Der Prinz mit den sturmgrauen Augen von Anaire (Maedhros, Maglor, Elrond, Elros) ================================================================================ Kapitel 4: Heilung ------------------ "Maitimo", rief er und seine Stimme hallte wohlklingend durch den kleinen Sommerpalast aus weißem Marmor, "Maitimo, komm her, ich will dir etwas vorspielen!" Die kleine silberne Harfe, ein kunstvolles Handwerk und Geschenk seines Vaters, lag mit angenehmen Gewicht in seinem Schoß. Er fühlte sich so jung wie schon lange nicht mehr. Leichte Kleider, edel und kunstvoll bestickt, Gold auf Azurblau, umspielten seinen Körper. Wie lange hatte er schon nicht mehr so edles Tuch getragen? Endlich hörte er schnelle Schritte, die Tür flog auf und trug Maitimo herein, stürmisch wie immer. Gar sein edler Goldreif, auch ein Geschenk ihres Vaters, war verrutscht. Seine langen roten Haare loderten um seine Schultern und sein Gesicht war wohlgeformt und sorgenlos, in seinen Augen funkelte Schelm. Maitimo. Der Wohlgeformte. Obwohl er manchmal eifersüchtig ob der schönen Gestalt, der wendigen Zunge und den funkelnden Augen seines älteren Bruders war, so nannte er ihn dennoch immer bei seinem Mutternamen, Maitimo. Nie Nelyo, den Kosenamen von Nelyafinwë, seines Vaternamen, wie ihn alle anderen in diesem Haushalt riefen. Denn sein Stolz auf seinen schönen Bruder überwog seine Eifersucht um ein vielfaches und er war der Meinung, dass niemand mehr verdient hatte bei einem solchen Mutternamen gerufen zu werden als eben sein Bruder. „Càno.“, erwiderte Maitimo und nahm Platz auf dem Stuhl bei dem Fenster und ließ seine Beine baumeln. Ein seichter Wind zerzauste ihm die Haare. Laurelin stand in vollster Blüte. Makalaurë strahlte ihn an und begann mit seinen Fingern den Saiten schönste Töne zu entlocken und erhob seine Stimme, die warm und weich durch den Raum flutete und jeden, der sie hörte in ihren Bann zog. Maitimo bekam einen entrückten Gesichtsausdruck, als er zuhörte und Makalaurë begann ihm die schönsten Geschichten zu erzählen. Von Arda und ihren schönen Landschaften, die Ruhe in ihren Tälern und die Winde auf ihren Höhen. Moment. Woher kannte er Arda? Plötzlich fiel ihm auf, dass die Farben zu grell waren, die Räume zu makellos und die ganze Situation - zu poetisch. Als wäre alles von einem Maler entworfen worden, der zum Ziel hatte, eine vergangene Realität zu stilisieren. Der Raum veränderte sich, er wurde kleiner und das, was zum Fenster hereinschien, war auch nicht mehr Laurelins Licht, noch die Sterne am Himmel. Was war das? Ein großer gelber Ball, so hell brennend, dass man ihn nicht direkt anschauen konnte. Er wandte den Blick zu Maitimo, der sich verwandelt hatte. Er hatte auf einmal dunkles Haar und graublaue Augen, die ihn sorgenvoll anblickten. Auch sein Gewand war um einiges schlichter. Er trug eine blaue Tunika und weiße Hosen, auf seinem Haupt lag kein Reif. Das war nicht Maitimo. Makalaurë kniff die Augen zusammen. Wer war es dann? Sein Sohn? Oh, er hätte es sein können, bei der Erleichterung und Liebe, die er verspürte als er den Jungen sah. Er hatte sogar Ähnlichkeit mit ihm. Aber Makalaurë hätte doch gewusst, wenn er einen Sohn hätte, nicht wahr? Der junge Elb sprang von dem Stuhl und ging zögernd auf ihn zu. Beinahe vorsichtig legte er ihm eine kleine Hand auf die Stirn, die