall weiter machen…“, raunte er und zog an seiner eigenen Zigarette. Der Kleine schien zu überlegen. „Sag mal, wie heisst du eigentlich?“ „T-…Ruki…“, bekam Reita die Antwort. „Freut mich, ich bin Reita.“ „Ich weiss…“ Ruki schmunzelte und Reita musste lachen. „Hoppla, ich bin ja jetzt berühmt…“, scherzte er. „Kann man so sagen…“, grinste Ruki und drückte seine halbe Zigarette aus. „Willst du ein Autogramm?“, fragte Reita und fasste es nicht, dass er so selbstsicher war. „Klar“, kam es wie aus der Pistole geschossen. „He, hat mal wer nen Stift?“, fragte Reita in die Runde und klemmte sich den Glimmstängel zwischen die Lippen, fing den schwarzen Marker auf, der ihm zugeworfen wurde. Als er sich umdrehte, hatte Ruki schon die Jacke ausgezogen, darunter trug er ein weisses Shirt. Reita grinste und drehte ihn, unterschrieb auf seinem Rücken und fügte seine Telefonnummer an. „Danke“ Die Augen des Kleineren schimmerten, nachdem er sich wieder umgedreht hatte. „Ich danke dir…“, meinte Reita und nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette. Kapitel 19: Of Boots and Heels ------------------------------ Auf High Heels An seinem linken Zeigefinger hatte der rote Nagellack ein kleines Eck weg. Wie hatte er das heute Moren nicht sehen können? In seinem Büro war nur das Kobaltrot und nicht das Karmesinrot, verdammt! Rasch versteckte Ruki seine Finger in seiner Faust und lief weiter den Gang entlang, der auf der einen Seite nur aus Fensterglas bestand, durch die man aus dem 21. Stock nach Tokyo West blicken konnte. Auf der anderen Gangseite waren teure Bilderrahmen an der Wand, die Cover des „Torture“- Magazins aus den letzten Jahren zeigte. Rukis Absätze klackerten wie immer über den harten Boden und er liebte dieses Geräusch über alles, wie er seinen Job liebte, das Rascheln von Seidestoffe, das metallene Öffnen von Gürtel, das Kratzen seiner langen Nägel über hochwertiges Papier, Ebenholztische und muskulöse Rücken… Als seine Gedanken kurz abschweiften, musste er grinsen, war aber sofort wieder da, kaum erreichte er die Glastür zum Besprechungsraum. Schwungvoll stiess er die Tür auf, die fast an der Wand anstiess und bedachte seine Mitarbeiter mit einem kühlen Blick. Sie erstarrten und verfielen sofort in Stille. Ruki war der Ressortleiter der Modeabteilung und hatte alles unter Kontrolle. Alles. Wirklich alles. Mit geschultem Blick überprüfte er die Netzstrümpfe der Damen auf Laufmaschen, die Höhe ihrer Absätze, die nur so hoch sein durften, dass sie seine und ihn selbst nicht überragten und ihre Maniküre, Frisur, das Make-up. Nur die Rocklänge war ihm egal, nicht umsonst war er schwul und hatte deshalb auch mehr Geschmack als sie hier alle zusammen. Kein Wunder führte er das Moderessort des Magazins. Da es nichts zu beanstanden gab, stellte er sich an die Kopfseite des langen Tisches und betrachtete die Skizzen, Entwürfe, Stoffexempel und Fotografien auf der Ebenholzplatte. Prüfend hob er eine Augenbraue. „Was ist das?“ Er zeigte mit einem Finger und einem langen, intakten, karmesinroten Nagel auf die Fotos von Models mit Lederjacken. „Das…das sind die Vorshootings für den Herbst.“, meinte die schlanke Blondine halbwegs mutig. „Lederjacken? Bikerstil? Bitte, das ist sowas von letzte Saison.“, schnaubte Ruki. „Letzte Saision 1994!“ Es kam keine Antwort, was Ruki zu seufzen veranlasste. „Und das?“ Er schob die Blätter auf dem Tisch auseinander und betrachtete die feinen Bleistiftstriche, überflog die Texte. „Hmmm…was war nochmals das Motto der nächsten Ausgabe?“, fragte er, um sie alle daran zu erinnern. „Rock´n´Roll!“ Rukis Kopf schnellte zur Tür herum, in der sein Chef stand, der Redakteur des Magazins, der alle Ressorts unter sich hatte. Er war etwas in die Jahre gekommen, seine Haare waren mit Silber durchwirkt, doch er war immer noch autoritär und leitete mit fester Hand und Stimme. „Rock´n´Roll?“, wiederholte Ruki pikiert, seine Überraschung über das unangekündigte Auftreten überspielend. „Nein, das Thema war – “ „Ich weiss, was das Thema war, ich habe ihr Expose gelesen, doch die Redaktion hat die Zahlen beobachtet, es wurden Statistiken durchgeführt und das Moderessort…wie soll ich sagen…hat Einbrüche aufgezeigt. Die Zahlen sind mitunter einer der schlechtesten aller Ressorts…“ Ruki hatte Mühe, nicht bleich zu werden. Über diese Zahlen und Untersuchungen war er nicht informiert worden und er fühlte sich vor seinen Mitarbeiter blossgestellt. Andererseits.. Sein Gesicht wurde leicht rot vor Ärger. „So. Wirklich?“, fragte Ruki eine Tonlage zu hoch und sah seinen Chef ernst an. „Nun, dann lassen sie mich meine Arbeit tun und mit meinen Mitarbeiter darüber sprechen…“ Er warf einen kurzen, vorwarnenden Blick in die Runde und einige schoben sich tiefer in ihre Sitze. „Ja, nun, wir denken, dass sie Unterstützung brauchen könnten und deshalb wird ihnen Reita Suzuki für die nächste Zeit zur Seite stehen und die nächsten Ausgaben führen.“ „Was?!“ Vor lauter Wut bekam Ruki keine Luft und es war ein Wunder, dass nicht gleich Flammen mit seinen Worten aus dem Mund geschleudert kamen. „Suzuki? Wie diese Automarke?“ „Reita Suzuki…bekannt geworden durch sein Bassspiel für Karasu und vor allem seine Snaked Lows Kollektion.“ meldete sich die mit den bronzenen Creolen – die Ruki für eine Beleidigung hielt. Er wollte sie entgeistert anstarren, doch dazu kam es nicht, weil in dem Moment an der Glaswand des Raumes zum Gang hin ein Typ auftauchte und langsam zur Tür hin schlendert. Eine Hand in den ewig tiefen Taschen seiner zerflickten, zerrissenen, schwarzen Jeans. Fassungslos verfolgte Ruki dies, bis er in der Tür stand. Worüber Ruki am meisten geschockt sein sollte, wusste er nicht einmal. Den zweifarbigen Iro? Die Lederweste? Oder das komische Band mitten in seinem hässlichen Gesicht? „Was geht?“, dröhnte die tiefe Stimme und der Typ grinste in die Runde, bis er bei Ruki hängen blieb. „Oh, ich weiss, warum ihr Hilfe braucht…“, meinte er, sobald sein Blick an Rukis Schuhen hängen geblieben war. „Genau…also ich freue mich auf die Resultate ihrer Zusammenarbeit!“ Damit verschwand der Redakteur schnell, bevor Ruki einer seiner berühmt berüchtigten Wutausbrüche hatte. Mit Todesblick erdolchte der Schwarzhaarige dessen raschen Abgang durch das dünne Glas. Das durfte nicht wahr sein und es war eine verdammte Frechheit. Ruki könnte schäumen, er wollte in sein Büro und die Vasen, die er extra dafür dort aufbewahrte, an die Wand schmeissen. „Stellen sie sich in die Ecke, bis ich mich mit Ihnen befasse!“, knurrte Ruki und zeigte über die Schulter. Gerade als er sich wieder den anderen, zusammengesunkenen Figuren zuwenden wollte, latschte dieser Reita an ihm vorbei und setzte sich auf einen Stuhl, das hiess, er lümmelte sich eher darauf. Ruki biss sich fast die Zungenspitze ab, schaffte es aber tatsächlich nichts zu sagen. „Okay, also ihr habt es alle gehört, anscheinend wurde über unsere Köpfe entschieden. Neues…Thema, wenn auch absolut abgedroschen und uralt…“ Er lächelte süffisant zu Reita hinüber. „…wie unser Vertreter hier. Aber einige haben das anscheinend noch nicht begriffen.“ Es verärgerte Ruki, dass die Lippen unter dem Gesichtsverband nur grinsten. „Also wird hier alles verworfen.“ Mit ausladender, beinahe dramatischer Bewegung wischte Ruki alle Papiere vom Tisch. „Ich will Vorschläge hören. Wir müssen nun in kürzerer Zeit das schaffen, was wir seit einem Monat vorbereiten.“ „Nieten?“ „Leder?“ „Gitarren?“ Aufgrund der Zurufe fasste sich Ruki an die Stirn. „Ernsthaft?! Vielleicht etwas Originelleres?“ „Schädel…“ Ruki schlug die Augen auf und fixierte Reita, der sich mit dem Stuhl hin und her drehte, die Finger ineinander verschränkt, auf seinen Schritt abgelegt und immer noch grinsend. „Schädel…“, wiederholte Ruki ohne jegliches Verständnis. „Schädel, Knochen, Struktur.“ „Ich höre nur Worte aneinandergereiht!“, zischte er zurück. „Ich will brauchbare Vorschläge und Entwürfe bis morgen auf meinem Tisch!“, befahl er den Mitarbeiter und mit lauten, wütenden Schritten rauschte er aus dem Raum, über die Papierberge, die hinter ihm aufwirbelten, und den Gang zurück zu seinem Büro, blind für alles um sich. Angesäuert warf er die Tür seines Büros auf und stürmte hinein. Wo war die erste Vase? Er musste etwas schmeissen, musste hören, wie es zerbrach und sehen wie es in tausend Stücke zerfiel, das würde ihn beruhigen und wieder runterkommen lassen. Die Welt war scheisse, aber wenn er etwas hingeworfen hatte, war seine Wut weg und etwas kaputt, ohne dass es sein eigenes Leben war. Kaum hatte er die erste auf dem Beistelltischchen beim grossen Spiegel entdeckt, die Blumen raus gerupft und mit einer schnellen Bewegung von sich weggeschleudert, in einer halben Drehung, fühlte er sich sofort besser. Doch das Gefühl verschwand auf der Stelle wieder, als kein Splittern erfolgte. Reita stand da und hielt die Vase in den erhobenen Händen. „Wenn du auf mich schiesst, solltest du schon sehen, dass ich es nicht mitbekomme, damit es auch wirklich trifft.“ Ruki war knapp davor an die Decke zu gehen. „Gib mir das!“, herrschte er ihn an, jegliche Höflichkeitsformen verlierend, und streckte den Arm nach der Vase aus. Der Halbblonde erhob sie gleich über den Kopf, damit Ruki nicht mehr rankam. „Danke, aber nein, ich hab keine Lust sie nochmals zu fangen.“ „Die war für die Wand bestimmt!“, keifte Ruki. Er hatte ja nicht einmal mitbekommen, wie Reita ihm gefolgt war und wenn, dann hätte er besser gezielt. Und zwar so, dass er sie nicht hätte fangen können. „Da braucht anscheinend ganz dringend jemand ein Ventil!“ Die Tür wurde zugeworfen, die Vase auf einen Sessel in der Ecke geworfen, wo sie jedoch so sanft aufkam, dass sie weder runterrollte noch sonstigen Schaden nahm. Den Mund hatte Ruki schon geöffnet, um zurückzuballern, doch so schnell konnte er gar nicht gucken, da war er schon auf seinen Schreibtisch gesetzt worden. „Fass. Mich. Nicht. An.“, spie er dem Grösseren ins Gesicht und griff hinter sich. „Dir sollte man dringend die High Heels abziehen und dich wieder auf den Teppich bringen! Am besten auf allen Vieren!“, knurrte es unter dem Nasentanga. „Mach weiter, noch etwas und du fliegst gleich wegen sexueller Belästigung raus und ich bin dich los!“ Das Grinsen wurde breiter, enthüllte eine Reihe weisser Zähne und die Hände legten sich an Stellen, wo sie definitiv nicht hingehörten. „Eine Bewegung weiter und ich tackere deinen Schwanz an deinen Oberschenkel!“ Ruki lächelte liebevoll. Das kühle Metall des orangefarbenen Tackers drückte an Reitas Schritt. In Bikerstiefeln Eine Woche war es her, seit er mit dem Chef des „Torture“- Magazins telefoniert hatte. Er liebte dieses Magazin, doch in letzter Zeit hatte es etwas abgenommen. Die meisten Artikel, aber insbesondere der Modeteil, und genau deswegen wurde er kontaktiert Er wurde gerade bekannt durch seine Schmuckkollektion und die Redaktion des Magazins wünschte sich frischen Wind, den Reita bringen sollte. Nur zu gerne hatte er das Angebot angenommen, um nun in der Eingangshalle zu stehen auf den Lift zu warten, der mit leisem Ping auch kam und ihn in den obersten Stock führte. Er meldete sich bei der Sekretärin an und während sie weitertelefonierte, betrachtete er ungeniert ihre grossen Möpse im tiefen Ausschnitt. Sie waren absichtlich so ausgehängt, das wusste er und jeder andere Mann ebenso. Als sie nickte, lächelte er sie kurz an und ging weiter ins Büro des Redakteurs, der ihn überschwänglich begrüsste. Der musste wirklich froh sein, dass Reita hier war. Deshalb wohl auch das hohe Honorar. Ein absoluter Bonus, nachdem Reita schon lange mal hier alles hatte sehen wollen, jetzt durfte er sogar mitarbeiten. Traumhaft. Sein Leben konnte gerade nicht besser laufen. Das dachte er zumindest jetzt noch. Er hatte heute extra lange ausgewählt, was er tragen würde und natürlich viel seines eigenen Schmuckes an, war beinah damit überhäuft, aber so rasselte er auch schön, wenn er lief und die Aufmerksamkeit war ihm sicher, falls jemandem den Iro oder der Nasentanga noch nicht aufgefallen war. Der Direktor ging voraus und er wartete noch etwas für den extra grossen Auftritt. Seine Stiefel hinterliessen schwere Schritte in dem menschenleeren Gang. Er war sich der Glaswand sehr bewusst und hätte sich nichts Besseres wünschen können für seinen Auftritt. Natürlich blieb er cool und warf keinen Blick hinein, bis er nicht in der Tür stand. Was für eine lasche Runde. „Was geht?