Das Glasherz von AimaiLeafy ================================================================================ Kapitel 3: La Neige ------------------- „Wieder zwanzig mehr im Laufe der letzten zwei Tage.“ Noflieke machte sich nicht die Mühe, die Richtigkeit dieser Worte zu überprüfen; sie hätte sich über die Schulter ihres Bruders lehnen können, um die Dokumente zu lesen, die er gerade nebenbei studierte, doch sie war des Lesens ohnehin nicht mächtig, also vertraute sie Shonas Urteil und antwortete griesgrämig: „Die sind doch alle bekloppt.“ Shona war es vollkommen egal, ob die neuen Hordenmitglieder bekloppt waren oder nicht; sie traten ihrer sehr geschrumpften Horde bei, das war alles, was für ihn erst einmal wichtig war; warum sie es taten war etwas, worüber sie sich jetzt keine Gedanken machen brauchten – oder konnten. Denn ihre Horde war mittlerweile so klein, dass sie froh sein konnten über jedes neues Mitglied. Das bedeutete natürlich nicht, dass Shona es nicht nachvollziehen konnte, dass Noflieke es beschämend fand, dass der Zuwachs nicht ihnen zu verdanken war, sondern ihren neuen Allianzpartnern. Sie konnte ihnen nach wie vor nichts abgewinnen und obwohl die Allianzgründung zwei Monate zurücklag, ließ sie ihren Bruder immer noch spüren, dass sie deswegen wütend auf ihn war. Das war auch der Grund, weshalb Shona lieber nichts sagte und seinen Blick über das neu ernannte Trainingsareal schweifen ließ. Genau wie einige andere Schaulustige – die darum wetteten, wer gewinnen würde – beobachtete er kurz den Schlagabtausch Youmas und Nocturns, staunte mit leiser Eifersucht darüber, wie flink ihre Beinarbeit war und dass sie, scheinbar ohne bewusst darauf zu achten, die Oberfläche des giftigen Wassers bis jetzt kein einziges Mal berührt hatten.   Shona wollte sich gerade kopfschüttelnd wieder seiner Arbeit zuwenden, als ein beeindrucktes Raunen ihn ablenkte, weswegen er kurz über seine Papiere schielte. Nocturn war es wieder einmal gelungen, Youmas Kehle zu packen. „Wie langweilig“, urteilte Noflieke, aber diese Auffassung teilten andere Dämonen nicht und  Shona hörte, wie die wenigen, die auf Youmas Sieg gesetzt hatten – er war immerhin ein Wächter und wer setzte schon auf einen Wächter – unter lautstarken Beschwerden ihren Wetteinsatz übergaben. „Nocturn-sama ist einfach der Beste: eigentlich wäre dieser Wächter doch schon längst tot!“ „Ja, aber er ist es ja nun einmal nicht ...“ „Das liegt an seiner Aura. Die darf man nicht unterschätzen.“ „Nein, das ist Gnade.“ „Gnade, so’n Quatsch!“ „Nein, nein – sie sind doch Partner ...“   Davon bekamen die beiden Kontrahenten nichts mit; sie waren zu weit weg, um darauf zu achten, was andere Dämonen über sie sagten, obwohl Youma es natürlich brennend interessiert hätte. „Du lässt immer deine Kehle ungeschützt. Weißt du eigentlich, wie leicht es jetzt wäre, dich umzubringen? Wie viele Tötungsmöglichkeiten ich gerade habe?“ Statt seine Drohungen wahr zu machen, ließ Nocturn Youmas Kehle allerdings los und beide sprangen auseinander, jeder auf den eigenen aus dem grünen, trüben Wasser herausragenden Pfahl, wobei Youma seinen Kragen wieder richtete. „Selbst wenn ich dir den Kopf nicht abreißen würde – was nur mit ordentlich Schwung oder dem Einsatz von Magie möglich ist, je nachdem wem die Kehle gehört – haben wir da noch die Luftröhre und natürlich die Wirbelsäule... und ich für meinen Teil habe ja auch noch meine Fingernägel, mit denen ich dich aufspießen könnte. Und natürlich dürfen wir das klassische Erwürgen nicht vergessen, was allerdings unter Dämonen als Tötungsmethode nicht so beliebt ist – zu wenig Blut – aber als Druckmittel gerne angewandt wird.“ Youma konnte nicht umhin, über diese lange und ausführliche Erklärung zu Grinsen: „Dein Sieg gefällt dir, was? Ich glaube, er steigt dir ein wenig zu Kopf.