Makalaurë so kalt vorkam, dass er zusammenzuckte. Er lächelte den Jungen an, so gut wie es ging, denn auf einmal fühlte er sich völlig miserabel: "Wer bist du?" Seine Frage schien ausgerechnet eine zu sein, die den kleinen Elb in höchste Aufregung versetzte. Makalaurë war das überaus unangenehm, aber er konnte das Puzzle nicht selbst zusammensetzten, die Teile glitten ihm aus den Fingern. "Elrond, Herr. Erinnert Ihr Euch nicht?", sagte der junge Elb und versuchte das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken. Elrond, hallte es in seinem Kopf wider, Elrond, Elrond, Elrond Fäden verknüpften sich miteinander, woben einen komplizierten Teppich voller trauriger Ereignisse, in denen die Farben des Glücks kaum mehr zu erkennen waren. "Elrond", sprach Maglor, seine Sicherheit zurückgewinnend. "Natürlich. Kleiner Elrond." Sein Lächeln hatte die Unbeschwertheit, die es noch vor wenigen Minuten hatte, verloren, doch er selbst bemerkte es nicht. "Deine Hand ist kalt", stellte Maglor als Zweites fest und bemerkte, dass seine sonst so weiche Stimme ein wenig rau klang. "Nur weil Euer Kopf so warm ist", Elrond lächelte ihn an. Er war eindeutig erleichtert. Maglor stellte sich vor, was sie alle wohl getan hätten, wenn er sein Gedächtnis wirklich verloren hätte. "Oh, dann bin ich der Ursprung des Übels. Fieber, nehme ich an?" "Ja, Herr, ein ziemlich starkes. Wir haben uns wirklich sehr große Sorgen um Euch gemacht, aber so wie es aussieht, ist das Schlimmste vorüber." Maglor musterte den kleinen Jungen. Elrond war bleich und schlaksig, aber seine Augen glänzten und er entdeckte viel Lebensmut darin. Wie lange war es her, dass Maglor so töricht vom Pferd geglitten und inmitten von Orks gelandet war? Er erinnerte sich nur schemenhaft an das Ereignis. Da war Panik gewesen, als er gespürt hatte, dass er den Halt verlor und dem Sattel entglitt. Das schadenfreudige Höhnen der Orks, als er auf den Boden geprallt war und das Gefühl als ihm der Sturz die Luft aus den Lungen gepresst hatte. Diese Hilflosigkeit. Die panische Rufe seiner Krieger, die mit ihren schönen Stimmen und in dieser eleganten Sprache die Luft erfüllten, begleitet von den brutalen Instrumenten der Schlacht, dem Klirren der Schwerter und dem Sirren der Bögen. Dann ein Tritt, dann zwei, vielleicht auch mehr. War das da eine Axt? Was zur Hölle wollte dieser Ork mit einer Axt? Bleib mir gefälligst vom Leib damit, du stinkender Dreck! Dann Schwärze. "Herr?", anscheinend bereitete Maglor ihm mit seiner abwesenden, träumerischen Art nur eines; Sorgen. "Verzeih, Elrond, ich habe mir nur die letzten Ereignisse ins Gedächtnis gerufen. Wärst du so freundlich mich aufzuklären? Komplett?" Elrond nickte. "Ihr habt fast vier Tage lang geschlafen, was aber sehr gut für Euch war, sagt Enoriel. Er hatte Sorge gehabt Euch mit einem Sud aus Hopfen, Melisse und Baldrian in den Schlaf zwingen zu müssen, aber dann wäre nicht sicher gewesen, ob Ihr wieder aufgewacht wäret. Als wir jedoch anfingen Euch zu nähen, seid Ihr trotz der starken Betäubung eures Armes dankenswerter Weise in Ohnmacht gefallen. Aus diesem Schlaf seid Ihr erst jetzt aufgewacht. Zwischenzeitlich habt Ihr beinahe geglüht, aber Eure Wunde hat sich nicht entzündet und auch keinen Wundbrand bekommen. Es waren die Prellungen an Eurer Hüfte und Euren Beinen. Die inneren Verletzungen