“, raunte er und betrachtet die Mitarbeiter. Hilfe, was für normales Volk. Und das leitete hier die Abteilung? Kein Wunder. Beinahe hätte er den Kleinen übersehen, der am Kopfende des Tisches stand. Er war klein, kleiner noch, wenn er die zwanzig Zentimeter High Heels nicht tragen würde. Aufgebrezelt war er, mehr Schminke im Gesicht, als hier alle zusammen, aber geile Haare. Wie lange würd es gehen, bis er ihn gefickt hatte? Er wettet mit sich selbst 50 Minuten. „Oh, ich weiss, warum ihr Hilfe braucht…“ Gleich mal anfangen mit seiner Taktik. Er nannte sie, Negative Aufmerksamkeit. Er beleidigte seinen Gegenüber so lange, bis dieser so viel Anerkennung von ihm wollte, dass er ihn praktisch auf dem Silbertablet vögeln konnte. Klappte jedes Mal. Der Redakteur schien aber Schiss vor dem Kleinen zu haben, weil er gleich wieder abhaute. Reita hatte dafür nur ein müdes Lächeln übrig. In die Ecke stellen. Gerade auch noch. Als ob er nach dessen Pfeife tanzen würde. So lief das nicht. Man tanzte immer nach Reitas Pfeife, ob man wollte oder nicht. Absichtlich langsam schlurfte er zum erstbesten freien Stuhl, um den Kleinen weiter zu verärgern. Dessen rote Nägel waren beeindruckend, die würden geile Kratzer hinterlassen, dachte Reita, während der Kleine vor sich hin schwafelte. Die Vorschläge waren wirklich billig. Reita hatte sich bereits ein Konzept überlegt Was bei seinem Schmuck funktionierte würde auch hier funktionieren. „Schädel, Knochen, Struktur.“ Natürlich erwartete er nicht, dass die Möchtegern-Raubkatze da vorne dies verstand. Spielte auch keine Rolle. Wenig darauf war der Zwerg auf Stelzen rausgestürmt und eines musste Reita widerwillig zugeben, den dramatischen Auftritt oder Austritt beherrschte der Kleine wirklich. Die verworfenen Blätter wirbelten hinter ihm auf und verliehen der Situation den Charakter einer perfekten Szene. Leise lachend stand er auf und folgte dem Kleinen, obwohl seine Ohren davon schrillten, wie die hohen Absätze auf dem Steinboden klackten. Es genügte wenn er langsam lief, seine Biene waren um einiges länger, als die des Kleinen. Der Leiter, oder sollte Reita sagen, ehemaliger Leiter, war so wütend, dass er sogar die Tür aufliess, oder war es absichtlich für Reita? Vielleicht war er ja sogar schon jetzt bereit für den Sex? Kaum stand Reita drin, flog etwas Weisses auf ihn zu, was es war, wusste Reita nicht aber seine Reaktion war schnell und er fing es aus der Luft. „Wenn du auf mich schiesst, solltest du schon sehen, dass ich es nicht mitbekomme, damit es auch wirklich trifft.“ Der Kleine schlitzte ihn mit seinem Blick fast auf und schien, als wäre er knapp davor an die Decke zu gehen. „Gib mir das!“, herrschte er ihn an und streckte den Arm aus nach dem Ding, das eine Vase war, wie Reita jetzt sehen konnte. Sogleich hob Reita die Vase über den Kopf, damit der Zwerg nicht mehr rankam. „Danke, aber nein, ich hab keine Lust sie nochmals zu fangen.“ „Die war für die Wand bestimmt!“, keifte der Winzling. „Da braucht anscheinend ganz dringend jemand ein Ventil!“ Das war doch gleich mal sein Stichwort. Also doch bereit für Sex. Reita grinste, sein berühmtes Grinsen, schmiss die Tür zu, warf die Vase sanft auf einen Sessel in der Nähe und packte den Kleinen an der Hüfte. Den Mund hatte er auch schon geöffnet, nein, wie freundlich, vielleicht sollte Reita den Kleinen ihm zuerst einen blasen lassen? Er setzte ihn erstmal auf den Tisch ab. „Fass. Mich. Nicht. An.“ „Dir sollte man dringend die High Heels abziehen und dich wieder auf den Teppich bringen! Am besten auf allen Vieren!“, knurrte Reita angegeilt zurück. Widerstand, das war heiss. „Mach weiter, noch etwas und du fliegst gleich wegen sexueller Belästigung raus und ich bin dich los!“ Reitas Grinsen wurde breiter, ungeniert legte er seine Hände an Stellen, wo sie definitiv hingehörten. „Eine Bewegung weiter und ich tackere deinen Schwanz an deinen Oberschenkel!“ Der Kleine lächelte liebevoll. Was er in Wahrheit bestimmt nicht liebevoll meinte. Das kühle Metall des orangefarbenen Tackers drückte an Reitas Schritt. Damit…hatte Reita nicht gerechnet. Kapitel 20: First Kiss ---------------------- 2005: Ruki hatte keine Lust von der Seite angetanzt zu werden, weshalb er immer wieder auswich. Irgendwie war heute nicht sein Tag. Oder nicht seine Nacht. Dieser Club, der normalerweise heisse Typen zu bieten hatte, gute Getränke und anheizende Musik, war heute irgendwie nicht dasselbe. Oder lag es nur an ihm selbst? Er beschloss, sich doch noch ein Getränk zu holen, das ihn vielleicht lockerer machte, und begann, sich durch die tanzenden Leiber hinaus zu drängen. Das war schwerer als gedacht, immer wieder stellte sich ihm jemand in den Weg. Entnervt tauchte Ruki unter einem Arm durch, bis er plötzlich vor einem Spiegel stand. Verdammt, die Spiegelwand hatte er ganz vergessen. Sie zog sich auf einer Seite der Tanzfläche entlang, um den Raum optisch zu vergrössern. Gut, war er nicht noch hinein gelaufen. Gerade wollte Ruki umdrehen, da erblickte er in der Spiegelung einen Mann hinter sich, der gut einen Kopf grösser war als er. Und er war ziemlich heiss. Seine Grösse hatte was Beängstigendes, andererseits aber auch etwas, das Ruki anmachte. Das Leder das er trug, die schweren Ketten und Ringe, der Haarschnitt und Iro…alles stand ihm ausgezeichnet. Ruki fiel gerade kein besseres Wort ein, als…cool. Nur eines war etwas seltsam, ein Band, das sich über dessen Gesichtsmitte zog, aber vielleicht erfüllte das einen Zweck oder…Rukis Gedanken wurden abrupt unterbrochen, als er zwei heisse Hände an seinen Hüften spürte. Seine Augen weiteten sich rasch, doch er hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. Noch immer starrte er den Spiegel an und sah darin, wie der andere sich an ihn rangeschoben hatte, ihn nun festhielt, ohne dass es zu aufdringlich war und ihn langsam mit kreisendem Becken antanzte. Wurde hier nicht gelüftet oder warum war ihm gerade so heiss? Ruki dachte, die Schweisstropfen geradezu auf seiner Stirn zu spüren, doch er hatte keine Zeit, weiter darüber nach zu denken. Er schloss die Augen halb und stieg auf das Tanzen ein, bewegte seinen Körper so nah am anderen wie möglich. Für die erste Zeit beobachtete er ihr Tun durch halbgeöffnete Lider im Spiegel. Irgendwann hatte der Grössere ihn herumgedreht und Ruki konnte ihn so von nahem sehen. Er hatte vergessen, dass er eigentlich hatte was trinken wollen und erst, als er das Gefühl hatte, sämtliches Wasser aus seinem Körper geschwitzt zu haben, bei diesem heissen Tanz, schob er den anderen weg. Ihm war leicht schwindlig, er musste hier raus. Instinktiv drängte er sich sofort aus der Menge, so schnell es eben ging, fiel beinahe von der Tanzfläche und atmete erst mal tief ein, doch auch hier waren noch viel zu viele Leute. Etwas weiter weg erblickte Ruki das blinkende Schild der Toiletten und lief darauf zu. Mit dem Handballen stiess Ruki die Tür aus billigem Holz, verklebt mit Sprayfarbe, auf, so heftig, dass sie gegen die Wand stiess und er in den Raum aus Fliessen, die mal weiss gewesen waren, hineinstolperte. Tief einatmend lehnte er sich an die Wand neben dem heruntergerissenen Papierspender. Kaum war die Tür zugeflogen, ging sie wieder auf, diesmal aber langsam und fast geräuschlos, wenn ihre Angel nicht so alt und ungeölt gewesen wäre, dass sie quietschte. Der Typ mit dem Nasenband stand da, seine Augen auf Ruki fixiert und kam langsam rein. Er kam ziemlich dicht an Ruki heran und sah ihm in die Augen. Ruki wischte sich die Haare aus dem Gesicht, um ihm die Stirn zu bieten, wenn nötig. „Du schuldest mir noch einen Kuss…“, meinte der Grössere mit der tiefen Stimme. „Was…wieso sollte ich dir einen Kuss schulden…? Nur weil wir getanzt haben, heisst das noch gar nichts!“, blaffte Ruki. Er sah ja gut aus, aber das hiess noch nicht, dass er einfach alles von ihm bekam. Auch wenn er wirklich wirklich gut aussah… „Nein…du schuldest mir diesen Kuss schon sehr lange…ich hatte dafür bezahlt…“ Mehr als verwirrt blickte Ruki ihn an. Was hatte der denn eingeworfen?! „Bezahlt…ich bin doch keine Nutte oder so was! Du verwechselst mich wohl…“ Ruki wich etwas zurück, doch der andere wich nach, auch wenn er ihn nicht berührte. „Nein. Ganz bestimmt nicht. Ich würde dich immer erkennen, Takanori. Du scheinst dich nicht zu erinnern, wie solltest du auch…aber ich erinnere mich genau…“ 1995: Akira tapste mit dem Fuss im plattgedrückten Gras herum und sah ungeduldig an der Schlange vorbei nach vorne, wo es viel zu langsam vorwärts ging. Der Lärm drum herum war betäubend, überall schrien grosse und kleine Kinder, das Drehkarussell in der Nähe spielte immer wieder die gleiche Melodie rauf und runter, Zuckerwatte wurde ausgeschrien, es knallte beim Schiessstand. In der Nähe flog ein roter Ballon in die Luft, der unachtsam losgelassen worden war, und tanzte nun den blauen Himmel hinauf, um die wenigen schneeweissen Wolken zu erklimmen. Wieder sah er nach vorne und zählte die Leute vor ihm ab. Es waren noch immer 9. Ungeduldig trommelte er mit den Fingern auf seinen Oberschenkel und spähte hinauf zum Podest, das durch eine kleine Treppe erreicht werden konnte. Dort hinauf wollte er. Doch zuerst waren acht andere Personen dran. Akira wurde immer nervöser, doch auf so einen Moment hatte er schon ewig gewartet…eigentlich hatte er ihn sich ja anders vorgestellt, aber man nahm, was man kriegen konnte und für ihn war das nun schon das Paradies. Unruhig bliess er die Luft aus dem gespitzten Mund und strubbelte sich durchs Haar. Akira fühlte sich, als würde er schon Stunden hier anstehen. Jetzt waren es nur noch fünf weitere vor ihm. Fünf die zuerst bei der kleinen Person oben sein würden, ihr gegenüber Platz nehmen durften und…Aki hielt die Luft an, als es gerade jemand tat und dann verschwand. Es war für einen guten Zweck. Mit einem kleinen Entgelt durfte man sich anstellen, um auf der Bühne dann seinen Kuss abzuholen. Das Geld wurde dann gespendet. Für was wusste Akira nicht, das war ihm auch egal, denn er wollte nur eines. Den Kuss. Es war nicht irgendein Kuss für ihn, denn eigentlich wollte er die kleine Gestalt, die da oben sass, schon verdammt lange küssen. Aber wie stellte man das an? Vor allen Dingen war er auch noch ein Mann. Also Akira war ein Mann und ja, Takanori dort oben eben auch. Weshalb Akira von einigen Mädchen in der Schlange komisch angesehen wurde. Aber das war ihm egal, er wartete schon lange auf einen Kuss und der einzige Junge in der Schlange war er ja auch nicht. Nur vielleicht einer, von dem man es nicht so erwartete. Akira war eher unscheinbar. Seine langen Haare hatte er grosszügig ins Gesicht gekämmt, um sich und seine grosse Nase dahinter verstecken zu können. Er gehörte bei nichts dazu, hatte absolute Durchschnittsnoten, war weder auffällig genug, dass jemand seinen Namen kannte, noch so ein Aussenseiter, dass man ihn irgendwie abfing und seinen Kopf in die Kloschüssel tauchte. Er lief mehr wie ein Geist durch seine Schule, was Vor- und Nachteile hatte. Takanori da oben war da schon eine Stufe höher. Seine Noten waren im oberen Mittel, er war vor einem Jahr sogar Klassensprecher gewesen und erfreute sich seit dem einer mässigen Popularität und allgemeiner Beliebtheit. Er war relativ klein, deshalb mochten ihn nicht alle Mädchen, dafür einige der Jungen. Inklusive Akira. Aber er