Nicht weinen sollst du, Hanako von Niekas (Geschichten über Konoha) ================================================================================ Kapitel 3: Shintaros Geschichte, Teil drei – Ich muss für eine Weile weg. ------------------------------------------------------------------------- Natürlich kommt es so, wie Tonbo gesagt hat. Alles renkt sich wieder ein. An einem Wintertag sitzen sie an einem Teich im Wald und lassen Steine springen, als sei nie etwas passiert. Zumindest fast. „Sie haben diesen Dämon in irgendein Kind gebannt“, sagt Tonbo. „Ein Neugeborenes. Aber niemand soll wissen, welches genau.“ Mizuki spuckt ins Wasser. „Zähl's dir an den Fingern ab. Viele Kandidaten gibt es nicht, oder?“ „Es wurde verboten, darüber zu reden“, sagt Shintaro schroff. „Und das wisst ihr ganz genau.“ Zum ersten Mal, solange er sich erinnern kann, widerspricht Ibiki ihm offen. „Warum darf niemand die Wahrheit wissen, Sensei? Die Wahrheit ist nichts, wovor man Angst haben muss.“ „Es geht doch nur darum, dass die Leute abergläubisch sind.“ Tonbo wirft einen flüchtigen Blick auf Mizuki. „Und voller Hass, teilweise. Man kann es ihnen nicht verübeln. Aber wie soll ein Kind gegenüber einem solchen Hass groß werden?“ „Tonbo hat Recht“, sagt Shintaro und sieht Ibiki an. „Und du solltest daran denken, dass es auch Wahrheiten gibt, die beschützt werden müssen. Sonst könnten wir unseren Geheimdienst ja gleich auflösen.“ Ibiki lächelt. „Abgesehen davon gibt es eine Verordnung von Hokage-sama, nicht über den Wirt des Dämons zu sprechen. Ich weiß nicht, ob wir diese Verordnung gerade schon gebrochen haben.“ „Ach was.“ Tonbo sieht sich unauffällig um, aber sie sind allein. „Deswegen schlage ich vor, wir machen weiter.“ Shintaro macht einen Schritt auf den Teich, das kalte Wasser schwappt gegen seine Schuhsohlen. „Ich möchte sehen, wie ihr über das Wasser lauft. Seid ihr wieder getrocknet, Jungs?“ „Warum üben wir das nicht im Sommer, Sensei?“, beschwert sich Mizuki. „Weil gerade nicht Sommer ist und ihr dringend etwas für eure Chakrakontrolle tun müsst. Schließlich will ich euch in drei Monaten zur Chuunin-Prüfung schicken.“ Die drei Jungen starren ihn an. „Ach ja“, sagt Shintaro. „Hatte ich das noch nicht erwähnt?“ „Sie nominieren uns als Chuunin?“, fragt Tonbo aufgeregt. „Noch wichtiger, haben Sie gerade einen Scherz gemacht?“, fragt Ibiki mit einem Grinsen. „Nein, das war ernst gemeint.“ „Ich meine den Teil mit dem hatte-ich-das-nicht-erwähnt.“ „Hatte ich es denn nicht erwähnt?“ „Sie können mich nicht verarschen, Sensei“, sagt Ibiki entschieden. „Sie haben einen Scherz gemacht.“ Shintaro muss lachen. * „Ich muss für eine Weile weg“, sagt Shintaro unvermittelt, als sie nach dem Training noch ein paar Minuten beisammen sitzen. „Was meinen Sie damit, Sensei?“ „Es gibt eine wichtige Mission zu erledigen. Hokage-sama hat speziell nach mir verlangt, weil ich die Gegend von einem früheren Auftrag gut kenne. Ich werde sicher von Nutzen sein können.“ Sie sehen verblüfft aus, Tonbo geradezu erschrocken. „Aber Sie können jetzt nicht weg!“ „In einer Woche beginnt der erste Teil unserer Chuunin-Prüfung!“ „Während dieser Zeit werdet ihr ohne mich auskommen müssen. Auch das müsst ihr schließlich lernen.“ Er sieht in ihre Gesichter und erkennt trotz ihrer Enttäuschung das Glänzen in ihren Augen. Sie sind jung und stark. In den letzten zwei Jahren ist er ihr ständiger Begleiter gewesen, hat sie angeführt und geleitet. Jetzt stehen sie vor der ersten großen Prüfung, die sie ohne seine Hilfe bestehen müssen. Er weiß, dass sie es schaffen werden. „Wenn ich zurückkomme, will ich, dass ihr alle euer Bestes gegeben habt. Abgemacht?