It Happened Late One Evening von Puppenspieler (Monster Tamer Tsuna - frei interpretiert) ================================================================================ Prolog: -------- Der Raum war klein, zu klein fast für die Menge an Leuten, die auf nackten Holzstühlen rings um die Wände verteilt darin saßen. Der Boden war mit kalten, gräulich-weißen Fliesen bedeckt, die Wände weiß verputzt und an der Decke waren lange Leuchtstoffröhren befestigt, die ein kühles, klinisches Licht spendeten. Die Luft roch hingegen weit weniger klinisch; ein unverkennbarer Geruch nach Maschinenöl und Technik hing im Raum. Es war still. Auf der einen Seite führte eine schwere, mit einem Zahlencode gesicherte Stahltür hinaus, die jeden Laut, der hinter ihr geschah, völlig erstickte, und auch die normale Holzimitattür auf der gegenüberliegenden Seite ließ nur Stille hineindringen. Doch so still es war, so angespannt war es auch. Die Mienen der Anwesenden waren größtenteils verbissen, abwartend, eine fast greifbare Spannung knisterte zwischen ihnen. Ein Räuspern ließ einen jungen Mann von vielleicht siebzehn Jahren zusammenfahren. Zerzaustes, braunes Haar umrahmte sein kindliches Gesicht. Die großen Augen darin waren weit aufgerissen und groß, als er sich hektisch umsah. Ein zweiter Junge in seinem Alter, weit größer als er, mit weißem Haar und einem Pflaster im Gesicht, winkte mit einem entschuldigenden Grinsen ab und der Braunschopf sackte wieder auf seinem Stuhl zusammen. „Habt Geduld.“ Es war leichter gesagt, als getan; in den Gesichtern der Anwesenden spiegelte sich Unruhe und Ungeduld, Hände waren zu Fäusten geballt. Ein Junge, dessen halblanges graues Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war, stand abrupt auf, keine fünf Minuten nach der letzten Unterbrechung. Das neuerliche Zusammenfahren des Braunhaarigen ließ ihn für einen Moment entschuldigend und reumütig dreinsehen. „Oi, wo willst du hin?“ – „Ich geh eine rauchen.“ Das leise Schließen der Tür klang unnatürlich laut, als sie hinter ihm ins Schloss fiel. Einige der Anwesenden tauschten nervöse Blicke, dann stand der Nächste auf. Hochgewachsen, schwarze Haare, kalter Blick. Er gab keinen Ton von sich, als er ebenfalls die dunkelbraune Tür ansteuerte, und er machte sich auch nicht die Mühe, die Tür hinter sich leise zu schließen; der Knall hallte wie ein Kanonenschuss von den nackten Wänden wider. Der Braunhaarige sah unsicher zur Tür hinüber, dann zu seinen Begleitern. Ein weiterer Schwarzhaariger mit sonnenbrauner Haut zuckte die Schultern in einer Geste, die beinahe karikativ unbekümmert wirkte in der drückenden Anspannung. Der Braunschopf lächelte kurz, dann wanderte sein Blick weiter zu einer kleinen Gestalt, die auf einem so hohen Barhocker saß, dass sie trotz ihrer niedrigen Größe auf Augenhöhe mit den Anderen war. Die Gestalt regte sich lange nicht, dann nickte sie nur einmal kurz. Wie auf ein stilles Kommando hin erhob sich der Rest der Gruppe, steuerte die Tür an. „Wer kommt mit in die Mensa?“ „Ich! Ich habe extremen Hunger!“ „Ich geh lieber raus.“ „…Ich sehe nach den Kindern…“ Als die Tür wieder zufiel und gespenstische Stille in den Raum zurückkehrte, saß die kleine Gestalt mit dem Fedora immer noch auf ihrem Barhocker, den Blick aus unergründlichen Augen auf die massive Stahltür gerichtet, hinter der versteckt lag, worauf sie alle so sehr warteten. Zwei Stunden später war der Raum wieder voller Menschen, doch statt weiterhin unruhig auf Stühlen verteilt dazusitzen, standen sie um die massive Stahltür herum, die sich geöffnet hatte. In ihrem Rahmen stand ein untersetzter, kleiner Mann mit Halbglatze, dessen verschieden große Augen seinem Gesicht etwas beinahe Dümmliches gaben. „Ich habe es geschafft!“, verkündete er in einer hohen, leicht nasalen Stimme, während er breit und erwartungsvoll in die Runde strahlte. „Kommen Sie mit, kommen Sie mit! Sie werden sehr zufrieden mit mir sein! Ganz wie mit meinem Vater, jawohl.“ Der Braunhaarige tauschte einen kurzen Blick mit dem Raucher, sah dann zu der kleinen Gestalt mit Fedora, die es sich auf den Armen des braungebrannten Jungen bequem gemacht hatte. Sie nickte knapp. Ihre Augen waren im Schatten der Hutkrempe völlig unerkennbar. „Gehen wir.“ Der Raum, der sie hinter der Tür erwartete, war im Vergleich zu dem winzigen Vorraum gigantisch groß. Der Boden war mit hellem Linoleum ausgelegt, auf dem sich die langen Leuchtstoffröhren von der Decke spiegelten, die Wände waren weiß und steril. Der Geruch von Maschinenöl und Technik war deutlich stärker ausgeprägt, und da, wo der letzte Raum bis auf die Stühle der Wartenden völlig leer gewesen war, war dieser trotz seiner großen Fläche bis auf ein großzügiges Quadrat in der Mitte vollkommen vollgepfropft: An einer langen Wand entlang waren Computer und Bildschirme aufgereiht, auf denen hochkomplizierte Zahlenreihen durchliefen, ein leises, elektrisches Surren kam aus der Richtung der blinkenden und arbeitenden Hochleistungsmaschinen. In Regalen und Schränken aus kaltem Metall war eine schier endlose Auswahl an Materialien untergebracht, Werkzeuge waren sorgfältig in einer großen Vitrine aufgereiht, und auf langen, kalten Arbeitstischen lagen tausenderlei technische Geräte und Zeichnungen, die ein Mensch, der nicht vom Fach war, keinem erkennbaren Nutzen zuordnen konnte. Auf einem Tischabschnitt, der ansonsten bis auf einige wenige Papiere komplett leer war, befand sich ein groteskes, hellviolettes Gebilde, das im Entferntesten an eine etwas simplere Form von großkalibriger Schusswaffe erinnern mochte. Auf dieses Gebilde watschelte der Mann mit der Halbglatze zu, hievte es unter Anstrengung vom Tisch, um es mit schweißglänzender Stirn und einem geradezu wahnsinnigen, stolzen Glanz in den Augen zu präsentieren. „Es braucht vielleicht noch ein paar letzte Feinjustierungen, aber die Schöne hier ist bereit für den ersten Test – und ohne den Test kann ich die Justierungen nicht machen. Sie hat jetzt einen internen Rechner, der die Zielkoordinaten selbstständig berechnet, und sobald sie erst einmal ein paar Testläufe hinter sich hat, kann ich sie perfekt kalibrieren, sodass die manuelle Eingabenotwendigkeit komplett wegfällt. Bisher muss man noch ein paar Eckdaten angeben, um den Zielkoordinaten-Algorithmus passend zu ergänzen, aber wie gesagt-“ – „Genug!“ Der Mann stoppte mitten im Satz, grinste ein nervöses, etwas hektisches Grinsen. „Natürlich. Entschuldigen Sie bitte.“ Er kicherte fahrig, legte seinen Schatz dann wieder zurück an seinen Platz und fuhr sich mit einem gerüschten Stofftaschentuch über die glänzende Stirn. „N-nun, ich brauche einen Freiwilligen. Für den Anfang habe ich an zehn Jahre gedacht, ganz unverfänglich, Sie werden genau hier wieder auskommen – damals war es noch ein Parkhaus unter einem Einkaufszentrum. Keine Sorge! Es wird Nacht sein, niemand wird sie bemerken. Wie besprochen wird kein Austausch stattfinden; ganz wie mein zukünftiges Ich habe ich eine Methode gefunden, den Austausch auf halbem Weg aufzuhalten – nur, dass meine Vorgehensweise erheblich effizienter ist! Einhundertprozentige Erfolgschance, keine Risiken welcher Art auch immer, eine schnelle und zügige Handhabung, und sobald man zurückkehrt, fühlt man sich angenehm frisch und ausgeruht!“ Er strahlte breit, doch als ihm nur düster-abwartende Gesichter begegneten, erblasste das Grinsen auf seinem Gesicht wieder und seine erschlafften Mundwinkel fielen herab. „Aber natürlich geht es darum gerade nicht. Also. Zehn Jahre, Ankunft nachts, genau hier. Dort hinten links auf dem Tisch sehen sie einen Kommunikator, der direkt mit meinem System verbunden ist. Ich habe ihn an so an der Bazooka orientiert, dass er auf gleiche Art fähig ist, Nachrichtenaustausch mit meinem Hauptcomputer zu betreiben. Bisher konnte ich nur simple Befehle zum Laufen bringen, das Programm ist bedauerlicherweise sehr primitiv, aber die speziellen Funktionsweisen lassen sich nur schwer mit anderen Mitteln imitieren, ich arbeite noch daran. Im Wesentlichen reicht ein Druck auf den roten Knopf. Dieser sendet ein Signal an meinen Hauptrechner, der ein weiteres Signal an mein Lagersystem schickt, das automatisch über ein Duplikat der Bazooka das zwischengelagerte Pendant mit unserer Testperson austauscht. Sie werden also problemlos wieder herkommen können.“ Wieder warf er einen Blick in die Runde. Aufmerksame Blicke begegneten ihm. Er nickte zufrieden. „Sehr gut. Ich muss meine Testperson bitten, mir einen Beweis über die Funktionalität der Bazooka mitzubringen. Die genaue Wirkungsweise erkläre ich Ihnen erst, wenn sie wieder zur allgemeinen Nutzung freigegeben ist; solange sind alle neuen Features für Sie gesperrt. Bringen Sie mir eine Zeitung oder etwas anderes mit Datumsanzeige mit, und vergessen Sie nicht, ihren Ausflug so detailgetreu wie möglich zu dokumentieren, inklusive der Uhrzeiten ihrer Ankunft und Abreise. Für eine sekundengenaue Kalibrierung ist das ausgesprochen wichtig.“ Noch einen Moment wartete er, sah ernst in die Runde, dann klatschte er in die Hände und grinste, die disproportionalen Augen weit und begeistert aufgerissen. „Also! Freiwillige vor.“ Der Braunhaarige sah unsicher zu der Bazooka, dann zu dem Mann, der grinsend davor stand. „Und es ist wirklich sicher?“ – „Absolut! Meine Berechnungen sagen, unsere Erfolgschancen liegen bei neunzig Prozent! Das ist so viel, wie ich erreichen kann. Und gemessen an dem, was wir versuchen, ist es absolut atemberaubend viel!“ Sein Gesicht glühte vor Begeisterung, während der Braunhaarige eher unsicher aussah. Er tauschte einen Blick mit der kleinen Fedora-Gestalt. Es kam keine Regung. Er schluckte, seine Hände ballten sich zu Fäusten, als er entschlossen das Kinn hob, und trotz der Angst in seinen Augen hob er den Fuß, setzte an, einen Schritt vorzutreten– „Ich mache es!“ Der Raucher trat vor, zog in einer lässigen Bewegung den Gummi aus den Haaren und überbrückte mit selbstbewussten Schritten den kurzen Weg bis zu dem halbglatzigen Erfinder, der ihm nicht einmal bis an die Brust reichte. „Ich lasse Juudaime sicher nicht zum Versuchskaninchen Ihrer Basteleien werden!“ Er schnaubte, schob die Hände in die Hosentaschen. „Ich würde es selbst nicht tun, wenn es nicht nötig wäre.“ Sein Blick glitt kurz zu dem Braunschopf, der betreten den Kopf senkte, und auch einige der anderen Anwesenden wichen seinem Blick aus. „Viel Glück.“ Ein kurzes Grinsen zuckte in seinem Mundwinkel, als er dem schwarzhaarigen Sportler zunickte, der geradezu todernst gesprochen hatte. „Passt auf Juudaime auf“, mahnte er noch, dann wandte er sich der Bazooka zu, die inzwischen wieder in den Händen ihres Entwicklers lag. Das schwarze Loch des Laufs war auf ihn gerichtet. Entschlossen griff er nach dem kleinen Gerät, auf das der Mann vorhin verwiesen hatte. Ein Blick darauf zeigte, es sah aus wie eine altmodischere Digital-Uhr, und das Display zumindest zeigte auch nichts weiter als eine Uhrzeit an. Kurz nach Mitternacht? Er würde die Zeit vermutlich mit der an seinem Zielort abgleichen müssen. „Los.“ Es tat einen lauten Knall, und im nächsten Moment erfüllte dichter, rosiger Rauch die Fläche, an der vorhin noch der Sturmwächter der Vongola gestanden hatte. I - Gokudera Hayato strauchelte, als seine Füße härter als erwartet auf grobem Betonboden aufschlugen, und für einen Moment rang er um sein Gleichgewicht, ehe er sich wieder fing und sicher aufrichten konnte. Um ihn war es dunkel, nur ein paar trübe Leuchtstoffröhren der Nachtbeleuchtung ließen erahnen, dass er sich, ganz wie angekündigt, in einem Parkhaus befand – das zu dieser späten Stunde gespenstig leer war. Er erschauderte, schloss die Augen für einen Moment. Als er sie wieder öffnete, war sein Blick stur geradeaus gerichtet und mit aller Willenskraft, die er hatte, ignorierte er die Schatten, die bedrohlich in seinem Blickfeld tanzten. Einbildung. Nur Einbildung. „Für Juudaime.