hatte Takanori schon vorher gemocht. Und küssen wollte er ihn schon lange vorher. Akira hatte nur nicht gewusst, wie er auf sich aufmerksam machen sollte, wie er mit Takanori in ein Gespräch kommen sollte und schon gar nicht, wie er die inoffizielle, aber klar vorhandene Hierarchie ihrer Schule überbrücken konnte. Das alles spielte aber jetzt keine Rolle, wo es um einen guten Zweck ging. Der gute Zweck war für Akira eher, seinen langen Wunsch zu erfüllen. Es waren nur noch drei Personen. Seine Handflächen wurden schwitzig und er strich sie an den Hosen ab. Von hier konnte er sehen, was Takanori trug, wie er sich die Haare gemacht hatte und sogar seinen Ohrring. Etwas geschminkt war er auch, wenn Akira sich nicht irrte und es stand ihm. In der Schule durften sie solche Dinge ja nicht. Noch genau wusste er, wie er Takanori das erste Mal gesehen hatte. Es war die jährliche Versammlung des gesamten Jahrganges gewesen in dem Jahr, in dem Takanori Klassensprecher geworden war. Akira hatte zusammen mit allen anderen Schülern ihrer Stufe auf den vielen Stühlen der Aula Platz genommen. Weil er zu spät dran gewesen war, hatte er sich nicht nach hinten setzten können, weil schon alle anderen Schulhasser sich dort niedergelassen hatten. Er musste also weiter vorne sitzen. Im Nachhinein war er darüber sehr froh. Andernfalls hätte er die kleine Gestalt, die da auf der Bühne, zusammen mit den anderen Klassensprechern stand, nicht gesehen. Doch von so nahem hatte er alles sehen können. Akira glaubte, dass er sich sofort in den Jungen verknallt hatte. Es hatte kein Wenn oder Aber gegeben. Er hatte ihn einfach nur anfassen wollen. Und küssen wollen. Noch nie hatte er einen Jungen mit so vollen, perfekten Lippen gesehen. In Gedanken seufzte Akira tief und bemerkte plötzlich und beinahe geschockt, dass er der Nächste sein würde, der auf das Podest durfte. Es war noch ein Mädchen aus der Parallelklasse da oben auf dem anderen Stuhl und lächelte gerade zufrieden, als Takanori den kurzen Kuss löste. Akiras Herz schlug bis zum Hals, ach was, es raste durch den ganzen Körper. Mit zittrigem Bein nahm er die erste Stufe. Takanori trank gierig aus einer Wasserflasche. Er sah erschöpft aus. Mit weichen Knien nahm Akira die zweite Stufe. „Ey, Taka!“ Takanori sah auf und Akira blieb erschreckt stehen. Von der anderen Seite des Podests kam der neue Klassensprecher herauf gehüpft und grinste. „Ich bin die Ablösung! Du hasts geschafft.“ Vor Akiras schreckensgeweiteten Augen stand Takanori auf, seufzte tief und erleichtert und verschwand schneller vom Podest, als Akira den Fuss auf die dritte und letzte Stufe setzten konnte. 2005: Rukis Augen waren weit aufgerissen und die Iris darin ganz klein, da das grelle Licht der Toiletten direkt in die Augen schien. „Das…aber das ist doch ewig her…das warst du…ich meine…ich glaube, dass ich weiss, wer du bist, aber…wie kannst du dich erinnern? Ich seh doch ganz anders aus…und du…“ Seine Augen wanderten runter und wieder rauf. „Also du…siehst auch ganz anders aus…“ Er musste leicht schlucken. Er war mit diesem heissen Typen zur Schule gegangen? Der andere hatte sich aber um 180 Grad gedreht… an so jemanden könnte sich Ruki sonst bestimmt erinnern. Sein Hirn spielte die verschwommenen Gesichter durch. Er war mit zahlreichen Leuten zur Schule gegangen und das war gute zehn Jahre her. Nein, er war sich nicht sicher, wen er da genau vor sich hatte, doch warum sollte der andere lügen? Das konnte er nicht wissen, wenn es nicht wirklich so gewesen war. Und was sein Hirn wirklich zum durchdrehen brachte, war…der Mann vor ihm wollte diesen Kuss wirklich noch. Nach all der Zeit, nach all den Veränderungen. Dieser Mann hatte doch einen Kuss von ihm nicht wirklich nötig. Der Grössere lächelte schief. „So, und jetzt möchte ich gerne meinen Kuss…du weisst ja...ist für nen guten Zweck…“ Er zwinkerte Ruki zu und beugte sich langsam hinab. Ruki spürte etwas Kaltes an den Fingern und merkte, wie er sich am Waschbecken abstützte, damit es ihm nicht in den Rücken schnitt, während der Mann immer näher kam. Sein Herz raste noch immer, seine Hände wurden leicht schwitzig, seine Knie weich. Ausweichen könnte er zwar knapp, doch ob er das wollte… Ruki schloss die Augen und hörte das Karussell, schmeckte Zuckerwatte. Kapitel 21: Tomcat ------------------ Der Finder Hatte er da etwas gehört? Ruki drehte sich auf den Zehenspitzen um und lauschte. Er bereute, die Abkürzung nach Hause genommen zu haben. Sie sah bei Tageslicht wesentlich sicherer aus als jetzt bei Nacht, wo er so durch die Gassen schlich mit einem beklemmenden Gefühl, den Atem die halbe Zeit angehalten und die Ohren aufs Äusserste gespitzt. Da war es schon wieder gewesen! Ein hohes Quietschen. Eine Tür? Ruki drehte sich einmal um die eigene Achse und strich sich nervös die Haare aus der Stirn. Warum war er so dumm gewesen, hier lang zu gehen, ganz alleine und im Dunkeln! Er blickte zum Ende der Gasse, wo er hinsollte. Noch viel zu weit weg. Und hinter ihm? Das Ende der Gasse wo er herkam. Nicht sonderlich weit weg. Vielleicht sollte er einfach zurückgehen und sich im Licht der Strasse weiterbewegen, dann hätte er halt etwas länger nach Hause, dafür wurde er nicht aufgeschlitzt! Okay, vielleicht reagiert er ja über. Ein wenig. Aber es war immerhin Tokyo und man hörte allerlei. Der Dunkelhaarige machte ein paar Schritte zurück. Er war ja kein grosser Schisser, aber wenn ihm hier wirklich jemand auflauerte, war er geliefert! Langsam bewegte er sich zurück, sich immer wieder umsehend und als das erste Licht der Laternen von der Hauptstrasse wieder in die Gasse fiel, atmete er etwas erleichtert durch. Warum war diese Gasse auch dunkel? Ein konzentrierter Stromausfall oder was? Rasch drehte sich Ruki um, damit er den Rest sprinten konnte, als das Geräusch schon wieder ertönte. Ein…Wimmern. Zwei leuchtende Punkte schwebten auf ihn zu und der Mann machte einen abrupten Halt. Nach Luft schnappend versuchte er, ihnen auszuweichen, doch sie folgten ihm immer wieder und gaben dieses erstickte hohe Fiepsen von sich. Mit der einen Hand tastete er sich an der Wand entlang rückwärts aus der Gasse vor den zwei funkelnden Kreisen weg, als er über etwas stolperte und mit den Armen nach hinten rudernd auf den Arsch fiel. Jetzt waren sie ganz nah, hechteten auf ihn zu, sprangen ihn an. «Miau» Ruki blinzelte. Eine…eine Katze. Eine schwarze Katze. Ein winziges Ding eigentlich, noch nicht ausgewachsen mit verdammt gelben Augen. Leuchtend, nicht zu vergessen. «Miuu» Ihr Miauen hörte sich etwas erkältet an. Ruki blinzelte immer noch, fasste schliesslich das harmlose Tier an und spürte, wie kalt es war. Wie lange war es denn schon hier draussen? Es war Winterbeginn, der Schnee lag noch nicht auf den Dächern, aber bereits in der Luft. Und ganz dünn war das Fellbündel auch. «Bist du abgehauen oder wurdest du ausgesetzt?» Gepflegt schien sie zumindest, lange konnte sie also noch nicht verwahrlost sein und für ne Strassenkatze wirkte sie auch zu edel. Ruki seufzte leise, öffnete seine Jacke und nahm das wehrlose, maunzende Kätzchen hinein. «Komm erstmal mit. Ich kann dich dann zu einem Tierheim bringen.» Der Sucher «Wie konnte das passieren?» «Ich weiss doch auch nicht so genau…» «Hast du etwa das Fenster offen gelassen…? Hast du?! Ich hab doch gesagt, du musst jetzt alles anders machen. Ich wusste, es überfordert dich!» «Ey, ich pack das! Ich hab alles gemacht, wie du wolltest, es war nur so stickig. Ich hab auf sie aufgepasst, hab die ganze Zeit beobachtet, was die Kleine macht…» «Trotzdem ist sie weg!» «Ja, ich weiss verdammt! Was mach ich denn jetzt?» «Na, Flyer aufhängen wäre ein Anfang. Du kannst unmöglich ganz Tokyo nach einer kleinen Mieze alleine durchsuchen.» Der Finder Während er in der Tasche nach seinem Handy kramte, lief er langsam aus der Tierhandlung. Auf der Strasse war ausnahmsweise mal nicht viel los. Er lief an der dunklen Gasse vorbei, als er gerade das Handy fand und nach vorne zog. Bevor er drauf sehen konnte, erblickte er im Augenwinkel etwas Anderes. Verdutzt blieb er stehen und starrte den Flyer an. Es ging um ein verlorenes Kätzchen. Schwarz, gelbe Augen. Ein Bild war dabei. Man konnte Zettelchen abreissen, mit der Telefonnummer des Besitzers. Aber woher wusste Ruki, dass es wirklich die Katze war? Schwarze Katzen gab es viele. Er las den Flyer genauer durch. Weisse Hinterpfote. Oh! Ruki riss hastig ein Zettelchen ab und eilte weiter zu seiner Wohnung. Mist. Hastig schloss er auf, das Handy noch in der Hand und trat ein. Ein Miauen begrüsste ihn schon. «Hey…», murmelte Ruki, legte seine Sachen weg und hob die Kleine hoch. Das Hinterpfötchen war weiss. Es musste dieselbe sein. Etwas traurig blickte er auf das Halsband, dass er ihr gekauft hatte. Dabei hatten sie sich doch so schön angefreundet. Aber sie gehörte ihm nicht. «Dein Besitzer vermisst dich sicher…», murmelte er. Schweren Herzens setzte er sie ab, nahm sein Handy und las die Nummer ab, tippte sie ein und lauschte auf das Freizeichen. Es ging nicht lange, da nahm eine Frau ab. «Hallo…ich bin Matsumoto. Ich äh…hab ihren Flyer gesehen. Ich glaube, ich hab ihre Katze.», murmelte Ruki und streichelte die Kleine, die neben ihm auf den Tisch gesprungen war. Sie rieb sich an seiner Hand. «Wirklich?! Das ist ja wundervoll! Geben sie mir die Adresse, dann wird sie gleich abgeholt.» «G-Gleich…oh okay.» Ruki gab seine Adresse durch und verabschiedete sich von der Frau, legte auf. «Na, dein Frauchen ist ja überglücklich…» Ruki seufzte tief. Die Kleine sah ihn an, senkte die Lider leicht und schnurrte. Na super. Er hatte sich immer ein Haustier gewünscht, aber die waren nicht billig. Und eigentlich erlaubte sein Vermieter ja auch gar keine Haustiere, aber die Kleine war so leise, dass er es nie gemerkt hätte. Seufzend ging er seine Tasche holen und packte das gekaufte Futter und Spielzeug in eine Tüte. Alles was er für die Katze gekauft hatte, würde er der Besitzerin mitgeben. Er war dumm gewesen, zu denken, niemand würde die Katze vermissen. Um sich abzulenken, ordnete er ein paar Dinge in seiner Wohnung. Danach nahm er die Kleine auf den Arm und knuddelte noch etwas mit ihr, solange er konnte, doch als es klingelte, liess er sie auf den Tisch runter. «Schön sitzen bleiben.» Immer noch unglücklich ging er zur Tür und betätigte den Summer. Als es gleich darauf an der Tür hämmerte, runzelte er die Augenbrauen. Rasch öffnete er und prallte zurück. Ein hochgewachsener Mann stand vor ihm, ein Motoradanzug aus schwarzem Leder tragend und ein Helm auf dem Kopf. Ruki sank das Herz in die Hose. Auch als der Mann den Helm abnahm, wurde es nicht besser. Darunter kamen ein Iro hervor und ausserdem ein Tuch über Mund und Nase. Nur zwei dunkle Augen blitzten ihn an. «Wo ist es?!», knurrte es dunkel. «Wo…was…» Ruki wollte die Tür wieder zuschlagen, doch der Mann drängte sich gleich dazwischen, polterte in die Wohnung mit seinen schweren Stiefeln und drückte Ruki auf die Seite. «Wa-Moment!» Ruki atmete hektisch. Ein Fremder brach einfach so in seine Wohnung ein. Wo war sein Handy? Er musste die Polizei rufen. Scheisse, es lag auf dem Tisch. Der Dunkelhaarige eilte dem Iro nach, der sich suchend in der Wohnung umsah. Das Kätzchen sass nicht mehr auf dem Tisch, aber sein Handy lag da. «Wo?!», wurde er angeherrscht. «Was wollen sie überhaupt?», fragte Ruki und schob sich an den Tisch heran, hinter seinem Rücken tastete er nach dem Handy. Er zuckte zusammen, als der Helm neben ihm auf den Tisch niedersauste. Die Augen blitzten ihn ungeduldig an. «Ich will – « Ein Kratzen ertönte hinter ihnen. Das Kätzchen wetzte sich die Krallen an Rukis Couch, die dafür eigentlich nicht geeignet war, aber es war eh ein altes Stück. Der Mann drehte sich um, ging runter und nahm das Kätzchen an sich und das beinahe…behutsam? Verwirrt starrte Ruki die Szene an, wie der andere sein Tuch runterzog