Das Glasherz von AimaiLeafy ================================================================================ Kapitel 1: Der Glaskörper ------------------------- Die Freude war zu viel gewesen. So viel Zufriedenheit und Euphorie hatte er noch nie gespürt - es war so anders, wenn sich andere mit einem freuten, wenn sie die gleiche Freude in sich spürten, wenn sie alle denselben Grund hatten. Dabei war es sogar eigentlich eher Youmas Freude die auf ihn übergeschwappt war und von der Nocturn sich hatte mitreisen lassen - denn eigentlich... was interessierte es ihn, dass sie, nach all der langen Arbeit und Vorbereitungszeit, den vielen schlaflosen Nächten, der Frustration, gegenseitigem Anschweigen und Streitereien, ihre Mission endlich zu einem Erfolg gebracht hatten? Was interessierte es Nocturn, dass sie eine Allianz eingegangen waren? Die Politik der Dämonenwelt... das Geplänkel der Fürsten... ging ihm doch eigentlich nichts an; das war Youmas Interessengebiet, nicht seins.   Aber trotzdem war er so froh wie schon lange nicht mehr, aber nicht des Erfolgs wegen... sondern vielleicht deshalb, weil er zum ersten Mal in diesen zwei Leben gebraucht worden war und sein Dasein, seine Existenz, nicht nur erwünscht, sondern, dass dieser andere von ihm abhängig war – weil sie zusammen arbeiteten. Weil sie gemeinsam ein Ziel erreicht hatten, besser als sie beide es für möglich gehalten hatten. Das war... ein eigenartiges Gefühl. So unbekannt. Unbekannt, aber... irgendwie angenehm. Aber auch erschöpfend. Nocturn fühlte sich ohnmächtig, beinahe so als hätte er eine ganze Woche nicht mehr geschlafen. Das Essen seiner Tochter Feullés war ausgezeichnet gewesen; sie hatte sich so viel Mühe gegeben zur Feier des Tages ein richtiges Festessen zu machen und es war ihr durchaus gelungen – sogar Youma lobte sie in höchsten Tönen und brachte sie zum Erröten und Stammeln. Die ausgelassene Freude in Appartement 667 ließ sich nicht einmal von Blues in sich gekehrtes Gesicht vertreiben; zwar hatte er maßgeblich zum Erfolg der Mission beigetragen, doch isolierte er sich nun vollständig von den Gefühlen der anderen, ließ sich nicht mitreisen, stand außerhalb. Wie konnte er das überhaupt? Wie ging das? Wie war es möglich sich nicht mitreißen zu lassen? Vielleicht gehörte er einfach wirklich nicht dazu... aber wozu gehörte er nicht? Was waren sie eigentlich? Die, die sich gemeinsamen freuten? Was waren sie? Was ergaben sie zusammen? Youma summte bei der Arbeit vor sich hin, Feullé war völlig erschöpft ins Bett gefallen, Blue noch nicht zurück; er suchte seinen Bruder, nachdem Nocturn ihn dazu aufgefordert hatte, seiner Sorge um ihn doch einfach nachzugehen und das ihn dafür schon niemand schelten würde. Nicht einmal Youma kommentierte sein Gehen, obwohl ihm ja eigentlich klar sein müsste, dass Blue zu Ri-Il gehen würde. Was summte Youma eigentlich? Nocturns müde Ohren glaubten Vivaldi zu hören; auf jeden Fall die Bruchstücke die Youma irgendwann mal aufgeschnappt hatte... ein paar Töne... ha, er konnte sich der Schönheit der „Vier Jahreszeiten“ eben doch nicht entziehen... er war energisch bei seiner Arbeit, energischer als normal. Youma lächelte dabei; die Euphorie schien ihm viele neuen Ideen zu geben, viele neue politische Ideen, die, wenn sie Erfolg hätten... zu noch mehr Freude führen würden... Konnte man zu viel Freude in sich sammeln? Gab es ein Limit? Eine Begrenzung? Das Letzte was Nocturn sah, ehe er langsam auf dem schwarzen Sofa einschlief, war Youma der seinen Kopf zu ihm wandte und ihn anlächelte. Komisch. Das Lächeln sah so anders aus, als normal... es brachte Nocturn ebenfalls dazu zu lächeln, es steckte an, dieses Lächeln, diese Freude... „Ohne dich wäre das alles nicht möglich gewesen. Vielen Dank, Nocturn.