“ Es gab keine Geister. Dass der Widerhall seiner Schritte von den Wänden dennoch klang, als würde ihn jemand verfolgen, machte nicht unbedingt etwas besser. Hayato schluckte, ballte die Hände zu Fäusten, ehe er sie hektisch löste und in den Hosentaschen nach einer zerdrückten Packung Zigaretten und einem Feuerzeug wühlte. Er fand beides, doch seine Finger zitterten stark genug, dass er mehrere Versuche brauchte, um das Feuerzeug zu entzünden. Der erste Schwall Zigarettenrauch, der seine Lungen füllte, ließ ihn erleichtert ausseufzen. Er mochte die schlechte Angewohnheit ursprünglich primär wegen seines Kampfstils aufgenommen haben, aber über all die Jahre hinweg hatte der Nikotin doch so etwas wie eine beruhigende Wirkung bekommen; es war etwas Vertrautes, und eine klare Erinnerung daran, dass er nicht wehrlos war. Was auch immer ihm in die Quere kommen würde, würde Bekanntschaft mit seinem Dynamit machen. Es dauerte nicht lange, bis er ein grünleuchtendes Schild zu einem Notausgang fand. Wie zu erwarten war die Tür fest verschlossen, doch es war nichts, das nicht durch eine gut gezielte Explosion geklärt werden konnte. Blind tasteten seine Hände nach dem Vorrat, den er jederzeit an seinem Körper versteckt hielt, glitten über die Konturen der einzelnen Stangen. Es waren genug für einen so einfachen Auftrag. Eine Tageszeitung, eine Uhr, auf der er die Zeit abgleichen konnte, und das war es. Ruhig zog er das Dynamit hervor, trat einige Schritte zurück, während er darauf wartete, dass die glimmende Spitze der Zigarette zwischen seinen Lippen die Lunte entzündete. Zügig warf er den Sprengstoff vor die Tür, und als er sicher aufgekommen war, wandte er sich ab und lief in schnellen Schritten fort. Die Explosion würde zwar nicht groß, aber kraftvoll sein, und er konnte darauf verzichten, von umherfliegenden Trümmern getroffen zu werden. Erst der laute Knall ließ ihn innehalten und sich wieder umdrehen. Die Tür war verbogen, von der Wucht der Explosion nach außen aufgesprungen. Am Boden glomm und schwelte es ein bisschen, doch es schien bei weitem nicht genug brennbares Material für ein Feuer zu geben. Genug Rauch und Hitze aber, dass der Feuermelder einen schrillen Ton von sich gab. Hayato fluchte stumm, doch es war nichts, das er nicht erwartet hätte – wäre der Feuermelder ausgeblieben, hätte er sich wohl eher Sorgen gemacht. Zügigen Schrittes hielt er auf die Tür zu, schob sich sorgsam an ihr vorbei – das verdellte Metall dürfte heiß sein, und auch auf Brandblasen konnte er verzichten. Nach dem Geruch von Rauch und Sprengstoff war die kalte Nachtluft, die ihm entgegenschlug, eine merkliche Umstellung, doch nicht unwillkommen. Rauch und Sprengstoff waren Dinge, die er vor allem mit Kämpfen assoziierte, und die konnte er gerade nicht brauchen. Tief durchatmend sah er zum Himmel hinauf. Vollmond. Dünne, schmutzig graue Wolkenfetzen schoben sich immer wieder vor den kalt leuchtenden Kreis, doch es war nie genug, um ihn zu verdecken. Irgendwo erklang ein Heulen, das Hayato nicht einordnen konnte, und in der Ferne schlossen sich Sirenen der Lärmkulisse an. Es wurde Zeit, dass er sich aus dem Staub machte. Es waren nur zehn Jahre – So sehr konnte Namimori sich nicht verändert haben, richtig? Seine Erinnerung trog ihn. Zwar erkannte er die Straßen, erkannte viele der Läden und Gebäude, aber… etwas war anders. Es war gespenstisch still, viel mehr, als die fortgeschrittene Uhrzeit rechtfertigen würde, und bis auf ein paar Schatten im Augenwinkel sah er nichts. Kaum Autos auf den Straßen, keine Menschen, keine Jugendlichen, die tranken und rauchten. Wieder ein Heulen. Er schüttelte den Kopf. Wer wusste, in was für ein Feiertags- oder Ferienloch Giannini ihn da geschickt hatte. Solange er den Supermarkt und die Zeitung fand, und eine Uhr zum Abgleich, konnte es ihm egal sein, was hier los war. Er war nicht deswegen hier. Sie hatten höhere Ziele als dieses. Schnellen Schrittes lief er über die leeren Bürgersteige, an Neonreklamen vorbei, die Waren anpriesen, die teilweise bestimmt nicht einmal mehr in Produktion waren, er sah abgewetzte Plakate, die Bands ankündigten, an die Hayato keine Erinnerungen hatte. Kombiniert mit der Stille ließ der Anblick seinen Nacken prickeln, und in dem seltsamen Gefühl, beobachtet zu werden, sah er mehr als einmal über die Schulter – doch nichts. Natürlich nichts. Er war allein. …und er wusste nicht einmal, ob ihn das wirklich erleichtern sollte. Der nächste Supermarkt war winzig, kaum mehr als ein großer Kiosk. Einer dieser kleinen Läden, die sich zwischen zwei großen Einkaufsparadiesen in eine Lücke kuschelten, in der man sie übersah, solange man nicht gezielt nach ihnen suchte – oder nachts auf den einzigen leuchtenden Fleck ringsum aufmerksam wurde. Eine Oase aus Licht und Leben in einer Wüste aus städtischer Nachtstille. Gegen seinen Willen war Hayato mehr als erleichtert, als er durch die Glastür trat und ein schrilles Klingeln seine Ankunft ankündigte. Er hatte es geschafft. Eine Verkäuferin, die müde und abgespannt aussah, hob fast etwas zu hektisch den Kopf, als er eintrat, und ihre Augen suchten ihn einen Moment lang ab, als erwarte sie, irgendetwas zu finden, dann machte sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht breit. Es erreichte ihre Augen nicht. „Guten Abend! Was kann ich für Sie tun?“ Hayato nickte ihr nur knapp zum Gruße zu. Der Zeitungsständer stand neben der Kasse. Ohne auf das Datum zu gucken – die genauen Zahlen würden ihm ohnehin keine Erleuchtung bringen, im schlimmsten Fall bildete er sich nur etwas ein, das ihn bitter enttäuschen würde –, zog er eine Tageszeitung heraus und legte sie auf den Tresen. Während er in seiner Gesäßtasche nach dem Portemonnaie fischte, sah er sich hinter der Theke um. Die Idee, Zigaretten zu kaufen, verwarf er dann aber doch wieder. „Und wenn sie noch eine Uhr hätten? Und damit die Uhrzeit? Ich muss einen Nachtzug erwischen und meine ist stehengeblieben“, log er selbstverständlich und bemühte all seinen italienischen Charme um ein ansprechendes Lächeln, während an seinem Inneren die Nervosität nagte, die sich aus der Wichtigkeit seiner Aufgabe und der ungewohnten Stille einer gut belebten Stadt zusammensetzte. Der Blick der Kassiererin flackerte kurz, sie schien ein Problem mit Nachtzügen zu haben oder so etwas. „Sie wollen wirklich zum Bahnhof? Allein?“ Wieso klang sie so unwohl dabei? Es war nur ein Bahnhof! Hayato zuckte nur mit den Schultern, sah sie abwartend an. Sie blinzelte, dann hob sie entschuldigend die Schultern. „Entschuldigung, jedenfalls, ich habe leider keine Uhr hier. Ich habe sie beim Herkommen zuhause liegen lassen.“ Es kostete Hayato einige Mühe, sich seine Enttäuschung nicht ansehen zu lassen, und er nickte steif, während er ihr einige Münzen auf den Tresen warf. Es war mehr, als die Zeitung wert war, aber so entrückt, wie die Frau auf ihn wirkte, würde es ewig dauern, bis er sein Wechselgeld bekommen würde. Die Zeitung klemmte er sich unter den Arm, dann verließ er den Laden wieder, ignorierte ihre „Warten Sie doch kurz-!“-Rufe nur. Die zufallende Tür brachte sie auch schnell genug zum Verstummen. „Merda!“, fluchte er, trat frustriert nach einem Mülleimer neben dem Laden. In was für einem Zeitalter lebten sie, dass diese Frau keine Uhr hatte? Es war wichtig! Hayato musste zurück. Wer wusste schon, wie unglaublich falsch Gianninis Berechnungen wieder sein konnten. Jede Minute, die er hier verbrachte, konnte seine Rückkehr dramatisch verschieben, und am Ende kam er Stunden später an als er sollte, und er würde Juudaime gar nicht erst wieder finden und– Nicht darüber nachdenken. Er holte tief, zitternd Luft und schob das gedankliche Bild von einem blutüberströmten Juudaime wieder von sich. In Ermangelung einer besseren spontanen Idee steuerte er tatsächlich auf den nächsten Bahnhof zu. Was auch immer damit nicht in Ordnung sein sollte, es war der einzige Ort, der Hayato einfiel, an dem er sicher eine Uhr finden würde. Passanten sah er immer noch keine, was blieb ihm also sonst übrig? Es war nicht weit, und obwohl der Weg ihn durch prinzipiell belebte Straßen führte, war es still. Gelegentliche Windstöße rauschten durch die zur Deko gepflanzten Bäume am Straßenrand, ließen Papiermüll am Boden rascheln, und gelegentlich ertönte wieder das seltsame Heulen – eine unangenehme Art von Sirene, vermutete Hayato. Vielleicht ein Trend? Es war ihm egal, was auch immer es war ließ ihm die Haare zu Berge stehen. Das Gefühl, beobachtet zu werden, wollte sich auch nicht abschütteln lassen. Die Treppen zur U-Bahn waren schwarze Abgründe in der diesigen Nacht. Von unten hörte Hayato leise Geräusche heraufdringen. Stimmen, sie klangen hektisch. Späte Pendler, die sich in ihre letzte Bahn quetschen wollten? Immer zwei Stufen auf einmal nehmend hastete er die Treppe hinunter, übersprang die letzten fünf Stufen komplett und folgte der Kakophonie an menschlicher Fehlkommunikation, bis er den Abgang zu einem der Gleise als Quelle des Lärms ausmachen konnte. Die Rolltreppe war abgeschaltet, Stromsparmaßnahmen wohl, aber es störte Hayato nicht; ohne genau darauf zu achten, was unter ihm war – sein Blick war auf seine Füße gerichtet, auf dass er nicht auf zurückgelassenem Müll ausrutschen möge – preschte er die Treppe hinab, bis er schließlich an deren Fuß schlitternd zum Stehen kam. Ein lautes Geräusch, Lärm, der alles andere übertünchte, verkündete das Abfahren der Bahn. Hayatos Kopf ruckte hoch. Er hätte nicht aufsehen sollen. Einige Menschen in dunkler Kleidung mit schweren Kapuzen, die entfernt an die Tarnmuster der Armee erinnerte, standen auf der Plattform, weit genug vom Gleis entfernt, dass genug Raum war, die Bahn zu betreten. Mit ihren erhobenen Schlagwaffen sahen sie aus, als hätten sie die wohl vorhin eingestiegenen Passagiere vor irgendetwas beschützt, doch wovor, das entzog sich Hayatos Blickfeld – die Männer hatten etwas eingekesselt, das ihre Gestalten vor seinen Blicken verbargen. „Wir haben es geschafft“, kommentierte eine rauchige, eher geschlechtsneutrale Stimme. In den weiten, figurverbergenden Kleidern hätte ihr Urheber gut ein Mann sein können, doch das seltsame Krampfen, das Hayato bei ihrem Klang überkam, suggerierte definitiv etwas anderes. Das kann nicht… Eine andere Gestalt, etwas kleiner, nickte. Hayato bemerkte, dass die Hände, die sich um eine Art Brecheisen klammerten, unnatürlich blass im künstlichen Licht des Bahngleises wirkten. „Bringen wir es hinter uns, zurück zur Basis.“ Noch eine Frauenstimme. Vage vertraut, aber Hayato konnte sie nicht zuordnen. Vermutlich nur eine Allerweltsstimme. Er beobachtete fasziniert-alarmiert, wie die Gestalten ihre Waffen fester packten, in Angriffsposition gingen, jede Sehne ihrer Körper schien gespannt zu sein. „JETZT!“ Sie stoben auf Kommando auseinander, die sichere Wand ihrer Verteidigung zerrissen, und zwischen den dunklen Gliedern, die sich schnell bewegten, erkannte Hayato etwas, das ihn entfernt an struppiges Fell erinnerte. Er kam nicht dazu, es zu verarbeiten, da durchbrach eines der vagen Fellknäuel das Chaos an Gliedmaßen. „Hahii?!“ Über den schrillen Schrei der nur zu vertrauten Stimme hörte er das Knurren des verfilzten Fells kaum. Es war ein Wolf. Und er kam genau auf ihn zu. Hayato griff reflexartig nach seinem Dynamit, führte die Stange zum Mund, um sie an der Zigarette zu entzünden, die er… nicht hatte. Mit einem Ruck landete der Wolf auf ihm, schwere Pfoten auf seinen Schultern und ein übler, metallischer Mundgeruch waberte mit seinem Atem über Hayato hinweg. Er knurrte, rammte die ungezündete Dynamitstange verzweifelt in die Flanke des Dings, das vor Schmerzen aufjaulte. Es war groß, wuchtig, und zu schwer! So sehr Hayato es versuchte, selbst in dem Schock des unerwarteten Angriffs war das Vieh nicht von ihm runterzukriegen. Hinter ihm schrien Leute sich Anweisungen zu, die er kaum verstand. Die Haru-Stimme kam kreischend näher. Der Wolf knurrte, Speichel troff von seinen Lefzen. Hayato brüllte, stemmte seine Knie mit aller Kraft in den Bauch der Bestie. Haru schrie. Der Wolf – was macht ein Wolf in der U-Bahn, verdammt?! – riss das Maul weit auf. Hayatos Herz setzte einen Schlag aus. Das scharfe Gebiss senkte sich genau in Richtung seiner Kehle. Er wusste, was passieren würde. Und er musste es verhindern. „Juudaimeeeeeee!“ Beißender Schmerz explodierte in seiner Schulter, als er sie in das Maul des Wolfes rammte. Das letzte, das er hörte, bevor er ohnmächtig wurde, war der vertraute Klang von Juudaimes Stimme. II -- „-geht es ihm?“ „Er wird es überleben. Die Schulter ist nicht einmal hinüber. Nur der Biss.“ „Nur der Biss?!“ „Kufufu… Genau. Nur. Der. Biss.“ Hayato stöhnte. Sein Kopf dröhnte, als hätte er ihn minutenlang gegen eine massive Betonwand gehämmert, und seine Schulter pochte in dumpfem Schmerz. Es kostete ihn unglaubliche Mühen, auch nur die Augen zu öffnen, doch das dumpfe Licht der nackten Glühbirne an der Decke blendete ihn so sehr, dass er sie sofort wieder zukneifen musste. Er hörte Stoff rascheln. „Gokudera-Kun!“ Das war… Juudaime. War er zurück? Verwirrt zog er die Augenbrauen zusammen, zwang sich doch wieder, die Augen einen Spalt zu öffnen. Zwischen der Deckenlampe und seinen Augen ragte Juudaimes besorgtes Gesicht ins Bild, schirmte die gröbste Helligkeit ab. „Juudaime…?“ Ein erleichtertes Lächeln erschien auf dem Gesicht des Jungen, und er nickte eifrig. Seine Augen glänzten feucht. „Ich bin’s. Ja. Kannst du dich aufsetzen?“ Die Frage war so dumm, dass Hayato am Liebsten gelacht hätte. Natürlich konnte er sich aufsetzen! Was war er denn? Doch er war froh, dass das Lachen in seiner trockenen Kehle stecken blieb, denn wenn Juudaime ihm nicht geholfen hätte, er wäre nicht hochgekommen. Er schluckte, fuhr sich mit einer Hand durch das Haar. Den anderen Arm, wie er gerade merkte, hatte man in eine Schlinge gesteckt und dick verbunden. Wegen der Wunde, natürlich. Juudaime saß neben ihm, und er sah angespannt aus, die großen Augen huschten hektisch hin und her, alarmiert und besorgt, Hayato erkannte einen Kratzer auf seinem Gesicht. Was war passiert, während er weggewesen war? „Seit wann bin ich zurück?“ – „Letzte Nacht. Haru und die Anderen haben dich gefunden. Was hast du im Bahnhof gemacht, du weißt doch-!“ – „Was?!“ Er war zurück. Wieso wusste Juudaime von dem Bahnhof? Irritiert sah er sich um. Juudaime trug den gleichen seltsamen Aufzug wie die Gestalten, die er dort gesehen hatte. Hayato erstarrte, und tiefe Enttäuschung ließ ihn wieder zurück auf die unbequeme Matte sacken. „Ich bin nicht zurück.“ Sein Kommunikator war noch an seinem Platz, zeigte ein Blick auf sein Handgelenk. Er könnte jederzeit verschwinden, aber nicht mit leeren Händen. Abrupt setzte er sich wieder auf. „Wie spät ist es?“ – „Es ist kurz nach zwei.“ Hayato warf einen Blick auf die Armbanduhr. Kurz nach zwei. Die Uhrzeit stimmte. „Habt ihr eine Tageszeitung?“ Nun sah Juudaime ihn an, als sei er verrückt geworden. Langsam lehnte er sich zu ihm vor, sah besorgt auf Hayato hinunter. „Gokudera-Kun, was ist los?“ Hayato antwortete nicht. Juudaime schien Panik zu bekommen, fuhr herum. „Was ist hier los?“ Eine Stimme aus den Schatten lachte ein Lachen, das Hayato den Magen zusammenzog. „Vielleicht hat er sich den Kopf gestoßen?