und das Kleine schmuste. «Da bist du ja Racker. Es war nicht nett von dir, einfach abzuhauen.» Die behandschuhten Hände streichelten das Fell. Der Dunkelhaarige hatte das Handy fallen gelassen und starrte den Mann verdattert an. «Das äh…ist ihre Katze?» Die dunklen Augen legten sich ruhig auf ihn. «Ja, natürlich. Oh, danke fürs Finden…» Er entdeckte das Halsband. «Eh…wieso ein Halsband?» Ruki wurde rot. «Das äh…damit man weiss, dass sie jemandem gehört. Eh also nicht mir, ich meine nur fürs nächste Mal, wenn sie verloren geht. Man könnte eine Kapsel mit Adresse daran heften und äh…» Der Mann starrte ihn ruhig an. Ruki fühlte sich sehr unwohl. «In Rosa?» «Ich ehm…dachte, es ist ja ein Weibchen…» «Es ist ein Männchen!» «Wirklich?» Der Fremde hob das Kätzchen so, dass Ruki darunter sehen konnte. «Da. Sie sind mir ja einer. Aber vielleicht wäre ein Halsband schon klüger gewesen…jedenfalls danke fürs Anrufen.» «Ich…ich dachte, es kommt eine Frau…?» Der Sucher «Ah, ne, die Katze gehört mir. Der Kater.», korrigierte Reita sich selbst. «Ach so…» «Wie auch immer…» Er blickte den Kleineren abschätzig an. «Danke und so.» Reita wandte sich zum Gehen, er war schon fast im Flur, als er gerufen wurde. «Warten Sie!» Er drehte sich ungeduldig um. «Was denn noch?» Der Mann mit den dunklen Strähnen hielt ihm eine Tüte hin. Misstrauisch warf Reita einen Blick hinein und erfasste das Katzenfutter und weiteres. Fragend blickte er ihn an. «Nehmen Sie es mit…», verlangte die leise Stimme. Reita hob die Hand, worauf der andere zusammenzuckte. «Wohl etwas schreckhaft, hm?», grinste er leicht und ergriff die Tüte. «Wollten Sie die Katze behalten?» «Eh…nur, wenn sich niemand gemeldet hätte.» Reita musterte den anderen nun etwas neugieriger. Der Wohnung nach zu schliessen, wohnte er ganz alleine und wirkte auch sonst recht einsam. «Warum holen sie sich nicht einfach eine Eigene?» «Weil…der Vermieter erlaubt das eigentlich gar nicht.» Mitleidig blickte Reita ihn an. «Oh, ach so…» Er fühlte sich ganz kurz etwas schlecht, dass er ihm den Kater wieder wegnahm, nachdem er ihn fast eine Woche lang gehütet hatte. Aber es war halt immer noch sein Kater. Er merkte, wie der andere den Racker streichelte und dieser ihm die Hand ableckte. Herrje, die hatten sich ja gut angefreundet. Reita brummelte leise. «Ich hatte ihn noch nicht lange, war noch nicht an ihn gewöhnt. Deshalb hab ich auch vergessen, dass ich die Fenster nicht mehr ganz aufmachen darf. So ist er wohl rausgekommen, als ich ihn aus den Augen gelassen habe und ist einfach abgehauen, obwohl er noch so klein ist. Ich bin wirklich froh, ist er nicht unter ein Auto gekommen.» Er war selbst überrascht, dass er das einfach so erzählte. Der andere scheinbar auch, so wie er ihn ansah. «Ich wohne gleich an der Strasse. Wo haben sie ihn eigentlich gefunden?» Der Finder erklärte ihm, in welcher Gasse sein Kater gewesen war. «Oh, dann ist er ja nicht weit gekommen! Sie müssen ihn gefunden haben, kurz nachdem er abgehauen ist. Ich wohn nämlich gleich da…» Er unterbrach sich. Was plauderte er hier eigentlich rum? Zeit, zu verschwinden! «Ich…es ist sicher total unverschämt zu fragen, aber wäre es möglich, ihn mal zu besuchen?» Der Kleine hatte ja wirklich Nerven! Doch Reita sah, wie Racker seinen Kopf an der Hand rieb und schmunzelte. «Vielleicht kann man über ein Besuchsrecht sprechen…» Kapitel 22: Chocolate --------------------- Der Beschenkte Ruki biss in sein Kit-Kat mit Melonengeschmack und seufzte. Es war erst gerade die dritte Stunde um. Blieben noch ewig viele. Und er war jetzt schon am Frustessen von Schokolade. Sonst hielt er die nächste Stunde ja niemals durch. Sie bekamen sowieso zuviel Mathematik Unterricht, war jedenfalls seine Meinung, die aber viele, wenn nicht alle seine Klassenkameraden teilten. Naja, bis auf Yamada vielleicht. Der in der Pause dabei war π auswendig zu lernen auf 100 Stellen nach dem Komma. Schön für ihn. Ruki leckte sich ein paar Kakaoreste von den Lippen und blickte auf die grosse Schuluhr. Er musste ins Klassenzimmer, bevor sie schlug. Kurz vor der Tür fiel ihm ein, dass sein Übungsbuch noch im Spind war, worauf er mit einem leisen Fluch und schlitternden Turnschuhen auf dem Linoleum-Boden Halt machte und zurück zu seinem Schrank rannte, hastig die Kombination eingab und die Metalltür aufriss. Die Hälfte des Inhaltes wollte ihm wie immer entgegenfliegen, doch ihm war das wohl bewusst, weshalb er gleich mit der linken Hand einen Stoss gab, damit alles wieder zurück flog und mit der anderen Hand geschickt das Übungsheft herauslas. Den Schrank wieder zugeschlagen, atmete er durch und rannte zurück in den Matheraum, trat mit dem Rington ein und stürzte auf einen freien Platz. Damit begann nur eine weitere langweilige Stunde für den Kleinen, der Zahlen in sein Heft von der Tafel abschrieb und weitere in die Gleichungen einsetzte, obwohl er keine Ahnung hatte, was er da am machen war. Auch als sein Kumpel Kouyou um Hilfe bat, schüttelte er bloss ratlos den Kopf. Kurz vor Ende der Stunde klopfte jemand leise und schreckte Ruki aus seinem Dösen. Es war eine Schulsprecherin des höchsten Jahrganges, die mit einer Verbeugung darum ersuchte, einige Worte zum nahenden Valentinstag sagen zu dürfen. Es wurde ihr gestattet, daher erklärte sie das Angebot, welches jedes Jahr in ihrer Schule galt. Mädchen durften Schokolade bestellen, die dann einem Jungen anonym geliefert wurde, für diejenigen, die zu schüchtern waren, sie ihm selbst zu geben. Die bestellte Schokolade, ob nun eine schönere, teurere Version oder die Pflichtschokolade, wurde dann von einigen Mädchen der höheren Semester ausgeliefert. Oft wurden auch die Spinde gefüllt. Ruki zwirbelte seine Haarspitzen. Sein Spind war eine einzige chaotische Katastrophe gerade. Vielleicht sollte er sein wochenlanges, nie ausgeführtes Vorhaben, das endlich mal aufzuräumen, bevor ihn noch das spannende Buch der Geologie erschlagen würde, nun doch mal durchführen. Falls er Schokolade bekommen würde, sollte im Spind auch Platz dafür sein. "Ey! Ey Taka!" Ruki drehte sich um und runzelte genervt die Stirn, sah so seinem Kumpel entgegen, der durch den Gang schrie. "Was denn?!" Als Kouyou vor ihm stand, fügte er hinzu: "Hab ich dir nicht schon hundertmal gesagt, du sollst mich nur noch Ruki nennen?" Dafür kassierte er ein Schnauben vom Grösseren. "Was hast du nur gegen deinen Namen? Der ist doch voll okay! Hey, kommst du jetzt zum Basketball?" "Basketball?! Du hast wohl keine Augen im Kopf, eh? Siehst du den Wasserspender da? Ich komm da gerade mal so ran. Was glaubst du, wie ich an einen Basketball Hoop kommen soll? Wir können nicht alle so schlaksige Langbeiner sein wie du.", murrte Ruki kopfschüttelnd. Manchmal fragte er sich ja schon, was in Kouyous Kopf so vorging. Es bestand jedenfalls ein heftiges Kommunikationsproblem zwischen seinem Sehnerv und dem Thalamus. "Puh, wer kriegt denn da seine Tage? Ich wollte nur mal nett fragen. Ich weiss ja, dass du gerne mal würdest und du könntest ja einfach nur passen und so zwischen den Beinen der anderen durchschlittern oder so..." Er wurde davon abgehalten weiter zu reden, durch den feindseligen Blick des Kleineren, zwischen dessen Augenbrauen sich nun eine weitere Falte gebildet hatte, die höchste Alarmstufe ausrief. "Zwischen den Beinen durchschlittern?", wiederholte der Kleine langsam. Seine Nasenflügel bebten leicht. "Eh, war ja nur so eine Idee...vergiss es, also ich muss dann aber los, du hast ja eh was gesagt von wegen Spind aufräumen oder sowas....also bis morgen!" Kouyou wirbelte herum und flüchtete rasch aus dem Hauptgebäude Richtung Sportplatz. Ruki schnaubte und nahm die in die Hüften gestemmten Hände wieder runter, schulterte seine Schultasche neu. Manchmal fragte er sich, warum er mit dieser Birne befreundet war. Ohne Hast lief er zu seinem Spind, öffnete das Schloss und wich einfach mal zur Seite, als er die Tür öffnete. Wie erwartet flogen gleich mehrere Unterlagen auf den Boden. Die liess er erstmal liegen und sah nach, was denn noch drin war. Jetzt stiess ihm ein süsslich fauliger Geruch in die Nase. Oh oh. Ruki entfernte zwei weitere Bücher und ein Haufen loser Blätter, die er anstatt eingeordnet einfach hinein gelegt hatte, aus zwei vergeigten Prüfungen hatte er Papierflieger gebastelt. Dahinter kam einer seiner alten Turnschuhe hervor. Wo der andere hingekommen war, das war eine gute Frage, da sich dort die Sohle gelöst hatte, war er wohl im Müll gelandet. Die viel bessere Frage war, warum Ruki die andere Hälfte nicht auch weggeschmissen hatte. Hatte er gedacht, er brauche die noch? Falls er Pirat werden wollte? Kopfschüttelnd warf er auch den Turnschuh auf den Boden. Der modrige Geruch wurde stärker und als Ruki tiefer hinein linste, wurde er auch gewahr, an was es lag. Mit gerümpfter Nase zog er eine sehr braune Bananenschale hervor und trug sie mit spitzen Finger zum nächsten Mülleimer. "Oah eklig, gott! Ich muss mich echt mal zusammen reissen, das geht ja gar nicht...wie alt ist die denn?" Ruki lief zum Wasserspender und missbrauchte ihn, seine Finger zu waschen. Über sich selbst schimpfend lief er zurück, holte den einzelnen Turnschuh und warf diesen auch noch in den Müll. Seit wann war er so ein Messie geworden? Wieder linste er in den nun fast leeren Schrank, in dem es aber immer noch stank, wenn auch wesentlich weniger schlimm als noch zuvor. Lüften war nötig. Ruki klaubte noch hinten eingeklemmt ein Foto von sich und Kouyou heraus, schmunzelte. "Da bist du also, hab mich schon gewundert." Er hängte es mithilfe eines Magnetes wieder an die Innenwand der Spindtür und musterte den fast leeren Spind. Ein paar abgekafelte Bleistifte lagen auch noch da, die wurden ebenfalls herausgeklaubt, bevor Ruki noch ein Taschentuch hervor nahm und den Spind auswischte. Seufzend sah er sich nun das Chaos auf dem Boden an. Er setzte sich im Schneidersitz in den leeren Gang und zog seine Schultasche heran. Irgendwo musste noch eine fast leere Mappe sein, die er mit den losen Blättern füllen konnte. Die würde er irgendwann Zuhause sortieren, dafür hatte er gerade keinen Bock. Er fand eine Mappe mit viel Platz und allerlei Themen darin und schob die anderen Unterlagen auch noch hinein, glättete seine Prüfungen und ordnete sie ganz hinten ein. Dann machte er einen ordentlichen Stapel mit seinen Büchern, entschied, was nach Hause kommen konnte - das Englischbuch des letzten Jahres brauchte er wirklich nicht mehr hier - und stellte dann den Rest in den hinteren Teil seines Spinds. Zufrieden nickend blickte er sein Ergebnis an. Es war nun geordnet und vorne war Platz genug für Schokolade. Allerdings roch es immer noch etwas seltsam. Morgen würde er einfach sein Sprühdeo mitnehmen und es anwenden. Dann wäre der Spind endgültig fertig für den Valentinstag. Die gepackte Tasche schulternd schloss er den Schrank wieder und schlenderte den Gang entlang Richtung Freiheit, während er ein Ohrwurm summte, der ihn schon seit Tagen nervte. Zwei Tage später kamen zwei Mädchen aus höheren Stufen, die Ruki nicht beim Namen kannte, in die Klasse und verteilten Schokolade. Die meisten bekamen Pflichtschokolade und schienen nicht immer happy darüber. Ruki ging leer aus, aber das machte ihm nichts, denn er hatte extra das Schloss des Spindes abgenommen, weshalb jeder etwas hinein legen konnte. Schön aufgeräumt war er ja und roch nach Moschus. Als dafür die Stunden endlich um waren, stand Ruki auf und schlenderte betont langsam zum Spind, obwohl er eigentlich lieber schnell gemacht hätte. Der Gang war sehr belebt, alle möglichen Jungs trugen Schokolade mit sich herum, überall schnatterten Mädchen, tuschelten, es wurde geraten, von wem die Süssigkeiten waren. Der Kleine war bei seinem Schrank angekommen, atmete kurz durch und zog ihn auf. Und darin lag ein grosses, schönes Nichts. Nichts, der Schrank war leer. Leer! Ruki schluckte trocken und