“ „Abgemacht, Sensei!“ „Seien Sie unbesorgt“, sagt Ibiki würdevoll. „Ich habe die beiden Ratten schon im Griff.“ „Wen nennst du hier Ratten?“ „Und wer hat gesagt, dass du der Chef wirst, Ibiki?“ „Frage ich mich auch!“ Sie wollen sorglos klingen, aber nicht einmal Ibiki schafft es. „Jetzt zieht nicht solche Gesichter, Jungs“, knurrt Shintaro und schlägt Tonbo auf die Schulter, weil er nicht weiß, wohin mit seinen Händen. „Bis ihr mit der Prüfung fertig seid, bin ich längst wieder hier. Vielleicht kann ich mir sogar eure Finalkämpfe ansehen.“ Denn das will er. Er will sie kämpfen sehen. „Ich muss verrückt sein, euch zum Essen einzuladen – bei den Mengen, die ihr in eurem Alter verdrücken könnt.“ „Sehen Sie es als Investition in unsere Zukunft, Sensei“, sagt Tonbo ernst. „Wer hart an sich arbeiten will, muss auch ordentlich essen.“ Sie lachen, Ibiki nimmt sich noch etwas Reis, Mizuki füllt sein Glas nach. „Haben Sie irgendwelche weisen Ratschläge für uns, was die Chuunin-Prüfung angeht, Sensei?“ „Außer dem, was ich euch seit jeher einzubläuen versuche?“, fragt Shintaro schmunzelnd. „Nein. Bleibt immer wachsam. Achtet darauf, wem ihr über den Weg traut. Seid verlässlich und habt den Mut, euch auf eure Teamkameraden zu verlassen. Behaltet im Hinterkopf, dass ihr nicht nur für euch kämpft, sondern auch für Konoha.“ „Sonst nichts?“, fragt Tonbo enttäuscht. „Für die Zeit, in der ich weg bin, könnt ihr euer Training selbst in die Hand nehmen. Ihr habt alle längst eure Stärken erkannt und wisst, wie ihr sie weiter ausbauen könnt. Steck noch mehr Arbeit in dein Katon, Tonbo, es wird sich lohnen. Ibiki, dass dein Genjutsu stark ist, weißt du so gut wie ich, aber du solltest dich nicht ausschließlich darauf verlassen. Du bist in letzter Zeit ein richtiger Hüne geworden, also mach etwas daraus. Ein bisschen Taijutsu kann nie schaden.“ Ibiki zuckt die Achseln und lächelt. „Wenn Sie meinen.“ „Und ich, Sensei?“, fragt Mizuki. „Du isst erst einmal deinen Teller leer. Wenn du nicht ein bisschen an Gewicht zulegst, reißt dein eigener Riesenshuriken dich eines Tages von den Füßen.“ Sie lachen erneut, und Shintaro durchzuckt ein Stich von Wehmut, weil er sie sich selbst überlassen muss. „Wo musst du hin?“ „Die Mission unterliegt strengster Geheimhaltung, Mutter.“ „Das hätte ich mir denken sollen“, seufzt Kaede. Shintaro zuckt die Achseln. Es gibt das Gerücht, an der Grenze zu Takigakure würde eine reiche Großfamilie sich eine Privatarmee aufstellen wollen. Die versteckten Dörfer behalten sich das Privileg vor, Armeen zu besitzen, und abgesehen davon fürchtet Konoha nichts mehr, als dass das empfindliche Mächtegleichgewicht der fünf großen Reiche durcheinander geraten könnte. Der letzte Krieg ist erst zwei Jahre her. „Also dann.“ Sie drückt ihn zum Abschied an sich. „Pass gut auf dich auf.“ „Mache ich doch immer.“ Sie klammert sich förmlich an ihn, das hat sie früher nie getan. Er wird zurückkommen, und wenn nicht, hat er sein Leben für Konoha gegeben. Alles ist in Ordnung. Shintaro befreit sich aus ihrem Griff und bemerkt zum ersten Mal, dass auch er eigentlich nicht weg will. Dieses Gefühl hatte er noch nie. Konoha hat ihm einen Auftrag gegeben, und er wird ihn ausführen. „Wovor hast du Angst?“, fragt er, ist sich aber nicht sicher, an wen die Frage geht. „In spätestens einem Monat bin ich wieder hier.