Das Glasherz von AimaiLeafy ================================================================================ Kapitel 11: L'Illusion de Nocturn ---------------------------------   Noch konnte Youma nicht mit Gewissheit bestimmen, was ihn an Nathiel so unglaublich abschreckte, denn wie Nocturn schon bemerkt hatte, war ihre Aura tatsächlich um einiges schwächer als deren. Dennoch war sie deutlich darauf aus, ihnen zu schaden – aber warum das Ganze? Warum hatte sie die beiden daran gehindert, sich wegteleportieren zu können, um sie somit an diesen Ort zu ketten? Was lag hinter ihrem enormen Interesse an Nocturn, weshalb sie sogar willig war, in seine Illusion hineingezogen zu werden? Nein, eigentlich gingen die Fragen sogar noch weiter zurück: warum hatte sie überhaupt gewollt, dass Youma Nocturn wiederbelebte? Youma hatte immer geglaubt, dass Nathiel einfach nur Karous Begleitung gewesen war und dass sie selbst kein Eigeninteresse an der Wiederbelebung Nocturns hatte – aber das glaubte er jetzt nicht mehr und wenn er sich richtig erinnerte, dann war es auch sie gewesen, die ihm den Vorschlag unterbreitet hatte.   Aus diesen Gründen vergaß Youma auch jede Höflichkeit, schob die immer noch Lachende grob aus dem Weg und verschaffte sich somit Zutritt zu dem Haus, in welchem er sich – höchstwahrscheinlich – auch noch in der Wirklichkeit befand.   Nathiel lachte immer noch, als sie seelenruhig die Tür hinter sich schloss und ihre roten Augen sahen Youma hinterher, der schnellen Schrittes den Gang herunterging, immer der Musik folgend, die eindeutig aus dem Raum kam, die Nocturn und er in der Wirklichkeit noch nicht untersucht hatten – der Raum, der mit der großen Doppeltür versehen war. Youma legte entschlossen seine Hand auf die graue Klinke und wollte die Tür gerade mit einem Ruck öffnen, doch sie bewegte sich nicht. Sie war abgeschlossen.   „Nocturn!“, rief Youma laut und klopfte in der gleichen Lautstärke gegen die Tür, doch sie wurde nicht geöffnet und das Klavierspiel nicht unterbrochen. Was spielte er überhaupt? Sowieso, seit wann spielte er Klavier? In ihrem Appartement in Paris stand zwar ein Flügel, aber Youma hatte noch nie gesehen oder gehört, dass Nocturn auf ihm spielte. Er stand da einfach und sammelte Staub.   Gut, die Tür wollte sich Höflichkeit nicht erbarmen, weshalb Youma wohl nichts anderes übrig blieb, als die Tür mit Gewalt aufzubrechen. Aber davon hielt ihn Nathiel ab, die plötzlich neben ihm stand und breit lächelnd auf ihren Hacken vor und zurück wackelte. „Ich glaube, das sollten Sie nicht tun – wir befinden uns immerhin in dem Unterbewusstsein von meinem kleinen Jungen. Wir wollen doch nicht, dass es noch irgendwie beschädigt wird, oder?“ Wieder kicherte sie leise in sich hinein und zu Youmas Erleichterung entfernte sie sich daraufhin von ihm: „Ich denke, Sie brauchen einen Schlüssel.“ Von Youmas skeptischem Blick verfolgt legte sie die Hand auf das Treppengeländer und war schon dabei, die Treppe heraufzugehen. „Viel Vergnügen – währenddessen werde ich in...“ Sie kicherte schon wieder: „... in Erinnerungen schwelgen.“   Rein aus Prinzip wollte Youma nicht auf ihren Ratschlag hören und als sie oben angekommen war und sich somit aus seinem Sichtfeld entfernte – er hörte allerdings nicht das Öffnen oder Zugehen einer Tür... – versuchte er zuerst, sich in den Raum hinein zu teleportieren, doch das funktionierte nicht, als würde eine kraftvolle Quelle ihn davon abhalten. Frustriert wandte er sich auf den Hacken herum und ging zurück zur Haustür, in der Absicht, den Raum vielleicht von außen betreten zu können – aber die Haustür war plötzlich ebenfalls abgeschlossen. „Das ist jetzt nicht euer Ernst...