“ Hayato schloss die Augen, schluckte, um Übelkeit zu unterdrücken. In seinem Hinterkopf singsangte eine kleine Stimme, was schon seit er angekommen war, an seinem Verstand nagte: Das ist nicht meine Welt. Zehn Minuten später saß Hayato doch wieder. Der Stuhl unter seinem Hintern knarzte und der Tisch war zerkratzt und wacklig, die Tasse mit Kaffee vor seiner Nase hatte einen kleinen Sprung. Juudaime saß bei ihm am Tisch, außerdem die Kreisch-Stimme der letzten Nacht, die sich zweifelsfrei als Haru entpuppt hatte. Bianchi, sehr zu Hayatos Unwesen, hatte sich ebenfalls zu ihnen gesellt, doch ihr Gesicht war hinter einer kunstvollen Maske verborgen, die gleichermaßen schön wie grausig aussah. In einer Ecke in einem abgewetzten Schreibtischstuhl saß Mukuro, einen dicken Wälzer in den Händen, in dem er angeregt blätterte. Garantiert lauschte er. „Also“, durchbrach Juudaime schließlich die Stille, er klang ein wenig unsicher dabei, „Was ist hier los? I-ich meine, Gokudera-Kun, was ist bei dir passiert? Und…“ Er brach ab, hob die Schultern, während sein Blick zu Hayatos eigener, verbundener Schulter wanderte. Hayato schnaubte unwirsch, steckte sich eine Zigarette an. Erst als sie auf dem improvisierten Aschenbecher – eine kleine Reisschale – lag, lehnte er sich zurück und sah Juudaime wieder an. Nicht sein Juudaime, eindeutig. Aber er verstand nicht, wieso! Giannini hatte ihn in die Vergangenheit schicken sollen, nicht nach – nach irgendwo! „Ich bin nicht von hier“, knurrte er schließlich, fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, „Kennt ihr das Konzept Parallelwelten? Scheint, als wäre ich in einer gelandet. Euer Hayato ist da, wo ich eigentlich sein sollte, und irgendetwas ist hier ganz klar schief gegangen, denn eigentlich sollte ich in die Vergangenheit, und nicht nach“ – er holte vage mit der Hand aus – „hier. Wo ist Giannini? Wo ist Reborn-San?“ „Ri-Riboon?“, wiederholte Juudaime, und er stolperte dabei so sehr über den Namen, als habe er ihn noch nie gehört. Hayato beobachtete das angestrengte Stirnrunzeln des Jungen, der sich schließlich an seine Kameraden wandte. „Er wird den Alten meinen“, drang leise Mukuros Stimme zu ihnen hinüber. Er sah nicht auf, und Hayato konnte beobachten, dass noch während er sprach – und lauschte! – seine Augen unbekümmert über die Seiten seiner Lektüre flogen. Als er zu Juudaime zurück sah, dämmerte auf dessen Gesicht langsam Erkenntnis. „Der Älteste! Natürlich. E-ehm, der ist nicht hier. Manchmal verschwindet er für einige Wochen, und… äh, Giannini-San ist seit einiger Zeit verschwunden.“ „Irie?“ – „Wer?“ – „Irie. Irie Shouichi. Klein, Brille, nutzlos…? Ist der irgendwo hier?“ Juudaime schüttelte vage den Kopf, während Hayato sich weiter in seinem Stuhl hinabsacken ließ. Er musste jemanden finden, der diesen Mist korrigieren konnte! Selbst wenn er nun auf gut Glück auf sein Knöpfchen drückte, dann konnte es immer noch sein, dass er sonst wo auskam! In einer Zukunft dieser verrückten Parallelwelt oder so – war er überhaupt in der Vergangenheit gelandet? (Wie sollte er? Hier war Juudaime, genau in dem Alter, in dem er sein sollte.) „Welches Jahr haben wir?“ Die Jahreszahl deckte sich mit Hayatos Gegenwart. Natürlich. „J-jedenfalls, Gokudera-Kun. Parallelwelt? Du meinst… du kommst aus einer anderen Welt, in der wir- wir alle auch leben?“ Hayato nickte, plötzlich fühlte er sich müde. Wie konnte ein einziger Mann eigentlich so viel versemmeln? Keine Vergangenheit, eine wahllose Parallelwelt, und Giannini war nicht einmal irgendwo auffindbar! Was, wenn Hayato auf Knopfdruck in der nächsten dummen Parallelwelt landete? Juudaime und die beiden Frauen tauschten Blicke. Hayato machte sich nicht die Mühe, ihre stumme Konversation zu verfolgen, widmete sich lieber seiner Zigarette und sah zu, wie der Rauch, den er langsam ausstieß, hinauf zur Decke stieg und dort irgendwo verflog. „Warum wollt ihr überhaupt in die Vergangenheit?“ Hayato senkte den Blick wieder, doch in dem maskierten Gesicht seiner Schwester fand er kein Anzeichen auf irgendeine Regung. Auch wenn er für gewöhnlich dankbar war, wenn sie ihr Gesicht bedeckt hielt, gerade wünschte er, er würde ihren Anblick ertragen, ohne dass es ihm den Magen umdrehte. Er kannte diese Bianchi nicht, er konnte sie nicht einschätzen, und ihr Gesicht nicht zu sehen machte sie nicht vertrauenerweckender. Er seufzte schwer durch die Nase, legte die Zigarette zurück auf ihr Reisschälchen. „Veränderung. Ich hab keine Ahnung, wie das bei euch hier läuft, aber bei uns ist ständig die Hölle los. Erst Millefiore, dann Shimon, Vindice, und letztens ist ein Verein aus dem Boden geschossen, der es schon wieder auf uns abgesehen hat. Sie sind stark, neue Flammen, wir wissen kaum etwas über sie. Aber wir haben ein Mittel zum Gegenschlag gefunden – deshalb. Deshalb reisen wir in die Vergangenheit und verlassen uns nicht darauf, dass unsere jüngeren Ichs das schon klären können.“ Er schnaubte bitter, klopfte die Asche ab. „Stattdessen bin ich hier gelandet. Und deshalb brauche ich Giannini. Der Kerl soll seine Scheißerfindung gefälligst in Ordnung bringen, ich muss zurück!“ Juudaime sah ihn an. Es war dieser gütige, typische Juudaime-Blick, der einem das Gefühl gab, etwas wert zu sein, egal, was man gerade für einen Mist gebaut hatte, doch er war voller Sorge und Kummer, voll von einer lebenserfahrenen Weisheit, die seinem eigenen Juudaime noch fehlte. Es war ein gruseliger Blick, endgültig, tragisch. Langsam schüttelte Juudaime den Kopf. „Das ist keine gute Idee, Gokudera-Kun“, murmelte er mit leiser Stimme. Hayato verengte die Augen, biss die Zähne zusammen und knallte die Faust auf den Tisch. „Ich kann nicht hier bleiben!“ „Hayato.“ – Diesmal war es Bianchi, die sprach, ihre rauchige Stimme klang noch tiefer als sonst, ernst, mahnend, „Ich kenne deine Welt nicht. Aber in dieser gibt es Dinge zwischen Himmel und Erde, die du gar nicht erst verstehen willst. Sagen dir Werwölfe etwas? Sie lauern bei Vollmond überall, wo es Menschenmassen gibt – U-Bahnhöfe, zum Beispiel. Wir von der Vongola sind Jäger, wir beschützen die Bevölkerung vor ihnen und anderen Gefahren. Deshalb sind wir oft zugegen, aber nicht immer können wir alle schützen. Nicht vor Werwölfen, nicht vor Vampiren, nicht vor Dämonen und Geistern. Und wie Vampirbisse sind Werwolfbisse zu einhundert Prozent infizierend.“ Sie machte eine Pause, sah zu Juudaime hinüber. Dieser nickte unglücklich und sah Hayato aus großen, traurigen Augen an. „Du bist ein Werwolf.“ III --- „Das ist nicht wahr! Es gibt keine Werwölfe, das ist vollkommener Unfug! Das – das kann nicht wahr sein, ich muss zurück zu Juudaime!!! Niemand kann erwarten, dass ich so einen Scheiß mit mir machen lasse! Werwölfe sind nichts als dämliche Legenden! Schafft mir diesen inkompetenten Elektriker her, ich muss zurück! Ich bin kein Werwolf!“ Es war ein Monolog, der sich wieder und wieder abspielte. Hayato tigerte schon seit zehn Minuten durch den vollgepfropften Raum, hin und her, hin und her, während er immer wieder die selben Worte vor sich her schrie, als würden sie einen Unterschied machen. Sie machten keinen. Als er sich wutentbrannt zu Juudaime drehte, sah er immer noch genauso mitleidig-betreten drein wie zu Beginn der Tirade, Bianchis Körperhaltung strahlte Genervtheit aus und Haru schien kurz davor, in Tränen auszubrechen. Es war Blödsinn. Es musste Blödsinn sein. Hayato schnaubte. „Schön.“ Ich warte einen Monat. Dann glauben sie mir. Soll Giannini gefälligst seine dumme Maschine so programmieren, dass ich trotzdem zeitig zurückkomme! „Schön. Wenn ihr doch so viel Ahnung von der Welt habt – klärt mich auf! Was macht ihr in diesem Drecksloch? Wo sind der Rasenschädel und Yamamoto? Chrome? Lambo? Hibari?“ Wieder wurden Blicke getauscht, schließlich trat Haru todesmutig zu ihm vor und sah zu Hayato hinauf. „Lass mich erklären“, forderte sie, holte tief Luft. Sie sah ungewohnt aus, so ernst. Und blass, selbst verglichen mit Juudaime, der nie einen besonders farbkräftigen Teint gehabt hatte. „Das hier? Unsere Basis. Ne bessre gibt’s nicht. Wir sind im Keller unter Tsuna-Kuns Haus. Tsuna ist ein Jäger, Bianchi auch. Gokudera-Kun –also, unser Gokudera-Kun – war auch einer. Jäger sind im Großen und Ganzen – ja, Jäger eben. Nur, dass sie kein Wild jagen, sondern übernatürliche Phänomene. Das ist eine Berufsklasse, die eine lange Geschichte hat. In den letzten Jahren ist das Auftreten von Monstern und Dämonen immer häufiger geworden, dadurch weiß die Öffentlichkeit inzwischen relativ gut Bescheid. Früher haben Jäger komplett im Verborgenen agiert. Logisch, oder? Glaubt ja niemand, dass es Geister gibt.“ Sie zuckte mit den Schultern, völlig unbekümmert. Sie schien kein Problem damit zu haben, dass es Geister geben sollte – Geister. Hayato schlug das Herz bis zum Hals. Geister. Es gab sie – in jeder Welt? Nur in dieser Welt? Auch bei ihnen? Es gab Geister. Er schluckte, schloss einen Moment die Augen. Er hatte es immer gewusst! Ob sie auch im Parkhaus gewesen waren? Die Schritte, die Schatten. „Jedenfalls“, fuhr Haru fort, wedelte unruhig mit den Händen, „Namimori ist eine ziemliche Hochburg finsterer Gestalten. Die Mittelschule ist geschlossen, weil ein Vampir dort das Sagen übernommen hat. Du kannst dir bestimmt denken – es ist Hibari. Ehm. Sasagawa und Kyouko-Chan sind zusammen mit Giannini verschwunden; er hat sie schließlich erschaffen! Wir wissen nicht, wo die alle sind, wir halten nicht alle freien Agenten immer im Blick, und gerade die Monster sind immer ein bisschen schwierig… Ich als Hexe bin da noch sehr umgänglich, aber allein der Lebensrhythmus von diesen Zombies ist so unstet! Da passiert es schon mal, dass sie wochenlang einfach vor sich hin vegetieren, bis ihr Hirn sich daran erinnert, dass sie etwas Bestimmtes tun sollten. Aber was will man machen? Sie sind schlagkräftig, und in ihren hellen Momenten eine genauso gute Gesellschaft wie zu Lebzeiten.“ Haru musste verrückt sein. Sie alle waren verrückt. Hexen? Zombies? Vampire und Werwölfe? Geister – okay. Aber der Rest war so unglaublich abstrus! Wenn Hayato es nicht besser wusste, er würde darauf spekulieren, dass hier jeder nur Unfug redete, um ihn zu verarschen. Hatte er eine Wette verloren? Den ersten April übersehen? Langsam tat er einen Schritt zurück. Haru plapperte immer noch. Irgendetwas von Donnerlementaren, und wie anstrengend es doch war, so etwas zu babysitten, und Hayato schüttelte langsam den Kopf, während sie im belanglosesten Plauderton davon erzählte, dass sie einmal wöchentlich ein Aufräumkommando ausschickten, damit die Stadt halbwegs sauberblieb. Aber Hayato solle sich keine Sorgen machen, die Dämonen und Monster hier in Namimori seien kleine Fische, der Drahtzieher sei irgendwo anders – sie suchten ihn, übrigens. Einen Dämon, sagte Haru, seinen Namen würden sie nicht kennen – er würde immer nur Dämon gerufen. Es war der Moment, in dem Hayato stockte. „Daemon“, wiederholte er, Haru wedelte nur mit den Händen, „Ja ja, sag ich doch! Dämon, also. Der Dämon. Wenn wir ihn finden, sollten wir diesen ganzen Mist beseitigen können, zumindest weitgehend. Die Dämonen und Geister. Werwölfe und Vampire gibt es eben, aber die Vampire sind eigentlich total zurückgezogen, und die Werwölfe leben normal in eigenen Stadtvierteln, wenn da nicht auch noch alles andere wäre, könnten wir die problemlos zurückschlagen und alles neu organisieren, aber so? Dass die italienische Basis noch steht, ist ein Wunder, aber Sawada-San hält verdammt gut die Stellung, und der Boss ist ja auch noch dort, und das, obwohl Italien bekanntermaßen das größte Werwolfproblem hat. Wenn die damit klarkommen, dann schaffen wir unsere paar Schmusetierchen locker! Jedenfalls sollten wir, aber Mukuro-San sagt, die werden immer stärker, vermutlich ein Zauber, und dafür müssen wir eben den Dämon finden und-“ – „STOPP!“ Hayato schnaubte genervt. „Es ist nicht Dämon – Daemon! Das ist sein gottverdammter Name! Daemon Spade!“ Und das erklärte alles. Hayato lachte ausgelassen, aus vollem Halse. Natürlich. Wie hatte er das glauben können? Wie hatte er glauben können, diese seltsame Welt mit ihren verdrehten Gesetzen könne ernsthaft existieren? Es war alles Unfug. Es gab keine Werwölfe! Keine Vampire, keine Dämonen. (Geister gab es trotzdem.) Mit strahlenden Augen und breitem Grinsen wandte er sich an die Anderen, breitete die Arme aus. „Versteht ihr nicht?! Es ist nur eine Illusion! Es sind alles Illusionen! Es gibt keine Werwölfe, keine Vampire, keine Dämonen, das sind alles nur miese Tricks von diesem Arschloch! Es sind nur Tricks!“ Er lachte, doch außer ihm lachte niemand. Zweifel zupfte an Hayatos Verstand, er schob ihn rigoros wieder beiseite. „Es ist nur ein Trick!“, wiederholte er, „Nur ein Trick!“, und mit jedem Mal, dass er es sagte, klang er verzweifelter dabei. Es war nur ein Trick! Es musste ein Trick sein. „Gokudera-Kun, das… Das ist kein Trick“, erwiderte Juudaime leise, aber sehr, sehr ernsthaft. Hayato schnaubte, plötzlich stieg Wut in ihm auf. Natürlich war das ein Trick! Er hatte diesen Bastard durchschaut, und er würde ihn alleine stellen, wenn es sein musste! „Wo finde ich diesen Kerl?“ – „Gokudera-Kun, das-!“ – „WO IST ER?!“ Und dann würde er sich Giannini schnappen. Und dann würde er zu Juudaime zurückkehren – zu seinem Juudaime. „Man munkelt, er stehe in Kontakt mit den Vampiren, aber es ist nur ein Gerücht.