haben Wasser gebildet und es hat sich gestaut. Wir massieren es nun seit den letzten Tagen weg und auch das Fieber ist gesunken. Alles in allem seid Ihr auf dem Weg der Besserung." Maglor konnte die Freude in den Augen von Elrond sehen und obwohl er sich nicht sicher war das verdient zu haben, war er doch sehr glücklich darüber. "Dann hast du gute Arbeit geleistet, Elrond. Ich danke dir. Ich schulde dir mein Leben." Elrond wurde rot wie ein reifer Apfel, stammelte etwas von Enoriel und versuchte halbherzig das Lob von sich zu weisen, war aber sichtlich stolz. Maglor lachte, was sich aber als ziemlich schmerzhaft herausstellte. Trotzdem lachte er weiter. Er hatte sich selten so unbeschwert gefühlt. "Wo ist mein Bruder?", fragte er schließlich verwundert. "Er gibt Unterricht in Strategie. Ich habe ihm gesagt, dass ich so lange aufpasse." "Ach ja! Wieso bist du nicht beim Unterricht?", Maglor sah Elrond tadelnd an. "Ich sollte dich nicht davon abhalten." "Ich bin beim Unterricht. Im weitesten Sinne. Enoriel sagt, es wäre Unterricht in der Heilkunst. Wir hatten bisher nicht die Chance einen so schweren Fall wie Euch zu behandeln und er sagt, es wäre eine Schande, wenn ich diese Gelegenheit verpassen würde", das hatte Elrond sich eindeutig zurechtgelegt. "In weitestem Sinne", wiederholte Maglor und lachte. Elrond sah verlegen auf seine Füße. Eine kleine Weile schwiegen sie. Maglor betrachtete Elrond. "Los, raus damit. Welche Frage liegt dir auf der Zunge?", forderte er den Elbenjungen schließlich auf. Elrond zierte sich noch ein paar Sekunden, bevor er schließlich den Mund aufmachte. "Wer sind Makalaurë und Maitimo?" Maglor war überrascht. Wo hatte der Junge das aufgeschnappt? Der Traum kam ihm in den Sinn und es wurde ihm bewusst, dass er im Fieberschlaf geredet haben musste. Das tat er auch ohne Fieber. Eine Tatsache, für die er sich von all seinen Brüdern hatte aufziehen lassen müssen. "Ach, das. Makalaurë bin ich. Und Maitimo ist Maedhros. Es ist Quenya und es sind unsere Mutternamen." Als Elrond ihn fragend ansah, fuhr er fort: "Man erhält einen Vaternamen, von seinem Vater, wie der Name schon sagt. Dieser wird als Erstes gegeben. Als Zweites erhält man einen Mutternamen, von der Mutter gegeben. Mein Vatername ist Kanafinwë und Maedhros' ist Nelyafinwë. Maedhros hat von uns überhaupt die meisten Namen." "Kanafinwë Makalaurë", sagte Elrond beeindruckt. Mit dem Namen Finwë konnte er natürlich etwas anfangen. Maglor nickte. "Hat es eine Bedeutung?", Elrond schien seine Scheu vergessen zu haben und Maglor sah keinen Grund, wieso er ihm diese Information vorenthalten sollte. "Kanafinwë heißt 'befehlender Finwë' und Makalaurë bedeutet, nun ja, 'Goldschmied'. Es ist aber auf mein Harfenspiel zu beziehen. Ich schmiede Töne aus Gold", Maglor lächelte ein wenig verlegen. "So empfand das zumindest meine Mutter. Sie nannten mich meist Cáno. Maedhros' Name Nelyafinwë hingegen bedeutet 'dritter Finwë' und Maitimo heißt übersetzt 'der Wohlgeformte', was sich wohl von selbst erklärt. Meine Brüder riefen ihn Nelyo." Elrond hatte staunend zugehört. Maglor sah ihn verschwörerisch an und ergänzte: "Aber erzähl Maedhros nicht, dass ich all seine Geheimnisse verraten habe." Elrond nickte und nahm seinen Scherz offensichtlich sehr ernst. Dann sagte er leise: "Das ist ein sehr schöner Name, Herr