“, knurrte Youma, obwohl er nicht wusste, wen er genau für diese missliche Situation verantwortlich machen sollte.   Gut, er brauchte also wirklich einen Schlüssel. Warum machte Nocturn es ihm nur so schwer? Konnte er ihn nicht einfach hereinlassen, damit sie endlich aus dieser Illusion oder Visualisierung verschwinden konnten? Es konnte doch wohl kaum in seinem Interesse sein, an diesem Ort zusammen mit dieser Frau eingeschlossen zu sein...   Gerade als Youma kurz davor war, seine Bitte an Nocturn, ihm doch bitte den Schlüssel zu geben oder die Tür zu öffnen, einfach in den Raum zu werfen, bemerkte er aus dem Augenwinkel einen sich bewegenden Schatten. Sofort wirbelte Youma herum, fest davon überzeugt, dass es sich um Nathiel handeln musste – und diese wollte er unter keinen Umständen nahe an sich herankommen lassen – als er bemerkte, dass es jemand anderes war. Er sah diese Erscheinung nur sehr kurz, ehe sie in der Stube verschwand – aber dieser kurze Augenblick hatte genügt, um Youma dazu zu bringen, ihr zu folgen. Denn die Frau mit dem hochgesteckten Haar hatte einen kurzen Blick zu ihm geworfen und bei diesem Blickaustausch war Youma klar geworden, dass sie ihn zu dem Schlüssel führen würde, denn die Frau, die ihm gänzlich unbekannt war, hatte die gleichen purpurfarbenen Augen gehabt wie der Nocturn, der ihn durch sein Unterbewusstsein geführt hatte. Diese weibliche Gestalt war also Nocturns Unterbewusstsein, sein Begleiter – aber warum war sie dann nicht bei ihm? Darüber hinaus gab es noch einen weiteren Unterschied; sein Begleiter war farbig gewesen, Nocturns Begleiterin allerdings war genauso grau und schattenartig wie der Rest dieser toten Welt; nur ihre Augen hatten Farbe besessen.   All diese Gedanken rasten in aller Schnelle durch seinen Kopf, denn er ließ sich keine Zeit, stillzustehen und sich in aller Ruhe diesen Gedanken zu widmen; er war ihr sofort hinterher gerannt, denn er fürchtete, dass die Frau verschwinden könne – sie hatte sehr unwirklich und diffus gewirkt und immerhin hatte Youma kaum einen Anhaltspunkt, um den Schlüssel zu finden. Er stürzte daher an der Kommode vorbei; dabei nicht bemerkend, dass die Bilderrahmen, die in der Wirklichkeit noch mit alten Fotos gefüllt gewesen waren, nun allesamt leer waren...   Aber seine Sorgen waren unbegründet, denn als er um die Ecke bog, stand die fremde Frau dort noch. Jetzt tat sie allerdings so, als würde sie sein Eintreten in die Stube nicht bemerken, obwohl er sich sicher war, dass sie ihn eben direkt dazu aufgefordert hatte, sie nicht nur anzusehen, sondern ihr auch zu folgen. „Darf ich fragen, wer Sie sind?“, fragte Youma höflich, denn er sah ihr an, dass sie keine normale Dämonin war; dass sie eine Frau war, die auf Höflichkeit und Benehmen achtete: ihre Haare trug sie hochgesteckt und ihre Kleidung war vornehm, aber eine Dämonin war sie dennoch; er erkannte es an ihren spitzen Ohren. Doch sie schien ihn nicht zu hören, denn sie antwortete nicht. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt und sah auf etwas herab – dann ertönte ihre geisterhafte, fern und verzerrt klingende Stimme:   „Wenn Sie ihre Arbeit beendet haben, dann verschwinden Sie von hier.“ Zuerst glaubte Youma, dass die Frau mit ihm sprach, aber dann ertönte eine Antwort von jemandem, der vor ihr in dieser aufgeräumten Stube stehen musste – eine Antwort von jemandem, den er hier garantiert nicht erwartet hatte. Die Stimme klang genauso verzerrt wie die der Frau, aber es war unzweifelhaft Karous Stimme, die ihr antwortete: „Keine Sorge; ich habe nicht vor, mich länger als nötig in dieser Welt aufzuhalten, Raria-san.