“ Ein Gerücht war besser als nichts, und Hayato nickte Haru kurz zu, beinahe dankbar, dann stürmte er aus dem Raum, zur Kellertreppe, raus aus dem Haus. Er sah sich nicht um. Aus den Augenwinkeln sah er nur Staub und leblose Stille. Er wollte Juudaimes Heim so nicht sehen. IV -- Nach drei Wochen gaben sie die Suche nach ihm auf. Zuerst hatte Hayato sich verstecken müssen, um nicht von den schwarz-flecktarngemusterten Gestalten entdeckt zu werden, die zweifelsohne nach ihm suchten, doch je länger er in der Menschenmasse untertauchte, die Nächte in Einkaufszentren eingeschlossen verbrachte, desto weniger Vongola-Mitglieder fielen ihm noch auf den Straßen auf. Es waren rund zwanzig Tage, bis er wirklich einen Tag ohne den Anblick eines dunklen Overalls verbringen konnte. Er kam nicht weit. Solange sie ihn suchten, kam er kaum von A nach B, immer versucht, sich zu verstecken. Er wusste nicht einmal, warum genau, aber er hatte das dumpfe Gefühl, diese Verrückten würden ihn nicht wieder gehen lassen. Würden seine Pläne ruinieren. Er konnte ihnen nicht vertrauen. Wenn sie auch von Daemon Spade manipuliert wurden… Es war ein zu großes Risiko. Er musste zu seinem Juudaime zurück, und dafür würde er alles tun – und sei es, einem anderen Juudaime zu misstrauen. Immerhin half die Zeit, seine Schulter heilen zu lassen. Namimori war wirklich anders. Bei Tag war die Stadt voller Leben, doch obwohl die Menschen lachten und scherzten, und ganz normal vor sich hinlebten, wirkten sie angespannt, ihre Gesichter hatten diesen krampfhaften Ausdruck, den man bekam, wenn man versuchte, demonstrativ nicht an die dunklen Sorgen zu denken, die direkt hinter der Fassade darauf lauerten, hervorzubrechen. Hayato sprach mit niemandem. Er kaufte Essen, wenn er hungrig war, Zigaretten, wenn sie ihm ausgingen, betrat ein öffentliches Badehaus, wenn er sich säubern wollte, aber er vermied Kontakt. Die Menschen waren einfach anders, egal, wie normal und vertraut sie auf den ersten Blick wirkten. Die gehetzten Gesichter, das angespannte Gebaren, und manchmal diese seltsamen Blicke, als fürchten sie, ihr Gegenüber entpuppe sich als Monster. Und kaum, dass die Sonne unterging, wurde die Stadt leerer und leerer. Bis auf die Supermärkte, die rund um die Uhr geöffnet waren, und solche Dinge wie Bahnhöfe oder Bankautomaten, versank alles in geisterhafter Stille. Hayato verbrachte keine Nacht draußen. Er zweifelte nicht daran, dass er auf Dinge stoßen würde, die er nicht sehen wollte. Schließlich hatte Daemon hier seine Hand im Spiel. (Und da waren ja noch die Geister.) So hastig, wie die Läden zu Schließzeit geschlossen wurden – die Schließzeit variierte, je nachdem, wann und wie schnell es dunkel wurde –, war die Security nicht besonders gut. Nicht selten war Hayato gar nicht der Einzige gewesen, der die Nacht in einem Kaufhaus verbracht hatte. Gesprochen hatte er mit den Anderen nie. Nur gewartet, geschlafen, und weiter gewartet, bis er zurück in strahlendes Sonnenlicht konnte. Die Launen der Leute steckten an. Inzwischen war er selbst verspannt, nervös, unruhig. Selbst tagsüber glaubte er, Schatten umherhuschen zu sehen, die nicht da sein konnten, und eine kleine Stange Dynamit hielt er nun fast dauerhaft in der Hosentasche umklammert. Es war nur die Massenhysterie. Nur die Hysterie. Aber das nahm das beklemmende Gefühl von Beobachtetwerden einfach nicht weg. Je näher er der Mittelschule kam, desto seltener wurde der Anblick von anderen Menschen. Wer an ihm vorbei kam, schien in die andere Richtung unterwegs zu sein, oder bog bald in eine Seitenstraße ab. Jemand warf ihm einen zweifelnden Blick zu, als er frontal auf das große Gebäude zusteuerte. Hayato konnte das Theater kaum glauben; Hibari war schon immer kein angenehmer Zeitgenosse gewesen, aber so schlimm? Ob nun mit spitzen Eckzähnen oder nicht, Hayato würde aus ihm herausprügeln, was er hören wollte. Er musste Daemon ausschalten. Sonst konnte er gar nichts beweisen. Sonst würde er in einer Woche brav auf einem Stuhl sitzen, doch alle um ihn herum würden glauben, er wäre ein tollwütiges Biest. Es gab keine Werwölfe, verdammt! Der Biss, der inzwischen weitgehend verheilt war, musste auch nur Einbildung sein. Eine sehr überzeugende Illusion, aber nichtsdestotrotz eine Illusion. Egal, wie real sie sein mochte. Egal, was sein Körper glaubte. Egal, dass er den Arm immer noch nur mit einem leichten Ziepen bewegen konnte. Es war wie Chromes Organe; funktional, aber nicht wirklich real. Nur real genug, um als real wahrgenommen zu werden. Und das musste er ändern, oder er konnte nicht zurück zu seinem Juudaime. Entschlossen trat er durch das Tor zum Schulgelände. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, es zu verschließen, doch so ausgestorben und tot, wie der Weg zum Haupteingang aussah, glaubte Hayato nicht, dass hier vor allzu langer Zeit noch jemand gewesen war. Eine belebte Schule sah einfach anders aus. Nicht einmal der Haupteingang war verschlossen. Lautlos schob Hayato die Tür auf, schlüpfte hindurch. Der Eingangsbereich war staubig, seine Schritte hinterließen tiefe Abdrücke in der grauen Schicht. Er schluckte, blieb noch in der Halle wieder stehen. Es war still, von Schullärm nichts zu hören. Er sah niemanden, keinen Hinweis darauf, dass hier irgendjemand war. Hayato schauderte. Er mochte verlassene Schulen nicht, sie hatten etwas unangenehm Gespenstisches. Bei jedem Schritt fürchtete er, hinter der nächsten Ecke eine Bewegung aus dem Augenwinkel zu erhaschen. Ein Geist vielleicht. Schulen waren bekannt dafür, Geister zu haben. Hatte ihre Schule nicht sogar ihre eigenen Geisterlegenden? Er hatte nie so genau zugehört, aber er ahnte, wenn er sich zu lange hier herumtrieb, dann würde er es am eigenen Leib erfahren. Immerhin wusste er zur Genüge, wo das Disziplinarkomitee sich befand. Er würde also gar nicht lang genug hier sein. Zielstrebig steuerte er die nächste Treppe an. Seine Schritte auf den Stufen hallten laut wieder, und auch, wenn er leiser wurde hinter den Treppen, der Hall blieb, als er sich schließlich auf den Weg durch die ewig langen Korridore machte. Schritt – Echo – Schritt – Echo, immer im Gleichtakt, immer leicht verschoben, doch noch in Erinnerung an seinen Aufenthalt in dem elenden Parkhaus schob er den Impuls, sich umzudrehen, wieder von sich. Er würde ohnehin nichts entdecken können. Hier war schließlich niemand. Als er um die nächste Ecke bog, in einen weiteren Korridor, den nur trübes, staubgedämpftes Tageslicht erhellte, warf er dennoch kurz einen Blick in die Richtung, aus der er gekommen war. In einer Türöffnung schien ein Schatten zu verschwinden. Er schnaubte erheitert. Als ob. Dahinter wäre nicht genug Raum, um sich zu verstecken, also konnte dort nichts sein. Eine offene Tür hätte Hayato schließlich bemerkt. Kopfschüttelnd wandte er sich ab, genau in dem Moment, in dem eine Tür zuschlug. „Einbildung“, redete er sich gut zu, eine Hand auf sein rasendes Herz gepresst. Hier war niemand. Wer auch? Wahrscheinlich war nicht einmal Hibari hier. Hayato könnte es ihm nicht verübeln; die Schule war ein elendes Drecksloch, verstaubt und ungepflegt, die Atmosphäre suggerierte B-Klasse-Horrorfilm. Vielleicht sogar noch schlechter. Das Echo seiner Schritte verschwand, als er um die nächste Ecke bog, weg von der Fensterfront in einen Gang, der gerade so zu erkennen war im schwachen Halblicht. Hayato schluckte, blieb stehen, lauschte. Stille. Behutsam machte er einen Schritt. Nichts. Noch einen. Wieder nichts. Er ging langsam, die Ohren gespitzt, doch außer seiner eigenen Schritte hörte er rein gar nichts, nicht einmal einen leisen Hall. Stattdessen hörte er ein neuerliches Türknallen, dieses Mal demonstrativ laut wie ein Pistolenschuss. Instinktiv krallten sich seine Finger um die kleine Dynamitstange in seiner Hosentasche. Er konnte sich wehren, er war sicher. Er kannte genug Verse des Exorzismus, um es mit einem Geist aufzunehmen, und Vampire waren nicht einmal tagaktiv, weil sie Sonnenlicht scheuten. Selbst wenn es Vorhänge vor den Fenstern gab, er würde sie einfach wegsprengen können! Was sollte ihm schon passieren? Er war kein dummer Protagonist eines Horrorfilms. Er war Gokudera Hayato, und er war auf alles vorbereitet. Dennoch zögerte er, als er die Tür zum Disziplinarkomitee erreichte. Das Schild neben der Tür war nicht leserlich in den schlechten Lichtverhältnissen, doch Hayato wusste, er stand vor der richtigen Tür. Zwar hatte sie nicht die Kerbe, an die er sich noch aus seinem letzten Mittelschuljahr erinnerte – Hibari hatte sie hineingeschlagen in einem Kampf gegen ihn –, doch er war zweifelsohne richtig. Er schluckte. Es würde ohnehin niemand dort sein. Langsam streckte er die Hand aus. Und selbst wenn, er konnte sich wehren. Die Andere umklammerte das Dynamit fester, die angespannten Muskeln zogen bis hoch zur verletzten Schulter und ließen sie dumpf pochen. Er unterlag Hibari schon seit einem Jahr nicht mehr gnadenlos. Der Türgriff fühlte sich kühl an unter seinen Fingern. Juudaime. Er öffnete die Tür. Der Raum war stockfinster. Obwohl er aus dem Halbdunklen kam, brauchte Hayato einen Moment, bis er überhaupt irgendetwas erkannte. Schwere Vorhänge verdeckten die Fenster, doch ansonsten erkannte er nichts Auffälliges. Der Raum sah komplett leer aus. Langsam, vorsichtig, setzte er einen Fuß hinein. Noch ein Schritt. Niemand. Das Sofa war leer. Keiner von Hibaris Handlangern, kein Hibari selbst. In einer Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung stieß er die Luft aus. Die Tür fiel zu. Hayato wirbelte herum. Im tiefsten Schatten stand eine Gestalt, hochgewachsen, schlank. Ihre Arme hingen zu ihren Seiten herab, doch ihre Form wirkte unnatürlich. Die Gestalt tat einen Schritt. Weniger tief in der Dunkelheit sah Hayato die Tonfas an ihren Armen. Die obere Hälfte des Gesichts war unkenntlich, doch Hayato wusste längst, mit wem er es zu tun hatte. Hibari öffnete den Mund. Seine Zähne wirkten fast grell in der Dunkelheit, und wenn nur schemenhaft, Hayato bildete sich verlängerte Eckzähne ein, als er ein bedrohliches, kurzes Fauchen ausstieß. „Was machst du in meiner Schule, Werwolf?“ Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück, packte sein Dynamit fester. „Ich suche Antworten“, erwiderte er selbstbewusst, reckte das Kinn vor, „Wo ist Daemon Spade?“ Hibari erstarrte, und Hayato musste seinen Blick nicht sehen, um die Mordlust dahinter zu spüren. Es war kein Sekundenbruchteil, da stand der Kerl plötzlich vor ihm, eiskalte graue Augen bohrten sich in seine, kaltes Metall drückte gegen seinen Hals. „Ich beiß dich tot.“ V - Im Nachhinein wusste Hayato selbst nicht, wie er es schaffte, dem ersten Angriff von Hibari auszuweichen – es war jahrelanges Training, Instinkte, die sich längst so tief in seinen Körper gefressen hatten, dass er sie selbst nicht mehr aktiv wahrnahm. Er kannte Hibari. Diesen, den in seiner Welt – jeden. Hibari war Hibari, und dieser Umstand rettete Hayato wohl das Leben, als er ein gutes Stück von Hibari entfernt in dem auf einmal viel zu kleinen Raum in Angriffshaltung ging, Dynamit wurfbereit zwischen den Fingern, die ersten Lunten brennend. Er würde sich nicht unterkriegen lassen. Er würde Hibari so lange verprügeln, wie es sein musste, bis dieser Bastard ausspuckte, wo Daemon Spade war, denn wenn er sich allein über den Namen so sehr aufregte, dass er Hayato blindlings angriff, dann musste er irgendetwas wissen. (Zumindest wollte Hayato sich das einreden. Er brauchte verdammt nochmal einen Hinweis!) Einen Moment lang wirkte Hibaris Blick beinahe anerkennend. Nein, nicht ganz anerkennend. Eher neutral, nicht herabwürdigend, wie er es sonst immer war. Dann war der Augenblick vorbei und in den kalten, grauen Augen funkelte wieder arrogante Mordlust. Hayato schnaubte, stürmte auf Hibari zu. Er würde vermutlich Schläge kassieren, er würde es vermutlich bereuen. Aber er musste an dieses Fenster herankommen, und das konnte er nicht, wenn Hibari zwischen ihm und den schweren Vorhängen war. Also musste er ihn dort wegbekommen. Mit allen Mitteln. Die erste Explosion war nichts weiter als eine Rauchbombe. Hayato, längst an deren Effekt gewöhnt, ignorierte den beißenden Nebel, der ihm in den Augen tränte. Selbst, wenn er Hibari nicht zu fassen bekam, er würde aus dem Nebel herauswollen, nicht wahr? Der Plan scheiterte an einem Tonfa, das ihn hart an der Schläfe traf. Unter lautem Fluchen taumelte Hayato rückwärts, er spürte etwas Feuchtes an der Seite seines Gesichts herunterlaufen. Verdammt. Er sah einen Schatten im Nebel. Näherkommend. Immer noch um Gleichgewicht ringend warf er eine Hand voll kleiner Bomben. Stolperte zur Seite, rollte sich ab. Als er hoch kam, hatte die Explosionskette den dichten Qualm der Rauchbombe zerrissen und nur die dünnen Dunstfäden von schwelenden Möbelstücken verpesteten die Luft noch. Es war klar genug, um ausreichende Sicht zu haben. Hibari hatte sich tatsächlich vom Fenster entfernt. Er stand an der gegenüberliegenden Seite des Raumes von Hayato aus gesehen, wischte sich dunkle Flecken aus dem Mundwinkel und bleckte die unnatürlich langen Zähne in einem tiefen Fauchen. Hayato gestattete sich ein kurzes Grinsen, als er nach neuer Munition griff. Er würde es schaffen. Es ging nicht um ein Kräftemessen, es ging nur darum, ein verdammtes Fenster aufzusprengen. Und Hibari konnte einfach nicht überall sein. Wie sehr er sich täuschte, realisierte er erst, als er Hibaris Faust schon im Magen hatte, da brannte die Lunte des Dynamits gerade so. Ächzend ging er in die Knie, riss den Arm, der nicht seine Waffe hielt, hoch, um den zweiten Schlag abzublocken. Die Wucht des Aufpralls zog ihm hoch bis in die Schultern, und für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen. Sein Arm fühlte sich wie gebrochen an. Er konnte jetzt nicht aufgeben. Er biss die Zähne zusammen, hektisch atmend, und ohne jede Kontrolle darüber zu haben entkam ihm ein Schmerzensschrei, als das Tonfa erneut auf ihn herniederging. „Bastard“, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, seine Stimme schmerzverzerrt. Das Tonfa schwebte wieder bedrohlich über ihm. „Bastard.