Alcoholic von sissyphos (Farlan/ Levi; Erwin x Levi) ================================================================================ Kapitel 1: Admiral of the red ----------------------------- Die vergangenen zwei Jahre hatten ihn ausgelaugt. Zwei vollkommen verschwendete Jahre, die er ausschließlich der Arbeit im Recon Corps gewidmet hatte. Ausschließlich dem Ziel gewidmet hatte, irgendwann Rache an dem Mann zu üben, der für dieses beschissene Schicksal verantwortlich war. Doch dieser eine – der eine günstige Moment war nie gekommen und mit den verstreichenden Monaten wandelten sich schließlich auch... die gesetzten Prioritäten. Er war müde; war dem Ganzen so fürchterlich überdrüssig. Niemals wäre er freiwillig auf die wahnsinnige Idee gekommen, sein Leben dem Kampf gegen die Titanen zu widmen. Wofür kämpfte er also mit solcher Inbrunst? Das panische Wiehern eines Pferdes riss ihn aus seinen Gedanken. Blitzartig schnellte sein Kopf zur Seite; über die Schulter hinweg sah Levi das Pferd und seinen Reiter durch eine Unachtsamkeit aus der Ferne zu Boden gehen. Ohne auch nur einen Moment über seine Handlung nachzudenken, riss er instinktiv die Zügel herum; verlor das Ziel und seine Mission völlig aus den Augen; angetrieben von einer abscheulichen Vorahnung. Im Jagdgalopp preschte er über den Waldboden hinweg, umrundete geschickt die übrigen Reiter, die mit Scheuklappen vor den Augen ihren Anordnungen brav Folge leisteten und keinen Blick zurück riskierten, immer nur weiter geradeaus ritten. Man sah es ihren Gesichtern an, dass sie sich selbst an der Schwelle zum Tod stehen sahen – da war kein Raum für Mitleid oder Brüderlichkeit; nur für den egoistischen Gedanken: Zum Glück hat es nicht mich erwischt. Kein Verständnis für diese armselige Denkweise aufbringend, ritt Levi weiter. In dem Moment, als er in unmittelbare Reichweite gelangte, zog er die Füße aus den Steigbügeln und ließ die Zügel los. Fest entschlossen griff er zu den Waffen und betätigte in Sekundenschnelle die Knöpfe, um die Drahtseile hervorschießen zu lassen. Äußerst präzise schlugen sie in dem nahegelegenen Baumstamm ein, verhakten sich und just in diesem Moment, ließ Levi das Seil ruckartig wieder einrollen. Die gewaltige Kraft hob ihn nach oben aus dem Sattel heraus; zog ihn durch die Lüfte und im allerletzten Augenblick löste er die Haken, stieß sich mit beiden Füßen schwungvoll vom Stamm ab und visierte den nächsten, gegenüberliegenden Baumstamm an. In seiner Flugbahn befand sich das Ziel: Ein abnormaler Titan der Zehnmeterklasse, der den Reiter mehr zufällig in seinem Spurt erwischt hatte und nun zurück eilte, um seine bewusstlose Beute zu verspeisen. Schnell wie der Wind segelte Levi durch die Lüfte und ein einziger wohl platzierter Schnitt der Klingen genügte, um die Bestie zu Boden gehen zu lassen. Der Waldboden erzitterte unter der tödlichen Wucht. Ein einfaches Spiel – doch Levi wusste genau, dass er nicht viel Zeit hatte. Nur ein paar Minuten, bis voraussichtlich mehr als zehn von ihnen hier sein würden - mehr als zehn abscheulich entstellte Fratzen, die ihn aus allen Richtungen anstarrten; ihn verhöhnten und ihm nach dem Leben trachteten. Wenn es so käme, wüsste er nicht, ob er es mit allen gleichzeitig aufnehmen könnte, ohne dabei Farlans Leben in erhebliche Gefahr zu bringen. Mit einem geschickten Satz sprang er hinab, hatte endlich wieder festen Boden unter den Füßen und eilte seinem Freund zu Hilfe. Je näher er ihm kam, desto stärker drang ihm der wohlbekannte Gestank von Blut in die Nase. Levi verzog leicht das Gesicht, zögerte jedoch nicht und drehte Farlan auf die andere Seite, aus der langsam, aber stetig das Blut sickerte. Die Wunde war tief, allerdings nicht unbedingt tödlich. Sie verlief über die komplette Außenseite seines Oberschenkels. Offensichtlich war er unglücklich gestürzt und hatte sich das Bein an einem spitzen Gegenstand -  etwa einem Stein oder Ast - aufgerissen. Levi blinzelte. Er hatte nicht die Zeit, um weiter darüber nachzudenken. Das Einzige, was jetzt zählte war, Farlan von hier wegzuschaffen. Hastig schätzte Levi seine Möglichkeiten ab. Das Vibrieren der Erde wurde zunehmend heftiger. Verdammte Scheiße, er hatte keine Zeit! Aus der Ferne hörte er erst einen, dann mehrere Schreie. Das Blut pumpte wie aufgescheucht durch seine Venen. Ruhe bewahren, um Himmels willen, er musste jetzt verdammt nochmal Ruhe bewahren! »Behalt einen kühlen Kopf! Sonst ist es aus mit euch!