Kanafinwë Makalaurë." Maglor spürte wie sich, ohne jede Erklärung, auf diese Erwiderung hin ein Kloß in seinem Hals bildete. Vorsichtig streckte er seinen gesunden Arm aus und strich zart über Elronds Wange. Der kleine Elb senkte schnell den Blick. "Komm her, Elrond." Zu seiner Überraschung zögerte Elrond keine Sekunde und tat einen Schritt, legte sich halb auf das Bett, auf dem Maglor lag, und kuschelte seinen Kopf vorsichtig an dessen Schulter. Maglor fühlte wie sich in ihm etwas wieder zusammensetzte und wuchs. Er schloss die Augen. Schließlich murmelte Elrond leise, dass er eigentlich längst Enoriel über Maglors Aufwachen informieren hätte müssen und auch Maedhros hätte Bescheid geben sollen. Er löste sich aus der einarmigen Umarmung und flitzte zur Tür, doch bevor er den Raum verließ, lächelte er Maglor noch einmal zu. Seit Maglor aufgewacht war, verbrachte Elrond seine meiste freie Zeit in dessen Krankenzimmer. Natürlich hatte er wieder zum Unterricht gehen müssen, als Maglor aus dem Gröbsten heraus war, aber er durfte noch immer früher gehen um Enoriel zu helfen. Elros konnte es nicht verhindern, er fühlte sich zurückgesetzt. Natürlich hatte er sich auch gefreut, als Maglor aufgewacht war und sie hatten ihn, nachdem Elrond allen Bescheid gegeben hatte, auch sofort besucht. Maedhros, Elrond und er. Doch bereits als Elros eingetreten war, hatte zwischen Maglor und Elrond etwas Verschworenes geherrscht. Auch Maedhros war davon überrascht gewesen, aber Maglor hatte ihm sicher später erzählt, was geschehen war. Elrond hingegen hatte geschwiegen. Und wann immer Elros ihn fragte, was sie in den Stunden zusammen taten, in denen Elrond bei Maglor weilte, antwortete Elrond nur "Reden", was Elros Wissen nicht unbedingt erweiterte. Er hatte nicht das Gefühl, dass Elrond ihm etwas verschwieg, aber normalerweise war er derjenige mit dem sein Bruder alles teilte. Das tat ihm weh. Er war alleine, wenn Elrond nicht da war. Natürlich, auch er besuchte Maglor ab und zu, aber Elros schaffte es nicht dasselbe Band mit Maglor aufzubauen, was Elrond scheinbar mühelos geknüpft hatte. Nicht, dass Maglor ihn ablehnte oder er Maglor, aber sie passten einfach nicht so gut zusammen. Elros freute sich einerseits auch für Elrond. Er hatte ein Zuhause gefunden, was Elros immer noch suchte. Also streunte der andere Zwilling nachmittags meist herum, da auch für ihn der Unterricht endete, wenn Elrond herausgerufen wurde. Er verbrachte lange Zeit mit den Büchern, die Alinael ihm gegeben hatte und las über Valinor und die Elben, über die Silmaril und das Leid, das ihnen entsprungen war. Anfangs hatte es ihn wütend gemacht, auf Maedhros und Maglor, aber nun machte es ihn nur noch traurig. Er hatte gesehen, dass die beiden Brüder unter dem Schwur litten und auch wenn es schwer war, so verstand er doch nun, mit gegebenem Hintergrund, einige ihrer Entscheidungen. Feanor jedoch brachte er weder Verständnis noch Bewunderung entgegen. Bald interessierte er sich auch für die Werke der Menschen. Ein seltsames Volk, dem er sich dennoch verbunden fühlte. Elros las und las und las. Man konnte nicht sagen, dass es ihm schadete, doch Maedhros schien die Einsamkeit des Jungen am Nachmittag Sorge zu bereiten. Er entschied sich, sich persönlich darum zu kümmern. So kam es, dass Elros eines Tages, der Himmel war schon