“   Raria? Dieser Name war Youma kein Begriff; er hatte ihn noch nie gehört – nein, warte; hatte er doch, allerdings erst vor Kurzem. Er hatte es dank seiner mangelnden Sprachkenntnisse nur für ein französisches Wort gehalten, aber jetzt wurde ihm bewusst, dass Nocturn ihren Namen immer wieder wiederholt hatte, während er bewusstlos gewesen war.   „Wenn Sie nur hierhergekommen sind, um ihm seine Medikamente zu injizieren, dann frage ich mich, warum Sie unbedingt Nathiel mitbringen mussten.“ „Wenn Sie wüssten, wie anstrengend die Allüren Ihrer Schwester sind, dann würden Sie es verstehen.“ Karou entfernte sich nun aus dem Winkel, auf den Youma keinen Einblick hatte und er fuhr zusammen, als er bemerkte, dass Karou direkt auf ihn zu ging – hastig sprang er zur Seite, bemerkte dabei, dass er nicht der Einzige war, der Karou aus dem Weg ging: die ganze Zeit von Youma unbemerkt hatte ein kleines Kind neben ihm an der Wohnzimmeröffnung gestanden und gelauscht: Nocturn! Youma wollte sich schon nach ihm umdrehen, da war das kleine Kind schon die Treppen heraufgestürzt, gefolgt von Karous Augen, welcher sich nun allerdings abwandte und zu Raria zurück sah: „Sorgen Sie dafür, dass er auf der Stelle wieder herunterkommt.“ Aber Raria schreckte nicht vor Karou zurück. Sie stemmte die Hände in die Hüfte und beugte sich ein wenig vor: „Warum sollte ich? Ich denke, er hat einen guten Grund, um vor Ihnen wegzurennen.“ Was für eine schlagkräftige Frau, dachte Youma beeindruckt, und dabei war sie noch gar nicht fertig: „Was ist das eigentlich, was Sie ihm da immer injizieren? Bis jetzt ist er noch nie krank gewesen.“ „Wenn Sie ihn nicht sofort runterholen, werden Sie unzweifelhaft herausfinden, weshalb die Spritzen notwendig sind.“   Youma wandte den Blick von den beiden ab und sah die Treppe hinauf – ganz wie er erwartet hatte, war Nocturn nicht in eines der oberen Zimmer verschwunden, denn wäre er es, wäre die Szene, die Youma gerade beobachten konnte, wahrscheinlich zu Ende gewesen; immerhin waren es Nocturns verlorene Erinnerungen. Anstatt gänzlich zu fliehen, hatte der kleine Junge sich auf der obersten Treppenstufe zusammengekauert und lauschte dem Gespräch, die Hände dabei am Geländer festhaltend.   „Gut“, gab Raria unzufrieden klingend wieder nach und Youma beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Karou zurück in das Wohnzimmer ging; Youma allerdings wandte sich nicht von dem kleinen Nocturn ab – er beobachte ihn, während er dem Gespräch von Raria und Karou mit halbem Ohr folgte: „Aber ich habe eine Bedingung.“ „Oh denken Sie wirklich, Sie wären in der Position, Bedingungen zu stellen...“ Raria ließ sich nicht einschüchtern, wie Youma an ihrem Tonfall hören konnte, seine Augen allerdings immer noch auf Nocturn gerichtet... war da nicht jemand hinter ihm?   „Ohja, das denke ich. Und daher werden Sie mir jetzt auch sagen, woher der Junge seine Narben hat.“ „Das interessiert Sie?“, antwortete Karou erschöpft und ein wenig genervt klingend, aber obwohl deren Gespräch wirklich überaus interessant war, war Youma nicht in der Lage, sich vollends auf sie zu konzentrieren, oder sich gar von dem kleinen Kind abzuwenden, denn Nocturn hatte den Schatten, der eindeutig Nathiel gehörte, noch nicht bemerkt. Diese Nathiel allerdings gehörte in diese Erinnerung, denn sie war genauso grau wie die anderen hier wandelnden Gestalten, weshalb Youma wusste, dass er nichts tun konnte, um den kleinen Nocturn vor der Person hinter ihm zu warnen, die sich ihm mit äußerster Vorsicht näherte. Was hatte sie vor? Wollte sie ihn auf frischer Tat beim Lauschen ertappen?   „Waren Sie es mit Ihren kranken Forschungen?“, hörte Youma Raria fragen, was Karou ein dumpfes Auflachen entlockte – und dann verwischten die Stimmen der beiden plötzlich, denn Nocturn hatte Nathiel bemerkt, womit das Gespräch von Karou und Raria sich in den Hintergrund schob.   „Hast du mich vermisst?“ Die Stimme Nathiels war um einiges klarer und deutlicher zu hören als die der anderen Anwesenden – kein Wunder, denn sie hatte sich nun langsam zu ihm heruntergebeugt, um diese Worte mit einem überaus zufriedenen Lächeln in sein Ohr zu flüstern.   Youma erstarrte, genau wie er Nocturn erstarren sah. Er sah die Angst in seinen Augen und fühlte regelrecht, dass das kleine Kind zu große Furcht hatte, sich zu ihr herumzudrehen. Nur seine Augen huschten nervös in ihre Richtung, während seine sich immer noch an das Treppengeländer klammernde Hände weiß wurden. Zuerst glaubte Youma, dass er sich das, was er da gezwungen war, zu beobachten, einbildete, denn er konnte sich keinen Reim daraus machen, warum sie ihre Hände unter den schwarzen Stoff seines Oberteils gleiten ließ, ihn dabei fest an ihren Körper pressend. „Oh wie ich habe deinen Körper vermisst...“ Erleichtert, weil Youma die schreckliche Erkenntnis kalt in sich aufkommen spürte, sah er, dass Nocturn den Mund öffnete, um zu schreien --- Raria würde ihm doch helfen --- sie würde das ganze sicherlich unterbinden --- das durfte doch nicht geschehen, er war doch noch so klein --- Doch da schnellte Nathiels Hand hervor und voller Genuss, wie es Youma vorkam, hielt sie dem kleinen Kind den Mund zu, steckte ihm förmlich die Finger in den Mund, davon keine Notiz nehmend, dass er sie, versuchend, sich von ihr loszureißen, blutig biss. „Nein, nein, mein Kleiner – du darfst ein anderes Mal schreien, aber nicht jetzt. Du willst doch nicht, dass sie dich hören, oder?“   Voller Abscheu und zu völliger Ohnmacht verdammt stolperte Youma rückwärts, dabei gegen die Wand stoßend --- warum half ihm denn niemand!?   „Warum fragen Sie mich das? Sie sollten lieber Ihre Schwester fragen, anstatt mich mit solchen Fragen zu langweilen.“   Nathiel zerrte an seiner Kleidung, Nocturns Kopf stieß geräuschlos gegen das Treppengeländer --- aufhören, es musste aufhören---   „Warum ich Nathiel nicht frage? Weil Sie genauso gut wie ich wissen, dass sie schon lange nicht mehr zurechnungsfähig ist – dank Ihnen!“   Sie vergrub ihr Gesicht zwischen seinen mageren Schulterblättern, das Blut lief ihrer Hand herunter und Youma hörte Geräusche, die zwar leise waren, aber dennoch an Nocturns Ohren drangen und die Youma überhaupt nicht hören wollte.   „Nathiel-san war schon immer...“ Dann riss Karous Stimme ab – Nocturn konnte sie nicht mehr hören. Tatenlos ließ er es nun einfach über sich ergehen, die Stäbe des Geländers an sich klammernd, als wären sie der einzige Halt in dieser Welt --- Youma wollte die Augen zupressen, aber es ging nicht; er konnte sich von diesem Grauen nicht abwenden, musste mit ansehen, wie Nathiel das Kind auf die Treppenstufen herunterdrückte und ihrer unbändigen, abscheulichen Gier freien Lauf ließ.   „Nocturn!“ Viel, viel, viel zu spät kam Nathiel beim Klang Rarias Stimme zum abrupten Stillstand. Hoffnungsvoll hob Nocturn den von Tränen und Blut verschmierten  Kopf – diese Hoffnung, dieses stumme Flehen um Hilfe in diesen großen Kinderaugen zerriss Youmas Herz. Es gelang Nocturn allerdings nicht, ihren Ruf zu erwidern, da Nathiel schneller war als er und mit geübter Hand packte sie seinen Kopf an den Haaren, zwang ihn so dazu, sie wieder anzusehen und leckte ihm in aller Hast, aber sehr systematisch sämtliche Spuren aus dem Gesicht und knöpfte ihm das Oberteil wieder zu. Dann gab sie ihm einen Stoß die Treppen herunter und folgte ihm mit großer Zufriedenheit.   „Wie siehst du denn aus, Junge – was hast du mit deinen Haaren gemacht!?“. entfuhr es Raria aufgebracht, als Nocturn zitternd im Eingang zur Stube erschien, dicht gefolgt von Nathiel. „Sei doch nicht so streng mit ihm, Rari-nee! Der Kleine war draußen...“ Sie legte ihre Hand auf seinen Kopf und rubbelte die schwarzen Haare: „... und hat... hihihi... gespielt, nicht wahr, mein Kleiner?“   Alle Abscheu verwandelte sich in blanke Wut und verzerrte Youmas Gesicht, als sie genau neben ihm stand und schelmisch und mit großer Zufriedenheit in die Runde lächelte – er hatte noch nie jemanden getroffen, der es so sehr verdient hatte, zu sterben! Wie konnte sie einem Kind etwas so Schreckliches antun; diese Narben, die Nocturn auch jetzt noch quälten, obwohl er sich nicht an sie erinnern konnte... sie hatte das nicht nur einmal getan!   Die Nathiel, die jetzt neben ihm stand, konnte er nicht zur Rechenschaft ziehen, aber die Nathiel, die sich in der oberen Etage befand, konnte er töten – und er würde es, würde diese Welt, Nocturn, von ihr befreien!   Sämtliches Interesse an dem Geschehen verloren habend wechselte Youma in den Dämonenmodus, wandelte seine Sense um und steuerte ohne an Konsequenzen zu denken die Treppe an, auf der diese Frau Nocturn gerade vergewaltigt hatte – und stellte fest, dass er nicht der Einzige war, der es beobachtet hatte: über ihm ans Geländer hatte sich die echte Nathiel gelehnt und sah ihn nun mit erwartungsvollen Augen an.   Sie wusste es. Sie sah es in seinem Gesicht.   „Wut steht Ihnen...“, wispelte sie verzückt und fuhr fort: „Aber Sie sind es nicht, der mich umbringen wird. Es wird Menuét sein.“   Youma wollte keinen einzigen Ton mehr aus ihrem Mund hören, nie, nie wieder --- aber gerade als die Sense auf sie zurasen sollte, wurde er unterbrochen. Der Geist Rarias ging die Treppe hoch; sie trug andere Kleidung, das Haar offen – eine andere Erinnerung? „Sie haben den Schlüssel doch noch gar nicht, Youma-san – vielleicht sollten Sie sich erst einmal der Arbeit zuwenden und dann dem Vergnügen?“   Youma knurrte hasserfüllt, aber da hatte Nathiel sich schon in den Schatten verzogen und widerwillig ließ er Raria passieren. Sie war in Gedanken verloren; Gedanken, die ihr nicht zu behagen schienen: „Warum tut sie das nur... sie wurde doch selbst...“ Dann blieb sie vor der Zimmertür zu Youmas Rechten stehen; die Stirn besorgt in Falten gelegt. „Nocturn, sie ist weg.“ Es dauerte lange, aber Raria zeigte sich geduldig und wartete, bis er die Zimmertür einen Spalt breit öffnete. Er sagte nichts; sah sie einfach nur an. Warum öffnete sie nicht einfach die Tür und nahm dieses arme Kind endlich in den Arm?!   Stattdessen versuchte Raria sich an einem Lächeln, doch es wollte ihr nicht gänzlich gelingen: „Wollen wir musizieren?“ Erleichtert bemerkte Youma, dass Nocturns Augen aufleuchteten und er die Tür weiter auf schob: „Spielst du das Lied des Herbstes für mich?“ Wie anders seine Stimme klang! So klein, so verzagt, so unsicher... „Nein“, begann Raria, sich nun zu dem enttäuscht aussehenden Nocturn herunter kniend: „Ich denke, du solltest spielen. Auf der Hengdi, ich werde dich dann mit dem Piano begleiten. So etwas nennt man ein Duett.“ Diese Vorstellung schien für Nocturn sehr abschreckend zu sein: „Nein, das... das kann ich nicht, das will ich nicht, ich kann doch nicht...