“ Er umklammerte die Bombe in seiner Hand. Die Lunte war fast heruntergebrannt. Jetzt oder nie. Das Tonfa rauschte mit einem pfeifenden Ton durch die Luft. Hayato riss den Arm hinunter, verlagerte sein Gewicht. Mit aller Wucht warf er sich frontal gegen Hibari, den Kopf in seinen Bauch rammend, und in dem Moment, in dem er das überrumpelte Keuchen des Anderen hörte, riss er den Arm mit dem Dynamit hoch und warf es blindlings in die Richtung, in der er die Fenster wusste. Etwas explodierte. Einen Moment war Hayato sich nicht sicher, ob es das Dynamit gewesen war, oder nur der glühende Schmerz in seinem Rücken. Für einen Moment wurde alles schwarz. Es dauerte, bis Hayato realisierte, dass die Schwärze nicht von Ohnmacht her rührte, sondern schlicht davon, dass er die Augen zusammengekniffen hatte, und mühsam zwang er seine Augenlider wieder auseinander. Es war hell. Der Raum war staubig und voller kleiner Trümmer, hinter dem wuchtigen Tisch, der den Raum dominierte, kauerte im Halbschatten, den das Möbel warf, Hibari, während Sonnenlicht durch die zersprungenen Fensterscheiben und zerfetzten Vorhänge flutete. Hayato blinzelte, dann stieß er erleichtert die Luft aus, zittrig lachend. Es hatte funktioniert. Ein Fauchen drang aus Hibaris Richtung, und sofort verstummte er wieder. Man musste nichts provozieren. Ächzend stemmte Hayato sich hoch, sein Rücken schmerzte und sein linker Arm fühlte sich an, als wäre der Knochen in tausend Stücke zersplittert; er ließ sich allerdings noch bewegen. Es war wohl mehr Schmerz als ernsthafte Verletzung. Langsam trat er einen wackligen Schritt in Hibaris Richtung. Der hob bei dem Geräusch von knirschenden Schritten den Kopf, eine Hand vor dem Gesicht. Die Augen im Schatten dahinter waren zu schmalsten Schlitzen verengt, sprühten hassvolle Funken, die schmalen Lippen wütend verzogen und die Zähne gebleckt. „Was willst du?“ Hibaris Stimme war mindestens genauso hasserfüllt wie sein Blick, und allein ihr Klang ließ Hayato erschaudern. Jede Faser seines Körpers schrie nach Flucht vor diesem unberechenbaren Monster auf dem Boden. Für Juudaime. Aber Hayato straffte nur die Schultern, reckte das Kinn vor – und senkte es dann schnell wieder, als ihm bewusst wurde, dass es womöglich dumm sein könnte, so demonstrativ auf Hibari herabzusehen. „Ich will Daemon Spade vernichten. Man sagte mir, ihr… Vampire wüsstet, wo er ist.“ Hibari schwieg. Er hatte immer noch eine Hand vor dem Gesicht, um es vor dem diesigen Licht zu schützen, und mit dem neuerlich gesenkten Kopf verschwanden seine Augen gänzlich im Schatten. Trotzdem fühlte Hayato sich beobachtet wie nie zuvor, obwohl er Hibaris Blick nicht einmal mehr sehen konnte. Minutenlang – so fühlte es sich zumindest an –, herrschte Schweigen, dann erhob sich der Schwarzhaarige in einer abrupten, raubtierhaft eleganten Bewegung und schüttelte sich Staub aus seinem Haar. Er schien Hayatos Anwesenheit völlig ausgeblendet zu haben, während er in einer Seelenruhe, zu der nur Hibari fähig war, seine Kleider richtete, letzten Dreck aus der Frisur zupfte, und sich den Schmutz vom Gesicht wischte. Erst, als er beinahe aussah, als hätte er keinen raumexplodierenden Kampf hinter sich, hob er den Blick wieder, richtete ihn auf Hayato. Mit dem Rücken zum Sonnenlicht war es schwer, in seinem Gesicht zu lesen, aber Hayato beschlich das untrügliche Gefühl, dass er ohnehin nicht sehen wollen würde, was da in den Schatten verborgen lag. Hibaris Aufmerksamkeit hieß selten etwas Positives. „Wir wissen nichts.“ Hayatos Schultern sackten herab, dann ballte er die Hände zu Fäusten und knurrte. „Verarsch mich nicht, du Schulfreak!“ Aus Hibaris Richtung drang ein leiser, warnender Laut, der Hayato jeden weiteren Protest im Halse stecken blieben ließ. Hibari trat einen Schritt auf ihn zu, dann noch einen, und je näher er kam, desto mehr konnte Hayato Details in dem Gesicht ausmachen, das so tief im Schatten lag. Eisgraue Augen glühten, wütend vor allem, doch in ihnen lag ein unheilverkündender Hauch von Amüsement, genauso wie in dem leichten Verziehen der sonst so stoisch ruhigen Mundwinkel. Ein Grinsen? Hayato schluckte. Er wollte nicht wissen, was gerade in Hibaris Kopf vor sich ging. Instinktiv griff er nach seinem Dynamit. „Aber du kannst Spürhund für uns werden, Werwolf.“ VI -- Was auch immer Hibari sich unter einem Spürhund vorgestellt haben mochte, Hayato war schlussendlich nicht mehr als ein weiterer Mann in Hibaris seltsamer Truppe aus ehemaligen Mittelschul-Disziplinarkomitee-Mitgliedern. Einer von vielen, die sie durch Namimori streiften, nachts, wenn die Straßen leer waren und geisterhafte Laute die Haare zu berge stehen ließen. Nachts, wenn man einige Orte nicht betreten konnte, ohne Masken zu tragen, die das eigene Gesicht vor dem kalten Blick der Geister zu verbergen. Nachts, wenn die erste Regel, um zu überleben war – dreh dich nicht um. Die erste Nacht war ruhig. Sie streiften durch endlose Reihen lebloser Lagerreihen, in denen Gerüchten und Beobachtungen zufolge einige verdächtige Dämonen untergekommen sein sollten – sie fanden nichts außer getrockneten Blutlachen. Hayato hätte schwören können, dass die Temperatur in einer der Hallen jäh um mehrere Grad gesunken war, doch er gab sich alle Mühe, nicht darüber nachzudenken. Sich nicht umzudrehen, als sein Nacken nervös prickelte. Hinter der Maske sah zum Glück niemand seine Panik. Kein Mensch. Kein Vampir. Und vor allem kein Geist. Die nächsten Nächte verliefen nicht unähnlich, doch einige weit weniger ereignislos. Sie streiften weiter durch Namimori, besuchten einen kleinen Schrein, an dem ihnen eine Handvoll kleiner Erdelementare und Waldgeister das Leben schwer machte, fanden eine unter Daemon Spade stehende Truppe Zombies in einem heruntergekommenen, baufälligen Gebäude am Rande zum Industriegebiet, die geifernd und gröhlend nach ihrem Fleisch lechzten. Der Geruch der brennenden Untoten trieb Hayato sein Abendessen wieder hoch und Tränen in die Augen. Es war abstoßend. Abstoßend wie die Dämonen, die sich an den Eingeweiden einiger Streuner labten, als sie sie fanden, oder die hässlichen, deformierten Gliedmaße eines drei Meter hohen Golems, dessen einziger Antrieb der Drang nach zerquetschen und zermatschen zu sein schien. Hayato verbrachte die meiste Zeit mit Kusakabe und einigen anderen Kerlen, die für ihn alle gleich aussahen und von denen er sich nicht die Mühe machte, ihre Namen zu behalten. Hibari führte ein anderes Trüppchen an, und zeitig mit dem Sonnenaufgang kehrten sie in die Schule zurück. Hibari schien nie zu schlafen. Hayato fragte nicht nach, warum, es kümmerte ihn nicht. Ein unwichtiges Detail, dessen Klärung einfach keine Wichtigkeit hatte. Dass der typische Trott von Tag totschlagen und nachts von Kusakabe eingesammelt werden sich tatsächlich unterbrach, kam so unerwartet für Hayato, dass er einige Sekunden brauchte um zu verarbeiten, was Hibari damit meinte, als er im Türrahmen lehnend kommentierte „Wir müssen los“. In seinem linken Mundwinkel klebte Blut, zu wenig, um von einer Verletzung zu stammen. Es sah eher aus wie die verschmierten Überreste eines Mittagessens. Hayato schauderte bei dem Gedanken. Er hatte Hibari genauso wenig jemals essen sehen, wenn er es recht bedachte. Er hatte keinen von ihnen essen sehen. Mit Kusakabe war es angenehmer gewesen. Hibari schien davon auszugehen, dass Hayato ganz genau wusste, was zu tun war, und jeder falsche Schritt wurde mit einem abfälligen Blick bedacht. Kusakabe hatte ihm erklärt, was er wissen musste. Hibari ignorierte ihn. Kusakabe kämpfte für das Team. Hibari für sich selbst. Jeder musste sehen, wo er blieb. Es waren vertraute Anwandlungen, letztlich, doch in der fremden Umgebung, in den fremden Umständen, ertappte Hayato sich selbst viel zu oft dabei, wie er Hibari verfluchte und zum Teufel wünschte, jedes Mal wieder, dass dieser Bastard ihn aus lauter zwischenmenschlichem Desinteresse beinahe in den Tod stolpern ließ. Zwei Tage in seiner Gesellschaft, und Hayato hätte ihm am Liebsten eigenhändig die Kehle rausgerissen. Am dritten Tag war er so geladen, dass er schon beim ersten Blick seine Wut an einem unschuldigen(?) Zombie ausließ, den sie eigentlich nur befragen wollten. Unter einem gezielten Schlag mit einem alten Metallrohr zerplatzte der Schädel des Monstrums wie eine überreife Tomate, nur dass die seltsamen Flüssigkeiten und Fleischteilchen, die umherspritzten, übelriechend und ungesund gräulich-grün waren. „Was soll das, Werwolf?“, fuhr Hibari sofort auf, und ehe Hayato sich versah, hatte er den Kerl geradezu an seiner Kehle hängen. Er fauchte, knurrte, packte wütend nach Hibaris Handgelenk. Seine Finger gruben sich tief in Hibaris Haut. Er roch leicht metallisch, seltsam kühl, ein Geruch nach altem Blut und Frosttemperaturen. Es war ein Geruch, der ihm den Magen umdrehte – wie konnte es sein, dass er ihn bisher nicht bemerkt hatte? „Lass mich los, Blutsauger“, erwiderte er, gar nicht erst versuchend, die brodelnde Wut in seinem Inneren zu unterdrücken. Er hatte genug von Hibari und seinen Attitüden! „Es ist nicht, als ob dieses hirntote Vieh uns noch irgendetwas hätte erzählen können! Ich kann drauf verzichten, mich minutenlang von so einem dreckigen Zombie ansabbern zu lassen für nichts, das hatten wir schon oft genug!“ Einen Augenblick erwiderte Hibari seinen Blick gnadenlos, dann wandte er sich so abrupt ab, dass Hayato den Griff um das schmale Handgelenk verlor. „Reiß dich zusammen.“ Und dann war er weg. Lief in dieser unmenschlichen Geschwindigkeit, die er an sich hatte, weiter, und nach und nach folgte eine finstere Gestalt nach der anderen. Disziplinarkomitee-Klone, die bisher nur schweigend dabei gestanden hatten. Im letzten Licht des dunkler werdenden Abends hoben sie sich grotesk gegen den noch kräftig blauen Himmel ab. Bald würde es stockduster sein. Hayato knurrte leise, unruhig, als er sich in Bewegung setzte, um zu folgen. Seine Haut juckte nahezu überall, seine Kopfhaut kribbelte, und sein Herzschlag fühlte sich ungewöhnlich schwer und kräftig an. Es kostete Hayato unerwartet viel Mühe, zum Rest der Gruppe aufzuschließen, und er keuchte atemlos, als er sich die letzten Sprossen zu dem niedrigen Flachdach hochzog, auf dem Hibari und Anhang sich verteilt hatten, als würden sie auf etwas warten. Hayato hatte keine Ahnung, worauf genau, doch es war ihm egal. Noch mehr Vampire, Zombies, Geister… er hatte schon gesehen, was diese Welt zu bieten hatte. Was Daemons Illusionen zu bieten hatten. Beinahe wäre Hayato ja beeindruckt. Hibari warf ihm einen Blick zu, der Hayato nur wieder verärgert aufknurren ließ, dann raffte er sich schwankend auf die Beine hoch. Schwindel erfasste ihn, sein Kopf schmerzte, und es schien sich alles zu drehen um ihn. Er schloss die Augen, presste eine Hand auf den Mund. Hibaris kalter Blutgestank wehte bis zu ihm hinüber. Seine Haut juckte und spannte, ihm war plötzlich unglaublich heiß. Irgendwo in der Ferne ertönte ein gequältes Jaulen, nicht ganz menschlich, nicht ganz tierisch. Hayato riss keuchend die Augen auf. Hibaris Blick lag immer noch auf ihm. Die Disziplinarkomitee-Klone hatten die Blicke zum Himmel gewandt. Hektisch riss er den Kopf hinauf, Hibaris Blick entfliehend, einem Impuls folgend – er wusste selbst nicht, wieso. Über ihm strahlte der Vollmond hinter den letzten Schlieren einer vorbeiziehenden Wolke klar und hell herab. VII --- Es begann mit einem Jaulen. Laut und schmerzvoll, nicht menschlich und nicht tierisch. Der Grauhaarige bäumte sich im Schrei auf, nur um danach in sich zusammen zu sacken, sein Kopf gesenkt, sein Blick tief im Schatten verborgen. Sein Körper zuckte, plötzlich, abgehackt. „Verschwindet.