orangerot, einen Schatten über sich bemerkte und aufblickte. Etwas verunsichert schlug er das Buch zu, jedoch nicht ohne vorher ein Lesezeichen zwischen die Seiten zu legen, und stand auf. Er verbeugte sich. "Mein Herr." Maedhros bedeutete mit seiner gesunden Hand Elros ihm zu folgen. Elros gehorchte folgsam. Sie gingen schweigend in das dritte Stockwerk der Festung und Elros erkannte, dass Maedhros ihn zu seinen Gemächern führte. Das verunsicherte ihn nur noch mehr. Er versuchte sich krampfhaft daran zu erinnern, war er falsch gemacht haben könnte. Maedhros öffnete die Tür zu seinem Zimmer und schob Elros sanft herein. Erstaunt erkannte Elros, dass das Zimmer vollgestopft war von kleinen Kistchen und Koffern, auf denen wiederum viele Bücher lagen. Auf dem Tisch bei dem Fenster lagen Papier, Feder und Tinte, aber am Auffälligsten war ein kunstvoll geschriebenes Pergament. Es war in alter Art gehalten, den Anfangsbuchstaben zierte eine Zeichnung, die winzige, aber beeindruckende Details aufwies; zwei Bäume, ein silberner und ein goldener, daneben eine fette Spinne, ein erschlagener Elb mit sehr langen Haaren, ein Elb mit ebenso schwarzen Haaren, ganz in Rot gewandet, der einem anderen Elb, der ihm sehr ähnlich sah, ein Schwert an die Kehle hielt, ein unheimliches Wesen, das eine Krone mit drei leuchtenden Juwelen trug, und als letztes; acht Männer, die ihre Schwerter in den Himmel reckten, ihre Gestalten umspielt von Feuer. Elros vergaß das umgemachte Bett, die Kleider und die Teppiche. Gar die heimatliche Wärme, die das vollgestopfte Zimmer ausstrahlte. Das musste, ohne jeden Zweifel, Feanors Geschichte sein. Elros war sich sicher, dass der Zeichner sein Bestes gegeben hatte um die Stimmung und die Situationen richtig einzufangen und dennoch war es ihm nicht gelungen. Es wäre wahrscheinlich niemandem geglückt. Es war nichtsdestotrotz beeindruckend genug. Elros hätte nicht erwartet, das Pergament lesen zu können, war jedoch überrascht festzustellen, dass es eine Übersetzung war, und eindeutig Sindarin. Nach den ersten paar Sätzen erkannte er, was er vor sich hatte. Es war nicht Feanors Geschichte - es war der Schwur. Dunkel klang er, einschüchternd, voller Zorn und Bitterkeit, doch gleichzeitig fesselte er Elros, zog ihn in seinen Bann und auch er fühlte Zorn in sich aufsteigen, der etwas galt, was er nie erlitten hatte. Schnell löste er die Augen von den Worten. Elros blickte auf die kleine Zeichnung, auf den Elb, der vor seinen Söhnen stand, und wirkte wie eine lebende Flamme, er war schön und zugleich fürchterlich. Der kleine Halbelb erinnerte sich noch zu gut an das Gefühl, dass er gehabt hatte, als Maedhros vor ihm gesessen hatte, aber gegen seinen Vater kam selbst der Wohlgeformte nicht an. Feanor war kalt wie ein Frost am frühen Wintermorgen und zugleich verzehrend und unerbittlich wie das Feuer selbst. Wie musste es nur sein so einen Vater zu haben? Wie widersprach man einem solchen Elben? Wie konnte solch ein Elb überhaupt Unrecht haben? Auf einmal verstand er. Nicht alles, lange nicht, aber zumindest ein wenig mehr und wie einst seinen Bruder Elrond versöhnte ihn das Verstehen mit der Realität. Als Elros wieder aus seiner Trance aufwachte, bemerkte er, dass Maedhros auf einem der Stühle Platz genommen hatte und ihn interessiert beobachtete. Elros' Ohren fühlten sich heiß