“ Nocturn deutete ein Zucken mit den Achseln an, was wohl bedeuten sollte, dass er es nicht verneinen konnte und wenn er die Gelegenheit erhielt, Youma belehren zu können, dann tat er es auch – ohja! „Irgendwie haben sie sich verändert“, gab Noflieke zu bedenken, während Youma und Nocturn sich darüber stritten, wer während des Kampfes die Oberhand gehabt hatte. Shona antwortete nicht, da Youma sich nach der Diskussion mit seinem Partner zu Shona herüber teleportiert hatte und ihn sofort durch ein Gespräch über die letzte Konferenz mit den Hohen in Beschlag nahm.     Noflieke lag allerdings falsch. Es hatte sich eigentlich gar nichts verändert. Während Youma sich politisch interessiert zeigte, versuchte Nocturn, sich an den Dämonen interessiert zu zeigen – jedenfalls zehn Minuten lang, ehe er wie ein ungeduldiges Kind verlangte, nach Paris zurückzukehren. Dort angekommen würden sie zusammen ein Crepé essen, dabei über das Training reden und wenn Youma nicht gerade versuchte, Nocturn für die Politik zu begeistern, dann würden sie in ihr Appartement zurückkehren, vorerst getrennte Wege gehen, um sich dann abends beim Abendessen wieder an der gewohnten Küchenbar zu treffen. Danach dann würde Nocturn in der Stube einschlafen, während Youma noch über seiner Arbeit brütete und einen Kaffee trank.   Es war alles normal. Es hatte sich nichts verändert. Sie stritten und diskutierten. Sie planten und führten aus. Sie kämpften, gewannen mal und verloren mal. Und manchmal entfloh dem einen ein Grinsen, dem anderen ein Lächeln.   Sie hatten kein Wort darüber verloren, was geschehen war. Fast so... als wäre nie etwas geschehen.   Aber Youma wusste, dass etwas geschehen war. Nocturn mochte sich vielleicht keine Gedanken darüber machen, weil er zufrieden war mit dem, was er bekam und bekommen hatte, aber Youma spürte, dass etwas geschehen war ... und dass etwas aufgetaucht war, was vorher nicht so war. Er spürte es an Abenden wie diesem, wenn Nocturn eingeschlafen war und Youma kurz aufsah, weil er zu erschöpft war, um sich auf seine Dokumente zu konzentrieren. Diese Minuten waren es, die das verräterische Lächeln auf seinem Gesicht hervorbrachten, wenn er zu dem friedlich schlafenden Nocturn herüber sah. Es schlich sich auf sein Gesicht, ganz ungewollt und ungefragt. Aber Youma schob es beiseite. Immer und immer wieder. Er war verlobt. Er liebte Silence. Daher gehörte das Bedürfnis, Nocturn zu berühren, seine Haare aus seinem Gesicht zu streichen, sich womöglich noch einmal über ihn zu beugen, um herauszufinden, ob er ihn noch einmal angreifen würde ...  all das gehörte verboten. Es war einmal geschehen – und das eine Mal war schlimm – nein, nein, unverzeihlich – genug gewesen. Also schob Youma solche Gedanken immer wieder in den Hintergrund. Irgendwann würden sie schon verschwinden.   Und dann wandte Youma sich wieder seiner Arbeit zu.      Es geschah nicht an diesem Abend. Es geschah auch nicht am darauffolgenden Abend. Es geschah, als der Winter kam und Paris in Weiß kleidete, während Nocturn und Youma immer stärkere Präsenz in der Dämonenwelt zeigten und die Unzufriedenheit der Hohen wuchs. An diese politischen Dinge dachte Youma, einen neuen Füller über seinen Fingern hin und her wippend, mit den Gedanken gänzlich in der roten Welt. In Paris schneite es stark; der Eiffelturm war durch das Fenster nur an gelben Funken auszumachen und jedes Geräusch, das Youma - als der einzige, der im Appartement wach war - verursachte, schien dumpfer, stiller zu sein. Selbst sein Atem ging unter.   Youma war so in seine Gedanken versunken, dass er nicht bemerkte, dass Nocturn schon länger wieder wach war. Er war liegen geblieben, die Hand ein wenig von sich ausgestreckt und über die Kante des Sofas hängen lassend und ebenfalls in Gedanken versunken, während er in das weiße Schneegestöber hinausblickte.   „... Schnee stimmt mich melancholisch.“ Youmas Gedankengänge wurden unterbrochen und überrascht sah er zu dem liegenden Nocturn herab, welcher immer noch den Schnee beobachtete, aber bemerkt hatte, dass Youma ihn ansah. „Ich glaube, ich verbinde irgendeine verlorene Erinnerung mit Schnee. Deswegen ruft der Schnee etwas in mir empor, weckt etwas in mir ... die Erinnerung sehe ich zwar nicht mehr, aber die Traurigkeit fühle ich wie ein Echo.