schlug den Spind wieder zu. Überflüssig genauer hinzusehen, wo doch alles so aufgeräumt und übersichtlich war, dass sich nicht eine Praline verstecken liess. Doch etwas enttäuscht drehte er sich weg. Er wollte nach Hause. Die labernde Meute regte ihn gerade auf. Mädchen und Jungen redeten nie so häufig miteinander und die Gruppen vermischten sich nie so oft wie heute. Ruki drückte sich an seinen Spindnachbarn vorbei und lief in jemanden rein. Ausgerechnet. Und dieser hatte auch noch ein Päckchen in der Hand mit teurer Schokolade. Grummelnd blickte Ruki auf und sah in Kouyous Gesicht. "Hey Kleiner, was haste gekriegt?" "...schon gegessen.", gab Ruki undeutlich zur Antwort und schob sich auch an ihm vorbei. Der Grosse kam ihm irritiert hinterher. "Hä, du bist doch gerade zum ersten Mal zum Spind, so schnell bist doch nicht mal du! Und die Verpackung? Oder willst dus mir nicht zeigen und hast es in der Tasche versteckt?" Ruki beschleunigte seinen Schritt, doch das war zwecklos, da Kouyou viel längere Beine hatte als er, war er sowieso doppelt so schnell. Als sie an der Ecke angekommen waren, blieb der Kleinere deshalb stehen. "Weisst du, ich fand Valentinstag schon immer scheisse! Ist doch nur Kommerz! Und die Pflichtschokolade ist doch eh so scheusslich, dass man sie nicht essen kann!" Damit wandte er sich wieder ab und eilte weg, auch wenn Kouyou ihm noch hinterher rief, dass er doch nicht sauer sein soll, wenn er nur Pflichtschokolade bekommen hätte, da dies doch immer noch besser sei, als gar nichts zu bekommen. Das half Ruki natürlich nicht gerade, weshalb er die Augen noch mehr zusammen kniff und die Schüler anstiess, die im Weg standen. "Verzeihung...", murrte er nur, als er einem seine Schokolade aus der Hand warf, da er nicht aufpasste. Anhalten tat er nicht, er eilte nach Hause. Am nächsten Tag quälte sich Ruki in die Schule. Erfahrungsgemäss war heute immer noch das Topthema der Gespräche die Schokolade von gestern und die anonymen Verehrer. Deshalb beteiligte sich der Kleine möglichst wenig an dem Getuschel und sprach wenig, starrte in seine Bücher. Es war kein Weltuntergang, nichts bekommen zu haben, aber es war das erste Jahr, das er nichts bekam und er fragte sich schon, ob seine Sympathie so stark verloren gegangen war. Er war einfach froh, als der Tag zu Ende war. Kouyou versuchte ihn abermals zu überreden, noch zum Sport zu kommen. Fussball diesmal, doch grössere Chancen hatte er nicht, denn auch davon wollte Ruki nichts hören, als er sein Schloss wieder am Spind befestigte und diesen dann öffnete, um ein paar Bücher abzuladen. Jetzt konnte er wieder Chaos schaffen, sah ja niemand. Verdutzt blinzelte Ruki das kleine Päckchen an, das vor seinen Büchern lag, dort wo er geputzt hatte. Eine Weile starrte er es nur an, während Kouyou weiter Argumente vorbrachte, bis er merkte, dass Ruki gar nicht zuhörte. "Was ist denn?" Ruki nahm die kleine rote Packung mit Schleife aus dem Spind. Sie war gerade mal so gross wie seine Handfläche, aber die Verpackung war sehr schön. "Oh, hat da jemand die Tage durcheinander gebracht? Oder vielleicht bist du gestern zu früh abgehauen!" "Ne, heute Morgen hab ich ein Heft rausgeholt, da war das noch nicht da...", murmelte Ruki, während er die Schleife aufzog und die Schokolade entblätterte. Sie war dunkel, roch schon himmlisch und ein leichter Geruch von Karamell schwebte ihm entgegen. Er konnte nicht anders, als einen Biss davon zu nehmen und lächelte sofort. Die Süssigkeit schmolz auf seiner Zunge bittersüss dahin. "Mhmmm..." Kouyou blickte neidisch auf die Schokolade und Ruki seufzte. "Okay, nimm dir auch ein Stück, die ist echt himmlisch...aber der Rest ist mir, du hast deine Eigene bekommen." Während sein Freund zufrieden auch ein Stück nahm, sah sich der Kleine nach einer Notiz um, doch natürlich war da nichts. Anonym also. "Hast du ne Idee, wer es sein könnte?", fragte Ruki und kam damit wohl Kouyou zuvor, der den Kopf schüttelte und wohl das Gleiche Ruki hatte fragen wollen. Dieser zuckte aber nur mit den Schultern. "Ich hab keine Ahnung...vielleicht finde ich es noch raus. Die Schokolade ist sehr gut und teuer, was hiesse ich müsste mich ausführlich revanchieren. Dafür müsste ich aber mit Sicherheit wissen, wer es ist. Und hoffentlich niemand den ich hasse." Ruki nahm noch ein Stück und schloss den Spind lächelnd. Der nächste Tag fing für den Kleinen mit einem leidigen Gesicht an. Er hatte gestern die gesamte Schokolade verputzt. Sie war so lecker, dass sie süchtig machte, nur hatte er jetzt keine mehr davon. Und er wusste auch nicht, von wo sie kam. Das hiess er bekam erstmal nichts mehr davon. Sicherlich nicht, bis er nicht herausgefunden hatte, wer ihm die Kakaoverarbeitung geschenkt hatte. Desweiteren hatte er heute nicht gefrühstückt, weshalb sein Magen grummelte, als er durch den Gang lief um ein paar Bücher auswechseln zu gehen, bevor er sich in die Geografiestunde quälen musste. Kouyou begrüsste ihn schon, er stand an seinem Spind, der nur drei von Ruki entfernt war. "Was ziehst du denn für ein Gesicht an einem so schönen Tag?", fragte der Grössere strahlend, worauf Ruki ihn nur böse anblickte. "Warum hast du denn so gute Laune?" "Oh, das liegt daran, dass ich weiss, wer mir die Schokolade geschenkt hat und wir morgen ein Date haben!", grinste der Sportfreak. "Wie schön für dich.", brummte der Dunkelhaarige und schloss seinen Spind auf. Er hatte seine Hausaufgaben für später schon zur Hälfte hinein befördert, bis ihm das schmale Päckchen auffiel, das an die Wand gelehnt war. Verwundert zog er es heraus. Es war eine Tafel Lindt-Schokolade mit einer Schleife. Entzückt drehte er sie herum, doch abermals war keine Notiz daran. Er schrak zusammen, da plötzlich Kouyou neben ihm sagte: "Ey, was ist das denn? Das find ich aber fies...warum kriegst du zwei Tage nach Valentinstag immer noch Schokolade?" "Keine Ahnung...", meinte Ruki grinsend und schob die Schokolade in seine Tasche. Das war genau das Richtige, um sich Geographie zu versüssen und seinen knurrenden Magen erstmal still zu stellen. Scheinbar etwas beleidigt rümpfte sein Kumpel die Nase. "Und du weisst immer noch nicht, von wem die ist?" Ein Kopfschütteln war die Antwort. "Ein Zettel oder so wär mal nett. Aber so...hab ich keinen blassen Schimmer. Wir haben ja auch nicht gerade wenig Klassen...das ist ne Suche nach der Nadel im Strohhaufen..." "Heuhaufen." "Sagte ich doch." Der folgende Tag war ein Samstag und Ruki musste nicht in die Schule, da er auch an keiner AG teilnahm im Moment. Und der Tag darauf war logischerweise ein Sonntag. Kouyou war mit seiner Flamme beschäftigt und hatte keine Zeit für Ruki, weshalb dieser die meiste Zeit daheim herumhing und sich die Schokolade portionierte. Er hatte es jedenfalls versucht, aber am Samstagabend war schon wieder der letzte Krümmel weg. Der Sonntag zog sich ewig hin. Als der Montag kam freute sich Ruki zum ersten Mal in seinem Leben, in die Schule zu gehen. Er fragte sich seit über 48 Stunden, ob wieder etwas im Spind lag und das galt es nun herauszufinden. Deshalb steuerte er gerade zuerst seinen Schrank an. Er war sogar früher dran als sonst, als er das Schloss aufdrehte und den Spind öffnete. Leere schlug ihm entgegen. Zwar waren die Bücher noch an Ort und Stelle, doch ansonsten...keine Schokolade. Enttäuscht wechselte er seine Unterlagen und warf den Spind laut zu. "Taka, zieh nicht so ein Gesicht. Du hast doch nun dreimal Schokolade bekommen...", meinte Kouyou mit Mitleid in der Stimme als sie am Mittag in der Mensa assen. Ruki stocherte in seinem Reis herum. "Zweimal.", korrigierte er, was ihm einen verwirrten Blick einfing. "Wie auch immer...es ist ja eh nicht mehr Valentinstag. Find lieber raus, wer es war, dann kannst du in nem Monat Schokolade erwidern." Lustlos schob sich Ruki ein Stück Fisch zwischen die Zähne. "Ja, das sagst du mal so einfach. Hattest du ein schönes Wochenende? Ich wills gar nicht wissen, dein Strahlen genügt mir, du blendest alle, stell das mal ab." Ruki wusste, dass er grantig war, aber ihm fehlte auch die Schokolade und die dazugehörenden Glückshormone. "Kommst du wenigstens morgen mal in den Sport? Du darfst auch auswählen was! Komm schon, das ist nicht gesund, du wirst noch fett, weil du nur Schokolade isst und dich nie bewegst!" Kouyou redete mal wieder auf ihn ein, wie eigentlich jedes Mal, wenn die Schule zu Ende war. "Nehein!" Der Kleinere öffnete entnervt seinen Spind. Ein eintöniges Leben. Spind. Schule. Mittag. Schule. Spind. Diskussion um Sport. Nacht. Von vorne. Gerade wurde seine Eintönigkeit unterbrochen. Eine handtellergrosse Schokoladenmakrone lag in durchsichtigem Papier eingewickelt in seinem Spind. Ausserdem ein Holzgriff an dem ein Schokoladen-Vanille Würfel steckte, den man in heisse Milch tunken konnte. Und eine kleine Schachtel Pocky mit Schokolade. Ungläubig und mit offenem Mund starrte Ruki in die Öffnung, in der gleich drei Süssigkeiten verborgen lagen. Kouyou stand mit verschränkten Armen neben ihm. "Also ich weiss ja echt nicht, was du gemacht hast, dass dich jemand so sehr verehrt!" "Ich auch nicht...", murmelte Ruki und holte alles raus, legte es vorsichtig in seine Tasche. Jetzt war es an ihm zu strahlen. Von nun an lag an jedem Tag etwas in seinem Spind. Pralinen, Gebäck, Süssigkeiten, fast immer mit Schokolade. An den Montagen lagen immer drei Dinge da, weil Ruki am Wochenende nicht in der Schule war. "Und was ist mit dem Schloss? Hast du deine Kombination mal jemandem verraten?" Ruki schüttelte den Kopf. "Nein, nie...ich hab echt keine Ahnung, woher man die kennen kann...es ist auch kein Datum oder irgendetwas, es sind einfach drei bedeutungslose Zahlen." Ratlos blickte Kouyou ihn an und zuckte mit den Schultern. "Unglaublich, dass du immer noch nicht weisst, wer es ist. So läuft das schon fast einen Monat, bald musst du dich revanchieren und wie für so viele teure Schokolade...und du kannst nicht mal. Das ist schon ziemlich unangenehm nicht?" Der Kleinere knirschte mit den Zähnen. "Ja, danke für den Hinweis!" "Kannst du nicht mal deinen Spind beobachten oder so? Ne geheime Kamera im Spind wäre natürlich auch toll...Irgendwie muss man das doch herausfinden." "Ohne Strom? Na, ich weiss nicht...ich hab auch keine geheime kleine Kamera zu Hause, die ich mal fix in den Schrank installieren kann. Nene...ich müsste schon selbst überwachen, um herauszufinden, wer mich beschenkt." Ruki knabberte an seiner Lippe herum und beschloss, das zu tun. Am nächsten Tag nahm der Kleine zwei Buse früher zu seiner Schule. Das Gebäude war zwar offen, doch es war noch fast leer gefegt. Ein Hausmeister säuberte den Boden, ansonsten begegnete Ruki nur einem Klassensprecher. Rasch eilte er zu seinem Spind, öffnete ihn kurz. Er war noch leer. Ruki schloss ihn wieder zu und eilte zu den Toiletten, die im Gang waren. Er ging in die Herrentoilette und schloss die Tür bis auf einen Spalt, der ihn sehen liess, wenn jemand in den Gang trat. Nun hiess es warten. Er blickte auf die Uhr und wartete. Die Minuten verstrichen langsam. Der Klassensprecher von vorhin lief eiligen Schrittes hindurch, beachtete aber keinen der Spinde. Dann kam der Hausmeister mit seinem Wischmop, putzte um den Wasserspender herum und ging pfeifend wieder weg. Ruki grummelte. Zehn Minuten waren bereits vorbei. Es würden bald die ersten Schüler eintreffen und wenn einer ins Klo wollte, musste Ruki hier weg. Ungeduldig linste er aus dem Spalt, als er abermals Schritte vernahm. Rasch zog er sich etwas zurück und beobachtete den Gang. Ein grösserer Schüler, dessen Krawatte nur lose herabhing trat in den unbelebten Gang und sah sich um. Rasch verkleinerte Ruki den Spalt. Dann wieder Schritte. Ruki öffnete die Tür abermals, um den Spind gut sehen zu können. Tatsächlich stand der Fremde davor und knackte gerade Rukis Schloss. "Das kann doch nicht..." Ruki hatte nicht damit gerechnet, dass