“ Die Stimme des Vampirs war leise, doch fast drohend. Seine Begleiter zögerten keinen Moment. In schnellen Bewegungen verschwinden die Gestalten in der Dunkelheit, werden von der Finsternis verschluckt, als wären sie schon immer ein Teil von ihr gewesen. Nur der Mann, der gesprochen hatte, blieb zurück, die Hände um die Griffe seiner Schlagwaffen geschlossen, angespannt, bereit zu einem Kampf, der so unvermeidlich in der Zukunft lag wie der Anbruch eines neuen Tages. In den wenigen Augenblicken, die die Vampire brauchten, um auseinander zu stieben, verlor der Grauhaarige den Halt und fiel zu Boden, auf allen Vieren wand er sich zuckend und keuchend, knurrend und speicheltriefend. Sein Rücken zuckte, sein Haar nahm im milchig-kalten Licht des Mondes ein Gefühl von struppigem Fell an, sein Haaransatz ging tiefer und tiefer, in seine Stirn, in seinen Nacken. Die Knochen und Muskeln unter der mehr und mehr haarigen Haut schienen sich zu verschieben, neu zu wachsen, und nach und nach verschwand die Gestalt des menschlichen Jugendlichen im dichten, zotteligen Fell eines großen, muskulösen Wolfes. Einige Sekunden blieb das Monstrum am Boden, während der Vampir langsam, angespannt auf ihn zu trat. Die Unvermitteltheit, mit der der Wolf sich hochraffte, ließ ihn in plötzlicher Überraschung einen Schritt zurücktreten, doch es war zu spät – schon war die Bestie auf kräftigen Pfoten ihm entgegengesprungen und schwere, krallenbewehrte Pfoten rissen an seiner Kleidung, nur haarscharf daran vorbei, nicht nur sein Hemd, sondern auch die darunter liegende Haut zu zerfetzen. Er bleckte fauchend die spitzen Zähne, und schon der nächste Angriff des Wolfes wurde mit einem Tonfa geblockt. In der Ferne nahm das Jaulen und Heulen zu, je weiter der Abend voranschritt. Schwoll an, ebbte ab, und in unregelmäßigen Abständen verstummte es ganz, nur um dann wieder zu ertönen. Stunden später kündigte vage Helligkeit am Horizont von der herannahenden Morgendämmerung. Die Schnauze des Wolfes war feucht von Geifer und Speichel, seine Krallen blutig. Er knurrte und grollte mit gesträubtem Fell und gebleckten Zähnen, längst wieder in Angriffshaltung, obwohl zahlreiche dumpf blutige Flecken auf seinem grauen Fleck von ausreichend Verletzungen erzählten, dass es erstaunlich war, dass er noch stand. Sein Gegenüber war nicht besser dran: Tiefe Kratzer an Armen und Torso hatten blutige Striemen hinterlassen, aus einigen Wunden quoll die dicke rote Flüssigkeit noch immer. Er schwankte, und pure Willenskraft schien es zu sein, das ihn noch auf den Beinen hielt. Das es ihm ermöglichte, die bebenden Arme zu einem weiteren Verteidigungsschlag zu heben, als der Wolf sich tiefer senkte, bereit, mit aller Kraft auf ihn zuzuspringen. Der Vollmond am Himmelszelt war nur noch eine blasse Scheibe, die mehr und mehr verblasste, je heller der Himmel sich verfärbte. Der Werwolf brüllte, setzte zum Sprung an. Seine Bewegungen waren kraftlos geworden, und er kam wieder am Boden auf, weit bevor er den Schwarzhaarigen erreichte. Er knurrte frustriert. Das nächste Jaulen, das er ausstieß, klang schmerzvoll, leidend und gequält. Wie geschlagen von einer unsichtbaren Macht fiel er zu Boden. Für einen Moment flackerte im Blick des Vampires Erleichterung. Dann wurden seine Augen trüb und er sank in sich zusammen. Während die Sonne langsam und träge ihre Bahn am Himmelszelt antrat, wurde aus dem Wolf wieder ein Mensch. Hayato erwachte mit gleißendem Sonnenlicht, das in seinen Augen stach, schmerzenden Gliedern, dröhnendem Schädel und dem unangenehmen Gefühl von hartem Beton, der sich in seine Haut drückte. Ächzend kniff er die Augen wieder zusammen, drehte den Kopf zur Seite. So ein bisschen geschützt vor dem grellen Licht öffnete er sie erneut, starrte auf das schmutzige Grau des Flachdachs, zu dem er Hibari noch gefolgt war. Genau. Ich bin Hibari gefolgt, und dann… Seine Erinnerung war seltsam vage, bruchstückhaft. Er erinnerte sich an ein seltsames Jaulen, den Anblick des Vollmondes, an diesen Gestank von Blut und Kälte, an Hibaris kalten Blick. An Schmerz bis zur Ohnmacht, nur, dass er nicht ohnmächtig geworden war, und was danach kam, war ein seltsamer Wirbel aus Gerüchen und Eindrücken, die er nicht einordnen konnte. Und jetzt war es Morgen. Er schüttelte benommen den Kopf. Langsam, sehr langsam richtete er sich in eine sitzende Position auf. Seine Kleidung war weg. Seine Kleidung war weg. „Was zum Teufel?!“ Er war nackt. Er erinnerte sich an Blut. An das dringende Bedürfnis zu reißen, zu zerfetzen, an eine ohnmächtige Blutlust, die ihn fast in den Wahnsinn trieb. An wölfisches Geheul, das von überall und nirgendwo gekommen war – und aus seiner eigenen Kehle. Eine Illusion. Hibari war noch da. Hayato bemerkte ihn erst jetzt, flach am Boden liegend und… blutig? Mit einem Schub aus Besorgnis und Adrenalin kam er auf die Beine, stolpernd und schmerzend, doch es reichte, um den Anderen zu erreichen. Hibari war bewusstlos, sein Körper übersät mit Wunden, die mit klebrigem, blutigem Schorf überzogen waren. Einige glänzten noch feucht. Es waren Kratzer, wie von großen, scharfen Krallen. Wolfskrallen. Keine Illusion. Panisch sah er sich um. In einem Haufen aus zerfetzten Kleidern fand er seinen Kommunikator. Nur das Armband war zerrissen. In einem nahen Altkleidercontainer fand er ein übergroßes Shirt, das ölverfleckt war, und eine Jogginghose, die abgesehen davon, dass die Beine zu lang waren, sogar ziemlich gut passte. Es war besser als nichts, und Hayato hatte keine Zeit. Hibari lehnte bewusstlos an einer Hauswand, während er sich in die fremden Kleider quälte, die nach einer Mischung aus Waschmittel und muffiger Lagerung rochen. Sein Körper war über und über voll blauer Flecken und Blutergüssen, ihm tat immer noch alles weh, aber im Gegensatz zu Hibari konnte er immerhin noch laufen. Einige Wunden waren blutig, doch längst verschorft und trocken. Er würde es überleben. Hibari… Sah nicht unbedingt so aus. Hayato schob jeden Gedanken an tote Kameraden zurück in die Ecke seines Verstandes, in die sie gehörten – in die Ecke, in die er nie hineinsah. Mit zusammengebissenen Zähnen stakste er umständlich zu Hibari zurück, ächzte, als das Gewicht des Bewusstlosen seine Muskeln wieder zum Schreien und Protestieren brachte. Einmal quer durch Namimori. Es würde ein Höllentrip werden. Es wurde ein Höllentrip. Hayato brauchte länger, als er sich jemals eingestehen würde, und das trotz des Umstandes, dass sie den größten Teil des Weges mit der U-Bahn zurücklegten; die anderen Gäste warfen ihnen Blicke zu, tuschelten, doch weniger als Besorgnis lag eine abfällige Angst in ihren Blicken. Als wären sie es gewohnt, und alles, was sie kümmerte, war, dass nicht sie es waren, die zerschlagen und fertig dasaßen. Hayato hätte am Liebsten reingeschlagen. Hayato hätte am Liebsten überall reingeschlagen. Sie hatten Recht gehabt. Es war real. “Ich bin ein Werwolf.” Er vergrub das Gesicht in den Händen, von einem plötzlichen Schmerz erfasst, krallte die Finger in sein verfilztes Haar und schluchzte leise. „Juudaime.“ Der Weg von der U-Bahn bis zu ihrem Ziel war nicht weit, und trotzdem verfluchte Hayato jeden Schritt. Es schmerzte, zehrte von seinen letzten Kraftreserven. Er stürzte, Hibari fiel neben ihm wie eine leblose Puppe zu Boden. Hayato schrie, hieb wütend auf den Boden. Seine Knöchel platzten auf, sein Gesicht wurde nass. Als er aufsah, bemerkte er erste Regentropfen. Bis er das Gebäude erreicht hatte, war er völlig durchnässt, die Feuchtigkeit weichte den Schorf an seinen Wunden auf und malte rosige Flecken auf die unpassenden Kleider. Wenn man nach den Blicken von Juudaime und den anderen gehen konnte, mussten sie absolut furchtbar aussehen. „Ihr müsst uns helfen. Ihr hattet Recht.“ VIII ---- Dünne Schlieren schalen Zigarettenrauchs ringelten sich um die Deckenbeleuchtung des fensterlosen Raumes. Hayato drückte die fünfte Zigarette der Stunde in dem Reisschalenaschenbecher seines letzten unfreiwilligen Besuches aus, fuhr sich mit einer Hand durch das Haar. Inzwischen war es gebürstet. Mukuro saß wieder auf seinem abgewetzten Bürostuhl, lesend, doch Hayato wusste, er lauschte – oder vielmehr, er würde lauschen, gäbe es gerade etwas anderes zu hören als stoisches Schweigen. Bianchi war nicht da, Juudaime saß auf einer alten Kiste und sah zu, wie Haru mit fachkundigen Handgriffen Heilsalben und Bandagen auf Hibaris Wunden auftrug. Sie war ungewöhnlich still, ihr Gesicht verbissen, und immer noch so geisterhaft bleich. Eine Hexe. Seine eigenen Wunden waren ebenfalls versorgt. Bianchi hatte sich darum gekümmert, ehe sie den Raum verlassen hatte, weil eine Nachricht von Verbündeten nach Unterstützung gebeten hatte. Hayato war froh um die Stille. Er wollte nicht reden. Er wollte nicht hier sein. Er wollte schreien und heulen, er wollte so lange hinausbrüllen, dass das alles nicht wahr sein konnte, bis er es selbst glaubte. Bis er den kleinen, roten Knopf drücken konnte, der ihn vielleicht zu Juudaime – zu seinem Juudaime – zurückbringen konnte. Er konnte es nicht. Er konnte nichts tun, dass seinen Juudaime gefährdete. Und wenn das bedeutete, dass er den Rest seines Daseins am anderen Ende aller Welten verbringen würde… Er schluckte, ballte die Hand um den kleinen Kommunikator zur Faust. „Wo ist Giannini?“ – „Gokudera-Kun…“ Juudaimes Blick war traurig, mitleidig, aber hart. „Du kannst nicht zurück.“ Hayato schnaubte, doch es klang müde, resigniert. „Ich will nicht zurück. Ich will nur… eine Nachricht schicken.“ Juudaime musste wissen, dass er nicht zurückkehrte. Dass dort nun ein anderer Hayato sein würde – wenn es denn so wäre. „Euer Hayato – er ist ein Mensch, richtig?“ Juudaime nickte. Hayato lächelte flüchtig, erleichtert. Es würde seinem Juudaime gut gehen. Kein Hayato in keiner Parallelwelt würde sich jemals gegen einen Juudaime stellen können. Nicht aus tiefstem Herzen. Nicht, wenn er wusste, dass es seine Pflicht war, ihn zu beschützen. Noch war es Hayatos Pflicht, aber sobald er seinem Juudaime Nachricht geschickt hatte, würde es damit vorbei sein. Er betrachtete den braunhaarigen Jungen am anderen Ende des mitgenommen aussehenden Tisches, den erwachsenen Zug in seinen Mundwinkeln, die ernsten Augen, die mehr Lebenserfahrung suggerierten, als seinem Alter angemessen gewesen wäre. Dann würde er diesen Juudaime beschützen. Welcher andere Lebensinhalt könnte dieses Leben, wie es war, noch lebenswert machen? Langsam stieß er die Luft aus, stemmte sich vom Tisch hoch. Er fühlte sich müde und abgespannt. „Im Nebenraum sind Betten, Gokudera-Kun.“ Juudaime lächelte warm, seine Augen glänzten feucht. Er sah auch nicht gerade munter aus. Hayato nickte langsam, murmelte einen vagen Dank, ehe er sich abwandte und auf die Tür zusteuerte, die wohl zu den Betten führte. Er achtete gar nicht groß darauf, welches Bett er wählte, nahm das Nächstbeste, das gemacht und damit ungenutzt aussah. Er schloss die Augen. Juudaime… verzeih mir. Er konnte nicht zurück. Der andere Hayato würde dafür entschädigen, da war er sich sicher. Es musste so sein. Juudaime brauchte ihn. Er musste Juudaime beschützen. „Er wird wieder auf die Beine kommen“, verkündete Harus Stimme, die durch die dünne Tür drang als wäre sie nur aus Papier, „Ziemlich hoher Blutverlust, aber er ist schließlich ein Vampir. Wir sollten Konserven besorgen; wenn er aufwacht, wird er hungrig sein, und nur, weil ich immun bin, lass ich ihn nicht an mir rumkauen!“ Hayato wegen konnte Hibari rumkauen, worauf er wollte, solange er gerade nur seinen Schlaf bekam… „…hiiii! Y-Yamamoto-Kun!“ Durch den Schleier des Schlafes drangen Juudaimes Worte nur wie dick durch Watte gefiltert. Hayato grollte, drehte sich um und drückte das Gesicht in ein Kissen, das gleichermaßen nach Weichspüler und Kellermuff roch. Er hörte Yamamoto lachen, dann eine andere Stimme, die so leise war, dass er sie nicht einmal erkannte. Vielleicht war es Hibari. Es war ihm egal. Hatten sie wieder einmal alle bei Juudaime übernachtet? Etwas stimmte nicht an dem Bild, ließ Hayato die Stirn runzeln. Langsam öffnete er die Augen, erblickte nackte Glühbirnen und kahle Wände. Perfektes Kellergefühl. Sein Magen krampfte und sein Herz sackte an einen Ort hinab, an dem es sehr kalt und sehr grausam war. Einige Atemzüge später war der Schmerz erträglich, das bohrende Gefühl des Unglücks fing sich wieder und Hayato schwang die Beine aus dem Bett, den Blick unmotiviert auf den Boden und seine nackten, straßenschmutzigen Füße gerichtet. Ein Klopfen an der papiermäßig durchlässigen Tür ließ ihn aufsehen. „Gokudera-Kun?“ Juudaimes Stimme klang so deutlich und nah, als wäre gar keine Tür zwischen ihnen. Hayato konnte ihn geradezu vor sich sehen. Das besorgte Gesicht, das er gerade machte. „Juudaime?“ Er hörte etwas, das klang, als würde Juudaime erleichtert die Luft ausstoßen. Er lächelt. Hayatos Magen krampfte in einer Art wehmütiger Freude. „Gokudera-Kun, komm bitte raus. Hier ist jemand, der dich interessieren dürfte.“ Hayato war sofort oben, ein verzweifeltes Strahlen im Gesicht. Sie hatten Giannini gefunden?! So schnell, dass er fast über seine Füße stolperte, hielt er auf die Tür zu, riss sie auf und stürzte zurück in den Gemeinschaftsraum. Bianchi war wieder da, das bemerkte er sofort. Hibari schlief noch, Haru war dafür verschwunden. Mukuro schien seinen Posten am Schreibtisch nie zu verlassen. Bei Bianchi – und Juudaime, wie ihm gerade auffiel – befanden sich zwei weitere Gestalten. Hayato kam gar nicht dazu, von der zweiten mehr als einen Schemen wahrzunehmen, so sehr war er gefesselt vom Anblick der ersten. Hochgewachsen, schwarzhaarig, und eindeutig Yamamoto, doch die sonst so gesunde braungebrannte Hautfarbe war einem übelkeitserregenden Grün gewichen, und Hayato zweifelte keinen Augenblick daran, dass der faulig modrige Geruch, der den Raum erfüllte, von dem Kerl – Zombie – kam. Außer ihm schien sich allerdings niemand an dem Geruch zu stören. Oder an dem Anblick. „Oi, Gokudera! Schön dich zu sehen!“ Yamamoto grinste. Ihm fehlten zwei Zähne, und sein Zahnfleisch sah ungesund dunkel aus. Hayato bemerkte Nähte an seinem Unterarm. Was…? Ihm wurde übel und er hatte Mühe, seinen Ekel herunterzuschlucken. „Ich hab doch gesagt, in ihren hellen Momenten sind sie gut wie zu Lebzeiten!“ Haru, in einem grellgelben, übergroßen Pullover, den sie angezogen haben musste, um die blutbefleckte Kleidung vom Verarzten loszuwerden, kam die Treppen heruntergehüpft, ein Tablett mit dampfendem Tee und Tassen tragend. Sie grinste Yamamoto sonnig an, als wäre es das alltäglichste, einen modernden Zombie im Haus zu haben, warf ihm dann einen prüfenden Blick zu. „Auch wenn du langsam wirklich über Haltbarkeitsdatum bist, hm? Komm heut Abend mal zu mir, dann seh ich, was ich machen kann, dass du uns nicht davongammelst.“ Yamamoto lachte, als wäre das alles furchtbar witzig, und Hayato hatte das dringende Bedürfnis, wegzulaufen. Diese Welt war krank. Aber er hatte keinen Ort, an den er laufen könnte, also riss er nur den Anblick von Yamamotos grünlich-grauer Haut. Stattdessen blieb er an etwas kupferrotem hängen, ein vertrauter, unordentlicher Haarschopf– „Irie!“ Der Junge sprang geradezu in die Luft vor Schreck, fuhr herum. Hinter der dicken Brille waren seine Augen panisch und desorientiert. „K-kennen wir uns?“ Hayato schnaubte nur, wandte sich Juudaime zu. „Wo habt ihr den aufgegabelt?