«, ermahnte er sich selbst in Gedanken. Tief atmete er durch, tastete seinen eigenen Körper ab. Er hatte kein Seil dabei, um Farlan irgendwie auf seinem Rücken festzubinden, damit sie gemeinsam mit dem Manöver-Gear abhauen konnten. Scheiße. Wieder ein Schrei. Levi schoss sein pulsierendes Blut bis in den Kopf hinauf. Die Geräusche in seiner Umgebung wurden plötzlich wie durch Watte gedämpft; er hörte nur noch seinen eigenen, unruhigen Herzschlag. Kurzentschlossen hievte er Farlan nach oben, legte dessen Arm um seine eigene Schulter und versuchte, ihn zu stützen. Es war unmöglich, ihn auf diesem Weg durch die Lüfte zu transportieren; zu schwer, zu unhandlich, insgesamt zu riskant. Er musste den Weg des Freiwilds wählen oder aber Farlan zurücklassen. Dass das Letzte sowieso keine Option für ihn war, war ihm bewusst. Entweder, sie fanden beide einen Ausweg aus diesem Dilemma oder keiner von ihnen. Einen weiteren Verlust würde er nicht verkraften. Während Farlans Atem zunehmend schwächer wurde, schleifte Levi ihn mit schweren Atemzügen und Schweißperlen auf der Stirn über den Waldboden hinweg. Immer von dem stetigen Beben begleitet, das seine Füße erzittern ließ. Er war auf der Suche nach einem Unterschlupf – irgendetwas, das sie vor den Blicken der Titanen schützte - oder eintreffender Verstärkung... Verstärkung – eine kümmerliche Hoffnung wie ihm die andauernden Schreie im Hintergrund bestätigten. Die Angst, jeden Moment die gigantischen, starren Augen eines Titanen sichten zu können, der sie wie eine Puppe mit abartiger Grimasse durch das Dickicht hindurch beobachtete, saß ihm tief im Nacken. In einem solchen Fall müsste er Farlans Leben seinem Schicksal überlassen und blind darauf vertrauen, dass er das Monstrum schnell genug zur Strecke bringen konnte. Plötzlich stöhnte Farlan; hustete ein äußerst beunruhigendes Husten. Levis Blick schoss in seine Richtung. Spuckte er Blut? - Nein, er kam nur zu sich. Zumindest das war ein gutes Zeichen, nicht wahr? Von neuer Energie geflutet, erhöhte er ihr Schritttempo, sichtete endlich die nahe Rettung: Ein Felsvorsprung, unter dem sich ein kleines Schlupfloch bildete. Zwar handelte es sich nicht um eine ausgebaute Höhle, aber es genügte doch, um Zuflucht in dem dunklen Schatten zu finden, der einen von den gierigen Blicken der Feinde abschirmte. »Levi...«, krächzte Farlan mit heiserer Stimme. »Halt die Klappe«, murrte Levi sofort; nur ihr Ziel vor Augen. Er wollte, dass Farlan seine wenigen verbliebenen Kräfte aufsparte. Niemand wusste wie lange es dauern mochte, bis man sie fand. Wenn man sie überhaupt fand, bevor es eine Horde Titanen tat. Mit letzter Körperspannung achtete Levi darauf, seinen Freund vorsichtig abzusetzen, seinen Rücken langsam gegen die Steinwand zu lehnen. Auf sich selbst nahm er keinerlei Rücksicht; krachend ließ er sich neben Farlan zu Boden fallen. Es waren ein paar anstrengende letzte Tage gewesen. Er gönnte sich einen einzigen kurzen Moment der Ruhe, in dem er den Kopf in den Nacken legte und die Kälte des Gesteins genoss, das seine Körperhitze ein wenig abkühlte. Der langsam herablaufende Schweiß hinterließ ein abartiges Gefühl auf seiner Haut, doch selbst darauf konnte er unter den momentanen Umständen keinerlei Rücksicht nehmen. Noch immer lief ihm die Zeit davon. Ein blasses Gesicht sah in seines, als er den Kopf herumdrehte. Farlan musterte ihn aus zu Schlitzen verengten Augen, lächelte plötzlich. »Wofür... die ganze Mühe?«, presste er hervor. Levi schenkte seiner Frage kein Gehör. Entschlossen beugte er sich vor und untersuchte die Verletzung genauer. Noch immer floss Blut – er brauchte dringend irgendetwas, um die Blutung zu stoppen. Irgendetwas, das... Schnell löste er den Umhang von seinen Schultern, zog ein kleines Messer, das in einem Beutel an seiner Hüfte ruhte und schnitt einen dicken, langen Streifen davon ab. Vorsichtig hob er Farlans verletztes Bein an; doch all die Vorsicht nützte nichts; sie linderte den Schmerz nicht – Farlan schrie auf, dabei hatte Levi die eigentliche Wunde nicht einmal berührt. Ruckartig hielt er dem Verletzten eine Hand vor den Mund, erkundete augenblicklich die Umgebung nach Feinden, die seinen Schrei gehört haben könnten. Doch es blieb still. Kein Anzeichen, dass sie entdeckt worden waren. »Du musst still sein, Farlan«, tadelte Levi; auch wenn er ehrliches Mitleid für seinen Freund empfand. Er ging momentan