Am Tag ist es leicht von Niekas ================================================================================ Kapitel 23: Schlaf ------------------ Die Nacht wird sehr lang. Als Ibiki zum dritten Mal von Imas Weinen aufwacht, ist es kurz nach fünf Uhr morgens. Seufzend beschließt er, dass er jetzt auch wach bleiben kann, und geht hinüber in ihr Zimmer. Zum ersten Mal war Vater schneller als er. Er kniet bereits neben ihrem Bett und hält ihre Hand. „Ist ja gut, Ima.“ „Du sollst mich nicht anfassen“, jammert sie und weicht vor ihm zurück. „Geh weg. Ich will dich nicht sehen.“ Vaters Gesicht ist wie eingefroren. „Du wirst wieder in Ordnung kommen, Ima.“ „Werde ich nicht.“ „Meine Güte, Mädchen, reiß dich zusammen! Du bist eine Kunoichi!“ „Du weißt ja gar nicht, was das heißt. Kunoichi. Zwölf Jahre alt und kaputt zu sein, das bedeutet es.“ „Das stimmt nicht, Ima. Du bist nicht kaputt.“ Sie fängt an zu lachen, freudlos, schrill, hysterisch. „Sei still“, flüstert Vater. „Ima. Bitte sei still.“ Sie achtet gar nicht auf ihn, sitzt auf dem Bett und lacht und lacht, bis sie zu wimmern beginnt. „Es tut so weh.“ „Was denn? Dein Arm?“ „Ja.“ Vater betrachtet den Verband, den Ibiki angelegt hat. Es ist noch kein Blut hindurch gedrungen. „Das wird schon wieder, Ima.“ „Er tut weh“, beklagt sich Ima. „Mach ihn weg.“ „Den Schmerz?“ „Den Arm.“ „Rede keinen Unsinn. Ich werde dir ein Schmerzmittel geben, und dann ...“ „Mach den Arm weg“, wiederholt Ima. „Es ist der rechte, ich bin Rechtshänderin. Wenn du ihn wegmachst, kann ich keine Kunoichi mehr sein. Das wird gut.“ Vater drückt ihr die Hand auf die Stirn. „Hast du Fieber?“ „Nein. Ich spinne nicht, ich meine das ernst. Du kannst ein Kunai holen, und Ibiki kann helfen. Wir schneiden den Arm ab. Ibiki kann die Blutung stoppen, das kann er gut.“ An Vater vorbei sieht sie Ibiki an und nickt, als hätten sie beide die Sache längst abgesprochen. Ibiki tritt zwei Schritte weiter in ihr Zimmer hinein. „Nun hör auf, solchen Unsinn zu erzählen, Ima. Du musst schlafen.“ „Ich kann nicht schlafen! Es tut so weh!“ „Ich hole dir ein Schmerzmittel“, sagt Vater langsam und steht auf. „Pass kurz auf sie auf, Ibiki.“ „Ich will kein Schmerzmittel“, jammert Ima, während er den Raum verlässt. „Sag ihm das, Ibiki. Ich will ...“ „Du bist wahnsinnig“, unterbricht er sie und kniet sich neben das Bett. „Sei still und nimm seine Medizin. Danach kannst du schlafen.“ „Aber irgendwann werde ich wieder wach, und dann habe ich immer noch zwei Arme, und ich muss immer noch Kunoichi sein!“ „Du könntest damit aufhören“, sagt Ibiki. „Könnte ich nicht.“ „Ich weiß auch nicht, wie es funktionieren soll, aber irgendwie muss es gehen. Wir regeln das. Wir sagen dem Hokage, dass du das nicht mehr schaffst.“ „Aber der Hokage wird sagen, dass ich völlig gesund bin! Ich habe zwei Arme und zwei Beine ...“ „Vom Kopf her schaffst du es nicht mehr, Ima.“ „Das weiß ich. Aber das sieht man ja von außen nicht. Und deswegen sage ich, wir schneiden den Arm ab.“ „Wir schneiden dir nicht den Arm ab, Ima!“, sagt Ibiki schroff, greift nach ihren Schultern und wartet, bis sie ihm in die Augen sieht. „Hast du verstanden? Wir tun es nicht.“ „Wir tun es nicht“, äfft sie ihn nach und zieht eine Grimasse. „Und das ist kein Zeitpunkt, um albern zu werden.“ Er will sagen, Du hast dich verändert, aber er weiß, dass das sie nur zum Weinen bringen wird. Und alles ist ihm lieber, als wenn sie weint. Alles? „Da bin ich wieder.“ Vater kommt herein, ein Glas Wasser in der einen Hand, eine kleine Kapsel in der anderen. Er kniet sich neben das Bett und hält Ima die Kapsel hin. „Nimm das, Prinzessin. Zerbeißen und runterschlucken.“ „Ich will nicht“, murmelt Ima, schlingt die Arme um Ibiki und wühlt das Gesicht gegen seinen Hals. Er streicht ihr über den Rücken und schließt einen Moment lang die Augen. Nach der unruhigen Nacht ist er todmüde, und in ihren dünnen Armen fühlt er sich immer so wohl. „Es ist besser für dich“, sagt Vater streng. „Das ist es wirklich“, stimmt Ibiki ihm zu und löst sich behutsam aus Imas Griff. „Nimm es. Dann kannst du schlafen.