an. Maedhros schüttelte den Kopf. "Es ist kein Wunder. Selbst ich empfinde manchmal noch so wie du vor wenigen Sekunden, nach all den Jahren. Aber ich möchte jetzt nicht über meinen Vater reden. Setz dich, Elros, wir spielen Schach." Elros nahm Platz und legte sein Buch vorsichtig zu den anderen Dingen auf den Tisch, während Maedhros ein weiteres Mal das Schachbrett aufstellte. Sie redeten nicht, als sie spielten und in wenigen Minuten hatte Elros bereits das erste Mal verloren. Er schämte sich dafür und ärgerte sich über sich selbst. Maedhros seufzte. "Elros, du erreichst viele Dinge nur mit Geduld. Sie fliegen dir nicht über Nacht zu." Elros blickte ihn herausfordernd an. "Das ist leicht zu sagen für jemanden wie Euch." Maedhros sah ihn ungläubig an, dann lachte er, aber es war kein freudiges Lachen. "Hältst du mich für so erfolgreich?" Der kleine Elb genierte sich ein zweites Mal für seine Zunge, die oft so viel schneller war, als seine Gedanken. Er antwortete nicht, denn es gab keine Antwort, die Maedhros nicht verärgern würde. "Ich halte viel von Aufrichtigkeit, Elros. Es ist mir bewusst, dass wir viele unverzeihliche Fehler begangen haben und ich weiß, dass du über sie gelesen hast. Dein Schweigen macht sie nicht ungeschehen", sagte Maedhros leise. "Du hast deinen eigenen Kopf und ich weiß, dass du missgelaunt bist, weil dein Bruder so viel Zeit mit meinem Bruder verbringt und du nur die zweite Geige spielst. Irgendwo muss man diese Laune ja auch loswerden, das verstehe ich. Du kannst gerne jede noch so unverschämte Kritik an mir äußern, so lange sie ehrlich und berechtigt ist. Aber dein erster Kommentar war nur ein patziges Widersprechen. Du bist kein Kind mehr." Elros schaute in seinen Schoß und nahm sich vor, den Blick auch nicht mehr zu heben. Doch dann mischte sich Amüsement in Maedhros' Stimme. "Weißt du, was du vergisst, Elros? Ich spiele momentan auch nur die zweite Geige für meinen Bruder. Wir sitzen also im selben Boot." Elros hob ruckartig den Kopf und blickte Maedhros erstaunt an. Dieser lachte. "Du dachtest doch nicht wirklich, Maglor ist ergiebiger mit Informationen als Elrond?" "Nein. Ich frage mich nur wirklich, was die beiden immer bereden", Elros schaffte es nicht die Kränkung aus seiner Stimme herauszuhalten. "Nichts, was wir nicht wüssten. Deshalb wissen sie nicht, was sie uns erzählen sollen. Maglor wird Geschichten erzählen, die ich bereits kenne, entweder weil ich sie miterlebt habe oder weil er mir darüber berichtet hat. Wieso also noch einmal wiederholen? Mit Elrond verhält es sich genauso. Es sind Banalitäten. Diskussionen, die man nicht wiederholen kann, weil sie einem auf einmal so normal vorkommen, obwohl sie während des Gesprächs doch so spannend waren. Ganz simple Unterhaltungen." "Woher wollt Ihr das wissen?" "Worüber sollen sie sonst reden, Elros? Wir kommen uns nur so ausgeschlossen vor, weil es sonst niemand anderen als uns für unsere Brüder gegeben hat. Aber auf einmal verteilen sich die normalen Unterhaltungen auf noch eine weitere Person neben uns und wir sind so töricht und denken, dass wir ihre Liebe verloren hätten oder sie ihr Leben nicht mehr mit uns teilen. Dem ist nicht so. Es gibt kein festes Maß der Liebe, wie einen Liter oder 100 Gramm, die man dann möglichst gerecht an seine Nächsten verteilen muss und wo sicher jemand zu