durch die Hölle. Nur änderte das nichts an ihrer Situation; es half Farlan nicht im Geringsten dabei, die nächsten Handgriffe mit Würde zu tragen, also schenkte Levi es sich ganz einfach, ihn mitleidig zu behandeln. Stattdessen schnitt er einen weiteren Streifen aus seinem Umhang heraus, faltete ihn ein paar Mal zu einem dickeren Stück Stoff und hielt Farlan den Strang vor den Mund. »Hier, beiß darauf«, sagte Levi und schob den grünen Stoff in Farlans Mund hinein, der sich nur langsam und unter höchster Konzentration zu öffnen schien. Durch Levis Finger fuhr ein unbändiges Zittern, als er den selbstgemachten Verband zur Hand nahm. Alle Konzentration nützte nichts; seine Hände gehorchten ihm nicht, hörten nicht auf wie durch Eiseskälte zu erschaudern. Mit zusammengebissenen Zähnen holte er das kleine Fläschchen hervor, das sich neben dem Messer ebenfalls an seinem Gürtel fand. Er selbst nahm einen tiefen Schluck von der beißenden Flüssigkeit, die umgehend sein Innerstes mit Wärme durchflutete und verteilte gut die Hälfte des Inhalts zur Desinfektion auf Farlans Wunde. Den Rest würde er später noch dringend benötigen. Stöhnend und mit gedämpften Schreien zuckte sein Freund unter dem brennenden Schmerz zusammen. Levi hielt sein Bein am Unterschenkel an Ort und Stelle; gab ihm einen Moment, um sich zu beruhigenden. Farlans Atem ging stoßweise; schnappartig zog er die Luft durch die Nase in seine Lungen. Er zitterte und Tränen brannten in seinen Augenwinkeln. Tröstlich streichelte Levi den blutverschmierten Stoff an Farlans Unterschenkel. Tief atmete er noch ein letztes Mal ein und aus. »Es geht los, Farlan«, kündigte er an, hob das verletzte Bein und schob stützend sein eigenes Knie in dessen Kniekehle. Fest wickelte er den zurechtgeschnittenen Verband um die blutige Wunde. Levi versuchte, das Schluchzen und Schreien seines Freundes komplett auszublenden; sich nur auf seine Arbeit zu konzentrieren, doch es fiel ihm sichtlich schwer. Das Zittern in seinen Händen wurde wieder heftiger. Verdammte Scheiße, warum ausgerechnet jetzt? Warum konnte er selbst in entscheidenden Momenten keine Professionalität wahren? Er zurrte die beiden Enden des Stoffs noch einmal fest und verknotete sie dann miteinander. Sinnlos - es dauerte nur Sekunden, bis das Blut durch den improvisierten Verband drang. Wohl wissend, welches Schicksal Farlan bevorstand, wenn nicht bald Hilfe eintraf, nahm er ihm den Strang aus dem Mund, legte brüderlich die Hand in seinen Nacken und sagte: »Das wird wieder. Du schaffst das.« Das Lächeln, das sich in den darauffolgenden Sekunden auf Farlans Gesicht ausbreitete, schnitt eine tiefe Wunde in Levis Herz und die Worte, die er dazu aus sich herauspresste, sorgten dafür, dass sie eine lange, lange Zeit nicht verheilen würde: »Levi, du... warst noch nie«, er rang nach Luft, »ein besonders guter... Geschichtenerzähler.« Es waren nicht nur nüchterne, sondern auch wissende und endgültige Worte, die glasklar bekundeten, dass er sich längst mit seinem eigenen Tod abgefunden hatte. Der junge Mann antwortete nichts darauf, legte nur schützend den Arm um seine Schulter und zog ihn nah zu sich heran, als könne er dadurch jegliches Unheil von ihm abhalten. Gemeinsam lehnten sie an dem kalten Gestein und warteten auf ein Wunder, das die Geschichte neu schreiben könnte. Die Zeit zog gnadenlos und unbekümmert an ihnen vorbei; verrannte nicht wie im Flug, sondern mit schleichender Verwesung und mit jeder weiteren Stunde wurde Farlans Atem schwächer. Mit jeder Stunde schwand Levis Hoffnung auf nahende Rettung ein wenig mehr, bis mit eintreffender Dunkelheit nichts mehr von ihr übrig war. Abwesend fuhr er mit den Fingern durch Farlans Haar, streichelte mit den Fingerkuppen seine Kopfhaut. Levi war nicht imstande die Kälte zu bemerken, die der getrocknete Schweiß durch seinen Körper jagte. Da war sie – die eisige Herbstkälte, die seinen Körper zum Erschaudern brachte. »Sag, Levi«, begann Farlan leise; kraftlos. Seine Stimme war nur noch ein Hauchen und doch – er fand noch immer die Kraft zum Sprechen. Es war beeindruckend wie lange dieser Körper dem Drang nach dem endlosen, tiefen Schlaf widerstehen konnte. »... war ich... nützlich?« Augenblicklich drückte er ihn wieder ein wenig stärker an sich heran. »Du bist nützlich, Farlan«, betonte Levi. »Du hast unzählbar viele Titanen erlegt und es werden in Zukunft noch mehr werden, glaub mir«, erzählte Levi; mehr um sich selbst zu beruhigen; um den Drang zu schreien noch ein klein wenig unterdrücken zu können. Für ein paar Minuten erlangte die Stille die Oberhand über sie zurück. »Glaubst du... an etwas... danach?