“ Er wollte die Tür wieder schließen, aber Raria schob ihren Fuß dazwischen, weshalb er sich umentschied und sich stattdessen hinter der Tür verbarg und noch einmal beteuerte, dass er es nicht konnte. „Nocturn, was redest du da? Du hast doch schon so oft auf ihr gespielt.“ „Aber die Herrin... die Herrin hat gesagt, dass sie nicht mir gehört... dass sie jemandem gehört, der... der auch so heißt... wie ich.“ Die Hand, die Raria gerade ausgestreckt hatte, um die Tür zu öffnen, erstarrte kurz, doch dann öffnete sie sie entschlossen und Youma war überrascht, aber durchaus beeindruckt, dass sie sich nicht von ihrem eigenen Zögern abhalten ließ, die Tür öffnete und Nocturn trotz seiner anfänglichen Proteste nicht unbedingt liebevoll, aber mit vertrauensvoller Kraft auf den Arm hob. „Ja? Ist das so? Die Frau redet viel, wenn der Tag lang ist und du solltest auf kein einziges Wort hören.“ Nocturn wehrte sich nicht mehr; die Nähe und die Worte Rarias schienen ihn zu beruhigen und Youma folgte ihnen die Treppe wieder herunter, den Punkt finster anstarrend, auf dem er Nathiel vor wenigen Minuten noch gesehen hatte. Hoffentlich würden sie ihn zum Schlüssel bringen – er ertrug die Vorstellung nicht, dass diese Frau noch in diesem Haus war.   Die beiden hatten seinen nicht ausgesprochenen Wunsch offensichtlich gehört, auch wenn er anders in Erfüllung ging, als er geglaubt hatte – Raria öffnete die große Doppeltür, setzte Nocturn ab und ließ ihn vorgehen... und dann hielt sie die Tür förmlich für ihn offen. Er brauchte also keinen Schlüssel.      Schnellen Schrittes hechtete Youma durch den Gang und in den großen, halbrunden Raum hinein. Kaum hatte er den Raum betreten, in dessen Mitte ein großer Flügel stand und dessen Wände mit Bücherregalen und anderen Instrumenten gepflastert waren, verstummte die Musik augenblicklich und mit einem leichten Schaudern stellte Youma fest, dass er alleine war – nein, gänzlich alleine war er nicht und noch bevor er den Raum näher untersuchen konnte, musste er ihm schon den Rücken zukehren. Jemand war an ihm vorbei gelaufen, aus dem Raum geflohen; eine kleine Gestalt – Nocturn!   Aber es war ein anderer Nocturn als der, den Raria gerade in den Raum gebracht hatte; er war genauso farbig wie Youma es war, aber wenn das der echte Nocturn war, warum war er dann... Kind?   Diesen Fragen konnte er sich allerdings später widmen: mit Panik bemerkte Youma nämlich, dass Nocturn die Treppen hochrannte – und da oben war Nathiel! Er würde ihr direkt in die Arme rennen! „Nicht!“, rief Youma ihm hinterher, die Treppe wieder hoch und hinein in das einzige offene Zimmer; die Sense wandelte er sofort um, denn Nathiel hatte tatsächlich die Chance zu wissen genutzt und den kleinen Nocturn wild lachend in die Arme geschlossen: „Wie stürmisch du bist! Hast du mich auch vermisst, mein Kleiner?“ Wie irrsinnig diese Frage war! Bemerkte sie nicht, dass er versuchte, sich aus ihrer Umklammerung zu befreien? Sah sie nicht den Widerwillen in seinen Augen?!       „Lass ihn los!“, rief Youma, doch brachte Nathiel nur dazu, noch lauter zu lachen und Nocturn noch inniger an sich zu drücken: „Oh, du kannst ja töten, erbarmungsloser Sensenmann! Töte uns beide! Mit ihm zusammen zu sterben ist eine wunderschöne Vorstellung! Vielleicht werden wir dann nie wieder hier heraus kommen – dann sind wir zusammen! ZUSAMMEN FÜR IMMER!