“ * Drei Tage. Drei Tage lang haben sie sich so schnell und leise wie möglich fortbewegt, keine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, sind abseits der Wege geblieben, immer in den Baumkronen. Sie haben ihren Bestimmungsort beinahe erreicht, ohne auf irgendwelche Schwierigkeiten zu stoßen – genau das hätte sie misstrauisch machen müssen. Aber niemand hat etwas gesagt, und nun ist es zu spät. „Ein Hinterhalt! Feind auf zwei Uhr!“ Rings um sie herum zischen Kunais aus dem Laub hervor, eines verfehlt knapp Shintaros Ohr. Instinktiv kauert er sich zusammen, um eine kleinere Angriffsfläche zu bieten. Seine Finger schließen die Siegel, bevor sein Gehirn auch nur realisiert hat, was passiert. „Katon: Goukakyuu no Jutsu!“ Der Feuerball trifft den nächsten Baum, die Blätter flackern einmal kurz auf und rieseln als Aschewolke zu Boden. Sie geben den Blick auf eine vermummte Gestalt frei, die ein Dutzend Shuriken in Shintaros Richtung schleudert. Mit einem Satz nach links bringt er sich in Sicherheit, landet auf einem dicken Ast und findet sein Gleichgewicht. Wo ist der Feind, und wo sind die anderen? Direkt vor ihm explodiert eine Rauchbombe. Er verliert den Halt, wird gegen einen Baumstamm geschleudert und bleibt in den Ästen hängen. Sein Mund ist voller Staub, seine Ohren klingeln. Er will sich orientieren, wo der Rest seines Teams ist, aber der Rauch macht ihn praktisch blind. Etwas Warmes läuft über sein Gesicht, er spürt sein rechtes Bein nicht mehr. Sein letzter banger Gedanke ist, dass er nicht mehr rechtzeitig nach Konoha kommen könnte, um seine Jungs kämpfen zu sehen. * „Aus Konoha?“ Ein Stiefel trifft ihn in die Seite, und er kommt zu sich. Er liegt auf dem Bauch auf einem hölzernen Boden. Wo er ist, weiß er nicht. „Was in aller Welt wollen die hier?“ „Uns ausspionieren, was sonst?“ Sein Kopf dröhnt, sein Mund ist noch immer voller Staub, er spuckt auf den Boden. Sein rechter Fuß pocht vor Schmerzen. Jemand greift nach seiner Schulter und dreht ihn grob auf den Rücken. „He, du“, sagt das Gesicht direkt vor seinem. „Was habt ihr hier gesucht?“ Er konzentriert sich auf seinen Zustand. Seine Arme sind hinter dem Rücken gefesselt, er hat Kopfschmerzen, ein paar seiner Zähne wackeln, und sein rechter Fuß tut noch immer weh. „Sagst du es mir gleich, oder willst du es auf die harte Tour?“ Es gelingt ihm erstaunlich gut, die Worte zu verdrängen. Einfach nicht beachten, das übliche Gerede. Von so etwas lässt er sich nicht einschüchtern. Er ist ein Jounin Konohas. „Hätte ich mir denken sollen. Scheiß-arrogante Hunde, diese Konoha-Nins.“ Er wird an den Haaren in eine sitzende Stellung hoch gezerrt und hört das Schleifen von Metall hinter seinem Rücken. Seine Sicht ist unscharf. Er will nach seinem schmerzenden Fuß sehen und muss feststellen, dass sein rechtes Bein in einem blutigen Verband am Knie endet. Mehrere Sekunden lang starrt er den Stumpf an und weiß nicht, was er denken soll. „Da guckst du, was? Beinahe wärst du an der Verletzung verblutet. Wir haben dir das Leben gerettet. Aber du wirst dir noch wünschen, wir hätten es nicht getan.“ * Er weiß nicht, wie viel Zeit vergeht. Alles, was ihn am Leben hält, ist der Gedanke, eines Tages wieder nach Konoha zu kommen. Die Antwort auf die Frage nach der vermeintlichen Privatarmee hat er, da er genau bei der Großfamilie gelandet ist, die sie eigentlich ausspionieren sollten. Die Wachen auf dem Landgut sind aufmerksam, reichen aber lange nicht für eine Armee. Und welche Rolle spielt das jetzt noch? Die Mission ist auf ganzer Linie fehlgeschlagen, er ist der einzige Überlebende. Sie erklären ihm, es habe ursprünglich noch eine überlebende Kunoichi gegeben, aber sie habe sich in der ersten Nacht ihrer Gefangenschaft die Zunge abgebissen. Am