«, fragte Farlan schließlich und Levi wusste sofort, worauf er hinaus wollte. Sein ganzes Leben lang war Levi kein gläubiger Mensch gewesen; er verachtete die Kirche und all ihre Anhänger, doch jetzt... Er musste die richtigen Worte finden. Nur einmal. »Keine Sorge, du wirst dahin gehen, wo auch Isabel ist«, drückte er schweren Herzens hervor und hielt die Luft an. Er wollte nicht darüber nachdenken. Darüber, dass Isabel erst vor knapp vier Monaten einem Titanen erlegen war und dass nun auch Farlan so kurz davor stand für immer von ihm zu gehen. »Klingt gut«, flüsterte Farlan und schloss die Augen. »Und ihr...«, setzte er noch einmal an, »werdet irgendwann... die Menschheit... aus ihrem Gefängnis... befreien.« »Gemeinsam.« Das war das letzte Mal, dass Farlan vor Levi die Stimme erhob. Danach war es nur noch Levi, der von Zeit zu Zeit das Bedürfnis verspürte, diese erdrückende Stille zu durchbrechen und über die Vergangenheit und Zukunft zu sinnieren. Er sprach über nichts Weltbewegendes; nichts Wichtiges; er wollte nur den Gedanken verdrängen, dass er letzten Endes – egal wie er es drehte und wendete – Selbstgespräche führte. Bis in die frühen Morgenstunden; bis die Kälte der Nacht verschwand und sich der blutrote Himmel vor ihm auftat, ließ Levi von dem kalten, starren Körper seines Freundes nicht ab; hielt ihn fest, ohne sich selbst nur eine Sekunde des Schlafes zu gönnen. Seine Augen schmerzten vor Müdigkeit und doch hielt er weiterhin Wache, lauschte dem Singen der letzten Vögel und beobachtete das Sonnenlicht, das bis vor seine Füße drang. Es dauerte weitere Stunden, bis Levi das plötzlich so wohlige Geräusch von Hufgetrampel in die Ohren drang. Das Geräusch kam immer näher – offensichtlich folgten sie Farlans hinterlassener Blutspur. »Hier drüben!«, brüllte eine äußerst vertraute Stimme. Mehrere Pferde kamen gleichzeitig zum Stehen, doch Levi konnte nichts Genaues erkennen. Der Felsvorsprung versperrte ihm die Sicht auf ihre Oberkörper. Eine der Personen kam schnellen Schritts immer näher. Sie ging vor dem Felsvorsprung auf ein Knie und das Erste, was Levi sah, war das leuchtende Blau seiner Augen. Sie funkelten ihm entgegen und auf Kommandant Smiths Gesicht verschaffte sich Erleichterung Platz – dazu ein unpassendes Lächeln -, als er bemerkte, dass es sich nicht um Levis Blut handelte. Dass nicht er tot in Farlans Armen lag. »Wir brauchen hier Hilfe«, rief er über die Schulter hinweg und ein paar Männer eilten ihm zügig und unverzüglich zu Hilfe, lösten Farlans Leichnam aus Levis starrem Griff und schleppten ihn fort. Der Kommandant kümmerte sich eigenhändig um seinen verstörten Schützling, zog ihn mit behutsamer Kraft aus diesem Drecksloch heraus, in dem er die Nacht verbracht hatte. Levi war geistig vollkommen abwesend; er reagierte in keinster Weise auf die liebevollen, besorgten Worte, die ihm Erwin mit erstickter Stimme ins Ohr flüsterte: »Ich hatte Angst um dich, Levi. Wirklich. Du bist mein bester Mann.« [...] Nur einen Tag später – am Abend nach der Beerdigung der Gefallenen – streifte Erwin Smith durch die finsteren Gänge des Hauptquartiers, auf dem Weg zu Levis Einzelzimmer. Nach diesem Ereignis hatte sich der junge Rekrut einigen Untersuchungen beugen müssen, die allesamt nur die Diagnose eines schweren Schockzustands stellten, den er durch eine ausgiebige Pause, ein paar ›therapeutische‹ Gespräche und viel Ruhe bekämpfen solle. Erwins schwere Stiefel hallten innerhalb der Wände wider, kündigten sein Erscheinen für Levi bereits im Voraus an. Seine guten Manieren verbaten es ihm jedoch, ohne klare Einwilligung einfach einzutreten. Also klopfte er an die Tür und wartete. Ungeduldig, aber er wartete. »Herein«, murrte eine Stimme aus dem Inneren, deren Tonfall eigentlich nur die Vorahnung bestätigte, dass er momentan keinen Besuch empfangen wollte. Doch davon ließ Erwin sich längst nicht mehr beirren. Ansonsten würden vermutlich überhaupt keine Gespräche zwischen ihnen zustande kommen. Kurzentschlossen trat er ein. Die einzige Lichtquelle im Raum war eine kleine Öllampe, die auf einem rundlichen, winzigen Tisch in der hintersten Ecke stand und ihr angenehmes, gedämpftes Licht ausstrahlte. Die braunen Vorhänge waren zugezogen und inmitten des Zimmers stand ein weiterer, größerer Tisch mit zwei Stühlen.  