“ Antwortete Nocturn? Er wusste es nicht... er war eingeschlafen, die Worte im Ohr, im Herzen. Ausfüllend.     Nocturn wusste nicht wie lange er geschlafen hatte. Aber es war sein Instinkt der ihn empor riss – es war auch sein Instinkt welcher die Fingernägel seiner rechten Hand dazu gebracht hatten sich zu verlängern und sich zu verteidigen, noch ehe er sich selbst wusste, wogegen er sich verteidigen musste – was überhaupt passiert war.   Die Fingernägel streiften die Wange des Angreifers und dunkles Blut schoss hervor, lief an seiner Wange herunter und tropfte auch auf den Boden auf den er gestürzt war. Die Fingernägel immer noch drohend und verteidigend vor sich ausgestreckt, hatte Nocturn das Gefühl als hätte er Fieber. Kurz war sein Geist vernebelt; er sah nichts, konnte nicht klar fokussieren und hörte auch die ihm so bekannte Stimme nicht; sie drang nicht zu ihm. Erst nach einigen Sekunden wurde ihm plötzlich wie ein Schlag klar, was passiert war und genauso klar drang auch Youmas Stimme plötzlich wieder zu ihm: „Was sollte das denn?! Mein Gott, du hättest mich aufspießen können!“ Nocturn sah zu ihm, blickte in Youmas zorniges, aber auch schockiertes Gesicht, und fixierte das herunter laufende Blut, welches er verursacht hatte, das auch noch an seinen Fingernägeln haftete, die er immer noch nicht zurück gezogen hatte. „Dabei habe ich mich nur über dich gebeugt – und du tust so als hätte ich versucht dich umzubringen...“, meckerte Youma weiterhin, doch wurde schlagartig still als Nocturn langsam aber deutlich antwortete: „Du wolltest mich küssen.“   Jetzt sahen sie sich erst an; Youma wurde langsam rot, Nocturn wurde blass. Er hatte Youma nicht nur auf frischer Tat ertappt, er hatte ihn auch noch sofort durchschaut, weshalb jeder Versuch Youmas sich rauszureden nur peinlich gewesen wäre. „Jedenfalls habe ich nicht versucht dich umzubringen“, stellte er trotzig fest und wischte sich das Blut mit der Hand ab um es nicht auf seine Kleidung zu bekommen – es war eine beträchtliche Menge entstanden. „Warum hast du versucht mich zu küssen?“, harkte Nocturn nach als wäre Youmas Bestreben tatsächlich ein Mordversuch gewesen, dessen Hintergründe jetzt unbedingt aufgeklärt werden müssten. Aber Youma wurde nur noch röter und antwortete nicht. Er hatte sich vom Boden erhoben und war in den Küchenbereich gegangen um seine Hände abzuwaschen. Dort blieb er eine ganze Weile und lange war das laufende Wasser – den er blutete immer noch – das einzige was in dem Appartement zu hören war.   Doch er antwortete, noch ehe er sich herum drehte: „Ich weiß es nicht.“ Erst dann drehte er sich herum und die Blicke der beiden trafen sich. Nocturn wusste nichts mit Youmas Blick anzufangen; er sah ein wenig hilflos aus, verwirrt –  und umgekehrt verstand Youma Nocturns Feindseligkeit nicht. „Du weißt es nicht?“, wiederholte Nocturn zögerlich, aber beharrlich. Youma deutete ein Kopfschütteln an. Dann stellte er plötzlich eine Gegenfrage, die Nocturn kurz aber effektiv ablenkte: „Wie oft hast du White-san geküsst?“ Nocturn verstand zwar nicht warum er diese Frage stellte, aber er musste nicht lange über die Antwort nachdenken, sie kam sofort: „Drei Mal.“ „...Dann weißt du doch, warum man es tut.“ Augenblickliche Stille. Beide wurden jetzt rot. „Aber du... heißt das... du... verlangst nach mir?“ „Du weißt, ich mag das Wort nicht.