Morgen war sie an ihrem Blut erstickt. Noch vor zwei Jahren hätte Shintaro nicht gezögert, dasselbe zu tun. Jetzt käme ihm der Gedanke nicht einmal im Traum. Er will seine Mutter und seine Schüler wiedersehen, das ist alles, woran er denken kann. Ob es das ist, was Ibiki mit „locker werden“ meinte? Er sagt kein Wort über die Mission, schon aus Prinzip nicht, und nach einiger Zeit geben sie es auf, ihn darüber zu verhören. Was auch immer diese verdammten Konoha-Shinobi vorhatten, sie haben es nicht geschafft, und in Zukunft wird man wachsamer sein müssen. Sie entscheiden, dass Shintaro ohnehin nicht weglaufen kann mit nur einem Bein, und wenn man ihn mit zu wenig Essen und zu wenig Schlaf ständig in schwachem Zustand hält, wird er wohl ungefährlich sein. Sie behalten ihn als einen kostenlosen Dienstboten und tragen ihm Aufgaben im Haus oder im Garten auf. Wenn er sie gut erledigt, bekommt er Abendessen. Wenn nicht, bekommt er Stockschläge. Er ist ein ausgebildeter Jounin, aber er ist allein und verletzt. Sie sind stärker als er. Manchmal, wenn im Garten die Sonne auf seinen Kopf brennt, hebt er das Gesicht zum Himmel und fragt sich, wie weit er von Konoha entfernt ist. Es scheint eine Ewigkeit her zu sein, dass er sich von seinen Schülern verabschiedet hat. Ob sie die Prüfung bestanden haben? Sicher haben sie das, sie sind sechzehn, Tonbo siebzehn. Siebzehnjährige Jungen sind die besten Soldaten überhaupt, körperlich topfit, keine Skrupel, aggressiv wie nie wieder in ihrem Leben. Er zweifelt nicht daran, dass sie sich großartig schlagen werden. Aber danach? Ob sie zu Chuunin aufsteigen und ihren alten Sensei vergessen werden? Aber nein, das würden sie nicht. Vielleicht vergessen sie Shintaros Namen oder sein Gesicht, aber was er ihnen über den Willen des Feuers gesagt hat, wird keiner von ihnen je vergessen. Und solange er am Leben ist, gibt er die Hoffnung nicht auf, sie wiederzusehen. * „Das ist nicht dein Ernst.“ „Doch, wirklich, ein Jounin. Aus Konoha.“ „Bist du verrückt? Was, wenn es ihnen eines Tages zu Ohren kommt, dass du einen ihrer Leute gefangen hältst?“ „Ach was! Konoha ist meilenweit weg. Sie werden es niemals herausfinden.“ Das glaubt Shintaro allerdings auch, als er dem Hausherrn und einem Gast Tee serviert. Er hat die Hoffnung, Konoha könne ihn retten kommen, längst aufgegeben. Wenn er sie überhaupt je hatte. „Und außerdem, selbst wenn – glaubst du, für einen einzelnen verkrüppelten Jounin würden sie ein Rettungsteam losschicken? Wohl kaum.“ Da wiederum würde Shintaro ihm vehement widersprechen. Wenn irgendjemand in Konoha wüsste, wo er ist und dass er noch lebt, würden sie jemanden zur Rettung schicken. Und vermutlich würden sie dieses verdammte Haus niederbrennen und alle Bewohner töten. Vielleicht würde er sie dazu überreden können, das kleine Mädchen zu verschonen, das ihm manchmal bei der Arbeit Gesellschaft leistet und Geschichten erzählt. „Hey, Konoha-Nin! Nicht träumen!“ Der Mann stößt ihn mit dem Ellbogen an, und Shintaro taumelt und verschüttet den Tee. „Wisch das auf, du Nichtsnutz!