Auf einem von ihnen saß Levi. Erwin betrachtete das Bild, das sich ihm bot, genauer; eindringlich und abschätzend. Der junge Mann hatte sich nach hinten gelehnt; ein Arm hing lässig hinter der Lehne und die Beine hielt er übereinandergeschlagen. Insgesamt war seine Haltung beunruhigend ausgeglichen. Erwins Blick schweifte über die zwei Flaschen Wein, die vor ihm auf dem Tisch standen, von denen eine bereits halb geleert war, weiter über das randvolle purpurrote Glas, das er in der rechten Hand hielt. Levi schwenkte es leicht hin und her. Nur ganz leicht, sonst hätte er die Hälfte verschüttet. Für einen Augenblick schloss Erwin die Augen; ordnete seine Gedanken und die Worte, die er Levi sagen wollte. Wägte noch einmal seine Möglichkeiten ab und dachte daran, warum er eigentlich hier war. »Wie geht es dir?«, fragte er mit besorgtem Blick, nahm bei diesen Worten neben Levi auf der Tischkante Platz. Momentan war er zu unruhig und zu aufgewühlt, um sich wie Levi seelenruhig auf einen Stuhl zu lümmeln. Nachdem er sich einen tiefen Schluck von seinem alkoholischen Getränk genehmigt hatte, stellte Levi die Gegenfrage: »Was glaubst du wohl, Erwin?« Dem Kommandanten lief ein wohliger Schauer über den Rücken, als er ihn so ungeniert beim Vornamen nannte. Normalerweise pflegte Levi eine professionelle Distanz, nur in diesen seltenen Momenten vergaß er seine eigenen guten Vorsätze und ließ... ausnahmsweise seinen Gefühlen freien Lauf. Stellte unter Beweis, dass tief in ihm doch ein normaler Mensch verborgen lag, der unter dem Verlust eines Freundes litt und irgendwie damit fertig werden musste. Es waren Momente wie diese, die Erwin Smith besonders genoss. Die Momente, wenn Levis steinharte, undurchlässige Maskerade auf einmal bröckelte. »Ich glaube, dass du die letzte Nacht kein Auge zugetan hast und es auch die nächsten Nächte nicht tun wirst«, antwortete er. »Weil du sehr streng mit dir selbst bist, Levi.« Erwin suchte seinen Blick. Levi wich seinem Vorgesetzten nicht aus; er erwiderte den intensiven Blickkontakt; stellte die tiefen Augenringe in all ihrer erschreckenden Pracht zur Schau. Seine Fingerspitzen tippten ungeduldig auf der Tischplatte herum; bildeten momentan den einzigen Kontrast zu seinem ansonsten so übertrieben ruhigen Gemüt. Der junge Mann nahm noch einen Schluck; senkte kurz die schweren Augenlider und der Anflug eines Lächelns huschte über seine Lippen. Er stellte das Glas auf dem Tisch ab. Nachdenklich und ausharrend ließ Erwin ein wenig Zeit verstreichen; wartete auf irgendeine Äußerung; eine Frage – irgendetwas; dann sagte er: »Ich bin froh, dass es nicht dich erwischt hat, Levi.« Großzügig schenkte er ihm Wein nach und beobachtete dabei Levis Blick, der sich in Sekundenschnelle um ein beunruhigendes Ausmaß verfinsterte. »Dein Verlust wäre eine Tragödie gewesen«, fügte er hinzu. Kaum gesprochen, griff Levi ruckartig wieder nach dem Glas; leerte es bis zur Hälfte in einem Zug. »Für uns alle.« »Du weißt, wie hoch unsere Verluste derzeit sind, aber deiner... wäre gleich dem Verlust einer Armee von hundert Mann gewesen«, erklärte Erwin mit einem tiefen Seufzen. Er wusste, dass Levis Geduld an einem seidenen Faden hing. Er machte es anhand seiner zittrigen Finger, seines starren, wütenden Blickes; eigentlich anhand seiner gesamten Körpersprache aus. Ganz bewusst bohrte er weiter, um seine aufgestauten, unterdrückten Aggressionen an die Oberfläche zu kitzeln. »Ich weiß, dass dir Isabels und Farlans Tod am Arsch vorbeigehen, Erwin«, erwiderte Levi mit zusammengebissenen Zähnen. Seine Finger verkrampften sich um den Bauch des Glases. Er suchte Halt an etwas Greifbarem. »Objektiv betrachtet sind sie nicht relevant, das ist richtig. Sie sind weder für mich noch für den Recon Corps von besonderer Bedeutung«, bestätigte er. Erwins Stimme und seine Worte waren eiskalt und berechnend – geschäftlich; weit abseits von einer persönlichen, emotionalen Ebene. »Sie sind nur deshalb relevant, weil sie dich belasten«, er sah mehr beiläufig zu der angebrochenen Weinflasche, »Aus dem Grund bin ich hier... Um dir zu helfen, damit du möglichst schnell wieder einsatzfähig bist.« Angewidert wandte Levi den Blick ab; richtete ihn auf den dunklen Inhalt der Flasche. »Die Ärzte sind der Meinung, zu viel Einsamkeit wäre in deinem Zustand und für eine schnelle Genesung nicht gerade förderlich.