“   Leider, leider, hatte Nathiel Recht – wenn er Nathiel mit seiner Sense angreifen würde, dann war die Gefahr sehr groß, dass er Nocturn auch treffen würde; ihre Köpfe waren zu nah; er würde sie beide köpfen---   „Das wäre für dich doch auch gar keine so schlechte Vorstellung, oder?! Du verlangst doch auch nach ihm, wo ist der Unterschied!?“   Denk nach, Youma, denk nach --- er ließ seine Augen durch das kleine Zimmer huschen; ein Kleiderschrank, ein Bett, ein Nachtschrank, Stuhl – ach, das brachte doch alles nichts; das graue Fenster gleich hinter der Wahnsinnigen, die Nocturn ebenfalls in den Wahnsinn hinab gezogen hatte und vor dem Fenster die Hengdi auf dem Stativ----   Die Hengdi!   „Nocturn!“ „Oh nein, nein, nein, nein! Diesen Namen will ich hier nicht mehr hören, den müssen Sie sich aber abgewöhnen, Youma-san, aber ganz schnell! Wussten Sie denn nicht, dass Rari-Nee, meine verfluchte Zwillingsschwester, ihm meinem Kleinen aufgezwungen hat?“ Youma versuchte, jedes Wort zu ignorieren, Nathiel gänzlich aus seinen Gedanken zu verdrängen, nur Nocturn zu fixieren, der seinen Blick allerdings nicht erwiderte. Er war zu sehr von seiner Angst und seinen Versuchen, sich von Nathiel zu befreien, gelähmt --- aber er würde ihn dazu bringen, zu hören!   „Nocturn, Nocturn, schau mich an! Ich weiß, diese Frau ist schrecklich und du hast allen Grund, Angst zu haben, aber hör mir zu!“ „Was redest du da eigentlich?! Wie kannst du es wagen, in der Sprache dieser jämmerlichen Wächter zu sprechen und seine Ohren zu beschmutzen!“ „Nocturn, schau mich an, ich bitte dich! Ignoriere diese Frau und hör nur mich! Du weißt doch, wer ich bin; der Idiot, der dich wiederbelebt hat, obwohl du es eigentlich gar nicht wolltest! Der ewig Machthungrige mit seinen ganzen nervigen Plänen!“ „Sei endlich still! Niemand will hören, was du zu sagen hast!“   Und dann kamen sie wieder; die Hände, die ihn bereits beim Übergang der gläsernen Passage hatten aufhalten wollen. Doch dieses Mal besaßen sie mehr Kraft; ohne Probleme rissen sie Youma rücklings zu Boden, wo sie ihn herunterzogen, als wäre der Boden ein schwarzer Sumpf, an dessen Grund Verdammnis lauerte. Aber Youma gab nicht auf, obwohl er nun schreien musste, um Nathiels wahnsinniges Lachen zu übertünchen: „Weißt du nicht mehr, wer ich bin?! Ich bin dein Partner! Dein Freund! Und als dein Freund bitte ich dich, die Hengdi zu nehmen! Sie ist genau hinter dir, du kannst dich nach ihr ausstrecken!“ „... die Hengdi?“   Sie hatten Augenkontakt.   „Die... die kann ich doch nicht nehmen...“, flüsterte Nocturn und es war Youma, als wäre das das einzige, was in diesem so lärmenden Raum zu hören war: „... sie gehört mir nicht.“ „Natürlich tut sie das!“, rief Youma nach Luft schnappend, denn die Hände zogen ihn hinab: „Du bist doch Nocturn, der Flötenspieler!“   Kurz traute Youma seinen Augen nicht. Es war nicht Nocturn, der agierte – oder doch?! – und auch in Nathiels Augen sah er den Schock dieser unerwarteten Wendung; sie hatte es auch nicht kommen gesehen und starrte der angreifenden Raria kurz absolut verdattert in die purpurfarbenen Augen --- flüsterte den Namen ihrer Schwester, ehe ihre langen Fingernägel sie zu Boden rissen. Nocturn wurde losgelassen, er stürzte zu Boden, Raria genauso anstarrend wie die anderen.   Aber Youma löste sich schneller als die anderen von der Überraschung und da die Hände ihn nicht mehr festhielten, sprang er mit gezogener Sense auf Nathiel zu. „NOCTURN, DIE HENGDI, VERDAMMT NOCHMAL!“   Und im gleichen Moment, wie Nocturns Finger das nun am Boden liegende Instrument umschlossen, schnitt Youmas Sense durch den Hals, der nun wieder zu lachen begonnen hatte.                                 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)