kurz kommen wird. Liebe wächst. Sie wächst mit den Personen, die wir lieben. Das Maß wird größer. Und jeder bekommt seinen angemessenen Teil. Du und ich - wir sind nur eifersüchtige Käuze, die viel zu lange allein mit ihren Brüdern waren und deshalb denken, wir hätten das volle Anrecht auf ihr Leben", sprach Maedhros ernst und lächelte beim letzten Satz. Elros erwiderte das Lächeln. Erst vorsichtig und dann voll. Er fühlte sich um Längen besser. "Dann müssen wir uns auch zusammenschließen", sagte er übermütig, wieder ohne groß über seine Worte nachzudenken. "Herr", hängte er noch hastig an. Dann wurde er kirschrot. Hervorragender Vorschlag, Elros "Ich … ich habe wieder nicht nachgedacht", sprudelte es aus ihm heraus. "Ich wollte mich nicht aufdrängen. Ich war nur einfach so erleichtert, weil Ihr mich getröstet habt. Da ist es mir einfach rausgerutscht. Ich verspreche, dass ich wirklich in Zukunft Nachdenken werde, bevor ich rede. Hoch und heilig versprochen … ", zögernd brach er seinen Redefluss ab, weil Maedhros ihn nicht unterbrach, sondern Elros nur leicht überrumpelt, aber überaus belustigt ansah. Als der kleine Elb schwieg, setzte Maedhros schließlich zu einer Erwiderung an: "Du hast Recht, Elros. Mit dem Zusammenschließen, meine ich. Und nicht 'Herr'. Ich heiße Maedhros." Damit zwinkerte er Elros zu und setzte einen seiner weißen Bauern ein Feld nach vorne. An diesem Abend sprachen Elrond und Elros wieder normal miteinander und Elros bemerkte Elronds Erleichterung. Mit Genugtuung, auch wenn es selbstsüchtig war, stellte Elros fest, dass sich sein Bruder doch Sorgen um ihn gemacht hatte. Maedhros hatte Recht gehabt. Die Liebe blieb. Sie redeten über dies und das, Elros erzählte von seinem Schachspiel mit Maedhros und Elrond von den Fortschritten von Maglor. Bald würde er wieder aufstehen können und sie würden den vollen Unterricht erhalten. Mitsamt Musik und Poesie. Elros merkte an Elronds freimütigem Redefluss wie abweisend er sich gegenüber ihm verhalten haben musste. In seiner Verletztheit hatte Elros es seinem Bruder heimzahlen wollen und ihm keine Aufmerksamkeit gezollt, damit Elrond auch ja nicht merkte, dass Elros ihn brauchte. Damit hatte er sich seinen Bruder sehr viel mehr vorenthalten, als nötig gewesen wäre und war für einen Teil seines stummen, beleidigten Leidens mitverantwortlich. Als sie abends ins Bett gingen, war die Welt das erste Mal seit langer Zeit wirklich in Ordnung. Sie schliefen mit der stummen Erkenntnis ein, dass ihnen Maglors Zustand viel mehr ausgemacht hatte, als sie je vermutet hatten. Feanors Söhne waren das Einzige, was sie noch besaßen. Sie boten ihnen ein Zuhause, Sicherheit und Schutz und seit den letzten Tagen gar noch einiges mehr. Sie zu verlieren würde bedeuten, den Platz in der Welt zu verlieren. Selbst wenn nur einer von den beiden die Hallen Mandos betreten würde, so wäre der andere der beiden Brüder unvollständig und die beiden Zwillinge wollten sich nicht ausmalen, was der Verlust mit dem übrig gebliebenen Bruder anstellen würde. Sie waren auf Maedhros und Maglor angewiesen, ja, sogar abhängig von ihnen. Nicht, weil niemand anderes sie aufnehmen würde. Nein, weil Maedhros und Maglor nun Elronds und Elros Familie waren. Und das war einfach ein schöner Gedanke zum Einschlafen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)