“ Er tut es, ohne ein Wort. Anfangs hat er protestiert, mittlerweile schluckt er mühsam seinen Stolz. Es ist überlebenswichtig. Natürlich versucht er, zu fliehen. Er wendet alle Tricks an, die er kennt, betäubt oder tötet die Hunde, täuscht die Wächter, erkundet ständig neue Fluchtwege. Die Hunde hassen ihn, was nicht ungewöhnlich ist – aus irgendeinem Grund hatten Hunde schon immer eine Abneigung gegen Shintaro, was auf Gegenseitigkeit beruht. Aber meistens scheitert seine Flucht nicht an den Tieren, sondern an der schlichten Tatsache, dass er mit seinem einen Bein und der Krücke viel zu langsam voran kommt. Jedes Mal holen sie ihn zurück und schlagen ihn zusammen. Shintaro wartet, bis die Verletzungen verheilt und seine Wächter wieder unachtsam geworden sind, und dann versucht er es erneut. Konoha ist alles, woran er denken kann. * Gewitter-Mann nennt das kleine Mädchen ihn – weil er immer so grimmig aussieht. Sie stört sich nicht daran, dass er kühl und wortkarg und langsam ist, dass sein Gesicht von Narben aus den anfänglichen Verhören entstellt ist. Schon lange scheut Shintaro spiegelnde Oberflächen, er weiß, dass er furchtbar aussieht, er will nur nicht wissen, wie furchtbar. Und dem kleinen Mädchen ist es egal. Wenn er draußen die Beete umgräbt, pflückt sie am Zaun Blumen und singt. Die Mutter sprach zu Hanako: Hanako, weine nicht! Die Männer sind so, Töchterchen, verzweifle nicht! Sie schenken dir Ringe und hübsche Stein, Doch niemals bleiben sie lange daheim. Nicht weinen sollst du, Hanako, Hanako, Hanako, Blumenkind. „Diese Strophe kenne ich gar nicht“, sagt er undeutlich, weil irgendetwas mit seinem Mund nicht stimmt. Nein, er wird nicht in einen Spiegel sehen. „Es ist die zweite“, erwidert das Mädchen munter. „Die erste ist die mit Hanako, Hanako, Blumenkind, sie lief zum Tor ...“ „Ja, die kenne ich auch.“ „Gibt es noch eine?“ Shintaro überlegt und zupft Unkraut aus der Erde. Er konnte noch nie gut singen, aber die Worte drängen förmlich aus ihm heraus. Das Lied erinnert ihn an zu Hause. Die Schwester sprach zu Hanako: Hanako, weine nicht! Und wenn dein Liebster stirbt, dann sag ich, freue dich! Denn nur ein Narr, denn nur ein Kind Beweint, die in Ehre gestorben sind. Nicht weinen sollst du, Hanako, Hanako, Konohas schönstes Kind. „Was bringen Sie meiner Tochter bei?“ Die Mutter des Mädchen steht plötzlich neben ihm. Ihre Lippen beben vor Entrüstung. „Es ist eine andere Strophe von Hanako Blumenkind, Mama!“, ruft das Mädchen. „Die kannte ich gar nicht. Singst du nochmal?“ „Nein!“, herrscht die Mutter sie an und deutet mit dem Zeigefinger auf Shintaro. „Ich lasse nicht zu, dass Sie meiner Tochter solche Lieder beibringen! Diese grässlich arroganten Konoha-Nins und ihre Ehrvorstellungen! Kriegstreiber, die schon Kinder ans Töten und ans Sterben gewöhnen wollen!“ Shintaro wendet sich ihr zu und beobachtet mit Genugtuung, wie sein entstelltes Gesicht sie aus der Fassung bringt. „Alles ... Propaganda. Gehirnwäsche ist das, was sie da in Konoha praktizieren, von Kindesbeinen an. Eigentlich ... ja, eigentlich müssten Sie mir leid tun.“ Ihr Lachen klingt hysterisch. Sie wendet sich von Shintaro ab und nimmt das Mädchen an der Hand. „Komm mit nach drinnen.“ „Aber ich will doch ...!“ „Du musst Hausaufgaben machen, also komm schon!“ Sie zieht ihre Tochter davon, und Shintaro wendet sich wieder dem Unkraut zu und versucht, seine Wut zu schlucken. Diese Menschen spucken auf alles, was ihm heilig ist. Nach all der Zeit hat es noch nicht aufgehört, wehzutun. Gehirnwäsche, hat die Frau gesagt. Und wenn schon. Wäsche führt zu Sauberkeit, und Sauberkeit ist gut. Shintaro krallt die Finger in die Erde und bemerkt erst, dass er einen Stein umklammert, als der ihm die Handfläche aufgeschlitzt hat. * „Was hast du denn da gemacht?“ Besorgt sieht das Mädchen seinen linken Arm an. Er muss mehrfach gebrochen sein, Shintaro will nicht darüber nachdenken. Wortlos bemüht er sich, mit dem gesunden rechten Arm irgendwie den Abwasch zu erledigen. „Man sollte das verbinden. Und der Arm muss gerade sein.