“ „Ist jetzt doch egal wer das wie nennt?!“ „...“ „Also?“ „... ich weiß es nicht.“   Schweigend sahen sie den jeweils anderen an; keiner von ihnen rührte sich, keiner von ihnen sagte etwas; sie blickten sich nur an, quer über dem Wohnzimmer hinweg, Nocturn immer noch mit ausgefahrenen Fingernägeln. Allerdings schien es eher so, als hätte er vergessen diese zurückzuziehen, als dass sie ihm immer noch als Verteidigung dienen sollten. Das Blut hatte aufgehört zu fließen, war versiegt. Dann begann Nocturn plötzlich hohl zu lachen: „War irgendetwas im Essen, dass du auf solche Gedanken kommst? War da etwa Alkohol in der Soße? Du verträgst ja kein Alkohol; nicht einmal die kleinsten Mengen – das würde erklären, warum du so einen Schwachsinn redest und so komische Ideen hast!“ „Nocturn, da war überhaupt nichts im Essen“, antwortete Youma ärgerlich und fuhr fort: „Ich bin bei absolut klarem Verstand.“ Noch einmal lachte Nocturn auf: „“Bei klarem Verstand“? Wie erklärst du dir denn, dass du bei klarem Verstand so etwas tust, so etwas sagst?“ „Das habe ich dir schon gesagt.“ „Du hast gesagt „Du weißt es nicht“ - Du weißt es nicht. Trotzdem hast du es getan, hast mich einfach im Schlaf überfallen...“ „... meine Absicht war nicht dich zu überfallen.“ Doch Nocturn hörte ihn gar nicht, oder ignorierte seinen Einwurf einfach: „Auf die Idee so etwas zu tun wäre ich nie gekommen und mir sagt man immerhin nach, dass ich nicht immer bei klarem Verstand bin: ich habe mich White in ihrem Schlaf nie genähert. Das ist doch auch nicht sonderlich höflich! Ich dachte du seist so gut erzogen und dann überfällst du mich einfach, willst mich küssen, ohne dass ich mein Einverständnis dazu gegeben habe! Zugeben, White war auch nicht gänzlich einverstanden, aber wenigstens habe ich sie nicht im Schlaf überfallen, in so einem hilflosen Zustand...“   „Nocturn.“ Sofort als er seinen Namen hörte kam Nocturns schneller Wortschwall zum Stillstand und er sah auf, denn ihm unbemerkt hatte Youma sich von dem Waschbecken gelöst und war zu ihm gegangen, wo er nun auf ihn herab sah, mit einer Mischung aus Sorge und Verwirrung. „Beruhige dich. Ich wollte dir nichts Böses.“ Nur kurz erwiderte der Angesprochene seinen Blick, ehe er weg sah. Eigentlich hatte er seine Hände zu sich ziehen wollen, wobei er nun bemerkte, dass seine rechte Hand immer noch als Waffe fungierte. Kurz sah er die Fingernägel an, dann schrumpften sie wieder mit einem leichten Zischen und er verschränkte die Arme abwehrend vor der Brust – und stellte wieder eine Frage, die Youma nicht beantworten konnte: „Und was wolltest du dann?“ Youma seufzte aufgebend – sie drehten sich im Kreis, das war auch Nocturn klar. „Was wolltest du denn, als du White-san geküsst hast?“ Komischerweise wurde Nocturn nicht rot als er daran zurück dachte und antwortete gefließlich: „Beim ersten Mal ging es darum eine Verbotene Technik anzuwenden, da muss ich sie bei küssen. Beim letzten Mal habe ich sie geküsst, weil ich wusste...“ Jetzt nahm seine Stimme eine andere Gestalt an, sie wurde ruhiger, driftete ab, genau wie seine Augen. „... dass ich sterben würde. Ich wollte, dass ihre Lippen das Letzte sein sollten, was ich fühle. Ich wollte mit diesem Gefühl sterben. Ich wollte ihr nah sein.“ Kurz schwieg er, dachte an den Moment zurück, an das Gefühl ihre Lippen zu berühren... dann lachte er ironisch auf: „Dieses Gefühl teilte mein Engel aber offensichtlich nicht! Sie rammte mir – während dem Kuss wohl bemerkt – ihren Stab durch den Oberkörper. An der Verletzung bin ich auch gestorben; man kann es also mit Recht einen „Kuss des Todes“ nennen, haha! Und das Ganze war auch noch improvisiert, das muss man sich mal vor Augen halten. Jaja, manchmal ist das Leben das beste Theater.