« Dieser letzte Satz sorgte für Schweigen. Ein paar Minuten lang beobachtete der Kommandant den anderen nur dabei wie das wilde, wütende Flackern langsam aus seinem Blick verschwand und etwas Anderem; etwas Niedergeschlagenem und Bedrücktem wich. Er beobachtete ihn dabei wie er den Flascheninhalt weiter dezimierte und wie sein Körper im selben Zug immer weiter an Spannung verlor, bis er letztendlich in vorgebeugter Haltung am Tisch saß und das Glas fest umschlungen in beiden Händen hielt. Die ganze Zeit über schien Levi mit sich selbst zu kämpfen; damit, in welche Richtung er dieses Gespräch lenken sollte. Verflucht, diese niederschmetternde Reaktion; diese bedrückende Stille war absolut nicht Erwins Ziel gewesen. Gerade in dem Moment als Erwin beschloss, der Schweigsamkeit ein Ende zu bereiten, ergriff Levi überraschenderweise das Wort und das, was er sagte, war umso überraschender: »Bleibst du heute Nacht?« Es war nur ein Flüstern; doch nicht einfach irgendeins. Es war ein Flüstern, das nicht nur Erwins Ohren erreichte. Dieses Flüstern... Es war schon fast... eine Art zärtliche Bitte. Der Kommandant musterte Levi eindringlich. Sein Schützling sah nicht auf; verhielt sich nicht wie erhofft und die Haarsträhnen, die ihm ins Gesicht fielen, verhinderten gleichzeitig jeglichen Blick in seine Augen. Erwin seufzte. Was für ein leidiges Thema – es wäre nicht das erste Mal, dass sie die Nacht miteinander verbrachten. Vor etwa vier Monaten – genau genommen am Tag nach Isabels Tod – hatten diese Ausrutscher begonnen. Nichts, was Erwin als Mensch, als Mann wirklich bereute; nur in seiner Position – als Kommandant... Nun ja, es war einfach schwierig. Die Tatsache, dass Levi in diesem Moment jeglicher Konfrontation auswich; ihm nicht ins Gesicht sah, sprach ganze Bände über seine derzeitige Verfassung. Darüber, wie schwer es ihm fallen musste, überhaupt eine solche Bitte zu äußern. Zuzugeben, dass er mit dem ganzen Mist auf Dauer nicht alleine fertig wurde; dass er Hilfe brauchte und Halt suchte. Ausgerechnet bei Erwin. »Ich denke, das wäre momentan keine gute Idee.« Erwin lehnte ihn zwar nur schweren Herzens, aber doch sehr bestimmt ab. Der Tonfall in seiner Stimme ließ eigentlich keine Widerrede zu und doch griff Levi sein Glas auf einmal wieder fester. Mit einem Mal drehte er den Kopf und sah ihm direkt in die Augen. Levis Blick war wütend; sein unpassendes Grinsen dabei gehässig. »Bist du dir sicher? Es könnte immerhin das letzte Mal sein«, zischte er und der Schmerz stand ihm trotz des offensiven Angriffs ins Gesicht geschrieben. »Ich meine, wer garantiert dir, dass wir die nächste Mission beide überleben?«, fuhr Levi fort. »Wer, Erwin, garantiert dir, dass wir nicht zu arm- oder beinlosen Krüppeln werden?«, knurrte er. Der junge Mann redete sich selbst in Rage und allmählich sprach auch der Alkohol aus ihm. »Wie kannst du dir so verdammt sicher sein, dass nichts Unverhofftes passiert, Erwin? Dass alles ewig so weiterläuft wie bisher?« »Ich bin mir nicht sicher«, warf Erwin ein, doch Levi überhörte es ganz einfach. »Woher willst du überhaupt wissen, dass ich nicht langsam die Schnauze voll habe?« Die ganze aufgestaute Wut platzte endlich aus Levi heraus; Erwin bekam das, was er wollte und er bekam die volle Bandbreite. »Ich sage dir jetzt mal was, Erwin«, grummelte Levi und ihre Blicke lieferten sich einen wilden Schlagabtausch. »Ich habe es satt. Ich habe es so verdammt satt, alle um mich herum sterben zu sehen. Sie für nichts  und wieder nichts sterben zu sehen! Weißt du, was mich Farlan kurz vor seinem Tod gefragt hat? Ich werde es dir verraten, Erwin. Farlan hat mich in seinen letzten Minuten gefragt, ob er nützlich war – verdammte Scheiße, ich musste ihn anlügen! Das, was er geleistet hat, war doch nicht mehr als ein Tropfen auf einem heißen Stein! So wie die gesamte Arbeit des Recon Corps«, tobte Levi drauf los; gestikulierte sogar wild mit den Händen, während die Schatten sein Gesicht in ein düsteres Licht tauchten. »Ihr redet ihnen ein, sie seien etwas Wichtiges – ein Teil von einer großartigen, glorreichen Mission, um die Menschheit vor ihrer Zerstörung zu retten. Das ist alles Müll, Erwin. Du weißt es genauso gut wie ich. Es ist nichts weiter, als dreckiges Gelaber. Was haben wir denn in den vergangenen zwei Jahren erreicht? Rein gar nichts! Nichts haben wir erreicht! Ihr tüftelt jahrelang an euren nutzlosen Waffen herum und entwickelt noch nutzlosere Pläne, die nichts als Opfer fordern«, zischte er und sein Gesichtsausdruck ließ erahnen, dass er Erwin am liebsten vor die Füße gespuckt hätte. »Das ist ein beschissenes Himmelfahrtskommando«, sagte er kühl und kippte den Rest von seinem Wein runter. »Ich habe keine Lust mehr, meine Kameraden in den sicheren Tod zu führen. Ich mache da nicht mehr länger mit«, stellte er klar und in diesem Moment, mit diesem letzten Satz, wich die ausgeglichene, stets ruhige Ader aus Erwins Körper. Um ein Haar wäre eine der beiden Flaschen umgeknallt, als er mit der flachen Hand auf den Tisch schlug. »Genug!