“ „Nicht nötig“, erwidert er knapp. Sie haben den Arm so gebunden, dass die Hand an seiner Schulter liegt. Platzsparend. „Soll ich dir helfen?“, fragt das Mädchen und tritt neben ihn an die Spüle. Shintaro sieht sie aus den Augenwinkeln an, und zum ersten Mal fällt ihm auf, dass sie ihm längst bis zur Schulter reicht und sich der Ansatz eines Busens unter ihrem Kleid abzeichnet. Wie die Zeit vergeht. „Dann bist du schneller fertig.“ Sie lächelt, ihre Augen leuchten, und er denkt an die leuchtenden Augen der drei Jungen, die er zurückgelassen hat. Wie es ihnen wohl geht? * Seine Verletzungen verheilen langsamer, seine Fluchtversuche werden seltener und seltener, und eines Nachts klappt es. Shintaro versteht nicht, wie das passieren konnte. Wie üblich hat er am Abend zuvor den Hunden Baldrian unter ihr Futter gemischt und sich gegen Mitternacht aus seinem Zimmer geschlichen. Kürzlich hat er beim Unkraut jäten ein neues Loch im Zaun entdeckt, groß genug, um hindurch zu kriechen. Seitdem müssen schon mindestens zwei Stunden vergangen sein, und noch immer hat ihn niemand eingeholt. Eigentlich sollten sie seine Flucht längst bemerkt haben. „Hokage sei Dank.“ Alles in ihm drängt weiter, fort von diesem verdammten Haus, aber er muss sich kurz an den Straßenrand setzen, weil er völlig erschöpft ist. Der Stock, den er als Krücke benutzt, wirkt schwer wie Blei und hat ihm die Handfläche wund gescheuert. Trotzdem muss er weiter, nach Konoha, bevor ihn doch noch jemand bemerkt. In Konoha ist er in Sicherheit. Er sitzt im feuchten Gras und betrachtet die Sterne. Schon lange hat er sie nicht mehr angesehen, aber er kann sie noch immer lesen. Sie sind wie alte Freunde, die ihm den Weg nach Hause weisen. Konoha liegt südlich von hier. Die breite Straße, auf der er sich befindet, scheint in die richtige Richtung zu führen. Einige Minuten lang sitzt er da, hin und her gerissen zwischen der friedlichen Nacht und seiner Erschöpfung auf der einen und seiner nagenden Angst auf der anderen Seite. Er will nie wieder zurück zu dem Haus, zu den Hunden, zu dem kleinen Mädchen. Stöhnend rappelt er sich wieder auf und setzt seinen Weg fort. Im Morgengrauen überholt ihn ein Wagen, der von einem dürren Esel gezogen wird. Der alte Mann auf dem Kutschbock scheint Shintaro für einen Landstreicher zu halten, bietet aber an, ihn ein Stück weit mitzunehmen. Shintaro zögert zuerst, aber da der Mann ihn nicht zu erkennen scheint und er mit den Kräften am Ende ist, nimmt er dankend an. Auf der mehrstündigen Fahrt nickt er einige Male ein. Sie wechseln kein Wort miteinander, und abends lässt Shintaro sich an einer Weggabelung absetzen. Er verbringt die Nacht unter einem Busch am Wegrand und schläft auf dem nassen Moos besser, als er in dem Haus je geschlafen hat. Als er erwacht, dämmert der Morgen gerade herauf. Sein Frühstück ist etwas Wasser aus einem Fluss, danach macht er sich wieder auf den Weg. Es ist ein unerträglich heißer Tag, die Haut in seinem Nacken schlägt bald Blasen vor Sonnenbrand. Sein linker Fuß protestiert gegen den ungewohnten Gewaltmarsch, seine Hand an der Krücke brennt, aber er schleppt sich weiter vorwärts. Seit mehr als dreißig Stunden hat er nichts mehr gegessen. Wenn er nicht weggelaufen wäre, würde er jetzt zu Mittag essen, das Mädchen würde ihm zum Nachtisch etwas Obst zustecken. Aber er konnte nicht bleiben. Er wird das Mädchen sehr schnell vergessen, wenn er erst einmal seine Schüler wieder hat. Und Mutter, wie wird sie sich freuen! Er muss zurück nach Konoha. Nach Hause. Gegen Nachmittag bricht er in einem Waldstück zusammen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)