“ „Yamamoto-Kun und seine Leute haben ihn aufgesammelt. Er ist von einigen Dämonen angegriffen worden, Millefiore nennen sie sich, meint Bianchi-San.“ Natürlich musste die Millefiore überall Ärger machen. Ob Byakuran diese Parallelwelt jemals gesehen hatte? Hayato wollte es gar nicht so genau wissen, wenn er es recht bedachte. Es war nicht wichtig. Wer war schon Byakuran? Sie hatten ihn einmal besiegt, sie würden es wieder tun. Und wieder. In jeder Welt, egal, was dieser Irre behauptete. Er schüttelte den Kopf, fixierte den zerzausten Rotschopf wieder. „Du wirst mir helfen.“ IX -- Es dauerte zwei Tage, bis Hibari aufwachte. Hayato war gerade mit Juudaime unterwegs, Einkäufe tätigen. Zwischen Supermarkt und Juudaimes Haus erfuhr er den Grund, weshalb Juudaime ihre Basis im Keller des Hauses aufgebaut hatte. Im Wesentlichen, damit seine Mutter, die gerade auf unbestimmt bei einer alten Freundin untergekommen war, nichts davon merkte, in welchen Gefilden ihr Sohn sich bewegte. Typischer Juudaime-Grund. Als sie beladen mit Einkaufstaschen zurückkamen, war Hibaris Klappbett leer und der Kerl nirgendwo auffindbar. Haru saß auf der Kante der zerwühlten Schlafstatt und grinste ihr munteres Haru-Grinsen. „Willkommen zurück, Tsuna-San und Anhang! Hibari-San ist übrigens im Bad, ich denke, er kommt gleich wieder. Sah nicht aus, als wollte er in dem strahlenden Sonnenschein unbedingt raus. Es ist toll, oder? Ich war vorhin kurz im Garten, bis Bianchi-San erzählt hat, dass unser Schneewittchen aufgewacht ist.“ Sie sprang ungeniert auf, nahm Juudaime die Tüte ab, in der Kräuter und Salze waren, mit denen Hayato nur vage etwas anfangen konnte. Er wusste zwar um die geisterabwehrenden Fähigkeiten, die man einigen Dingen nachsagte, aber es erfüllte ihn immer noch mit Ehrfurcht, dass es wirklich funktionierte. „Wir sollten mit Hibari-San reden, wenn er wieder kommt. Ich denke, es wäre nicht schlecht, ihn noch im Auge zu behalten. Er heilt ganz großartig und alles, aber bei Vampiren weiß man ja nie. Unsre Blutkonserven waren wohl auch nicht mehr als ein netter Snack für ihn, aber tja. Wie gesagt, ich lass mich nicht anfressen, und Werwolfblut mögen Vampire ja nicht mal, also hat er eben Pech und muss ein bisschen Diät halten.“ Hayato hob die Augenbrauen, sah fragend zu Juudaime hinüber, Harus weiteres Geplapper einfach ausblendend. Sie schien den Mund einfach nicht zuzubekommen, während sie ihre Einkäufe wegräumte. „Vampire können im Grunde alles an Blut trinken. Vampirblut liefert allerdings nicht genug Nährstoffe, Menschen werden mit Vampirismus infiziert und Werwolfblut schmeckt ihnen tatsächlich nicht. Es gibt ein uraltes Abkommen, nach dem Vampire im Wesentlichen nur von Wesen trinken dürfen, denen es nicht lebensbeeinflussend schadet, da bleiben außer Hexen gar nicht mehr so viele übrig. Heutzutage bedienen sich die Meisten an Blutbanken.“ Er seufzte leise, hob die Schultern. „In manchen Gegenden heuert man sie an, um eine Überpopulation durch verschiedene Randgruppen zu dezimieren. Hier in Namimori… Wir wissen zugegeben gar nicht, wovon Hibari-San und seine Leute sich ernähren, aber wir finden keine Vampiropfer, damit ist es auch in Ordnung.“ Hayato war sich nicht ganz sicher, ob Juudaime da nicht wieder zu naiv war, aber im Endeffekt… da ging es um Hibari und sein heiliges Namimori. Wahrscheinlich waren seine Nahrungsbeschaffungsmethoden tatsächlich koscher. Das Gespräch unterbrach sich, als Hibari tatsächlich wieder in den Raum trat. Selbst Mukuro sah kurz von seinem Buch auf – er las immer noch. Hayato war sich langsam wirklich sicher, dass er da hinten festgewachsen war – und Irie stoppte in seinem Versuch, Hayatos Kommunikator zu studieren, ohne ihn dabei komplett zu ruinieren. Sehr zu Hayatos Erleichterung hatte die Brillenschlange sich tatsächlich bereit erklärt, zu helfen, und nachdem Hayato ihm knapp erklärt hatte, was er wollte, hatte er von dem Jungen nichts mehr gehört und nur wenig gesehen, und wenn er ihn mal bemerkte, dann war er tief über Notizen und Berechnungen gebeugt, die sich selbst Hayatos Genie entzogen. „Hahi! Hibari-San, willkommen zurück! Wie fühlst du dich?“ Haru bekam für ihre Worte ein tödliches Funkeln, und mit einem Quietschen wich sie ein Stück zurück, wirbelte zurück zu ihrem Regal herum und schien es plötzlich unglaublich wichtig zu finden, die chaotisch aufgereihten Kräuter alphabetisch zu sortieren. Hayato verdrehte die Augen. Als er wieder zu Hibari zurück sah, war der längst nicht mehr an seinem Platz. Stattdessen stand er direkt vor ihm und Juudaime, lautlos, wie plötzlich aus dem Boden geschossen. „Was mache ich hier, Jäger?“ – „Gokudera-Kun hat dich hergebracht. Du warst verletzt. Ich kenne die Details auch nicht, aber ich bin froh, dass es dir wieder gut geht.“ Juudaime lächelte, trotz Hibaris kaltem Blick, der sich nach einem Moment mit einem genervten Schnauben abwandte und stattdessen Hayato fixierte. Es sah geradezu nach einer wortlosen Morddrohung aus. „Werwolf.“ – „Vampir.“ Hayato wusste selbst nicht, ob das Gruß oder Beleidigung sein sollte. Vielleicht beides. Hibari wandte sich ab, ließ sich auf einem Stuhl nieder mit einer selbstverständlichen Gleichgültigkeit, als gehöre die ganze Basis ihm. Juudaime störte sich nicht daran. Eher lächelte er wieder, setzte sich ebenfalls hin. Hayato folgte, wenn auch mehr, weil er nichts anderes zu tun wusste. Auf einiges an Schweigen folgte schließlich ein Gespräch – eher, ein Monolog – an dem Hayato nicht teilnahm. Schweigend saß er dabei, rauchte eine Zigarette, während er zuhörte, wie Juudaime auf Hibari einredete. Zusammenarbeit, gemeinsamer Feind, die üblichen Argumente. Es war ein Gespräch, wie er es schon viel zu oft gehört hatte, zwischen seinem Juudaime und Hibari, und nach einigen Minuten des schweigenden Zuhörens und Beobachtens von Hibaris Mimik wusste Hayato schon um den Gesprächsausgang. Er erhob sich, verließ den Raum, ohne dass irgendjemand es bemerken würde – nur Mukuros zweifarbiger Blick ruhte einen Moment auf ihm. Mukuro war sowieso noch so ein Thema, damit würde Hayato sich auseinander setzen, sobald… sobald er überhaupt einmal genau wusste, wo er dran war. Wenn Iries Arbeit scheiterte, hatte er keine Wahl, als eine Rückkehr zu riskieren und zu hoffen, dass Giannini ihn genau hierher wieder zurückschicken konnte. (Oder gleich ihren Irie zu fragen, dass der Gianninis Arbeit abnahm, Hayato mochte die Brillenschlange nicht mögen, aber sie war kompetent.) „Gokudera-Kun?“ Wenn man vom Teufel sprach. Hayato seufzte, drehte sich um, um Irie mit hochgezogener Braue zu mustern. Er stand vor der Kellertreppe, eine Hand in seinem unordentlichen Schopf vergraben. „Was?“ – „Ich hab ein paar Fragen.“ Sie fanden einen Platz in der Küche, dem einzigen Raum, der nicht verstaubt und verwahrlost aussah – der einzige Raum, der noch genutzt wurde, vom Keller einmal abgesehen. Hayato blieb stehen, lehnte sich gegen die Arbeitsplatte, sah zu, wie Irie sich etwas zerstreut auf einem Stuhl nieder ließ. Einen Moment musterte der Rothaarige ihn über den Rand einer heruntergerutschten Brille hinweg, dann richtete er das Gestell und seufzte. „Also, diese Parallelweltensache. Du kommst aus einer Welt in der…“, er runzelte die Stirn, hob vage die Hand, „Das alles hier nicht existiert, richtig?“ Hayato nickte. Irie kicherte nervös, entrückt. „Wieso willst du nicht zurück?“ Niemand hatte ihn das gefragt. Niemand hatte gefragt, und Hayato hinterfragte nicht, warum. Entweder, sie ahnten es, oder es kümmerte sie nicht, und in den wenigen Fällen, in denen es ihm wichtig war – Juudaime… – wusste er, dass verstanden wurde, wieso er blieb. Letztlich, Juudaime war es auch gewesen, der begonnen hatte mit dem Gedanken, dass Hayato bleiben musste. „Ich bin ein Werwolf“, erklärte er unwirsch, irgendwie genervt, denn er war sich sicher, Irie wusste das längst. An der Art, wie der Kerl nickte, wissend und verständnislos, bestätigte sich das auch schnell. „Ich kann nicht zurück. Da drüben kann niemand mit so etwas umgehen. Ich würde Juudaime in Gefahr bringen.“ Hayato presste die Lippen zusammen, schluckte den bitteren Geschmack im Mund wieder herunter, während Iries Blick von verständnislos langsam zu begreifend wechselte und ein zaghaftes, mitfühlendes Lächeln sich auf seinem Gesicht breitmachte. „Sind wir sehr unterschiedlich? Wir und… die anderen… wirs?“ Die dumme Frage, kombiniert mit Iries äquivalent dummem Ausdruck ob der holprigen Ausdrucksweise ließ Hayato kurz schnauben, fast erheitert. Er musterte den Jungen. Er sah aus wie er Irie kannte: ungebügelte Kleidung, unordentliches Haar, schiefe Brille und mehr als häufig ein latent panischer Blick hinter den dicken Brillengläsern. Fahrige Bewegungen, gelegentliche Stotteranfälle, aber ein brillanter Verstand hinter der unscheinbaren Fassade. Selbst Yamamoto, so verfault und falsch, wie er war, war immer noch Yamamoto. Und Juudaime. Juudaime war Juudaime. „Kommt drauf an, wo du suchst“, antwortete er kryptisch, grinste nur bei Iries ratloser Miene und ließ ihn dann in der Küche sitzen, um über der Antwort zu brüten. Hayato kehrte in den Keller zurück. Juudaime strahlte ihn an, als er herunterkam, sprang vom Tisch auf. „Gokudera-Kun! Ich hab großartige Neuigkeiten!“ – „Lass mich raten: Hibari hilft uns und wir… können unsere Basis in der Schule aufschlagen?“ Juudaime wollte wohl enttäuscht aussehen, doch er grinste, als er nickte. Es war ein Grinsen, das gleichermaßen wehmütig und fröhlich war, und Hayato spürte genau dieses Grinsen auch in seinem Mundwinkel zucken. Das ist genauso meine Welt wie jede Andere. X - Die nächste Zeit war turbulent. Der Umzug in die Schule nahm kaum einen Tag in Anspruch, aber damit änderte sich alles. Ihre ganze Operationsorganisation schien sich umzuwerfen, und Juudaime verbrachte Tage damit, mit Hibari die neuen Angriffspläne durchzugehen. Mit dem Disziplinarkomitee hatte sich ihre Angriffskraft fast verdoppelt. Hayato nutzte die Zeit, um sich vertraut zu machen mit der Welt, in der er nun lebte, seine eigenen Waffen den Umständen anzupassen. Früher oder später musste er es tun, nicht wahr? Bianchi stellte sich zu diesem Zweck als genauso wertvolle Verbündete heraus wie Haru, und Hayato verbrachte mehr Zeit mit den beiden Frauen, als er sich im Leben jemals hätte vorstellen wollen. Fast bedauerte er es, seine Schwester bisher immer gemieden zu haben. Beim nächsten Anblick ihrer Kochkünste verwarf er den Gedanken allerdings schnell wieder und er war im Gegensatz sogar froh, als er keine Notwendigkeit mehr dafür hatte, die beiden aufzusuchen. Wann immer er Irie sah, arbeitete der. Mal an dem Kommunikator, mal an anderen Dingen, Hayato hinterfragte es nie so genau. Manchmal sah der Kerl ihn an, als würde er irgendetwas suchen. Vielleicht Unterschiede zu dem anderen Hayato, den er gar nicht kannte? Und ehe er sich versah, fand er sich in der Sporthalle wieder, die sie zu einer Trainingshalle umgemodelt hatten. Hibari war dort. „Werwolf.“ Hibari drehte sich nicht einmal zu ihm um für die Begrüßung. Hayato schnaubte. „Lust auf eine Prügelei?“ Die Antwort kannte er schon längst. Es dauerte ungefähr eine Woche, bis sich ein Trott eingependelt hatte. Ihre abendlichen Runden waren aufgeteilt. Hayato war nicht begeistert, dass er Hibari begleiten sollte, aber er hätte es schlimmer treffen können; mit Bianchi zum Beispiel. Also beschwerte er sich nicht, drehte abends seine Runden, sobald es an ihm war, zusammen mit Hibari und ein paar Leuten, deren Namen er sich nicht merkte. Disziplinarkomitee-Klone, überwiegend, und ein junger Kerl, von dem er sich erinnerte, dass der andere Juudaime ihn vor einer Weile in die Famiglia geholt hatte. Hayato hatte nie groß mit ihm zu tun gehabt. Die Tage verbrachte er, soweit er nicht schlief, weitgehend mit Training. Irie war immer beschäftigt, bei Yamamoto musste man darauf pokern, dass er gerade kein sabbernder, hirntoter Zombie war, sondern zumindest ein klar denkender, und um die Damenwelt machte Hayato insgesamt lieber einen Bogen. Nachdem Juudaime auch immer beschäftigt war damit, die Famiglia und alle Außenposten zu koordinieren, war es eine logische Konsequenz für Hayato, dass es ihn immer wieder hinunter in die Sporthalle zog. Dass Hibari nahezu jedes Mal dort war, war reiner Zufall. Dass Hayato enttäuscht war, wenn er es einmal nicht war, lag nur daran, dass ihm damit ein effektiver Trainingspartner fehlte. „Für einen Werwolf bist du gar nicht schlecht.“ Hayato schnaubte Hibari nur an, doch die Hand, die ihm zum Aufhelfen gereicht wurde, nahm er trotzdem an und zog sich daran hoch. Ihm tat alles weh und seine Rippen waren mindestens geprellt, aber Hibari hatte einen hübschen Kratzer an der Wange, der Hayato versteckt triumphierend grinsen ließ. „Du bist auch nicht besser, Blutsauger.“ Hibari hob eine Augenbraue, sein Blick eiskalt, aber fast amüsiert, als er sich wieder abwandte. Seit zwei Wochen nun ging es fast jeden Tag so – inzwischen erkannte Hayato ein Muster in Hibaris Fehlen. Immer, wenn sie am Abend die Patrouille machen sollten, blieb ihre Prügelei tagsüber aus. (Auch wenn er das nie zugeben würde, er war dankbar dafür. So zerschlagen wie er war, würde er nachts nicht einmal mehr gegen einen zehn Zentimeter hohen Baumgeist ankommen.) Grinsend griff er nach einer Bombe, die neben Sprengstoffen ein Kraut enthielt, auf das besonders Vampire und andere untote Wesen mit Schwindel und Orientierungsverlust reagierten. Hibari fauchte, als der süßliche Geruch ihn erreichte, doch sein Blick machte klar, dass Hayato damit wohl noch lange nicht gewonnen hatte. Umso besser – so einfach wollte er es auch gar nicht haben. Drei Tage später saß Hayato auf dem Dach des Schulgebäudes, rauchend, den Blick zum wolkenverhangenen Tageshimmel gehoben. Es sah nach Regen aus. „Die Schulordnung verbietet Rauchen, Werwolf.