“ Youma wusste nicht, was er dazu sagen sollte und das spürte Nocturn, weshalb seine Augen kurz zu ihm herüber huschten und er mit einem leichten Grinsen sagte: „Pardon, dass ich dich gestört habe. Arbeite weiter, ich versuche, wieder zu schlafen.“   Aber Nocturn schlief nicht wieder – keiner der beiden hatte wirklich damit gerechnet – und Youma war daher auch nicht sonderlich überrascht, als Nocturn ihn nach dem Verstreichen mehrerer Minuten wieder ansprach, mit einem fast schon entschuldigenden Tonfall:   „Youma?“ „Ja, Nocturn?“   Nocturn antwortete nicht sofort, aber Youma sah, dass er kurz lächelte, als er seinen Namen gesagt hatte – nur kurz, dann verschwand es wieder, denn das Thema, was er ansprechen wollte, war ernst, das war Youma bewusst, weswegen er auch den Füller beiseitelegte.   „Wenn ich die Hilfe eines Freundes bräuchte ... wärst du dann derjenige, der mir helfen würde?“   Die Antwort folgte ohne Umschweife, ohne ein Nachdenken, ohne Zögern:   „Das wäre ich.“ Youma konnte sich keinen Begriff davon machen, wie unendlich erleichtert und froh Nocturn über diese klare und unbeirrte Antwort war. Das Thema hatte ihm den ganzen Tag schwer im Magen gelegen; er hatte versucht, es sich nicht anmerken zu lassen und da Youma mit seiner Strategie beschäftigt gewesen war und sich unter anderem mit Shona und Lacrimosa getroffen hatte, um die nächsten Schritte zu besprechen, war es niemandem aufgefallen; außer Feullé, aber sie hatte sich nicht getraut, es anzusprechen. Doch obwohl es ihn wahrlich bedrückt hatte, kam es nun leicht von seinen Lippen: „Ich habe heute einen Brief von einer Anwaltskanzlei bekommen.“   Youma runzelte die Stirn, denn ein menschliches Thema hatte er nicht erwartet. Solche Dinge besprach Nocturn – wenn er sie nicht alleine klärte – eigentlich mit Feullé oder Blue. Warum bat er ihn da um Hilfe? Und wie sollte er bei menschlichen Angelegenheiten überhaupt eine Hilfe sein?   „In dem Brief steht, dass ich geerbt hätte ... es sieht so aus, als würde mir nun ein Haus in einem kleinen Dorf namens La Roche in der Nähe von Cherbourg-Octeville gehören.“ Bis zu diesem Augenblick hatte Nocturn ihn nicht angesehen; jetzt tat er es aber und die Blicke der beiden trafen sich. Youma verstand nun, worauf er hinauswollte, dennoch sprach Nocturn es aus: „Ich erinnere mich nicht daran, jemals in dieser Stadt oder dem Dorf gewesen zu sein, in dem das Haus sich befindet. Es ist mit anderen Worten etwas, das mich nun aus der Zeit einholt, die ich vergessen habe.“ Er holte Luft, brach den Blickkontakt nicht ab, doch in seinem Blick lang eine inständige Bitte: „Würdest du mit mir zusammen da hin reisen? Ich weiß, wir haben momentan eigentlich keine Möglichkeit dazu ... den Hinweg müssten wir nämlich wie Menschen bestreiten und das ist schon eine lange Strecke. 400 Kilometer. Irgendwo im Westen von Frankreich. Zurück können wir uns ja teleportieren.“ Und wenn es 1000 Kilometer gewesen wären und sie in ein anderes Land hätten reisen müssen, so verstand Youma, dass es unmöglich war, Nocturns Bitte abzulehnen. Sein Partner war nie erpicht darauf gewesen, das Mysterium seiner verlorenen Erinnerungen zu enthüllen – wenn jetzt der Zeitpunkt gekommen war, es zu tun, dann war Youma nicht derjenige, der dem im Weg stehen würde. Daher stimmte er zu, obwohl er natürlich am besten wusste, dass sie eigentlich keine Zeit hatten, um anderes zu tun, als in der Dämonenwelt aktiv zu sein.   „Ich wusste, ich könnte mich auf dich verlassen“, antwortete Nocturn und grinste, obwohl das ein wenig gelogen war – er hatte es gehofft. Er hatte es so innig gehofft, aber gewusst hatte er es nicht, war keineswegs davon überzeugt gewesen, aber hatte diese Worte so gerne sagen wollen, dass es ihm egal war, ob sie nun ein wenig gelogen waren oder nicht.  Von diesen Gedanken wusste Youma natürlich nichts – er sah nur seit sehr langer Zeit wieder Röte auf Nocturns Gesicht, was ihn sofort ebenfalls zu einem Lächeln brachte.          Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)