es ein Kerl wäre, der da stand. Ausserdem hatte er ihn noch nie gesehen oder? Der Schenker "Ey! Ey Taka!" "Wer schreit denn da schon wieder so rum?" Entnervt lockerte Akira seine Krawatte, was seiner Schulkameradin ein Seufzen entlockte. Akira lächelte sie an. "Du wolltest sagen?" "Eh ja, also eben wir haben Putzdienst. Herr Tanegawa hat gesagt..." Der Grössere nickte, doch richtig zuhören tat er nicht, da er gerade den Schreihals identifiziert hatte. Mit 'Taka' war anscheinend ein ziemlich grummlig dreinblickender Zwerg gemeint, der sich verteidigte. Fasziniert beobachtete Akira, der von seinen Freunden Reita genannt werden wollte, wie der Kleine seinen Kumpel, der fast zwei Köpfe grösser war, ordentlich zusammen stauchte. Reichlich amüsiert musterte er den Winzling, der ihm noch nie aufgefallen war, bis Yuki mit ihren Fingern vor Reitas Gesicht schnipste. "Hast du mir zugehört, Aki-kun?" "Mh, was? Aha jaja...Putzdienst." Er wandte sich ihr wieder zu und machte sich auf zu diesem nervigen Dienst, doch auf dem Weg begegnete er Yutaka, der ihm noch etwas schuldig war und hielt ihn an. "Gut, dass ich dich treffe. Du kennst doch Yuki. Also dann, wärst du so freundlich mich beim Putzdienst zu vertreten? Darauf hab ich nämlich grad echt keinen Bock. Dankeschön!" "Aber...Aki-kun!" Yuki schob ihre Unterlippe vor, was aber keinen Eindruck auf Reita machte, der lediglich ein Winken andeutete und Yutaka angrinste, dessen Lächeln eingefroren war. Pfeifend lief Akira wieder zurück und kramte seine Kopfhörer hervor, doch noch bevor er sie aufgesetzt hatte, erweckte ein Rumsen seine Aufmerksamkeit. Obwohl er erst nicht nachsehen wollte, ging er dann dennoch. Vielleicht hatte sich jemand verletzt, eine holde Jungfrau in Nöten. Stattdessen entdeckte er um die Ecke den Zwerg, der sich an einem Spind zu schaffen machte. Augenscheinlich sein eigener, aus dem er gerade einen Turnschuh klaubte und zu einem Haufen Blätter auf dem Boden warf. Stirnrunzelnd blickte Reita zu. Obschon er nicht versteckt war, bemerkte der Kleine ihn überhaupt nicht. Stattdessen nahm er irgendetwas Undefinierbares aus dem Spind und schimpfte in einer Tour über sich selbst. Reitas Lippen kräuselten sich amüsiert. Das Ding landete kurz vor einem Turnschuh im Müll. Selbst als der Kleine wieder zum Spind zurück kam, sah er Akira immer noch nicht. Neugierig beobachtete er den Schüler weiter, wie er sich über ein Bild freute. Was wohl darauf zu sehen war? Schliesslich setzte sich der Unbekannte auf den Boden, inmitten seiner zerstreuten Unterlagen und sortierte sie völlig konzentriert. Reita lehnte sich an die Wandeckte und merkte, dass er lächelte, während er den Fremden beobachtete, der ein Lied summte, ab und an sogar ein, zwei Strophen davon sang. Seine Stimme war gar nicht schlecht. Er schoss einen Papierflieger, der wohl mal ein Mathematikblatt gewesen war, in die Höhe und fing ihn wieder auf, als er hinunter segelte, lachte leise und packte auch diesen entfaltet weg. Irgendwann war alles eingeräumt und er anscheinend zufrieden, jedenfalls schloss er den Schrank, drehte nur die hinterste Reihe des dreistelligen Zahlenschlosses herum und entfernte sich dann, immer noch summend. Reita starrte ihm hinterher, bis er weg war und fragte sich, was er da eigentlich beobachtet hatte und wieso. Schliesslich stiess er sich von der Wand ab, wunderte sich, dass der Kleine ihn kein einziges Mal bemerkt hatte und folgte dem gleichen Weg, der zum nächsten Ausgang führte. Er lief am Spind mit der Nummer 126 vorbei, blieb aber auf der Höhe der Nummer 135 stehen, zögerte kurz, doch dann drehte er noch einmal um, sah kurz, ob niemand hier war und lief zur Nummer 126 zurück. Reita leckte sich die Lippen, drehte langsam die hinterste Reihe, bis es leise klickte und das Schloss aufsprang. Abermals blickte sich Akira kurz um, doch es war niemand da, weshalb er die Tür öffnete. Es roch leicht faulig. Wahrscheinlich war das braune, nun entfernte Ding eine verdorbene Frucht gewesen. Aber sonst war es sauber und nun aufgeräumt. Reita inspizierte das Bild an der Tür. Darauf war nicht, wie er erwartet hatte, ein Mädchen zu sehen, sondern lediglich der Schreihals von vorher. mit dem Kleinen. Wie hatte er ihn genannt...? Ta-...Taka. Genau. Das musste der Name sein von dem Zwerg, der ebenfalls auf dem Foto war. Sie schienen gute Kumpels zu sein. Nachdenklich schloss Reita den Spind wieder. Ging ihn ja eigentlich gar nichts an. Er verdrehte das Schloss wieder, auch wenn er sich die Kombination gemerkt hatte. Weshalb wusste er nicht. Zwei Tage darauf war viel los. Reita ass zu Mittag, die Hälfte seines Tisches war weiblich und besonders Yuki starrte ihn immer mal wieder an, doch das merkte er nicht recht. Er ass seinen Reis und summte ein Lied. Wo hatte er das nochmal gehört? Er hatte heute Morgen schon Schokolade in seinem Schliessfach gefunden und konnte sich denken, von wem sie war, auch wenn kein Zettel beilag. Als er seinen Pudding öffnete, der heute als Dessert diente, erblickte er drei Tische weiter den Kleinen, der mit dem Schreihals diskutierte, über was konnte er nicht hören. Gedankenverloren sah er ihm dabei zu, während er den Pudding löffelte. Schokolade. Passend zum Tag natürlich. Dieser Taka hatte nicht aufgegessen, aber er nahm ganz verzückt den Pudding zur Hand und als sein Kumpel ihm seinen auch noch anbot, den er wohl nicht mochte oder warum auch immer, lächelte er so breit, dass Reita sein Essen unterbrach. Er sah zu, wie der andere glücklich diese Süssigkeit zu sich nahm, die nicht einmal besonders gut war. Schokolade war anscheinend sein Leibgericht. Er sieht gut aus, wenn er lächelt, ging Aki durch den Kopf. "Aki-kun, hast du heute nach der Schule Zeit?" "Eh was? Nein, ich muss arbeiten.", räusperte sich Reita und blickte Yuki an. Er merkte, dass er noch nicht zu Ende gegessen hatte, nahm die letzten Löffel und stellte den Becher dann weg. Verstohlen blickte er noch einmal rüber, doch der Kleine und sein Kumpel waren weg. Akira blickte auf die schöne Schachtel, die ihm gerade geschenkt worden war und wieder zu dem Mädchen mit dem hochroten Gesicht. "Eh, danke..." Er lächelte sie breit an. Doch das war schon die Dritte, die ihm heute etwas schenkte. Langsam wurde es eng. Abgesehen von der anonymen Packung, die er noch bekommen hatte. Sollte er sie anlügen oder gleich ehrlich und direkt sein? Die Kleine sah aus, als würde sie losheulen, wenn er gestand, dass er kein Interesse an ihr hatte. Unhöflich war es auch. "Taka, jetzt warte doch!" Reita blickte auf. Der Schreihals rief nach dem Kleinen, der anscheinend wütend war. Oder? "Weisst du, ich fand Valentinstag schon immer scheisse! Ist doch nur Kommerz! Und die Pflichtschokolade ist doch eh so scheusslich, dass man sie nicht essen kann!", erwiderte der Kleine drei Schritte weg von ihm und drehte sich, um davon zu laufen. "Jetzt sei doch nicht sauer, weil du nur Pflichtschokolade bekommen hast, ist doch besser als nichts!" Akira sah verwundert wie der Kleine durch den belebten Gang auf ihn zustürmte und dabei alles anrempelte, auch ihn, worauf er die Schokolade fallen liess. "Verzeihung..." Reita, der sich danach gebückt hatte, sah auf zum Vorbeieilenden und bemerkte die zusammengekniffenen Lippen, der verzerrte Ausdruck des Gesichts und die fast geschlossenen Lider. Verdutzt sah er ihm nach. Er war nicht wütend, sondern enttäuscht. Sprachlos stand er wieder auf mit der Schokolade, Taka war bereits weg. Nur die Kleine stand immer noch vor ihm. "Tut mir Leid...ich kann sie nicht annehmen, ich habe bereits von anderen Schokolade geschenkt bekommen und erwidere deine Gefühle nicht.", meinte er leise und drückte ihr die Schachtel wieder in die Hand. Das war zwar auch nicht die feine Art, aber besser als jetzt zu lügen und ihr noch Hoffnung zu machen. Am nächsten Tag stahl sich Reita unter einem Vorwand früher aus seiner letzten Stunde. Die Gänge waren leer, aber nicht mehr lange. Unentschlossen lief er zum Spind 126. Er sah sich um. Eigentlich wusste er gar nicht so genau, warum er das gemacht hatte. Doch wenn er an das unglückliche Gesicht von gestern dachte...Er holte das kleine rote Paket aus seiner Tasche, schloss den Spind auf und legte es hinein. Einen Moment starrte er sie an, überlegte, sie wieder rauszunehmen. War doch komplett albern. Doch als die Klingel ertönte, knallte er rasch die Tür zu, fummelte das Schloss wieder zu und machte ein paar grosse Schritte weg, kurz bevor die ersten Schüler in den Gang strömten. Es ging auch nicht lange, da entdeckte Reita den Kleineren, der mit dem Freund zum Spind lief. Er schien immer noch niedergeschlagen. Akira lümmelte etwas in der Nähe rum, um zu beobachten, wie Taka den Schrank öffnete und wie sich seine Züge aufhellten. Er packte das Geschenk auch gleich aus und probierte davon, worauf seine Augen anfingen zu glänzen. Gönnerhaft gab er auch seinem Kumpel davon ab. Das Lächeln legte er gar nicht mehr ab und Reita ertappte sich, wie er selbst darüber auch lächelte. Obwohl er es eigentlich hatte dabei belassen wollen, nahm er am nächsten Tag diese Schokoladentafel mit und bevor er sich versah, hatte er sie in den Spind geschmuggelt. Von nun an brachte er jeden Tag etwas in die Schule, liess es im fremden Schrank verschwinden und versuchte immer, dabei zu sein, wenn Taka es entdeckte. Er hatte ihn keinen Tag mehr mies gelaunt erwischt, sondern er schien immer noch glücklicher zu werden. Über Schokolade freute er sich am meisten, anscheinend war er regelrecht süchtig danach. So gingen die Wochen dahin. Bald wäre ein Monat vorbei und Taka hatte seines Wissens nach immer noch nicht herausgefunden, dass Reita es war, der ihm diese Dinge schenkte. Es war wohl besser so. Wahrscheinlich hatte er irgendein Mädchen in Verdacht, der er dann in ein paar Tagen, wenn der Monat um war, weisse Schokolade schenkte. Akira spürte ein unangenehmes Ziehen und fragte sich, ob ihn das wirklich verärgerte, wenn er daran dachte, dass Taka jemand anderen beschenkte. Mit einem leisen Seufzen legte er die Trüffelpralinen in den Spind. "Hey!" Reita fuhr zusammen und drehte sich um. Wer hatte ihn ertappt? Der Hausmeister, ein Lehrer, ein Klassensprecher? Doch es war viel schlimmer. Taka stand da und sah noch wütender aus, als wenn sein Kumpel nach Basketball fragte. Andererseits hatte es irgendwann ja so weit kommen müssen. "Du warst das? Willst du mich verarschen? Ist das irgendein krankes Spiel oder so? Oder machst du das nur im Auftrag von jemandem...wer bist du überhaupt?" Der Kleinere war näher gekommen und musterte ihn, Reita war einen guten Kopf grösser als er. Akira erwiderte eine Weile lang nichts. "Hat dir die Schokolade geschmeckt?" Er bekam ein verwundertes Augenbrauenheben vom Kleinen. "Sie hat dir geschmeckt. Du hast dich gefreut. Ich...habe es nur gemacht, um dich lächeln zu sehen." Nun fielen Taka beinah die Augen aus dem Kopf. Er blieb sprachlos. "Okay, ich...kenne dich zwar nicht gut, ich weiss nur, dass du Taka heisst und Basketball hasst und Schokolade liebst...und dass du irgendwie niedlich bist und ich will nicht, dass du einem Mädchen Schokolade schenkst, weil ich es war, der dir all das geschenkt hat und das nicht, weil ich von dir Schokolade will, sondern nur...weil du glücklich sein sollst." Reita nahm die Pralinen aus dem Spind, drückte sie dem immer noch sprachlosen Taka in die Hand und nahm seine Tasche wieder auf, wandte sich ab und eilte davon. Reita hörte auf, Sachen in den Spind zu legen. Er war sich auch sehr sicher, dass die Schlosskombination geändert worden war. Er hörte nichts mehr und sah Ruki auch nicht oft, ausserdem tat der Kleine so, als hätte er ihn nie kennen gelernt. Es missstimmte ihn, aber was sollte er machen. Dass es albern gewesen war, wusste er selbst. Es war dumm gewesen, unüberlegt. Warum er damit angefangen hatte, wusste er gar nicht so genau. Er stand ja nicht auf den