«, brüllte Erwin so kräftig, dass es einem allein bei dem Klang seiner aufgebrachten Stimme durch Mark und Bein fuhr. Nun war es an ihm, seine Meinung über alles und jeden endlich einmal klar zum Ausdruck zu bringen; die politisch korrekte und demokratische Maske einmal beiseite zu legen und ihn sprechen zu lassen. »Offensichtlich hast du in den vergangenen zwei Jahren überhaupt nichts dazu gelernt, Levi!«, schrie Erwin. »Du bist immer noch der gleiche engstirnige Bastard, den ich damals von der Straße geholt habe.« »Ich habe dich nicht darum gebeten«, zischte Levi. Vor lauter Wut packte Erwin ihn am Saum seines Pullovers, zog ihn leicht zu sich nach oben. »Nein, du hättest lieber dein Talent für deine niederen Ziele vergeudet, anstatt einen Teil dazu beizutragen, das Fortbestehen der Menschheit zu sichern«, presste er hinter zusammengebissenen Zähnen hervor. »Was warst du denn auf der Straße? Nichts als dreckiger Abschaum, der kein Bisschen für die Gesellschaft getan hat.« »Ich war es, der dir ein Ziel gegeben hat. Ich habe dir die Chance gegeben, noch einmal von vorne anzufangen. Ich habe deiner Existenz überhaupt erst einen höheren Sinn verpasst. Vergiss das nicht«, zischte Erwin und ließ wieder von Levi ab. Mit einem dumpfen Klang fiel dieser zurück auf seinen Stuhl; musterte seinen Vorgesetzten weiterhin mit ernster Miene und ohne zu blinzeln. »Und anstatt etwas aus meinem Geschenk zu machen, deinen Schmerz über den Tod deiner Freunde als Antrieb zu nehmen, verbarrikadierst du dich von der Außenwelt, willst einfach alles hinschmeißen! So einfach ist das nicht, Levi! Nicht für dich! Die Hoffnung aller Menschen hängt an deinen Entscheidungen; an deinen Taten! Du bist ihre stärkste Waffe und willst einfach alles wegwerfen, wofür wir so hart kämpfen, nur weil du ein paar Verluste verkraften musst?«, tobte Erwin und baute sich in voller Größe vor dem unbeeindruckten Levi auf. »Wir alle müssen Opfer bringen und ich werde nicht zulassen, dass dein Sturkopf die Hoffnungen der Menschen zerschlägt.« Sein Blick verfinsterte sich auf Levis Niveau. Provokant griff Erwin nach der Flasche Wein und füllte das Glas randvoll. Ein paar Tropfen gingen daneben; wirkten auf dem dunklen Holz wie vergossenes Blut. Das war seine abschließende Geste, die Levi hoffentlich im Kopf bleiben würde. Der Kommandant machte auf der Stelle kehrt, bereit zu gehen. »Das ist nicht das Verhalten eines Helden«, stellte er fest. Dieses Mal weniger angriffslustig; eher nüchtern. Nach diesem Satz verließ er den Raum und just in dem Moment, als er die Tür schloss, zerschellte direkt hinter ihm ein Glas. Er hörte die Splitter zu Boden gehen. Erwin seufzte und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Er hatte komplett die Beherrschung verloren. Aber es war... ein seltsam befreiendes Gefühl. Es tat ihm gut loszulassen. Ein einziger Blick über die Schulter genügte, um seiner Euphorie einen Dämpfer zu verpassen. Hinter dieser Tür saß Levi; wütend und frustriert. Ein Umstand, an dem Erwin sicherlich nicht ganz unschuldig war. Levi hatte regelrecht nach Hilfe geschrien, sich Erwin mit jedem Satz mehr geöffnet und ihm seine ganz geheimen Gedanken mitgeteilt, nur um... dafür von seinem Kommandanten in Grund und Boden gestampft zu werden. Vermutlich hatte er alles falsch gemacht, was er nur falsch machen konnte, nicht wahr? Fehler – sie passierten Erwin Smith nur äußerst selten auf offenem Feld; bei der Arbeit – forderten jedes Mal ein entsprechend hohes Opfer -, dafür widerfuhren sie ihm umso häufiger, wenn es um zwischenmenschliche Beziehungen ging. Hiervon hing nun einmal nicht die Zukunft und das Leben seiner Soldaten ab. Im Hinblick auf das große Ganze handelte es sich dabei um nichts weiter als Nebensächlichkeiten. Oftmals waren Beziehungen in entscheidenden Situationen keine