“ Sie blinzelt, nimmt mit spitzen Fingern die Kapsel von Vaters Handfläche und betrachtet sie. „Dann kann ich schlafen?“ „Und dann wird alles gut“, sagt Vater. „Ganz genau.“ Sie schüttelt den Kopf. „Nichts wird gut“, flüstert sie und schiebt die Kapsel in den Mund. Sie beißt darauf und schluckt, ohne mit der Wimper zu zucken. „Leg dich hin“, sagt Vater, drückt sie behutsam in das Kissen und deckt sie zu. „Wir warten noch kurz, bis du eingeschlafen bist.“ Ibiki greift nach Imas kalter rechter Hand. Schlafen klingt wie eine gute Idee. Imas Augen sind geschlossen, ihr Atem geht flach. „Wirkt es so schnell?“, fragt Ibiki leise. „Sehr schnell. Sie wird keine Schmerzen haben.“ Irgendetwas irritiert Ibiki, aber er kann nicht sagen, was. Imas Hand unter seiner bebt leicht, ihre Finger ballen sich zur Faust. Sie holt einmal tief und rasselnd Atem, und ihre Augen öffnen sich flatternd. „Ima? Ist alles in Ordnung?“ Sie reagiert nicht, sondern sieht an die Decke. Besorgt greift Ibiki nach ihrer Schulter. „Was ist denn, Ima? Hast du Schmerzen?“ „Lass sie, Ibiki“, sagt Vater leise. „Es ist vorbei.“ Seine Stimme zittert, und Ibiki wird eiskalt. Er weiß, was passiert ist, aber er weigert sich, es zu begreifen. Sehr langsam tastet er nach Imas Hals und sucht den Puls. Er findet ihn nicht. „Ima. Wach auf. So fest kannst du nicht schlafen, von jetzt auf gleich. Komm schon.“ Ihre braunen Augen sehen an die Decke. Sie hat gerade noch mit ihm gesprochen, hat ihn umarmt. So schnell kann sie nicht schlafen. „Es ist besser so, Ibiki.“ Vaters Hand legt sich auf seine Schulter. „Glaub mir.“ Ibiki dreht den Kopf. „Du hast ...“, beginnt er, aber er kann es nicht aussprechen. „Ich konnte nicht mehr mit ansehen, wie sie sich gequält hat. Ein so liebes Mädchen wie sie hatte im Krieg einfach nichts verloren. Sie wäre nie wieder die Alte geworden.“ „Das weißt du nicht. Vielleicht ... mit der Zeit ...“ „Sie hätte sich nicht erholt, und das weißt du, Ibiki.“ Er starrt Vater an und sieht die Tränen, die über sein Gesicht gelaufen sind. Warum sind sie ihm vorher nicht aufgefallen? „Es ist besser so.“ Vater streckt die Hand aus und drückt Ima die Augen zu. „Wirklich.“ „Ich sage es allen“, flüstert Ibiki. „Ich sage ihnen, dass du sie umgebracht hast.“ „Der verfluchte Krieg hat sie umgebracht. In den Wahnsinn getrieben hat er sie.“ „Du hast sie in den Wahnsinn getrieben!“, brüllt Ibiki ihn an und ballt die Fäuste so fest, dass sich die Fingernägel in seine Haut graben. „Sie wusste, wie du mich behandelt hast! Du hast sie geliebt, und sie hat dich gehasst! Wenn wenigstens du ihr etwas Geborgenheit gegeben hättest, dann hätte der Krieg ihr nicht so viel antun können!“ Er weiß nicht einmal, ob das stimmt. Aber er will, dass es stimmt. „Ima ist tot“, sagt Vater nur. „Und es ist besser so.“ Ibiki reißt sich von Imas Anblick los und steht auf. „Morgen gehe ich zur Polizei und sage ihnen, dass du sie ermordet hast.“ „Das macht sie nicht wieder lebendig.“ „Ich will, dass sie dich drankriegen. Das ist alles.“ „Ich werde erklären, dass es ein Versehen war. Dass ich das Schmerzmittel gesucht und versehentlich nach dem Gift gegriffen habe. Wem werden Sie glauben?“ Ibiki antwortet nicht, dreht sich abrupt um und verlässt den Raum. Er geht hinüber in sein eigenes Zimmer und schließt die Tür hinter sich. Am liebsten will er schreien und heulen und irgendetwas kaputt machen, aber er bemerkt, dass es nicht geht. Er hat sich geschworen, um Imas Willen keinen Laut von sich zu geben, und es ist ihm so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er gar nicht mehr anders kann. Alles für Ima. Müde setzt er sich ans Fenster und starrt hinaus, wo über den Dächern Konohas langsam die Sonne aufgeht. Ein paar Tränen laufen über sein Gesicht. Sie sind kein Teil von ihm, Ibiki. Sie interessieren ihn nicht weiter. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)