“ Hayato zuckte unbekümmert mit den Schultern, schielte kurz zur Seite. Hibari stand neben ihm, lautlos wie immer. Es musste an diesem Vampirzeug liegen; früher hatte er Hibari zumindest noch gehört. „Ich dachte, ihr Blutsauger vertragt kein Tageslicht?“ – „Kein Sonnenlicht“, präzisierte Hibari einsilbig, verschränkte die Arme vor der Brust. Hayato brummte vage, nahm lieber noch einen Zug von seiner Zigarette. Das sollte er sich merken. Wirklich begeistert sah Hibari zwar auch jetzt nicht aus, aber ob das einfach an seinem Charakter oder an der allgemeinen Helligkeit lag, konnte Hayato nun auch nicht sagen. Vielleicht sollte er es ausprobieren? Langsam stand er auf, klemmte sich die Zigarette zwischen die Zähne und griff nach einer Stange Dynamit. Tageslicht war Hibari zumindest noch egal genug, um ihn recht gnadenlos fertig zu machen. Sie verbrachten den Abend auf dem Dach. Hayato fühlte sich zerschlagen, Hibari sah zerschlagen aus, und sie saßen schweigend nebeneinander, während um sie herum das Horrorspektakel der Nacht lärmte und rumorte. Kein Vollmond, das grausige Jaulen der Wölfe fehlte, doch gelegentlich hörte man andere Laute – gequälte Schreie, dämonisches Kreischen. Es war vertraut geworden in den letzten Wochen, vertraut genug, dass Hayato nicht einmal mehr zusammenzuckte. Gelassen steckte er sich eine Zigarette an, stieß langsam die Luft aus und sah zu, wie die dünnen Rauchfäden in der Nacht verschwanden. „Rauchen ist immer noch verboten, Werwolf“, kommentierte Hibari missbilligend. Hayato schnaubte, drückte seine Zigarette aber aus und steckte den Überrest zurück in die zerknitterte Packung; es war noch zu viel, um weggeworfen zu werden. „Und Vampire auf dem Schulgelände sind erlaubt? Laut welcher Schulordnung?“ Hibaris Blick war Antwort genug – Meiner. Hayato schnaubte amüsiert, lehnte sich schwer zurück gegen den Maschendrahtzaun, der ihn vor dem sicheren Tod rettete. Er spürte Hibaris Blick auf sich, zumindest für einen Moment, dann war das Gefühl vorüber. Er schloss die Augen. Ein vager Geruch nach kaltem Metall hing in der Luft. Er fühlte sich vertrauter an, als er sein sollte. Er stand auf, schob die Hände in die Hosentaschen. Hibari hinter ihm regte sich nicht – zumindest hörte Hayato nichts, aber viel musste das nichts heißen. „Bis morgen, Werwolf“, ließ der Wind die leise Stimme des Vampires herüberwehen, als Hayato schon ein gutes Stück entfernt war. Er grinste, sein Herzschlag beschleunigte sich in freudiger Erregung. Darauf kannst du dich verlassen, Blutsauger. XI -- Der Tag war schon halb vorbei, als Hayato sich mit schmerzenden Gliedern die Treppen hinauf in den Konferenzraum schleppte, den Juudaime und Hibari als Besprechungszentrum ausgewählt hatten bei ihrem Einzug. Hibari würde, wie immer, vermutlich längst dort sein mit seiner übermenschlichen Vampirgeschwindigkeit. Juudaime begegnete ihm mit einem besorgten Blick, als er eintrat, den Hayato nur abwinkte. Er fühlte sich wie von einem Bulldozer überfahren, und das weniger wegen Hibari, als wegen der Verwandlung in der Vornacht. Er hatte nur in der Schule gewütet, hatte die halbe Einrichtung im Keller ruiniert, aber die massive Tür hatte seinen Angriffen standgehalten. Niemandem war etwas passiert. Wirklich erinnern konnte er sich auch nicht. Mehr, als ein schaler Beigeschmack, bruchstückhafte Eindrücke und schmerzende Muskeln waren ihm nicht geblieben von der Nacht, und Hayato war froh darum – es gab Dinge, an die wollte er sich gar nicht erinnern. Trotzdem war er aggressiv und reizbar gewesen. Die Prügelei mit Hibari hatte Wunder gewirkt. Ächzend ließ er sich auf einem Stuhl nieder, lehnte sich zurück. Er war nicht einmal wirklich erschöpft. Die Verwandlung schien einiges an Energiereserven zurückgelassen zu haben. Nicht erschöpft, nur zerschlagen. „Bianchi-San war vorhin hier. Die Späher im Süden haben berichtet, dass seltsame Gestalten in die Stadt gekommen sind. Sie haben nach uns gefragt. Wir sollten aufpassen, wenn wir rausgehen.“ Es war eine Warnung, die ungefähr alle zwei Wochen einmal kam. Hayato nickte sie ab, ohne ihr viel Aufmerksamkeit zu schenken; bisher hatte noch niemand sie angegriffen oder sie aufgesucht, egal, wie oft angeblich irgendetwas Zwielichtiges nach ihnen gefragt hatte. Vermutlich nur ein Versuch, sie in Panik zu versetzen, damit sie ihre Jagdtrips aufgaben. Die restliche Besprechung war das übliche organisatorische Hin und Her. Einige Außenposten wollten ersetzt werden, diverse Zombies hatten mal wieder eine ihrer dummen Phasen und wurden damit aus dem aktiven Dienst gezogen, und Haru musste zur Beschaffung irgendwelcher Zutaten für ihre Hexentränke eine Weile weg. Hayato hörte zu, Hayato notierte sich, was er an Informationen brauchen würde, und den Rest ließ er an sich vorbeiplätschern. „Ach ja. Gokudera-Kun.“ Hayato merkte auf, sah Juudaime fragend an. Der lächelte, und es sah tatsächlich aus, als ob zur Abwechslung eine wirklich positive Nachricht auf sie zukäme. „Shouichi-Kun sagt, er ist fertig. Du kannst deinen Kommunikator jederzeit bei ihm abholen.“ Er war fertig! Hayato war sofort wieder hellwach und aufmerksam. „Wo ist er?“ – „Eh? Er ist unten in den Physiksälen, wie immer.“ Sofort war Hayato auf den Beinen, wirbelte herum – und entdeckte im Türrahmen eine fremd-vertraute, grinsende Gestalt. „Wollt ihr mir nicht gleich eine Wegbeschreibung geben~?“, singsangte Byakuran, löste die lässig verschränkten Arme, „Oder muss ich euch erst nett darum bitten?“ Es gab kein Anzeichen dafür, wann und wo er hereingekommen war. Sie hatten ihn einfach übersehen. Ignoriert? Wie aus dem Nichts erschienen Gestalten neben ihm. Hayato erkannte Genkishi, obwohl er in dem grässlichen Graugrün der Zombies wie ein anderer Mensch aussah. Illusionen. Verdammt! Selbst Hayato hatte vergessen, dass bei allem, was real war in dieser irren Welt, es genauso Illusionen geben musste. „Oya~ Das Spiel kann ich auch spielen.“ Zum ersten Mal war Hayato froh, ihn zu sehen, als Mukuro sich aus einem Aktenschrank zu schälen schien und elegant, Dreizack in der Hand, auf Byakuran zuschritt. Das folgende Chaos verstreute sie über die ganze Schule. Hayato verlor Juudaime als erstes aus den Augen, dann Mukuro, und zuletzt schließlich Hibari, als der Kerl hasserfüllt fauchend dem Genkishi-Zombie hinterherstürmte – immer noch der gleiche alte Hass auf Illusionisten – und Hayato selbst abgelenkt von irgendeinem Kerl in Millefiore-Uniform in einen anderen Gang ausweichen musste. Er war kein Mensch, so viel hatte Hayato bereits herausgefunden, doch was er sonst war, entzog sich seinem Verständnis. Ein Hexer vielleicht, ein Dämon, es könnte alles sein. Im Zweifelsfall musste er es eben herausfinden. Die erste Bombe, die er warf, enthielt kleine Silberpartikel. Sie halfen gegen viele Dämonen, die immun gegen gewöhnliche Waffen und Verletzungen waren. Sein Gegenüber fauchte hasserfüllt. Als der Rauch sich legte, entdeckte Hayato, dass der Körper seines Gegenüber mit kleinen dunklen Wunden gesprenkelt war, überall dort, wo das Silber durch die Wucht der Explosion in seine Haut eingedrungen war. Er grinste triumphierend. Das machte einiges einfacher. Doch einfacher hieß nicht, dass es einfach war, und es dauerte viel länger, als Hayato wahrhaben wollte, bis das Monstrum vor ihm zu Boden ging. Unter dem Explosionshagel war die menschliche Fassade mehr und mehr abgebröckelt, und was nun im Staub lag, war ein groteskes Monstrum mit dunkler, ledriger Haut und schwarzem, dickflüssigem Blut, das nur noch im entferntesten an einen Menschen erinnerte, den man durch einen Zerrspiegel betrachtete. Zu lange Gliedmaßen, die viel zu schmal waren, ein zu kleiner Kopf auf zu breiten Schultern, und nur noch grobe Fetzen von Kleidung hingen an dem lädierten Körper. Angewidert stieg Hayato mit großen Schritten über die Blutlache und den leblosen Körper hinweg. Sein Bombenbestand hatte sich drastisch dezimiert, doch um nun ins Lager zurückzukehren und neue zu holen, fehlte es an Zeit. Er musste Juudaime finden. Zügigen Schrittes lief er durch die gespenstisch leeren Hallen des Schulgebäudes. Von den Wänden hallten Kampfgeräusche, so verzerrt vom Widerhall, dass er nicht einmal bestimmen konnte, wo sie herkamen. Auf dem Boden und an den Wänden waren in unregelmäßigen Abständen verdächtig nach Blut aussehende Flecken, und an einer Kreuzung fand Hayato ein beflecktes Metallrohr neben dem zermatschten Kopf eines grünlichen Zombies. Die glitschige, gallertartige Masse aus Zombieinnereien- und Flüssigkeiten hatte fast das gesamte Rohr versaut. Fluchend riss Hayato seine Jacke herunter, wickelte sie einseitig um die Schlagwaffe, während er sie aufhob. Wenn da noch mehr von der Sorte waren, würde er sie gut brauchen können. Er konnte sie wirklich gebrauchen. Er erkannte nicht, was genau vor sich ging, doch in einem der nächsten Gänge fand er den Ursprung von einem Teil des widerhallenden Kampflärmes: Genkishi, den hässlichen, fauligen Rücken ihm zugewandt, prügelte sich mit jemandem, den Hayato gerade im Eifer des Gefechts nicht erkannte. In der Hoffnung, nicht bemerkt zu werden, drückte er sich eng in einen Türrahmen, hielt die Luft an. Er brauchte nur einen Moment, in dem Genkishi unaufmerksam genug war… Er kam, als der Gegner des Kerls zu Boden ging. Genkishi, sicher zu triumphieren, riss einen Arm mit spitzen Fingernägeln hoch, um seinem Gegner den Gnadenstoß zu verpassen, ein manisches Lachen in der fauligen Kehle. Im Schutze des Lärms schlich Hayato so schnell er konnte sein Versteck verließ und auf Genkishi zuhielt. Ein Schlag gegen den seinen Schädel ließ ihn zerplatzen wie eine wackelpuddinggefüllte Wasserbombe, deren stinkender Inhalt überall hin zerstob. Hayato würgte, schluckte hektisch sein Mittagessen wieder hinunter. Widerlich. Zittrig atmete er durch, als er seinen Würgereiz wieder unter Kontrolle hatte, wischte sich mit einem sauberen Stück Jacke die klebrige Pampe aus dem Gesicht und sah dann hinunter. Hibari lag zu seinen Füßen, bleich und blutig, sein Blick war geradezu außer sich vor Zorn. Als hätte Hayato ihm eine rechtmäßige Beute weggenommen. Hayato schnaubte, streckte ihm eine schmutzige Hand hin. „Jetzt sind wir quitt, huh? Einmal hab ich dich fast totgeprügelt, einmal gerettet.“ Hibaris Blick wurde, wenn möglich, noch wütender, doch er nahm die ausgestreckte Hand an, und plötzlich grinste er. „Irgendwann beiß ich dich tot.“ Epilog: -------- Der Kommunikator sah noch genauso aus wie vorher. Irie hatte ihm erklärt, dass er ein kleines Mikrofon eingebaut hatte, und dass der Knopf, der Hayato eigentlich hatte zurück nach Hause bringen sollen, nun bei einmaligem Drücken eine Nachricht aufnehmen, und beim zweiten Drücken absenden würde. Ganz verstanden hatte er nicht, was Irie ihm da erzählt hatte, doch im Endeffekt würde diese Nachricht wohl Gianninis Zentralrechner erreichen und darüber abspielbar sein, und das war alles, was Hayato wichtig war. Eine ganze Weile starrte er nur auf das kleine Gerät hinunter, ehe er zögerlich den roten Knopf drückte. Ein kleiner Teil von ihm fürchtete (hoffte), es würde schief gehen, und er würde sich in einer Sekunde wieder an seinem Ausgangspunkt befinden. Doch nichts geschah. Das leichte Leuchten des Displays signalisierte lediglich, dass eine Aufnahme stattfinden sollte. „Juudaime…“, er brach ab, zögernd. Was sollte er ihm sagen? Große Erklärungen? Er würde sich nur Sorgen machen. Er schluckte, schloss gequält die Augen. „Ich komme nicht zurück, Juudaime. Holt den anderen Hayato zu euch, es ist besser so.“ Er wird dich genauso gut beschützen. Langsam hob er den Daumen, legte ihn auf den roten Knopf. Er spürte das kleine Stück Kunststoff gegen seine Fingerkuppe drücken. Das Leuchten des Displays erlosch, als die Nachricht gesendet wurde. Wenn sie gesendet wurde. Es würde keine Antwort kommen, er musste darauf vertrauen, dass Irie kompetent genug war. Es war besser so. Tief durchatmend schloss er die Augen erneut, und für einige Momente verharrte er reglos. Ein erstes, gespenstisches Kreischen kündete vom herannahenden Abend. Bald würde der Horror der Nacht wieder losgehen. Hinter sich hörte er das rostige Quietschen der Scharniere, als die Tür zum Dach sich öffnete, doch er ignorierte es. Wer auch immer dort hinaufgekommen war, schien ihn genauso zu ignorieren. Hayato konnte nicht sagen, dass er es bedauerte. Er hob den Blick zum Himmel, der orangerot verfärbt war durch die Abenddämmerung. Orangerot wie die Flammen von Juudaime. Seine Finger krallten sich in seinen Kommunikator, als er die Augen doch wieder zusammenpresste. Vor seinem inneren Auge tauchte das Bild von Juudaime auf. Jung, ein bisschen naiv, lächelnd. Es war vorbei. Pass auf dich auf, Juudaime. Alles Gute. Sein Blick veränderte sich, wurde weiser, erfahrener, doch das Lächeln blieb. Es war vorbei. Hier war nun sein Platz. Hayato sah gerade rechtzeitig wieder auf, um zu sehen, wie die harmlose Digital-Uhr auf der anderen Seite des absperrenden Maschendrahtzaunes zu Boden segelte. Er spürte eine Hand auf seiner Schulter, kühl und unnachgiebig, kalte Lippen an seinem Hals. Verständnisvoll. Gefährlich. Drohend. Ich beiß dich tot. Er erschauderte, doch so schnell die Berührung gekommen war, so jäh war sie wieder verschwunden, und für einen Moment wollte ihn ein seltsam dumpfes Gefühl in der Magengegend davon überzeugen, dass er gar nicht einmal glücklich damit war. „Es wird Zeit, Hayato.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)