Kleinen. Nicht wirklich. Er war...ein Kerl. Akira rieb sich übers Gesicht und lehnte die Stirn an den kühlen Schrank, der ihm zugeteilt war. "Aki-kun...?" Seufzend drehte Akira den Kopf zu der Stimme. Yuki stand da und lächelte. "Vielen Dank für die Schokolade!" Sie machte eine kleine Verbeugung. "Eh, aber...ich..." "Yuki-chan! Komm endlich!" Sie wurde rot, verabschiedete sich aber hastig und lief zu ihrer Kollegin. "...war das gar nicht...ist der Tag schon heute?" Verdutzt kratzte sich Reita am Kopf. Er hatte völlig vergessen, dass der Monat rum war und deshalb auch gar keine Schokolade verschenkt an seine Verehrerinnen. Der arme Kerl, der Yuki beschenkt hatte und dessen Lob nun an Reita gegangen war. Vielleicht sollte er das doch besser richtig stellen. Reita zog die Spindtür auf und blickte auf das weisse Päckchen. Geschlagene zehn Sekunden stand er nur da und betrachtete die Schokolade, dann machte er einen Schritt weg und überprüfte, ob das wirklich sein Spind war, doch das stimmte. Er schnappte sich den gefalteten Zettel auf dem Päckchen und klappte ihn auf. Erklärs mir nochmal Kapitel 23: Sandman ------------------- Die vornehme Blässe Takanori fragte sich, was er sich dabei gedacht hatte, nur zwei Tuben Sonnencreme an den Strand mitzunehmen. Heute waren es gute 30° Grad in der Sonne, im Schat-ten für Takanori jedoch gefühlte 40° Grad. Seine Arme glänzten bereits weiss, gerade rieb er mit Nachdruck über seine hellen Oberschenkel. Er hatte doch tatsächlich die kurzen Shorts angezogen, damit würde er sich den Tod holen, da war sich der Kleine sicher. Den Tod im Kleide von Hautkrebs. Erst wären es helle und dann dunkle Flecken, die sich über seinen Körper ausbreiten und sein schönes Gesicht entstellen würden, naja, zumindest der Rest von dem was seine Nase übrig gelassen hatte. Er schluckte trocken und goss sich noch einmal eine walnussgrosse Portion in die Handfläche, die er hektisch auf seinen knubbeligen Knien verteilte. Rot würden die noch schlimmer aussehen. Unruhig drückte er die Sonnenbrille wieder die Nase hoch und blickte aus dem Schatten seines riesigen weissen Sonnenschirms über ihm zum Wasser hinüber. Es glitzerte verführerisch und wäre sicherlich angenehm kühl auf seiner erhitzten Haut. Andererseits würde es aber jegliche Creme wieder von seinem Körper waschen, deshalb war es ausgeschlossen, dass er sich in die pralle Sonne begeben würde, um in das bedrohliche Nass zu stür-zen. Lieber blieb er in seinem sicheren Schatten und prüfte, ob nun wirklich jeder freie Zentimeter seines Körpers von UV-Schutz bedeckt war. Gerade wollte er noch seine Füsse eincremen, als ein Ball in weitem Bogen in seine Nähe flog und kurz vor sei-nem Handtuch liegen blieb, zur Hälfte in der Sonne. «Hey, könntest du den bitte zurück werfen?», erklang gleich darauf eine tiefe Stimme. Ruki spitzte die Lippen und betrachtete das aufgeblasene Rund abschätzig. Dann suchte er den Besitzer auszumachen, den er nach Kurzem einige Meter entfernt fand, weil dieser zu ihm rüber starrte und offensichtlich wartete. «Hallo, hörst du mich?» «Ich bin nicht taub.», gab Ruki sofort eingeschnappt zurück. Als er sich jedoch nach wie vor nicht rührte, kam der blondierte Mann in weiten Schrit-ten, damit er weniger im weichen Sand versank, heran. «Was ist denn, der beisst nicht.» Verwundert musterte er den zierlichen Jungen auf dem Badetuch, während er andeutend auf den Ball zeigte. «Danke, das ist mir bewusst.», gab Ruki von sich und schob die Sonnenbrille etwas über die Stirn. Da der Typ genau in der Sonne stand, konnte er ihn mit den dunklen Gläsern sonst kaum erkennen. Er war gross, am Ansatz war die Blondierung bereits etwas ausgewachsen, sein Körper sehnig und vor allem…stark gebräunt. Ruki kraus-te die Nase. Der war ja quasi der laufende nahe Tod. «Und warum wirfst du ihn dann nicht zurück? Siehst zwar nicht sportlich aus, aber der wiegt ja nur ein paar Gramm…» Bei diesen Worten nahm der Hochgewachsene den mit Luft gefüllten Ball mit den beiden Zeigefinger auf und hob ihn hoch, während er ihn um seine eigene Achse wirbelte, als wäre es die Erdkugel. Bloss ein Schnauben war von dem Kleineren zu hören. «Ja, das weiss ich auch…» Er zögerte und strich sich eine Strähne aus den Augen. Den studierenden Blick spürte er genau auf sich, welcher schlussendlich bei den Sonnencremeflaschen haften blieb. «…Deine Zehen sind in der Sonne.» Erschrocken zuckte der Kleinere mit seinen Füssen zurück, merkte aber gleichzeitig, dass sie im Schatten gewesen waren. Böse blitzte er zum anderen hoch, der ange-fangen hatte zu lachen. «Sorry, wollte es nur testen. Hast du ne Sonnenallergie?» «Neeein…noch nicht. Und das soll auch so bleiben.» Ruki schlang die Arme um seine angewinkelten Beine. Das Schmunzeln auf den schmalen Lippen seines Gegenübers verwirrte ihn. «Hm, und deshalb willst du den ganzen schönen Tag unter dem Schirm verbringen? Wieso geht man an den Strand, wenn man sich nicht sonnt, nicht schwimmen geht und auch sonst nichts macht in der Sonne oder im Meer?» Der Kleinere spitzte die Lippen und zog sie nach oben, während er die Nase etwas rümpfte. «Um zu entspannen. Und das kann ich nur, wenn ich weiss, dass ich mir nicht zur gleichen Zeit Melanome heranzüchte.» «Wie soll das passieren? Du hast wahrscheinlich die ganze Tube geleert!» Er zeigte mit dem Finger auf die Flasche mit der Aufschrift 50+. «Neein, hab ich nicht. Ich hab ausserdem helle Haut, die hat das nötig.» «He! Rei! Kommst du mal wieder oder klebst du fest?! Reisst du da jemanden auf?», ertönte Gejohle einige Meter hinter ihnen. Die Kumpel des Ballspielers wollten weiter-machen. Der Angesprochene lachte bloss auf und warf nur einen kurzen Blick hinter sich. «Hey, komm doch mit. Wir könnten nochmals einen Spieler gebrauchen und du bist jetzt absolut abgesichert mit so viel Creme. Das macht Spass.» Der Kleine blickte missmutig auf seine dunkel lackierten Zehen und grub sie in den Sand. «Ich fühl mich ganz wohl hier. Ich…ich hab ein Buch dabei und wollte etwas lesen.» Er klappte die Sonnenbrille zurück auf die Nase. «Bah, das kann man auch zu Hause! Jetzt komm schon. Nur ein Spiel. Du kannst dein Shirt ja anlassen.» «Mhh…ne lass mal…» Ruki schüttelte den Kopf, doch da wurde ihm eine Hand hin-gestreckt. «Bitte! Dann hör ich auch auf, dich zu nerven.» «Sicher?» Das wäre eigentlich ein gutes Angebot. Er war schon ne Weile hier und es stimmte schon, er langweilte sich und das Buch war nicht sonderlich interessant. Der Einband hatte viel mehr versprochen. Und dann hätte er wenigstens etwas Sinnvolles am Strand gemacht. Ein kleines Spiel und dann sofort wieder unter den Schirm. Der Dunkelhaarige biss sich auf die Unterlippe, seufzte tief und nahm die Hand, wurde darauf so heftig in die Höhe gezogen, dass er stolperte. Weit flog er aber nicht, der Grössere hatte ihn geistesgegenwärtig aufgefangen. «Hoppla. Na also.» Schon wurde er über den heissen Sand geschleift. Die Freunde, die vorhin gerufen hatten, muster-ten den Neuankömmling neugierig. «Das ist ja gar kein Mädchen. Aber süss ja trotz-dem.» «He Kazuo, halt deine Klappe!», gab der Mann, der immer noch den Ball hielt, von sich. «Also das ist…eh…» «…Ruki», half der Dunkelhaarige nach, der über seinen Arm rieb. Er konnte die Hitze schon spüren und wie die Sonnenstrahlen durch seine Haut drangen um dort Zellen zu verändern. «Ruki, okay. Ich bin Reita, der mit dem grossen Maul ist Kazuo und der mit den schlecht gefärbten Haaren ist Minoru.» Die beiden Genannten grüssten freundlich, obwohl sie das seltsame Benehmen des Neulings bemerkten. «Na gut, dann sind wir jetzt zu viert und können in Paaren spielen!» «Klar, wir wissen auch genau, mit wem du spielen willst!», grinste Kazuo breit und zwinkerte Ruki ziemlich anzüglich zu. Dieser blickte verschreckt zu Reita hoch, doch der sah nicht zu ihm, sondern verdrehte demonstrativ die Augen für Kazuo. Dies be-ruhigte den Kleineren wiederum und er sah zu, wie die anderen beiden sich etwas entfernten, um das Spiel wieder aufzunehmen. Die unerschrockene Bräune «Na, war doch gar nicht so schlimm, oder?», grinste Reita. Sie deponierten gerade den Ball bei den Handtüchern von ihm und seinen beiden Freunden, welche gerade kreischend in Richtung Wasser rannten und in die Fluten sprangen. Reita blickte ihnen grinsend nach und warf dann einen Blick auf den Kleineren, des-sen Augen hinter den riesigen Gläsern der Sonnenbrille kaum zu erkennen waren. «Kommst du…auch mit ins Wasser?», fragte er hoffnungsvoll, auch wenn er die Ant-wort schon kannte. «Ne, da wasch ich mir ja alle Sonnencreme ab und ich hab nicht noch mehr dabei…ist zu riskant.», kam die etwas verkniffene Antwort. Der Grössere konnte sich allerdings nicht dem Gefühl erwehren, dass der andere eigentlich schon gerne wollte. Doch sei-ne unerklärliche Angst vor Hautkrebs hielt ihn davon ab. Wie jemand, der so jung war überhaupt diese schon fast krankhafte Angst besitzen konnte, war ihm ein Rätsel. Nachdenklich kräuselte Reita die Lippen. «Okay, ich sag dir was. Lassen wir das Meer einfach mal Meer sein und gehen ein Eis essen.» Er zeigte mit der Hand den Strand hinauf, wo es eine Eisdiele gab, vor der verschiedenfarbige kleine Zweiertische mit riesigen Sonnenschirmen aufgestellt waren. Die Antwort dauerte ein Zögern und ein überlegender Blick zum Liegeplatz des Kleine-ren, dann aber wurde eingewilligt. «Ich muss nur kurz mein Geld holen…» «Ach was, das zwei Eisbecher werden mich nicht arm machen», schmunzelte Reita und zog den Kleineren mit sich die Anhöhe hinauf, vorbei an Leuten, die das Wetter genossen, lachten und Eis in Waffeln assen. Als sie in zur Eistheke traten, wehte ihnen der Wind der Klimaanlage kühl entgegen und sein neuer Bekannter entspannte sich zusehends, beugte sich vor und betrachte-te die grosse Auslage durch das Glasfenster. Er gab Laute von sich, die Reita zum Grinsen brachten. Die fragende Verkäuferin richtete sich an den Grösseren, der grins-te und Schokolade und Pistazie bestellte. Währenddessen hatte der Dunkelhaarige neben ihm immer noch keine Entscheidung treffen können und druckste herum. «Also ich hätte gerne…ehm…Joghurt und äh…Himbe…nein vielleicht lieber…Melone…eh ja.» Er kaute auf seiner Lippe herum, während der Blondierte bezahlte. Sie setzten sich nach draussen unter einen gerade freigewordenen pinken Sonnen-schirm. Eine Weile leckten sie an der sich schnell verflüssigenden Süssigkeit, bis Reita beschloss, den Kleinen nicht mehr einfach nur anzustarren, der ab und an auf das Wasser sah, sondern etwas mit ihm zu reden. «Eh…» Ganz intelligent, vielleicht hätte er den Gedanken auch erst zu Ende gebracht und sich noch überlegt, was er denn mit ihm bereden wollte. «Eh also…wieso…wieso hast du solche Panik in der Sonne?» Noch während er es aussprach, merkte er, dass es taktisch ganz unklug formuliert war und auch gerade mit der Tür ins Haus zu fallen war ja wohl nicht sonderlich klug. Der Kleinere schien ihn durch die dunklen Gläser zu fixieren – sicher war sich Reita da aber nicht, bis der andere sich die Brille auf den Kopf schob und ihm immer noch stumm musterte. Etwas Meloneneis tropfte auf den Tisch. «Ich hab keine ‘Panik’. Ich bin nur vernünftig. Ausserdem sind wir in Japan, da ist eine Blässe ja sowohl Tradition wie auch viel gesünder für unsere helle Haut.» Wieder be-äugte er den Grösseren, dieses Mal die gebräunten Arme mit den von der Sonne ganz aufgehellten Härchen und die blanke Brust, von der er den Blick aber rasch wie-der hob. «Aha, naja, aber wir leben auch im 21. Jahrhundert. Da gibt es Sonnencreme und niemand malt sich mehr weiss an, um noch heller zu wirken. Naja, einige Frauen viel-leicht schon, aber es ist Sommer und wir haben das Meer!» «Wenn du dir Krebs holen willst, dann bitte, aber ich tu das sicher nicht!» Noch mehr Eis tropfte auf den Tisch und der Dunkelhaarige leckte hastig den Rand seiner Waffel ab. Reita war einen Moment nicht