Hilfe, sondern eher ein Hindernis. Obwohl – vielleicht täuschte er sich. Vielleicht betrachtete er diese Problematik mit Levi ein wenig zu oberflächlich. Kopfschüttelnd und mit trübseligem Blick setzte Erwin seine müden Füße in Bewegung. Momentan hatte es keinen Sinn, noch einmal das Gespräch mit Levi zu suchen. Bevor er sich weiter mit den Problemen seines Schützlings befassen konnte, musste er sich erst einmal um seine eigenen Sorgen kümmern. Daran führte kein Weg vorbei. [...] Zwei Stunden waren seit ihrem Gespräch vergangen, als Erwin erneut vor Levis Zimmertür stand. In seinem eigenen Büro hatte er genug Zeit gefunden, über sein kürzliches Verhalten nachzudenken und hatte beschlossen, dass es klug wäre, einmal nach Levi zu sehen. Er klopfte zweimal an und als keine Antwort folgte, erlangte die Sorge um seinen Schützling die Oberhand über sein gutes Benehmen. Erwin öffnete vorsichtig die Tür und schob dabei klirrend die Scherben zur Seite. Der Geruch von Alkohol zog ihm sofort in die Nase. Sein Blick wanderte vom purpurroten Boden direkt zum Tisch, an dem Levi noch immer saß. Inzwischen hatte er beide Arme gekreuzt auf dem Tisch abgelegt und seinen Kopf darauf gebettet. Er schlief. Erwin trat näher an ihn heran und musterte die zwei vollständig geleerten Weinflaschen. Ganz leicht fuhr er mit den Fingerspitzen durch Levis Haar, berührte mit der Rückseite seiner Finger sanft die deutlich erhitzte Wange. »Ich bin ein schrecklicher Mensch«, flüsterte er und strich dem Schlafenden ein paar Strähnen aus dem Gesicht. Mit betrübtem Blick betrachtete er das traurige Ergebnis seiner exzellenten Idee; nahm mitleidig seine geschwollenen Augen zur Kenntnis. Offensichtlich hatte dieser Streit Levi nicht das Gleiche gebracht, was er bei Erwin auslöste.   »Aber es ist besser so«, sprach Erwin ganz leise. »Es ist besser, wenn du dich nicht zu sehr auf mich einlässt. Lieber bin ich für dich der kaltherzige Kommandant, als der Mann zu sein, der deine Tränen trocknet.« Ernüchtert zog Erwin seine Hand zurück, nahm vom vollkommen unberührten Bett eine Wolldecke und legte sie um Levis Schultern. »Weil ich dir nicht garantieren kann, dass ich immer an deiner Seite sein werde. Wir wissen beide nicht, was die Zukunft bringt. Auch, wenn ich mir natürlich wünsche, dass wir gemeinsam den Tag erleben, an dem diese Mauern nicht mehr nötig sein werden.« »Ich wünsche mir nichts sehnlicher«, sagte er mehr zu sich selbst und sog den Anblick von Levis schlafendem Gesicht nahezu in sich auf. Es vergingen gefühlte Ewigkeiten, bis Erwin die Kontrolle über seinen Körper zurückerlangte. Ganz langsam, Schritt für Schritt, entfernte er sich von seiner tödlichsten Waffe; seinem besten Mann; seiner liebsten und gefährlichsten Gesellschaft. Es war zwecklos. Allein Levis Anblick besaß genügend Anziehungskraft, um ihn zum Tisch zurückzulotsen und nur wenige Atemzüge neben ihm zum Stehen zu kommen. Ganz vorsichtig schob Erwin die wärmende Decke ein Stück zurück und schenkte dem freigelegten Nacken ein wenig mehr Aufmerksamkeit, als er ihm eigentlich zukommen lassen sollte. Gedankenlos beugte er sich hinab und berührte mit den Lippen liebevoll die nackte Haut; küsste sich ein paar Zentimeter an ihr hinauf. Vor Erwin tanzten verblasste Bilder der vergangenen Wochen; jetzt wieder in hellem Licht und glasklar. Er erinnerte sich daran, was er berührt und bekommen hatte; dachte daran, was heute Nacht wieder ihm hätte gehören können. Ein Gedanke, der den Körper eines ausgehungerten Mannes nicht gänzlich unberührt ließ. Erwin wandte sich mit einem fassungslosen Kopfschütteln ab. Er hatte eine Entscheidung getroffen. Genug mit diesen Fantasien – zum Teufel mit ihnen. Die Zeit war gekommen, alles Intime zwischen ihnen in eine Schublade zu stopfen, sie zu verschließen, den Schlüssel in einen reißenden Fluss zu werfen und ihren Inhalt möglichst schnell zu vergessen. Mit einem letzten Blick auf den Mann, der für ihn – egal, wie er es drehte und wendete - von Anfang an einen deutlich höheren Stellenwert als den eines bloßen Mittels zum Zweck genossen hatte, löschte er die kleine Öllampe und gab ein letztes Versprechen an die Dunkelheit: »Es wird der Tag kommen, an dem dir meine Kraft die Stärke von hundertsiebzig Männern verleihen wird.« »Die Rettung der Menschheit ist und bleibt das einzige Ziel, das uns beide bis in den Tod miteinander verbindet.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)