“   Nocturn hatte ein schelmisches Lächeln auf dem Gesicht; ein schelmisches, aber auch leicht trauriges Lächeln. Er war so tief in seine Gedanken versunken, dass er erst nach einigen Sekunden bemerkte, dass Youma sich zu ihm gesetzt hatte – allerdings ans andere Ende des Sofas. Die Wunde an seiner Wange hatte ihm wohl vorerst gereicht. „So etwas hatte ich auf jeden Fall nicht vor zu tun.“ Nocturn deutete ein Nicken an: „Das weiß ich. Ich habe aus Instinkt gehandelt, ich dachte es wäre ein Angriff.“ „Es war keiner.“ Nocturn nickte noch einmal. Wieder schwiegen sie. Nocturn wollte sich gerade etwas sagen, als Youma ihn zu vor kam.   „Du weißt also gar nicht wie es ist... normal geküsst zu werden.“   Es war keine Frage, es war eine Feststellung. Nocturn wollte gerade lachend erwidern, dass sein Gegenüber die falschen Wörter gewählt hatte – denn eigentlich war er ja noch nie geküsst worden, er hatte jemanden küssen wollen – als ihm plötzlich schmerzlich bewusst wurde, dass es eigentlich nicht sonderlich witzig war.   Und plötzlich tat es weh, schrecklich weh – als würde all die Abneigung und all der Hass Whites ihn auf einmal treffen und zu Boden werfen. Er spürte ein verräterisches Brennen in den Augen zusammen mit dem drängenden Bedürfnis sich in seinem Zimmer zurückziehen zu wollen. So sollte ihn niemand sehen. Niemand.   Aber dann legte Youma seine Hand auf seine. Nocturn zuckte zusammen, aber dieses Mal erfolgte kein Angriff. Dieses Mal ging alles langsam, zögerlich – es war kein Instinkt, der ihn dazu brachte langsam den Kopf zu heben und Youma in die schwarzen Augen zu sehen. „...bevor du mich jetzt noch einmal angreifst... darf ich?“ „...Mon Dieu.“   Es war nur ein kleines Flüstern, denn mehr konnte Nocturn nicht sagen, zu mehr war er nicht fähig. Aber es war ein Nicken. Klein, nur angedeutet, aber Youma verstand. Nocturn verstand es allerdings nicht; verstand nicht gänzlich was im Begriff war zu geschehen; er spürte nicht bewusst, wie er kurz zur Seite sah, Youmas sich ihm nähernde Augen auswich, ehe er seine Augen schloss und er von Dunkelheit und Wärme aufgefangen wurde.   Diese beiden Worte hatte er noch nie miteinander in Verbindung gebracht... was für eine komische, eigenartige, nicht zusammen gehörende Konstellation.     Zuerst wusste Nocturn nicht was geschah. Es war so vollkommen anders geküsst zu werden, als jemanden anderen zu küssen... ihm die Zuneigung aufzuzwingen... zu wissen, der andere wollte es eigentlich gar nicht, man zwang ihn zu etwas... tat es gegen seinen Willen. Wie warm ein Kuss sein konnte! Die Wärme löste Zentimeter für Zentimeter die Starre seines Körpers auf und als Youmas Finger Nocturns nun fest mit seinen umschlungen hielten, legte Nocturn ihn den freien Arm um den Nacken, zog ihn zu sich, überraschte Youma dabei offensichtlich, denn er brach den Kuss kurz erstaunt ab – nicht aufhören – nicht aufhören – diese Nähe, diese Wärme, diese Zuneigung – sie war zu schön, zu schön um wahr zu sein; wie sehr hatte er sich nach etwas gesehnt, wovon er gar nicht wusste, dass es existierte...   Als sie sich voneinander lösten, fragte Youma nicht, was mit Nocturn los war. Er ließ ihn protestlos gewähren als sein Partner seine Arme um seinen Nacken schlang und kommentierte dessen ersticktes Weinen an seiner Schulter nicht.     Denn Nocturn war aus Glas. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)