imstande, etwas zu antworten. Er fixierte eine lange Sekunde die pinke Zunge, die flink die Tropfen auffingen. «Eh…» Es war wirklich heiss, warum war ihm das bis jetzt noch nicht so aufgefallen? «Hm…mhm, okay.» Reita hob die Augen wieder in die des anderen, in welchen sich die Sonne spiegelte. «Verstehe…du kanntest jemanden, der an Hautkrebs gestorben ist?» Bevor er noch weiter nachdachte, waren die Worte einfach so aus ihm heraus gesprudelt. Es war eine intuitive Schlussfolgerung und er riss damit offensichtlich un-beabsichtigt eine Wunde auf, denn der Dunkelhaarige erstarrte und schloss den Mund schlagartig. Das Eis war vergessen. Die Sonne scheinbar aus den dunklen Iriden komplett verschwunden wie eine ausgelöschte Kerze. Am liebsten hätte Reita sich geschlagen. Wie taktlos konnte man sein. «Ich…ich muss jetzt gehen.» Der Kleinere stand so abrupt auf, dass der Stuhl nach hinten fiel. «Nein warte! Sorry, wir müssen nicht darüber reden, es war nur so eine blöde Frage…» Der Rest von seinem Schokoladeneis fiel zu Boden, als er ebenfalls aufsprang. Doch alles was er bekam war ein vernichtender Blick, vernichtend, aber auch verzweifelt. Dann sah er nur noch den Rücken des anderen, welcher den Strand wieder hinunter stürmte und seine Sachen in seine Tasche zurückwarf. Als Reita unten ankam, versuchte der Junge gerade, seinen Sonnenschirm zuzuklap-pen, doch der klemmte. Ohne zu überlegen ging er ihm zu Hand und faltete ihn zu-sammen, steckte ihn in die dazugehörige Stofftasche. Derweil hatte der Dunkelhaari-ge seine Tasche geschultert. Sand klebte an ihm. «Du musst nicht wegen mir gehen, ich lass dich auch in Ruhe…», bot Reita an. Er fühlte sich miserabel. Andere Men-schen zu verletzten tat er zwar manchmal, aber dann absichtlich. Wenn es so pas-sierte wie gerade eben, dann fühlte er sich schlecht. Den Kleinen zu verletzen war gemein, wo er doch so offensichtlich mit etwas zu kämpfen hatte. «Ich hätte gar nie herkommen sollen…», murmelte der Kleinere mit einem schwachen Lächeln und nahm den Schirm entgegen und stapfte den heissen Sand hinauf. Reitas Magen zog sich zusammen, das Eis schmeckte plötzlich bitter und so, als ob es wieder raus wollte. «Kann ich es nicht wieder gut machen irgendwie?» «Nein.» Der Kleinere drehte sich nicht mehr um, er war schon fast oben, auch wenn er keuchte. Ratlos lief Reita ihm ein paar Schritte nach. «Es tut mir Leid!» Vom Kleineren kam keine Antwort, er war nun auf der Anhöhe und lief Richtung Parkplatz. Mit einem leisen Fluch rannte Reita ihm nun doch nach, stol-perte aber und legte sich der Länge nach in den trockenen Sand. Als er sich hochrap-pelte, fiel sein Blick auf ein kleines Büchlein. Verdutzt hob er es hoch, es klappte auf. Es war eine Agenda. Rasch blätterte Reita nach vorne, während er das Schlagen von Autotüren wahrnahm. Auf der ersten Seite stand ein Name und eine Adresse. Ob das der Kleine verloren hatte? Der Name hatte zwar nichts mit ‘Ruki’ gemeinsam, aber das war ja eh nur ein Spitzname. «Hey, ich hab…» Reita sank im weichen Untergrund ein, als er sich hinauf kämpfte. Doch ein schwarzer Mini schob sich gerade aus der Parklücke und brauste davon, noch bevor Reita das Auto erreicht hätte. * Zwei Tage später las Reita abermals die Adresse durch. Unter dem Namen stand eine Strasse mit Nummer, die Zeile für die Telefonnummer war leer geblieben. Reita schlug das Büchlein wieder zu und seufzte leise. Sollte er jetzt wirklich über die Stras-se gehen? Das wäre Stalking. Belästigung. Der Kleine würde ihm wahrscheinlich den Kopf abreissen oder die Polizei rufen. Aber vielleicht hätte er die Agenda ja trotzdem gerne zurück? Abermals besah er sich das weisse Haus mit den blauen Dachziegeln, der Treppe zum Eingang und dem amerikanischen Briefkasten. Rasch sah er nach links und rechts. Kein Auto zu sehen. Hastig überquerte er den Teer und hüpfte die Stufen rauf. Bevor er nochmals nachdenken konnte, drückte er rasch die Klingel, die unerwartet laut durch das Haus und die Tür drang, sodass der Blondierte zusammen zuckte. Es ging einen Moment, dann hörte man Schritte durch den Gang und die Tür wurde so heftig aufgerissen, dass es einen Moment wirkte, als würde sie aus den Angeln gehoben. Er wurde von dunklen Augen gemustert, bevor sein Gegenüber sich an den Türrah-men lehnte und ihn angrinste. «Hi!» Reita hatte derweil seine Zunge verschluckt. Vor ihm stand ein komplett Unbekannter. Der Fremde war in seinem Alter, aber sicherlich nicht verwandt mit dem Kleinen, den er eigentlich gehofft hatte zu sehen. Er war noch grösser als er selbst, sehr dünn, hat-te eine lange gerade Nase und mandelförmige Augen. Und er trug ein unverschämtes Grinsen auf den vollen Lippen. «Ich sagte ‘Hi’, willst du nicht auch was sagen? Immerhin hast du bei mir geklingelt und nicht umgekehrt.» «Eh…also…» Reita schielte auf das Klingelschild, doch der Nachname stimmte über-ein mit dem in der Agenda. Da ihm nichts besseres einfiel, hielt er dem jungen Mann einfach das Büchlein hin. Die Katzenaugen wanderten erst seinen Körper hinunter, bevor sie sich ansahen, was er in der Hand hielt, doch das Objekt wurde dann mit einem Aufschrei quittiert. «He, du hast ja meine Agenda!» Er riss sie ihm aus der Hand und blätterte sie kurz mit dem Daumen durch. «Wo hast du denn die gefunden? Dachte schon, ich seh die nie wieder. Hätte sie nie bei Taka liegen lassen sollen. Das Chaos, das der hat: war ja logisch, dass die dann verschwindet…» Er blickte wieder hoch, das geschlossene Buch in seiner Hand. «Danke, voll nett! Möchtest du einen Finderlohn? Lässt du dich mit Kaffee bezahlen? Oder hast du was anderes erwartet?» Das Grinsen wurde brei-ter. «Falls du ne hübsche Schnalle erwartet hast, sei nicht enttäuscht, ich kann auch ziemlich gut küssen.» Der Mann wippte mit den Augenbrauen, seine Mundwinkel im-mer noch angezogen. Reita starrte ihn mit grossen Augen an. In seinem Kopf existierte gerade nur ein Wort: Hilfe. Sein Hirn war sowohl mit der Verarbeitung des Aussehens des Jungen, der die Haare aufwendig toupiert hatte, was ihm aber noch stand, als auch mit dessen flotten Worten beschäftigt. «Eh…also…» «Bist du ne Schallplatte mit Kratzer?» Der Fremde verdrehte die Augen. «Also ganz langsam: Wie heisst du?» «Re…Reita.» «Sehr schön. Und wo hast du meine Agenda gefunden?» Das Grinsen war jetzt ein etwas mitleidiges Lächeln, so als wäre Reita sehr langsam was Denken anbelangte. «Strand…» «Am Strand?» Ein Stirnrunzeln überbrückte einige Sekunden. «Ich war diese Woche noch nicht am Strand…aber Taka…» Der Bewohner des Hauses verengte die Augen und musterte ihn. «Reita...? Bist du der Kerl, den Taka am Strand getroffen hat? Er hat dich erwähnt, obwohl er eigentlich nicht wollte, aber da war so was…» Reita sagte nichts, aber seine Wangen glühten, weshalb er annahm, dass man ihm die Antwort vom Gesicht ablesen konnte. «Du bist es!» Und wieder wurde er gemustert, dieses Mal mit unverhohlener Neugier-de und etwas abschätziger. «So gross bist du ja gar nicht, wobei für Taka ist ja jeder gross. Eh…» Es schien im Gehirn des anderen zu rattern und dann zu klicken, Reita konnte es förmlich hören. «Du dachtest wohl, die Agenda gehört ihm was?» Das brei-te Grinsen war wieder da. «Ach schade, ich hätte gerne Spass mit dir gehabt, aber dann hast du dich wohl in Taka verguckt. Nur blöd, dass er dich nicht mehr sehen will, nach deiner bescheuerten Fragerei. So viel Taktgefühl wie ein Stück Treibholz.» Die Sprudelei von Worten beschämte Reita. Dieser ‘Taka’, von dem der andere immer sprach, war wohl Ruki. Dass der andere sauer auf ihn war, konnte er gut verstehen, doch es so unverblümt von diesem Kerl zu hören war ihm peinlich. «Das tut mir ja Leid…», brummte er. «Und ich würde es gerne auch wieder gut ma-chen…» «Hmmm…» Reita wartete geduldig, bis er ein drittes Mal gemustert worden war. «Also, weisst du was, komm einfach mal rein. Ich hab eh gerade ne Kanne Eistee gemixt. Ich bin übrigens Kouyou, wie du ja schon weisst von der Agenda, aber meine Freunde nennen mich Uruha, das ist mir auch lieber.» Uruha winkte ihn hinein und Reita schlüpfte brav aus den Schuhen, während hinter ihm die Haustüre wieder ge-schlossen wurde.» Zehn Minuten später sassen sie auf einer Terrasse mit zwei Gläser Eistee in der Sonne. «Also erzähl mir mal deine Version der Geschichte.», bat Uruha ihn, worauf Reita seufzte und etwas zögerlich berichtete, wie er Ruki aka Taka getroffen und unter sei-nem Schirm hervor gelockt hatte und wie dann mit einer dummen Frage alles diesen unguten Lauf genommen hatte. «Hmm…» Uruha kaute auf einem Pfefferminzblatt herum. «Also ist schon mal ein Wunder, dass du ihn vom Schatten weglocken konntest…aber du hast wirklich weni-ger Taktgefühl als ein Toastbrot!» Der Mann schüttelte seine kunstvolle Mähne, wel-che Reita schon beinah einschüchterte. «Ja, danke, das hab ich ja dann auch geschnallt. Als ich die Agenda fand, dachte ich, ich könnte mich nochmals bei ihm entschuldigen.» «Mhm…naja…» Uruha stellte das leere Glas weg und blickte in den blauen Himmel, überlegte. «Ist echt schade, dass dus so versemmelt hast…es würde ihm gut tun, etwas Ablenkung…Ball spielen und Eis essen und so…scheinst ja ein netter Typ zu sein. Gut, auch Trottel haben eine zweite Chance verdient! Ich werde dir helfen», meinte er gönnerhaft und grinste Reita an. «Aber bevor ich dir was gebe, damit du zu ihm Kontakt aufnehmen kannst, werd ich dir was erklären. Ich finde zwar, es wäre an ihm, es dir zu sagen, falls er es möchte, aber wenn ich dir jetzt keinen Hinweis gebe, wirst du deinen Knackarsch beim nächsten Mal noch schlimmer ins Fettnäpfchen set-zen. Das kann ich nicht verantworten, Taka hat schon genug durchgemacht.» Uruha holte tief Luft, während der Reita kurz überlegte, wann der andere Zeit hatte, seinen Arsch abzuchecken oder ob das nur ne Floskel war und was das sein könnte, was er ihm nun sagen würde. «Kurz gesagt…Taka hat gerade seine Mutter verloren. An Krebs, wie du dir vielleicht denken kannst.» Uruha blieb still und beobachtete genau, wie Reita darauf reagierte. Dieser wusste aber erst gar nicht, wie er reagieren sollte. Es war ein Schock. Der Kleine war sicher nicht älter als er selbst, also höchstens 17 Jahre alt…so jung seine Mutter zu verlieren und dann auch noch an eine so schlimme Krankheit. Er konnte sich das gar nicht vorstellen. Auch wenn er selbst ab und zu mit seiner Mutter in Streit geriet, wie es in diesem Alter üblich war, liebte er sie dennoch. Da er keinen Vater mehr hatte, war sie seine einzige Bezugsperson. Er spürte, wie er trocken schluckte und nahm rasch einen Schluck von seinem Eistee, doch es half nichts. «Das ist ja furchtbar…», murmelte er schliesslich, die schmelzen-den Würfel in seinem Glas anstarrend. Er war zugegeben überfordert. Und er spürte heissen, beissenden Hass in sich aufsteigen. Auf sich selbst, wie er so unbedacht den Kleineren ausgefragt hatte, hochgenommen hatte. Sein Magen drehte sich und am liebsten hätte er den Eistee wieder erbrochen. Uruha klopfte ihm auf die Schulter. «Ist es. Also überleg dir sehr gut, ob du das möch-test und ob du mit seiner Trauer klar kommst. Er mauert, was ja nicht weiter verwun-derlich ist, aber du konntest ihn zu einem Eis einladen, was ich als gutes Zeichen nehme. Dennoch…wenn du nicht mehr Vorsicht walten lässt, wirst du ihm noch schlimmer wehtun und ich lass nicht zu, dass du die ganze Zeit in der Wunde sto-cherst.» «Nein…ich werde vorsichtig sein, jetzt wo ich es weiss. Und ich werde nichts mehr sagen oder fragen. Aber ich möchte mich entschuldigen und meinen Fehler ausbü-geln.» Uruha schnalzte nachdenklich mit der Zunge und wiegte den Kopf. «Also gut…ich geb dir…eine Zeit und einen Ort, an dem er sein wird. Dann kannst du ihn da treffen, wenn du es dir gut überlegt hast. Was du daraus machst, musst du selber wissen. Wenn du es versaust, reiss ich dir aber die Eier ab.» Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)